Way Down von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 9: Joel | The memory remains ------------------------------------ Es gab Momente im Leben, an die man nicht gern zurückdachte, weil man aus den Fehlern, die man zu diesem Zeitpunkt gemacht hatte, gelernt und mit einer Lektion und dem gehobenen Finger davongekommen war. Als sie die Stadtgrenze von Austin überquerten, fühlte sich Joel schlagartig zurückversetzt. San Antonio. Die brüllenden Sprinter, die sich mit enormer Geschwindigkeit bewegten und noch genug Verstand besaßen, um weniger komplexe Handlungen durchführen zu können. Das splitternde Dach über ihren Köpfen, die Schreie seiner Kameraden. Joel war froh, dass Neal am Steuer saß und den Pick-up in ein Parkhaus lenkte, das keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck machte, aber für die viel zu heißen Stunden des Tages vor neugierigen Blicken schützen würde. Der Flashback zehrte von seiner Energie und nur dank Jack, der ihm ein paar Augenblicke später den Block nach vorn reichte, konnte er diesen Erinnerungsmoment überwinden. Joel schielte kurz über seine Schulter. Er traute dem jungen Mann noch immer nicht, doch anscheinend war er da der Einzige. Dave hatte sich, nachdem er sich etwas von den Vorkommnissen in Johnson City erholt hatte, sofort mit Fragen auf den Jungen gestürzt und dabei schnell begriffen, dass er nicht allzu viele von ihnen stellen sollte, einfach weil der junge Kerl mit Schreiben gar nicht mehr hinterherkam. Den Blick von den beiden Jüngsten nehmend, überflog er die Zeilen, die Jack geschrieben hatte.    Unser Aufenthaltsort ist das Kellergeschoss des Texas State Capitols. Direkt im Zentrum der Stadt. Es gibt nur einen Zugang – an der St. Mary Kathedrale. Wenn wir uns bis dorthin durchschlagen können, dann sind wir in Sicherheit. Ich weiß den Weg durch die Kanalsysteme. Ich kann euch führen.   Er war schon in Austin gewesen. Zum ersten Mal während einem Ausflug seiner Schulklasse. Da hatten sie sich die Sehenswürdigkeiten angesehen, unter anderem auch das eindrucksvolle Capitol, das vor Geschichte nur so strotzte. Mittlerweile war davon vermutlich nicht mehr allzu viel zu sehen und diese Erkenntnis versetzte seinem Herz jetzt schon einen Stich. So viel Kulturgut war durch den dramatischen Wandel des Klimas zerstört worden. Mit Stolz und Herzblut aufgebaute Städte, die mit den letzten Jahrhunderten erblüht waren – alles dem Erdboden gleich gemacht. Dann vor wenigen Jahren … der Ausbruch der Seuche. Jetzt konnten nur noch die alten Menschen von den schillernden Zeiten berichten, in denen es zwar schon wärmer gewesen war, aber die Ressourcen noch ausgereicht hatten, um die Zivilisation aufrecht zu erhalten. Männer wie James. Vielleicht sogar noch Alteingesessene wie Sophie und Charles. Doch die Namen wurden weniger und die Geschichten leiser. »Was schreibt er?« Joel blinzelte und sah dann zum Fahrer des Wagens. Neal wirkte sehr viel weniger abwesend als er selbst und die gehobene Augenbraue bewies, dass der Einzelgänger durchaus erkannte, dass mit ihm etwas nicht stimmte, trotz der langen Abstinenz zu jedweder zwischenmenschlichen Interaktion. »Dass wir uns zum Texas State Capitol durchschlagen müssen. Eines der Wahrzeichen im Zentrum der Stadt. Ich würde gern noch ein Stück weiterfahren, aber der Asphalt heizt sich bereits schon wieder auf und ich will den Pick-up nicht aufs Spiel setzen. Von hier aus dürften es so einige Kilometer sein und die Mittagshitze ist nicht mehr weit.« Eine schlanke Hand griff an ihm vorbei nach dem Block und für einen flüchtigen Moment lang empfand sie Joel als viel zu … feminin. Doch der Gedanke verschwand schnell wieder, als sowohl er als auch Neal beobachteten, wie Jack hastig eine grobe Karte zeichnete. In diesem Moment war es Gold wert, jemanden bei sich zu haben, der Austin in- und auswendig kannte. Vermutlich wären sie ohne Jacks Hilfe sehr viel ärmer dran. Das ließ das Vertrauen jedoch keinesfalls wachsen. Joels Kopf spielte da ganz andere Szenarien durch. Wer sich in einer Stadt gut auskannte, konnte auch eine Leiche problemlos verschwinden lassen …    Es gibt auch an der Kreuzung vom Oak Hill und dem Sunset Valley Parkhäuser. Wenn wir bis dorthin fahren, können wir unterhalb der Route 1 die Kanäle benutzen. Nur über den Fluss kommen wir nicht so einfach.   Der Ex-Soldat betrachtete die grobe Zeichnung über der Notiz. Ihr derzeitiger Standpunkt war eingezeichnet, ebenso wie das Texas State Capitol und der Weg dorthin. Er wurde vom Colorado River unterbrochen, aber wenn sie den erst einmal überquert hatten, war es nur noch ein Katzensprung bis zum besagten Unterschlupf. »Was meint ihr?«, wandte sich Joel an seine anderen beiden Begleiter, die ebenfalls auf die Skizze blickten. »Wir wissen nicht, wo die Patrouillen der Richter gerade unterwegs sind. Es ist hell. Wir werden mit dem fahrenden Wagen auffallen wie ein bunter Hund, andererseits wäre die Zeitersparnis enorm.« Dave kratzte sich das Kinn und sah zu dem Jungen, der neben ihm saß. »Du bist ganz sicher, dass du den Weg kennst?« Jack nickte eifrig und sein Blick wanderte zu Neal, der mit seiner Antwort noch immer zögerte. Allerdings war da etwas in den grünen Augen, das nicht zu dem Zögern zu passen schien. Eine Art … wilde Entschlossenheit. Auch Joel bemerkte das. »Neal?« Der Angesprochene blinzelte kurz verwirrt, ehe er sich räusperte und schließlich nickte. »Sorry, war gerade in Gedanken. Ich finde, dass wir besser kommen, wenn wir das Stück noch fahren, auch auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden. Das Risiko müssen wir wohl eingehen. Hoffentlich können wir den Wagen gut genug verstecken. Es wäre unschön, wenn wir hier feststecken würden, nur weil sie uns den Pick-up geklaut haben.« »Was waren das für Gedanken?«, hakte Joel nach, doch Neal startete bereits wieder den Motor und fuhr vom Parkhaus aus zurück auf die Straße, ohne ihm eine Antwort zu geben.      -     Das Parkhaus, das sie sich ausgesucht hatten, war so vorgestellt mit Fahrzeugen, dass es ihnen nicht schwerfiel, den Pick-up zu verstecken. Mit vereinten Kräften keilten sie ihn zwischen weniger verrosteten Wagen ein und nahmen alles mit, was nicht festgenagelt war. Bisher hatten sie weder Motorräder, noch Kranke gesehen, aber Joel wusste aus eigener, sehr schmerzlicher Erfahrung, wie schnell sich das ändern konnte. Man war nirgendwo sicher. Man musste nur ein paar Geräusche zu viel machen und schon schreckte man ein paar Verrückte auf, die durch ihr Geschrei noch mehr anlockten und er wurde das Gefühl nicht los, dass hier so einiges schief gehen konnte, wenn sie nicht aufpassten.   Sie gelangten direkt durch einen Gullydeckel vor dem Parkhaus in die Abwasserkanäle der Stadt. Der Geruch war schlimmer als in Johnson City, doch Jack lief so eifrig los, dass sie sich nicht lange damit befassen konnten. Da sie ihr Fahrzeug nahezu leer geräumt hatten, waren sie mit Taschenlampen bestens versorgt. Joel fragte sich, wie viel Zeit Jack wohl im Untergrund verbracht hatte, so sicher wie er sich in den verschachtelten Gängen bewegte, bis er bemerkte, dass der junge Mann ab und zu an Kreuzungen stehen blieb und die Wände beleuchtete. Als er es ihm gleich tat, sah er befremdliche Symbole, die in das Mauerwerk eingeritzt waren. »Sind das Wegmarkierungen oder so?«, fragte er direkt nach und leuchtete zu Jack, der im Licht blinzelte, dann aber nickte. Er formte Worte mit seinen Händen, aber da keiner von ihnen der Gebärdensprache mächtig war, brachte das nicht viel und Jack gab frustriert auf. Joel hob jedoch die Hand, als der Jüngere abermals den Block hervorholen wollte. »Schon gut. Wir verstehen. Sie sind eure Orientierung hier unten, hm? Benutzt ihr nur die Kanäle, um euch fortzubewegen?« Wieder ein Nicken. Damit gab sich Joel zufrieden. Das war gut durchdacht. Hier unten war man vor der Hitze und vermutlich auch vor den Kranken gut geschützt. Vor allem aber kam man ungesehen von A nach B, aber das ging auch nur, wenn man wusste, wohin man laufen musste. Damals in San Antonio hätte ihnen das nicht viel gebracht. Sie hätten sich rettungslos verlaufen und wären ein noch besseres Ziel gewesen. Joel wollte sich selbst dafür schlagen, dass er sich nur schwer auf das Hier und Jetzt konzentrieren konnte. Die Vergangenheit hatte lange nicht mehr so vehement an seinem Verstand genagt. Solch eine Schwäche konnte er sich hier nicht leisten und doch war es schwer, seine ständig wandernden Gedanken zu fokussieren. Er war teilweise so vertieft, dass er gar nicht bemerkte, dass vor allem Dave ihn sehr genau im Auge behielt. Der Rotschopf wusste, wie es um den Zustand des Größeren stand. Und Neal spürte es. Vielleicht hatte sich der Blonde tatsächlich zu viel zugemutet. Aussprechen tat es keiner von ihnen.   Sie waren nicht mehr sonderlich weit vom angepeilten Ausgang entfernt, als sie es hörten. Erst war es nur ein fernes Wimmern, das man auch leicht mit dem Pfeifen irgendeiner geplatzten Leitung verwechseln konnte. Doch je lauter es wurde, desto mehr schien es aus allen Richtungen zu kommen. Jack war stehengeblieben und Joel bemerkte sofort, dass diese Geräusche auch für den Jungen neu waren. Er mochte seit ein paar Wochen nicht mehr hier gewesen sein, aber manche Dinge blieben vertraut und wenn sich zu diesen Gegebenheiten neue gesellten, war das selten ein gutes Zeichen. Die Schritte, die sich nur kurze Zeit später zu dem Wimmern gesellten, waren dumpf, aber hatten keine Eile. Joel löschte das Licht seiner Taschenlampe und die Anderen taten es ihm gleich. »An die Wand!«, zischte er leise und hörte, wie Jack die Armbrust von seinem Rücken zog, ehe er sich direkt neben ihm an die Kanalwand drückte und sich flacher atmend die Waffe an die Brust presste. Joel konnte nichts mehr sehen, aber er nahm wahr, dass auch Dave und Neal leiser atmeten. Immer näher kamen die Schritte und nichts zu sehen, war weitaus schlimmer, als Joel sich das gedacht hatte. Seine Finger umfassten Griff und Abzug seines Gewehres fester, genau wie die Taschenlampe, die er wohl eher verwenden würde, sollte es zu einer Konfrontation kommen. Das Gehäuse war aus hartem Kunststoff. Schlug man hart genug zu, würde es reichen, um durch den Schädel eines Kranken zu kommen, aber Gott … er hoffte, dass das nicht nötig sein würde. Jeder Kontakt mit dem kontaminierten Blut erhöhte das Risiko, sich zu infizieren. Über den Virus war kaum etwas bekannt, denn die Berichterstattungen hatten schon kurz nach Ausbruch gestoppt, weil sich der Erreger zu schnell und zu heftig ausgebreitet hatte. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass es schon genügte, die gleiche Luft zu atmen wie diese Wesen, was keinesfalls beruhigend war, denn zu den Schritten gesellte sich gebrochenes, röchelndes Atmen und es war viel zu nahe.   Es kam nicht nur aus einer Richtung …   Nicht abschätzen zu können, mit wie vielen Gegnern sie es zu tun hatten, brachte Joel mental an seine Grenzen. Er hatte die Verantwortung für drei weitere Menschen und sich selbst, ohne zu wissen, was er riskieren konnte und was nicht. Draußen in der Wüste rund um den Enchanted Rock war das alles einfacher, da sie größtenteils auch tagsüber unterwegs waren. In der Helligkeit konnte man sich besser orientieren, konnte besser planen. Die absolute Finsternis hier unten und das Stillstehen – nein … für ihn war das nichts und doch zog er es durch, auch wenn ihn nach weiteren Sekunden, in denen er die Luft angehalten hatte, der süßlich verfaulte Mundgeruch des Kranken streifte. Der Arm der Kreatur berührte seine Brust und das Röcheln hielt kurz inne. Shit, shit!, raste es ihm durch den Kopf und er schloss die Augen, presste die Lippen zusammen, um vor lauter Anspannung ja keinen Laut von sich zu geben, auch wenn der Sauerstoff, den er in seinen Lungen hielt, langsam knapp wurde. Der Kranke vor ihm schien zu lauschen. Er befand sich längst nicht mehr im Anfangsstadium. Frisch Infizierte, die sie als Sprinter bezeichneten, hätten nun angefangen zu tasten oder wären direkt zu Schlägen und Tritten übergegangen. Der vor ihm schien darüber hinaus zu sein, bewegte sich bereits langsamer und war von Kleinigkeiten zwar irritiert, aber konnte sich dabei nicht mehr viel denken. Vielleicht rettete ihn das, denn der stinkende Atem verschwand von seinem Gesicht und der nächste Schritt führte die Gestalt von ihm fort. Ein fernes Brüllen jedoch ließ sie wieder stehenbleiben. Ein gequälter Laut war zu hören, gefolgt von einem Stöhnen und schließlich dem Wimmern, das sie schon zuvor gehört hatten. Schnelle Schritte näherten sich und das … war der Ernstfall.   Joel entließ zischend die angehaltene Luft, als die Infizierten sie erreichten. Es waren auf jeden Fall mehr als zwei und sie rissen den Kranken direkt von den Beinen. Zumindest hörte es sich so an. Diese Kranken jagten sich gegenseitig? Der Gedanke tauchte nur kurz am Rand von Joels Bewusstsein auf. Da die Angreifer abgelenkt schienen, stieß er den Jungen an seiner Seite an. »Anderer Weg!«, zischte er laut genug, damit Dave und Neal, die sich an die gegenüberliegende Wand pressten, es auch hören konnten. »Jetzt!« Jack knipste seine Lampe an und sprintete in die Richtung los, aus der sie gekommen waren, während sie ihm sofort folgten. Hinter ihnen brüllten die Kranken – aufgeschreckt durch das Licht und die fremden Schritte. Aber da sie nur eine Lampe angemacht hatten, war der Schein schon längst nicht mehr zu sehen, als sie um die erste Ecke gebogen waren. Das verschaffte ihnen den Vorteil eines kleinen Vorsprungs. Doch Sprinter waren schnell. Letztlich würden es wohl nur ein paar entscheidende Sekunden werden. Joel gefiel es nicht, dass er sich gerade blind auf Jack verlassen musste. Seine ganze Truppe war abhängig von dem Fremden, der ihm sein Gewehr gestohlen hatte. Sie hatten einen Sündenbock, wenn etwas schief gehen sollte, aber Joel kannte sich gut genug, um zu wissen, dass er sich die Schuld daran geben würde, wenn den Anderen etwas passierte. Oder ihm selbst. Aber das war nicht einmal das Wichtigste. Er musste Dave sicher zu Malia zurückbringen und Neal … mochte er, selbst wenn er ihn noch nicht allzu gut kannte. Er sehnte sich schon jetzt nach den Klängen, die der Langhaarige seiner Gitarre entlockte und nach der angenehmen Stimme, die dazu sang.   Verdammter Mist, Malone – bleib der der Sache!   Sie rannten immer noch und die letzte Mahlzeit, die sie zu sich genommen hatten, schien eine Ewigkeit her zu sein. Anscheinend sorgte nur noch das pure Adrenalin dafür, dass er sich bewegen konnte. Der Schein der Taschenlampe vor ihnen änderte ein weiteres Mal die Richtung, verharrte dann und bewegte sich nach oben. Eine Leiter. Dann Tageslicht, als Jack den Gullydeckel aufstieß. Das Brüllen in ihrem Rücken war lauter als vorher. Ihre Reihe stockte, als sich erst Dave und dann Neal auf die Leiter schwangen und sie hastig erklommen. Zwei Meter, drei Meter. Joel drehte sich nicht um, bevor er nach oben sprang und sich an der Sprosse hochzog.   Er hätte es tun sollen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)