Way Down von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Neal | They’re gone ------------------------------ Die Hitze, die ihm entgegenschlug, versengte seinen Bart und fraß sich in die Haut darunter. Er wollte, musste vorwärts. Er hörte Lanas Schreie und ein verhaltenes Gurgeln, das Eins wurde mit dem prasselnden Lodern des Feuers. Da ist etwas im Wasser, hieß es in einer der letzten Meldungen, die über das Radio empfangen werden konnten. In diesem Moment war es Neal vollkommen gleich, ob das Wasser sauber und keimfrei war oder von irgendeinem verwesenden Tümpel stammte. Er brauchte welches, um den Brand zu löschen, aber es gab schon lange keine Feuchtigkeit mehr auf der Erdoberfläche. Die Hitze hatte sich alles genommen. Er drängte ein weiteres Mal vorwärts. Seine Augen tränten, die Haut an seinen Armen platzte auf. Es knirschte irgendwo über ihm. Der Dachstuhl gab den schwächer werdenden Balken nach und stürzte in den Raum. Das Gurgeln verstummte, die Schreie wurden zu einem Wimmern, dann zu einem Husten. Die klare Feuerwand verlor langsam an Kontur. Auch Neal spürte den Rauch tief in seinen Lungen. Der Boden unter seinen Füßen knackte.  »Lana ... Lana!« Seine Sicht verschwamm, tauchte sich in Dunkelheit. Er stolperte rückwärts. Sein Husten mischte sich mit erstickenden Schluchzern.  Er ... konnte ihnen nicht helfen.    Sein Schrei ließ eine Schar Krähen protestierend von vertrockneten Bäumen in die Höhe steigen. Noch mit dem nächsten Atemzug griff er nach seinem linken Oberschenkel und zog die Machete aus der Halterung. Er hielt sie ins Leere und brauchte mehrere Sekunden, um zu realisieren, dass er allein war. Kein Feuer, keine Schreie, keine Kranken. Neal seufzte schwer, fuhr sich über das verschwitzte Gesicht und bettete den Arm, dessen Hand die Machete umklammerte, auf seine Knie. Er war eingeschlafen und hatte geträumt. Mitten am Tag. Er wurde nachlässig. Das durfte nicht passieren. Es war schon so lange her, aber der Schmerz war realer denn je. Langsam hob Neal die Hand zu seiner Brust und zog ein Medaillon unter dem hellbraunen Leinenhemd hervor, das vor Jahren einmal weiß gewesen war. Mit einem Klicken öffnete es sich und offenbarte zwei Bildern. Er schluckte, als er mit dem Daumen über das Bild einer jungen Frau mit langen, braunen Haaren strich. Gott ... er vermisste sie so sehr. Das andere Bild zeigte die winzige Bleistiftzeichnung eines Babys. Seine Tochter. Als er sie gezeichnet hatte, war sie gerade wenige Stunden alt gewesen. Fahrig klappte er das Medaillon wieder zu, versenkte es wieder hinter dem zerschlissenen Hemd und wischte sich harsch über die nassen Augen. Er musste weiter. Er konnte sich nicht so viele Pausen erlauben.  Es gab Dinge, die er erledigen musste, ehe er ihnen in den Himmel folgen konnte.  Aufmerksam tastete sein Blick die Umgebung ab. Bis auf die Vögel, die bei seinem lautstarken Erwachen das Weite gesucht hatten, war nichts Auffälliges zu sehen. Die Luft flimmerte durch die Hitze, die vom Asphalt aufstieg. Als er seinen alten Wagen sah, fiel ihm wieder ein, warum er hier angehalten hatte und im Schatten eines etwas dickeren Baumes eingeschlafen war. Die Reifen hatten ihren Dienst quittiert. Sie wurden eins mit dem Teer. Er hatte gehofft, dass er es noch bis zur nächsten Stadt schaffen würde, aber der Tagesanbruch war schneller gewesen als er. Und mit dem Aufgehen der Sonne kam die Hitze. Verdammt! Er hatte die letzten beiden Flaschen Wasser und ein paar Konserven im Wagen gelassen - verstaut in seiner Tasche. Was hatte er sich dabei gedacht? »Scheiße ...« Er rappelte sich auf, richtete das große Tuch, das er sich um Kopf und Hals gewickelt hatte und stampfte zurück zum Wagen. Kaum ließ er den Schatten hinter sich, prallte die Wärme wie eine Wand gegen ihn. Er ächzte leise. Bevor er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, zupfte er sich die Lederhandschuhe zurecht. Das musste schnell gehen. Der Wagen war aufgeheizt. Wäre nicht das erste Mal, dass er sich beim Öffnen verbrannte. Seine Finger zuckten nach vorn, schoben sich unter den Griff und zogen. Die Tür ging mit einem leisen Knarren auf. Er nutzte die Boots, um sie weiter aufzuschieben, und griff ins heiße Innere. Der Gitarrenkoffer, die Tasche aus dem Fußraum.  Ciao, Kleines, verabschiedete er sich von dem VW, der ihm so viele Jahre treue Dienste geleistet hatte. Bisher hatte er immer Möglichkeiten gefunden, ihn unterzustellen. Heute hatte er damit kein Glück gehabt. Die Strecken zwischen einzelnen Ortschaften wurden länger. Ortschaften, die auch kurz nach dieser ganzen Scheiße noch bewohnt gewesen waren. Von denen gab es nicht mehr viele.  Als er seine wenigen Habseligkeiten am Mann hatte, trat er die Tür wieder zu und kehrte in den Schatten zurück, um dort den Koffer und die Tasche abzulegen. Neal öffnete Letztere, kramte in ihr herum und förderte eine zusammengefaltete Karte zutage. Er öffnete sie, suchte nach seinem Stift und berechnete die Strecke, die er in dieser Nacht zurückgelegt hatte. Er war nur hundert Meilen weit gekommen. Keine gute Bilanz. Die Straßen waren teilweise so sehr zerstört, dass man auf ihnen nur noch schwer vorankam. Andere liegengebliebene Autos kamen noch erschwerend hinzu. Er war hier mitten im Nirgendwo und kam sich vor, wie der letzte Mensch auf Erden, aber ... er war vor einer ganzen Weile eines Besseren belehrt worden. Auf sehr schmerzhafte Art und Weise. Er verdrängte die Erinnerungen an Lana und Mary und kreiste die nächste angekreuzte Ortschaft auf der Karte extra ein. Sie war etwas größer und er hoffte darauf, dort noch ein paar Lebensmittel zu finden. Er konnte sich eine weitere Verzögerung nicht leisten. Schon gar nicht jetzt, so ohne fahrbaren Untersatz. Etwa zwanzig Meilen waren es noch. Sie würden ihm wie eine Ewigkeit vorkommen, wenn er durch die Sonne laufen musste. Er blickte nach Osten. Die Sonne stand noch nicht an ihrem höchsten Punkt. Die richtige Hitzewelle wartete erst noch auf jeden Irren, der es wagte, sich im Tageslicht seinen Weg durchs Nirgendwo zu bahnen. Aber wenigstens war es weitestgehend windstill. Ein Sandsturm war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte.   Behutsam faltete er die Karte wieder zusammen und achtete dabei penibel darauf, dass sie keine Risse oder zusätzliche Falten bekam. Sie war die einzige Orientierung, die er noch hatte. Als sie wieder in der Tasche verstaut war, zog er sich das Tuch über den Mund, griff in seine Jackentasche und holte eine alte Fliegerbrille hervor, die er sich aufsetzte. Der Gitarrenkoffer landete auf seinem Rücken, der Gurt der Tasche über seiner Schulter. Er öffnete sie ein letztes Mal, zählte die Munitionspatronen, die er noch hatte, sowie die bereits leeren Hülsen, die er nach dem Schießen immer wieder einsammelte. Er musste eine Drogerie finden, um seinen Schwefelvorrat aufzustocken. Er hatte kein Schießpulver mehr. Bei diesen Temperaturen wäre das Mitnehmen eines so hochexplosiven Stoffes zwar reiner Selbstmord, aber man kam in diesen Zeiten besser, wenn man Schwarzpulver selbst herstellte, anstatt direkt nach Munition zu suchen.  Sie war das Erste, was in solchen Zeiten zur Neige ging. Nicht etwa das Essen oder das Wasser. Nein. Die Möglichkeit, sich eben diese Dinge von anderen Menschen zu erkämpfen. Verzweiflung, Stagnation, Reaktion - alles, was danach kam, ließ sich unter einem einzigen Begriff zusammenfassen. Überleben. Suchen, finden, töten. Da ist etwas im Wasser, haben sie gesagt. Halten Sie sich von großen Menschenansammlungen fern. Die Bakterien legen sich auf die Großhirnrinde und zersetzen diese. Entdecken Sie einen Menschen, der sich seltsam verhält oder sich merkwürdig bewegt - halten Sie sich fern von ihm! Die Inkubationszeit beträgt nur etwa 24 Stunden. Die Sterberate liegt noch immer bei 100 %. Es gibt noch kein Heilmittel. Und es war keine Zeit mehr gewesen, um ein Solches zu entwickeln. Neal erinnerte sich immer wieder daran, wie Brad - sein damaliger Nachbar - eines Tages vor seiner Tür gestanden hatte und ihn irgendetwas fragen wollte. Das hatte ihm der Gesichtsausdruck verraten. Doch alles, was über die Lippen seines Kumpels gedrungen war, hatte es sich nur nach einer Aneinanderkettung von animalischen, sinnfreien Lauten angehört, die vielleicht im Kopf von Brad Sinn ergeben hatten, aber nicht für seinen Zuhörer. Als er gemerkt hatte, dass Neal ihn nicht verstehen konnte, war er aggressiv geworden. Mit hochrotem Gesicht war er in die Wohnung gekommen, hatte sogar die Hände um Neals Hals gelegt, bis er ihn mit einem beherzten Tritt zurück vor die Tür befördert und diese vor seiner Nase zugeworfen hatte. Es hatte nur wenige Tage gedauert, bis die Straße vor ihrem kleinen Reihenhaus wie leer gefegt gewesen war und Lana und er sich ebenfalls dazu entschieden hatten, die Stadt zu verlassen. Irgendwie ... hatten sie es geschafft. Bis zu dem Tag, an dem Neal gelernt hatte, dass es Überlebende gab, die nicht nur das am Leben bleiben im Sinn hatten. Seit diesem Erlebnis hatte er niemandem mehr vertraut. Bisher war er zwei Mal wandernden Gruppen begegnet. Sie hatten ihn gefragt, ob er sie begleiten wollte. Er hatte verneint und sie waren weiter gezogen. Es gab nur eine Truppe, mit der er in Kontakt treten wollte. Die Männer, die damals seine Hütte in Brand gesteckt hatten. Er wollte den Grund dafür wissen. Und dann würde er sie alle dafür bluten lassen. Das war der Gedanke, der ihn jeden Tag aufs Neue weitermachen ließ. Rache. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Seine Frau und seine Tochter waren tot, seine Freunde vermutlich auch. Seine Eltern. Jeder, den er einst kannte. Er existierte - mehr war es nicht mehr. Und wenn man nur noch existierte, dann war man bereit, Dinge zu tun, die man früher nie getan hätte.  Mit einem letzten Seufzen zog sich Neal die weite Kapuze über das Tuch, unter dem ein paar lange, blonde Haarsträhnen hervorquollen, und ließ den Schatten des Baumes hinter sich. Ein paar Meilen nur. Ein paar Stunden durchhalten. Atmen. Und hoffen, dass er in der nächsten Stadt vielleicht endlich ein paar Antworten fand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)