Way Down von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: Tali | This guy's insane ----------------------------------- Ihren aufmerksamen Augen entging selten etwas. Trotz dem aufkommenden Wind und dem Staub, der sich sofort in ihren Lungen ausbreitete, verhielt sie sich so ruhig wie möglich, auch wenn sie flüchtig den Arm hob, um in den Ärmel ihrer Jacke zu husten. Sie starrte in die Richtung des jungen Mannes, der eben den Baum passiert hatte, auf dem sie saß. Zum Glück hatte auch er mit dem Sandsturm zu kämpfen, der ihm stetig ins Gesicht wehte, und schien ihr Husten so überhört zu haben. Gut für sie. Trotzdem schlecht für sie beide, wenn sie weiterhin hier draußen blieben. Erst in den letzten zwei Stunden hatte der Wind zugenommen. Sie sollte schon längst nicht mehr hier sein, aber etwas hatte ihr gesagt, dass es nicht klug wäre, wenn sie nach Hause zurückkehrte, und siehe da - sie hatte einen einsamen Wanderer gefunden! Und das war völliger Irrsinn!    Tali gehörte einer größeren Gruppe an, die sich im Enchanted Rock Areal, etwa zwanzig Meilen nördlich von Fredericksburg, gesammelt oder, um es besser auszudrücken, verschanzt hatte. Dieser Fremde war auf dem besten Weg dorthin und war sich dessen vermutlich nicht einmal bewusst. Mittlerweile glich die Umgebung, in der man umherwanderte, jeder im Umkreis mehrerer hundert Meilen. Vielleicht sah auch schon die ganze Welt so aus. Es gab nur noch Sand und Hügel, vereinzelte, vertrocknete Bäume und ein paar Sträucher, die sich wacker in der Hitze hielten. Ihr selbst machten diese Temperaturen nicht viel aus. Sie war im Herzen des Llano Estacados aufgewachsen. Feuchtwarmes Klima. Jetzt war es nur noch warm. Heiß. Die Flüsse waren ausgetrocknet, ehemals große Seen nur noch unbedeutende, verseuchte Pfützen. Allein zu überleben, war absolut unmöglich. Bisher hatte sie das zumindest geglaubt. Der Einsame auf der Straße unter ihr schien sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Tali schüttelte den Kopf, griff nach dem Fernglas, das um ihren Hals baumelte, und blickte die Straße hinunter, die der Fremde raufgekommen war. Ihm folgte niemand. Auch zwischen den Sträuchern und Verwehungen der Prärie links und rechts des schwarzen Asphalts entdeckte sie niemanden.  »Das glaub ich ja nicht.« Sie senkte das Fernglas, griff an ihre Hüfte und löste das Funkgerät von ihrem Gürtel. Als sie sich vergewissert hatte, dass der Wanderer außerhalb ihrer Hörweite war, schaltete sie es an.  »Malia? Kannst du mich hören? Over.« In der Leitung rauschte es. Niemand antwortete. Tali verdrehte die Augen unter der großen Schutzbrille. Drei Leute waren gerade draußen unterwegs (gut ... vielleicht nur noch sie, aber das spielte keine Rolle) und diejenige, die für den Funktower zuständig war, vernachlässigte ihre Aufgabe.  »Malia!« Es knackte. »Schätzchen, was ist denn los? Over.« Tali schnaubte leise und hielt das Gerät nahe an ihre Lippen. Sie kannte den Unterton, der in dieser scheinbar so lieblichen Stimme mitschwang, nur zu gut. »Bist du schon wieder high? Ich dachte, ich hätte dir deinen ganzen Stoff weggenommen!« »Oh, Tali-Baby. Ich habe immer Weed bei mir. Also, was ist? Over.« Nein. Sie würde garantiert nicht mit der jungen Frau sprechen, die ihre Zeit damit verbrachte, wie eine Blöde zu kiffen, weil es sie nach eigener Aussage entspannte und es ja sonst nichts mehr zu feiern gab - so kurz vor dem Ende der Welt.  »Ist Joel schon zurück? Over.« »Eben eingeflattert. Gesund und munter. Wie ein hübscher, blauäugiger Schmetterling.« »Gib ihn mir bitte ... over.« »Wie du willst, Cherie. Aber ich mag deine Stimme doch so. Lass uns noch ein wenig plaudern, ja?« Es knackte abermals in der Leitung. Dann war es eine Weile ruhig. Doch ehe Tali ein weiteres Mal sprechen konnte, empfing sie bereits ein Signal.  »Tali?« Erleichtert über den rauen Klang dieser vertrauten Stimme am anderen Ende schenkte Tali dem Sandsturm, der sich in den dörren Ästen verbiss, ein sanftes Lächeln. »Hey, Joel. Wo hat sie schon wieder Gras herbekommen? Over.« »Ich glaube, dass Dave ihr gerade etwas mitgebracht hat, aber ich bin mir nicht sicher. Was ist los bei dir? Warum bist du noch nicht zurück? Der Sturm wird schlimmer. Over.« Ihr war das bewusst. Langsam wurde es schwierig, sich auf dem Ast zu halten, den sie als Ausguck nutzte. Sie war hier ein leichtes Ziel. Es gab keine Baumkrone mehr, die das Gröbste abfangen konnte.  »Ich habe hier draußen jemanden entdeckt. Er ist allein. Oder sie. Oder es. Komplett vermummt. Ich konnte nichts Genaueres erkennen. Over.« »Dann sprich die Person an! Was ist dein Problem? Over.« Das Problem war eine Schrotflinte, die am rechten Oberschenkel des Wanderers gebaumelt hatte, als er an ihr vorbei gegangen war. Damit galt er schon als sehr gut ausgerüstet und im schlimmsten Fall zählte er parallel dazu noch zu denen, die erst schossen und dann Fragen stellten. Tali war schon oft in brenzlige Situationen geraten, weil sie zu freundlich und offen gewesen war. Heutzutage konnte man kaum noch jemanden trauen. Und bei einem Menschen, der allein durch die Weltgeschichte marschierte, war das Misstrauen umso größer, denn er hatte sich behauptet. Nicht nur gegen Kranke, sondern vermutlich auch gegen feindlich gesinnte Truppen.  »Die Zielperson ist bewaffnet. Wenn sie in dieselbe Richtung weiterläuft, dann solltest du sie in etwa einer halben Stunde durch das Zielrohr deines Schätzchens sehen können. Kann allerdings auch sein, dass sie einfach in südliche Richtung weiterläuft und unser Gebiet gar nicht erst betritt. Over.« »Keiner ist so dumm und hält sich bei den Temperaturen in der Nähe der Straße auf! Versuch den Typen oder was auch immer, einfach am Drive In abzupassen. Der Ort ist sauber, aber wenn er das nicht weiß, wird er sicher auf die Suche nach Lebensmitteln gehen. Ihr solltet beide nicht da draußen bleiben. Over.« »Ja, ich werde schauen, was sich machen lässt. Over and out.« Tali klemmte das Funkgerät zurück an ihren Gürtel und blickte noch einmal durch das Fernglas. Die Gestalt war nur noch als Schemen zu erkennen. Sie sollte sich beeilen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Leichtfüßig sprang sie von dem Ast hinunter und landete elegant auf dem staubigen Boden. Sie schulterte ihren Bogen und den Köcher mit den Pfeilen, ehe sie in einen leichten Trab verfiel. Der Sandsturm hatte den einen Vorteil, dass sie trotz ihrer dunklen Hautfarbe und den ebenfalls dunklen Sachen nicht so schnell erkannt werden würde. Sie wusste nicht, wie gut ihr Gegenüber war. Vielleicht, nur vielleicht, hatte sie gerade ein bisschen Angst um ihr Leben. Vermutlich war es nur ihre Vorsicht, die ihr da ein schlechtes Gefühl einreden wollte. Sie ignorierte es. Darin war sie schon immer gut gewesen.  Joel behielt recht damit, dass ihre Zielperson das Drive In absuchen würde. Sie konnte aus sicherer Distanz beobachten, wie er das kleine Gebäude umrundete, um mögliche Gefahren ausfindig zu machen. Mittlerweile sollten auch die Leute ihrer Gemeinde den Fremden durch Ferngläser und Zielrohre entdeckt haben. Joel hielt sich aber mit Meldungen dahingehend zurück. Er konnte gut mitdenken. Tali war so nahe an dem Fremden dran, dass jedes laute Rauschen des Funkgerätes sie verraten hätte. Wie sollte sie es nur anstellen? Bei so viel Aufmerksamkeit und Konzentration wäre die Schrotflinte mit Sicherheit schneller als ein Hallo ihrerseits.  Aber noch während sie sich darüber das Hirn zermarterte, entdeckte sie aus dem Augenwinkel heraus etwas, das nicht ins Gesamtbild passte. Mit gerunzelter Stirn griff sie nach dem Fernglas, richtete es auf den Punkt, der ihren Fokus eingefangen hatte, und senkte es mit geöffneten Lippen wieder.  »Nein ...« Da näherte sich ein Wagen. Er fuhr über den Steppenboden, der sich nicht so extrem erwärmte wie der dunkle Asphalt der Straße, aber dennoch zu uneben und löchrig war, um über ihn hinweg zu rasen. Spitze Steine rissen gern Reifen auf. Trockene Äste verfingen sich im Radkasten oder lösten locker werdende Auspüffe, rissen Kabel aus dem Motorraum. Sie hatten es sehr schnell aufgegeben, sich auf diesem Terrain fortzubewegen, einfach um die wenigen Fahrzeuge, die sie noch besaßen, zu schützen. Der Wagen, der sich da näherte, hatte so eine Behandlung nicht genossen und sah dementsprechend zerbeult aus. Trotzdem fuhr er viel zu schnell. Entweder der Fahrer floh vor irgendetwas oder er war nicht mehr Herr seiner Sinne. Tali und ihre Gruppe waren schon einer Weile keinen Infizierten mehr begegnet, was nicht ausschloss, sich unvermittelt mit welchen konfrontiert zu sehen.  Es blieb keine Zeit mehr, um weiter nachzudenken. Tali hob ihre Finger an die Lippen, schob sie dazwischen und pfiff so laut wie sie konnte. Obwohl der Sturm viel tilgte, drehte sich der Fremde trotzdem um. Tali hob flüchtig die Arme und deutete dann mit der rechten Hand in die Richtung, aus der sich unkoordiniert der Wagen näherte.  »Geh ins Gebäude!«, schrie sie dann, als ihr Gegenüber dem Hinweis folgte und den näherkommenden Wagen entdeckte. Sie selbst nahm die Beine in die Hand und rannte ebenfalls auf die Tankstelle zu. Da gab es schon lange kein Benzin mehr, aber das bedeutete nicht, dass dort nicht trotzdem irgendetwas explodieren konnte, wenn jemand mit solchem Highspeed hineinraste. Der Fremde hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt. Scheinbar konnte er sich noch nicht entscheiden, wer nun die größere Gefahr darstellte. Das konnte doch nicht wahr sein! Tali schüttelte den Kopf und blieb stehen. Das Auto war mittlerweile nahe genug und steuerte tatsächlich auf eine der Tanksäulen zu. Kurzerhand griff sie nach dem Bogen auf ihrem Rücken, brachte ihn in Position und zog mit der anderen Hand einen Pfeil aus dem Köcher. Als sie anlegte, konnte sie die Gestalt hinter dem Lenkrad bereits erkennen. Mit weit aufgerissenen Augen saß diese da und starrte durch die Windschutzscheibe, ohne wirklich zu realisieren, worauf sie da zusteuerte. Es schien sich um eine Frau zu handeln. Nebensächlich. Tali zielte auf das Vorderrad, schoss und traf. Luft zischte aus dem Reifen, der Wagen brach nach links aus, preschte an der Säule vorbei und ... steuerte direkt auf sie zu. Die Fahrerin lenkte kein bisschen gegen den Zug. Tali schnaubte, sprang zur Seite weg und rollte sich ab. Ihre Schuhsohlen streiften die Karosserie noch. Sie verlor ein paar Pfeile, aber die konnte sie später einsammeln. Es reichte, dass sie noch welche in Reserve hatte. Sie sprang wieder auf die Beine, spannte die Sehne ein weiteres Mal und zielte auf die Tür des Wagens, der nach ein paar weiteren Metern langsam zum Stillstand kam. Die Tür öffnete sich nicht. Tali ignorierte ihr eigentliches Ziel und beschrieb einen großzügigen Bogen, als sie sich vorsichtig auf gleiche Höhe mit der Vordertür begab. Die Frau auf dem Fahrersitz klammerte sich noch immer an das Lenkrad und starrte durch die Frontscheibe. Sie schien noch nicht realisiert zu haben, dass der Wagen nicht mehr weiterfuhr. Das war keine Panik. Das war völlige Abwesenheit und die bedeutete zumeist, dass sich die Krankheit bereits zu weit ausgebreitet hatte.  »Steigen Sie aus!«, forderte Tali dennoch, auch wenn sie sich sicher war, dass ihre Worte entweder nicht verstanden oder aber gar nicht erst gehört werden würden. Auf eine Reaktion wartete sie vergebens. Als sie Schritte von rechts hören konnte, zuckte sie zusammen und drehte sich alarmiert um. Die vermummte Gestalt hatte sich genähert und wirkte aus der Nähe doch größer und kräftiger gebaut als sie. Vermutlich doch eher ein Mann, auch wenn sie da lange Haare entdecken konnte. Flüchtige Eindrücke. Tali erschrak ein wenig über sich selbst, dass sie ihn derart schnell ausgeblendet hatte nach der Konfrontation eben. »Sie wird nicht aussteigen«, sprach er sie an und nickte zum Wagen hin. »Das ist dir bewusst, oder?« Tali presste die Lippen aufeinander. Dass sich der Typ so völlig unbeeindruckt von ihrem Bogen und dem auf ihn gerichteten Pfeil zeigte, beruhigte sie nicht unbedingt. Dennoch ließ sie ihre Waffe langsam sinken und blinzelte. »Ich kann sie nicht da drin sitzenlassen. Sie wird uns folgen, egal wohin wir gehen.« Auch das schien den Fremden kaum zu jucken. »Sie scheint uns noch nicht bemerkt zu haben. Wo ist also das Problem?« »Die Krankheit? Ich komme von einem Camp ganz in der Nähe. Eine Kranke, die hier herumläuft, hat uns gerade noch gefehlt.« »Und was genau willst du tun, wenn sie aussteigt?« Vermutlich konnte er sich die Frage schon selbst beantworten. Tali erkannte es an der Art und Weise wie er es fragte, deswegen sparte sie sich die Antwort und näherte sich der Tür langsam, nachdem sie sich das Halstuch über den Mund gezogen hatte. Erwiesenermaßen schützte es nur bedingt gegen eine Ansteckung. Hastig packte sie den Türgriff, betätigte ihn und ließ die Hand zurückschnellen. Heiß. Im Inneren des Wagens mussten mehr als 60 Grad herrschen. Aber das war nicht das, was ihr die Kehle zuschnürte. Jetzt, da die Tür offen war, drang ein Geräusch an ihre Ohren, das sie sofort zuordnen konnte.  »Oh mein Gott ...« Während sie zurückwich, trat der Mann näher und schaute an der Fahrerin vorbei auf den Rücksitz. Ein kleines Kind. Völlig verschreckt. Es weinte, strampelte und versuchte aus dem Sitz herauszukommen. Es war von oben bis unten verschwitzt und rot.  »Verdammt ... was ... was machen wir jetzt?« Seine Kooperation kam spät und genau dann, als Tali selbst nicht wusste, was das richtige Vorgehen war. Spontan ... würde sie beide erschießen. Das Kind war mit der älteren Frau auf dem Vordersitz zu lange in direktem Kontakt gewesen. Eine Kontaminierung war nicht auszuschließen und das Risiko, es mit in die Gemeinde zu nehmen, demnach zu groß. Die Situation war neu. Sie war noch nie Kindern hier draußen begegnet. Die waren neben den Alten die Ersten gewesen, die es damals erwischt hatte.  Das plötzliche Kreischen der Frau brachte sie sofort von den Gedanken ab. Auch ihr Begleiter sprang mit einem Satz auf Distanz und zog die Schrotflinte von dem Gurt, der um seinen rechten Oberschenkel geschnallt war. Das Kreischen wiederholte sich nicht, aber die Frau tat etwas anderes. Ihr ganzer Oberkörper ruckte nach vorn, dann krachte ihre Stirn frontal gegen das Lenkrad, nachdem ihre Hände kraftlos von diesem abgelassen hatten. Und sie tat das nicht nur einmal, sondern sie wiederholte es. Schneller. Heftiger. Die Haut an ihrer Stirn platzte auf und das Blut spritzte in alle Richtungen und überwand immer größere Distanzen.  Tali hatte so etwas noch nicht gesehen. Diese Frau durfte nicht weiterleben und da sie sich offensichtlich selbst von ihrem Elend erlösen wollte, zögerte sie nicht mehr. Nachdem sie ein paar Schritte zurückgewichen war, zielte sie auf den Kopf der Frau, entließ den Pfeil und sah dabei zu, wie er sich seitlich durch die Schläfe ins Innere des kranken Gehirns fraß. Die Bewegungen hörten auf. Die Hände zuckten noch einige Male, dann sank der Körper nach vorn und blieb liegen - direkt auf der Hupe. Tali trat näher, griff nach den Federn des Pfeils und zog an ihm, während sie gleichzeitig ihren Fuß gegen den Körper stemmte. Der sank auf den Beifahrersitz. Sie ließ den gebrauchten Pfeil sofort fallen und wischte sich die Hand an ihrem Poncho ab, auch wenn sie kein Blut an den Fingern hatte. Diese ganze Situation war widerlich genug, um es ganz automatisch zu tun.  Blieb nur das Kind.  Als der Mann an ihrer Seite Anstalten machte, den Wagen zu umrunden, um die Hintertür zu öffnen, hielt sie ihn am Arm zurück und suchte seinen Blick. Hinter der verstaubten Fliegerbrille waren seine Augen nicht wirklich zu erkennen, aber da entstand eine leichte Falte auf seiner Stirn. Der Kontakt stand.  »Was hast du vor?«, zischte sie ihn an. Fahrig machte er sich aus ihrem Griff los und trat einen Schritt zurück. Er hob die Schrotflinte nicht, aber Tali nahm das kurze Zucken wahr, das den Waffenlauf beben ließ. Er hatte darüber nachgedacht, wenn auch flüchtig. Kein gutes Zeichen. Sie schürzte die Lippen und griff an ihren Gürtel.  »Wir ... haben einen Arzt. Er soll sich das anschauen«, erklärte sie, als sich die Waffe des Fremden nun doch hob und sie ins Visier nahm. Sie hielt in ihren Bewegungen inne und wandte ihm vorsichtig die Hüfte zu, an der das Funkgerät baumelte. »Ich will ihn nur kontaktieren.« »Ich wollte es nicht erschießen. Ich will es mitnehmen«, erklärte er ihr und ließ die Flinte langsam sinken. »Du würdest es töten, nicht wahr? Was bist du für ein Mensch?« Er schien das große Ganze nicht so zu sehen, wie sie es tat. Tali konnte es ihm nicht einmal verübeln. Wenn er die ganze Zeit allein unterwegs gewesen war, dann hatte er sich mit einer möglichen Ansteckung nicht auseinandersetzen müssen. Ihm war die Aggressivität dieser Bakterien vermutlich nicht klar. Er hatte vielleicht nie erlebt, wie ein geliebter Mensch erkrankte und irgendwann wahnsinnig wurde. Diese Gedanken kreisten in Talis Kopf und machten sie rastlos und wütend zugleich.  »Es wäre schon längst tot, wenn ich so denken würde. Verflucht!« Sie schnaubte, drehte ihm den Rücken zu und ging ein paar Schritte von ihm weg, ehe sie das Funkgerät an sich nahm.  »Joel, bitte kommen. Joel!« Dieses Mal dauerte das Antworten nur wenige Sekunden. »Wir haben die Lage ganz gut im Blick. Entfern dich von dem Typen! Der scheint gefährlich zu sein. Over.« Tali sah in die Richtung, in der ihr Camp lag und konnte sich Joel ganz gut auf dem Bauch liegend vorstellen, das riesige Scharfschützengewehr, das noch von seiner Zeit beim Militär stammte, im Anschlag und die ganze Situation genau beobachtend. Von seiner Warte aus schien das Kleinkind auf dem Rücksitz dennoch nicht sichtbar zu sein. »Das ist nebensächlich. Ich brauche Douglas hier unten. Da ist ein kleines Kind auf dem Rücksitz des Wagens. Wir ... wir wissen nicht, was wir tun sollen. Der Typ will es mitnehmen. Over.« »Dann lass ihn halt und komm zurück. Soll er sich eben infizieren. Over.« »Vorhin wolltest du noch, dass ich ihn anspreche und mitbringe. Over.« »Da hatte er aber auch noch keine Waffe auf dich gerichtet.« Eine kurze Pause entstand. Dann sprach Joel weiter. »Ich komme mit ihm runter. Wie heißt der Typ? Over.« Tali blickte kurz über ihre Schulter. Zum Glück war der Kerl klug genug, um abzuwarten. Den Moment hätte er locker nutzen können, um sich mit dem Kind aus dem Staub zu machen. Aber so risikofreudig schien er dann doch nicht zu sein. »Ich weiß es nicht. Das kannst du ihn ja gleich selbst fragen. Ist bestimmt voll dein Typ. Over.« »Oh man, Tali ... im Ernst jetzt? Ich brauche keine mäßig erfolgreichen Verkupplungsversuche mehr. Bis gleich. Over and Out.« Sie senkte das Funkgerät, grinste freudlos und drehte sich wieder zu dem Mann in dem abgewetzten Ledermantel um. Auch das Hemd hatte schon bessere Tage gesehen, genau wie die kaputten Cargohosen. Dennoch machte der Typ alles in allem einen recht robusten, gesunden Eindruck. Ihm schien es in den letzten Monaten nicht allzu schlecht gegangen zu sein. Zumindest nicht schlechter als ihnen. »Sie werden in ein paar Minuten hier sein. Kannst du noch so lange warten?« »Sicher«, bestätigte er ihr, ging jedoch trotzdem um das Auto herum und öffnete die Hintertür. »Ich werde das Kleine aber rausholen und derweil in den Schatten stellen. In der Hitze des Wagens kann es nicht bleiben. Ich habe auch noch Wasser.« Sie sprach sich nicht dagegen aus. Der Gedanke war ihr auch gekommen und Tali beobachtete bewegter als ihr lieb war, wie der Kerl den Gurt löste, der den Kindersitz auf der Rückbank fixierte, und die ganze sperrige Apparatur heraushob. Das Schreien ebbte nicht ab, doch Husten mischte sich darunter.  Sie gingen gemeinsam auf die Tankstelle zu. Tali überholte den Anderen, öffnete die Tür zum Drive In und schloss sie hinter ihnen wieder. Da sämtliche Fenster verbarrikadiert waren und so kein Tageslicht den Raum direkt fluten konnte, herrschten hier drinnen nahezu angenehme Temperaturen.  »Oh, wow«, entwich es dem Vermummten, der kurzerhand das Tuch von seinem Mund löste und auch die Kapuze in den Nacken legte. Tali beobachtete das nur aus dem Augenwinkel heraus. Sie hielt Abstand zu dem Kind, das sich etwas beruhigte in der Dunkelheit, die hier herrschte. Durch die Spalten des Holzes drang noch genug Licht, um sich hier orientieren zu können, aber mehr nicht. Erst, als sie den Blick von einem schmalen Spalt, durch den sie die Ankunft der Anderen würde entdecken können, abwandte, konnte sie beobachten, wie der Fremde eine Wasserflasche aus seiner Tasche kramte und sie aufdrehte. Seltener Anblick. Und er war so schrecklich unvorsichtig.  »Du hast hoffentlich nicht vor, danach auch aus der Flasche zu trinken«, murmelte sie.  »Keine Sorge. So dumm bin ich nun wirklich nicht.« Er drückte dem noch immer wimmerndem Bündel die Flasche in die kleinen Hände und half ein bisschen nach. Als das Kind feststellte, dass da Flüssigkeit über seine Lippen kam, saugte es sich an der Flasche fest und leerte sie in gierigen Zügen. Das schien also noch zu funktionieren. Tali strich sich über die Oberarme und biss sich auf die Unterlippe. Bei Kindern war die Erkrankung nur schwer festzustellen. Sie hatten noch keine festen Verhaltens- und Bewegungsmuster wie Erwachsene. Apraxien oder Aphasien ließen sich nicht feststellen. Sie wusste nicht, ob es überhaupt Sinn machte, dass sie Douglas Cameron - den Arzt ihrer Gemeinde - hierher gerufen hatte. Was sollte er schon groß tun können?  Doch als sie die näherkommende Staubwolke im wirbelnden Sand entdeckte, war es für die Zweifel eh zu spät.  »Sie kommen«, teilte sie ihrem Begleiter mit und ging zur Tür, aber bevor sie diese öffnete, drehte sie sich noch einmal um. »Lass deine Flinte lieber stecken. Joel wird schnell nervös, wenn er bedroht wird und genauso schnell ist er mit dem Betätigen des Abzugs.« Der Fremde winkte ab und stand auf. Das Kind trank von allein und war endlich ruhig gestellt. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an den ehemaligen Verkaufstresen, um zu zeigen, dass er sich benehmen würde. Tali hoffte zumindest, dass seine Haltung dies ausdrücken sollte.   Tali war schon immer ein großes Mädchen gewesen. Das musste man sein, wenn man als Nachfahrin eines Indianerstammes auf eine texanische Schule ging. Doch in den starken Armen von Joel konnte sie sich dennoch immer wieder aufs Neue verlieren. Sie war hochgewachsen, aber er überragte sie trotzdem noch und wenn es ihr nicht gut ging, dann war er da und streichelte ihr Haar, was jeden Kummer oder Schmerz verpuffen ließ. Und vielleicht ... liebte sie ihn ein wenig zu sehr dafür. Wenn das nur irgendwo hinführen würde ... oder überhaupt Sinn hätte ... Hatte es nicht. Er hielt sie fest, als er fragend gegen ihren Scheitel wisperte, ob alles in Ordnung war. Sie nickte an seiner breiten Brust und löste sich von ihm, um in die strahlend blauen Augen zu blicken. Die Brille hatte er schon hochgeschoben, bevor er die Tankstelle betreten hatte. Er lächelte sie an und ließ seinen Blick dann schweifen, bis er an dem Fremden hängenblieb. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Douglas purzelte schon von hinten am ihm vorbei und näherte sich dem Kindersitz und dem Mann, der diesen zu hüten schien.  »Ich bin Dr. Cameron. Ich werde mir das Kleine mal ansehen, wenn es genehm ist?« Tali unterdrückte ein Schmunzeln. Jeder ihrer Truppe (nun ... vermutlich bis auf zwei Ausnahmen) hatte die Vorsicht mit Löffeln gefressen. Douglas nicht. Wenn es um einen Kranken ging, dann gab es für ihn kein Halten mehr. Dabei sollte er sich lieber mehr um die Gesunden sorgen und vor allem um sich selbst. Die Infizierten waren längst verloren.  Der Langhaarige ließ sich nicht beeindrucken und nickte dem Doktor deswegen nur zu. Sein Blick ruhte auf dem Mann im Raum, der wohl am gefährlichsten war. Tali musste zugeben, dass Joel mit seiner Ausrüstung ein wenig hätte sparen können, aber er war wohl tatsächlich davon ausgegangen, dass sie in unmittelbarer Gefahr schwebte. Wie ein großer Bruder, der sich um seine kleine Schwester sorgte. Das war fast ein bisschen traurig.  »Das ist Joel. Er führt unsere kleine Gemeinde an«, teilte sie dem Mann am Tresen mit und deutete neben sich. Dann zeigte sie auf Douglas. »Dr. Cameron. Er ist unser Arzt. Hat früher als Chirurg gearbeitet. Das ist von großem Vorteil. Und ich bin Tali. Früher mal Tala, die Wölfin, aber die Zeiten sind längst vorbei.«  »Und du bist?«, setzte Joel die Vorstellungsrunde fort, als er den Mann musterte, der auch ihn nicht aus den Augen ließ. Es war ein Abtasten. Tali verspannte sich dennoch, um notfalls eingreifen zu können. Ihre dunklen Augen wanderten zu dem Langhaarigen, der nun endlich nach der Fliegerbrille griff und sie auf seine Stirn rückte.  Sein Grinsen war flüchtig. »Ich heiße Neal, aber das tut nicht viel zur Sache. Ich werde nicht mit euch kommen, falls ihr das fragen wolltet.« Er sagte das mit solcher Entschlossenheit, dass Tali kurz an seinem Geisteszustand zweifelte, dann aber erkannte, dass er das durchaus ernst meinte. Dieser Typ war verrückt. »In einer Gruppe stehen deine Chancen zu überleben um einiges besser, findest du nicht? Warum wanderst du allein? Hast du schlechte Erfahrungen mit anderen Gruppierungen gemacht? Wenn ja, dann ... tut mir das leid, aber wir sind definitiv nicht so. Wir haben selbst ... viele verloren, die wir geliebt haben ...« »Nein, das ist nicht das Problem. Ihr scheint einen kompetenten Eindruck zu machen.« Neals Lächeln sah ehrlich aus. Ob er es auch so meinte, war dahingestellt. »Aber mir geht es nicht ums Überleben. Ich suche nach jemandem und wenn ich meine Belange mit ihm geklärt habe, dann hält mich nichts mehr auf dieser Erde.« »Und wer ist er?«, hakte Tali mit gerunzelter Stirn nach. Sie wusste nicht genau, was dem jungen Mann passiert war, aber wenn er nur noch für seine Rache lebte, dann musste es etwas Schlimmes gewesen sein. »Ich habe keinen Namen. Und es war auch nicht nur einer. Es war eine Gruppe, so wie eure. Auf Motorrädern, bewaffnet mit Flammenwerfern. Sie haben die Hütte in Brand gesteckt, in der ich mit meiner Frau und meiner Tochter untergekommen bin.« »Das ... tut mir leid«, murmelte Tali, nachdem sie einen hastigen Blick mit Joel gewechselt hatte.  Motorräder und Flammenwerfer.  Sie hatten einen Namen. Und tausend Gründe, um Neal davon abzubringen, sich ihnen auch nur auf hundert Meter zu näheren.  Joel schien das auch so zu sehen. Er schnaubte leise und schaute zu Douglas, der gerade wieder aufstand, nachdem er das Kind genaustens unter die Lupe genommen hatte. »Wie sieht es aus?« »Nun. Wir haben hier einen kleinen Jungen, der laut dem Namen auf seinem Strampler Adam heißt. Seine Reflexe sind regelrecht. Seine Körpertemperatur ist leicht erhöht, aber das kommt davon, dass er solange in dem heißen Auto gesessen hat. Er ist außerdem stark dehydriert. Seine Augen sind klar, er hat keinen Belag auf der Zunge. Wir nehmen ihn mit und stecken ihn erstmal in die Quarantäne. Morgen um die Zeit wissen wir mehr.« »Gut.« Joel nickte und sah dabei zu, wie Douglas den kleinen Jungen aus dem Autositz befreite und auf den Arm nahm. Dieses Vorgehen gefiel ihm rein vorschriftsmäßig offensichtlich gar nicht, aber emotional war es ein großer Moment, deswegen sagte er nichts, lächelte stattdessen sogar ein wenig. Aber das verließ seine Lippen wieder, als Douglas mit dem Kleinen nach draußen ging. Tali sah es genau und überlegte, ob sie den Raum lieber auch verlassen sollte, entschied sich aber dagegen.  »Nun zu dir«, fuhr Joel fort und nahm Neal wieder in den Fokus, der das alles regungslos über sich hatte ergehen lassen, auch wenn er zuvor deutlich gemacht hatte, dass er den Jungen mitnehmen würde. Allerdings schien er sich nicht daran zu stören, dass über seinen Kopf hinweg entschieden wurde, weil er wohl wusste, dass der Weg, den er mit seinem Leben eingeschlagen hatte, nicht der Richtige war, um ein kleines Kind mit hineinzuziehen. Vielleicht war er doch nicht ganz so wahnsinnig, wie Tali angenommen hatte.  »Ich sagte bereits, dass ich nicht ...« »Ich kenne die Truppe, von der du da sprichst«, unterbrach Joel ihren Gegenüber und blickte ein bisschen gehetzt zu der nur angelehnten Tür. »Und was du vorhast, wird dir nicht das geben, was du suchst. Diese Männer sind ehemalige Polizisten, Soldaten, Feuerwehrmänner. Die ganze Palette ehemaliger Ordnungshüter und anderer, die für den allgemeinen Schutz der Bevölkerung zuständig gewesen sind. Das tun sie jetzt immer noch, aber ihre Methoden sind mittlerweile anders. Sie sind bis an die Zähne bewaffnet, überfallen Siedlungen und heben sich über das Gesetz. Gut ... ein Solches existiert nicht mehr, aber du verstehst, was ich sagen will, oder? Sie reinigen die Welt von den Kranken und sie tun es gern. Nur verlangen sie dafür auch etwas. Und wenn man es ihnen nicht gibt ... nun, dann war’s das.« »Wir kennen bisher nur zwei ihrer Außenposten. Angeblich kommen sie aus dem Südosten und haben eine Festung direkt am Meer. Corpus Christi, aber was an den Gerüchten dran ist, wissen wir nicht genau.« Tali seufzte leise. »Wir wissen aber sicher, dass sie langsam expandieren. Lange Zeit hielten sie sich nur an der Küste auf, aber die Außenposten beweisen, dass sie nun auch ins Innenland vordringen.« »Und diese Außenposten sind wo?« Neal ließ sich nicht anmerken, was diese neuen Informationen mit ihm machten. Nach außen hin wirkte er ruhig, aber der Schein konnte trügen.  »New Braunfels und Victoria. Den Ersten haben wir selbst entdeckt. Vom Zweiten haben wir erfahren, als wir ein älteres Ehepaar aufgegriffen haben, das vor den Richtern geflohen ist.« »Richtern?« Joel brummte in seinen Drei-Tage-Bart und schüttelte den Kopf. »Du weißt überhaupt nichts, oder? Gut. Wir lösen das jetzt so, denn der Sturm wird schlimmer und wir sollten zurück. Du kommst mit uns, dann reden wir. Was du danach machst, ist dir überlassen. Ist das ein Deal?« Joel streckte dem nun nicht mehr ganz so Fremden die Hand entgegen. Talis Blick wanderte ebenfalls in die Richtung. Sie beide musterten Neal, warteten auf seine Reaktion und wussten nicht recht, wie diese ausfallen würde.  Doch wichtige Informationen wogen von jeher mehr als die eigenen Prinzipien, so eisern sie auch sein mochten. Neal zuckte mit den Schultern, stieß sich vom Tresen ab und kam näher, um dann in die ausgestreckte Hand einzuschlagen.  »Deal.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)