Kinder des Kreuzes von Maginisha ================================================================================ Kapitel 5: V ------------ Kaltes, klares Wasser rann sein Gesicht hinab, während er die Hände auf den Rand des Waschbeckens stützte und sich selbst im Spiegel betrachtete. Die schwarzen Haare fielen ihm tief in die Stirn und bedeckten teilweise seine Augen, die tief und dunkel in ihren Höhlen lagen. Er war blass. Die letzten Wochen und Monate hatten ihre Spuren hinterlassen. Und doch war jede von ihnen es wert gewesen. Er verzog die Lippen zu einem wölfischen Lächeln. Nein, das Gesicht vor ihm hatte nichts Kindliches mehr. Brad wischte sich mit dem Handtuch die letzten Tropfen aus dem Gesicht und setze seine Brille wieder auf. Er verließ die Waschecke und ging durch den Schlafsaal zu seinem Bett. Seine Sachen lagen dort ordentlich gefaltet auf der groben, grauen Wolldecke. Während er sich gerade das Hemd zuknöpfte, vernahm er ein Geräusch an der Tür. Er wandte den Kopf in die Richtung und sah ein Mädchen mit langen, dunkelroten Haaren an der Tür stehen. Er kannte sie flüchtig. Sie war eine der Obscura, den Erweckern von Angst und Finsternis. Das Mädchen fingerte nervös an den Falten ihres schwarzen Kleides herum. Es amüsierte ihn, dass ausgerechnet eine von ihrer Sorte Angst vor ihm zu haben schien. Obwohl es vermutlich keine Angst vor ihm, sondern vielmehr vor seiner Position und seinem Einfluss war. „Was ist?“, half er ihr schließlich aus der Klemme. „Vertigo schickt nach dir“, brachte sie schließlich heraus. „Er erwartet dich am Haupttor.“ Er nickte und entließ sie mit einer Geste. Vertigo. Er war der wahre Grund, warum das Mädchen sich fürchtete. Brad war sein allseits bekannter Liebling, sein Primus, seine rechte Hand. Inzwischen mehr denn je. Er und Frau Nakamura hatten Fortschritte weit über das hinaus gemacht, was sie jemals mit einem Precog erreicht hatte. Anstatt sabbernd auf einem Lager dahin zu siechen und sich lediglich über Papierstreifen mitzuteilen, war er inzwischen in der Lage, Zeitstränge über mehrere Stunden zu verfolgen, wenn diese sich nicht allzu sehr verzweigten. Manchmal gelang es ihm sogar einen Blick auf Dinge zu erhaschen, die Tage in der Zukunft lagen. Diese Bilder waren oft noch vage, aber seine Ausbilder waren zufrieden. Höchst zufrieden sogar. Seit sein Japanisch so gut geworden war, dass sie ihn darin unterrichten konnte, hatte Frau Nakamura sogar manchmal Anflüge eines Lächelns gezeigt, auch wenn er sich bei diesem Eindruck getäuscht haben konnte. Es gab allerdings noch einen zweiten Grund, aus dem Vertigo ihn so schätzte. Und das war genau der Grund, aus dem er ihn zum Tor rufen ließ. „Sicherlich steht eine neue Lieferung an.“, sagte er zu sich selbst. Außer ihm wohnten momentan nur drei weitere Jungen in der Baracke. Sie waren bereits am frühen Morgen zum Training abgeholt worden. Dabei hatten sie sich bemüht, möglichst leise zu sein, um ihn nicht zu wecken. Er hatte gehört, wie sie miteinander geflüstert hatten, während sie ihre Lagerstätten ganz am anderen Ende der Bettenreihe für die Inspektion herrichteten. Niemand sprach mit ihm, wenn es sich vermeiden ließ. Brad begrüßte das. Persönliche Beziehungen waren etwas, das im Lager früher oder später zu Problemen führte. Sie machten einen angreifbar. Er hatte sich nicht an die Spitze der Nahrungskette gekämpft, um sich dann wegen irgendwelcher nichtiger Gefühle von dort stürzen zu lassen. Er traf seinen Ausbilder wie befohlen am Haupttor, wo dieser bereits mit Ungeduld auf den ankommenden Transport wartete. „Ah, Bradley“, rief der große Mann fröhlich und zeigte ein breites Grinsen. Seit ihrem ersten Treffen hatte das Gesicht des großen Mannes für Brad an Schrecken verloren. Selbst der Größenunterschied zwischen ihnen war geschrumpft, auch wenn Vertigo ihn immer noch um Haupteslänge überragte. „Wie schön, dass du endlich kommst. Ich habe gute Neuigkeiten.“ „Wir bekommen neue Rekruten.“ Brad gab sich betont kühl. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich hier trafen. „Oh, du musst mir den Spaß verderben. Verdammter Precog!“ Vertigo täuschte eine Boxhieb an und Brad wich ihm spielerisch aus. Dann stellte er sich neben seinen Ausbilder, der ihm eine seiner riesigen Pranken auf die Schulter legte. Die Berührung war Brad unangenehm, aber er ließ es sich nicht anmerken. Es war nicht ratsam, Vertigo zu verärgern, sogar wenn er gerade in so guter Stimmung war. Endlich war Motorengeräusch zu hören und dann öffneten sich die großen, stacheldrahtbewehrten Doppelflügel des Tores, um den Transport einzulassen. Er hielt direkt vor dem Haupthaus und zwei Wachen sprangen von der Ladefläche des Lastwagens. Sie öffneten die hinteren Türen und eine Handvoll Kinder und Jugendliche stieg aus. Die meisten von ihnen trugen bereits die grauen Overalls, die alle Neuankömmlinge bekamen. Richtige Kleidung musste man sich später erst verdienen. Es gab allerdings eine Ausnahme. „Oh, was haben wir denn da?“, frohlockte Vertigo und leckte sich über die Lippen. „Mhm, ein Rotschopf. Recht appetitlich, oder? Irgendwie apart diese Haarfarbe. Wäre mal etwas Neues. Was meinst du, ob er ein geeigneter Kandidat ist?“ „Er sieht aus, als würde er Ärger machen“, gab Brad zurück. Wobei das eine maßlose Untertreibung war. Der rothaarige Junge sah nicht nur aus, als würde er Ärger machen. Er hatte das Wort quasi auf die Stirn tätowiert. „Da hast du gar nicht mal so Unrecht“, erwiderte Vertigo. „Hat sein gesamtes Bergungsteam gekillt, das Früchtchen. Sind alle im Feuer umgekommen.“ Brad runzelte die Stirn. „Ein Pyromant?“ Vertigo tippte sich mit zwei Fingern gegen die Schläfe. „Telepath. Sehr viel mehr wissen wir leider nicht über ihn. Die Akte wurde im Feuer vernichtet. Fundort müsste Berlin gewesen sein, aber genaueres ist nicht bekannt. Also sehen wir ihn uns doch mal an.“ Brad blieb zurück, während Vertigo die Kinder in Empfang nahm. Er beobachtete, wie die Neuen eingeschüchtert zusammen rückten, als sie des riesigen Ausbilders gewahr wurden. Einzig der Rotschopf schaute immer noch ein wenig trotzig. Brad war sich sicher, dass ihm das bald vergehen würde. Vertigo hatte ein Auge auf ihn geworfen und alle im Lager wussten, was das bedeutete. Schon der kleinste Fehltritt würde den Jungen seinen Kopf...oder schlimmeres kosten. Der Neue hielt bis zum Mittagessen durch. Brad hatte sich gerade alleine an einen der Tische im Speisesaal zurückgezogen, als es am Tresen, an dem das Essen ausgegeben wurde, einen Tumult gab. Mittendrin der rothaarige Telepath. Brad verstand zwar nicht, worum es ging, aber vermutlich war die gewohnt miese Qualität des Essens das Thema. Wenn er den graubraunen Brei auf seinem Teller betrachtete, konnte er dem kleinen Unruhestifter eigentlich nur Recht geben. Trotzdem hätte er besser seinen Mund gehalten, denn jetzt hatte Vertigo seinen großen Auftritt. Der riesenhafte Ausbilder trat hinzu und sprach den Jungen an. Der antwortete in einem Tonfall, der Brad unwillkürlich schmunzeln ließ. Courage hatte der Kleine, da musste man ihm lassen. Dass er allerdings im nächsten Augenblick Vertigo seinen Teller vor die Füße warf, war weniger klug. Das Geschirrteil zerschellte mit einem Klirren am Boden und etwas der unappetitlichen Pampe spritze auf Vertigos blank geputzte Stiefel. Ein Raunen ging durch die Reihen gefolgt von atemloser Stille. Es war eindeutig, dass alle - auch die, die sehr geschäftig mit ihren Tellern getan hatten - nur Augen und Ohren für den Zwischenfall im vorderen Teil des Raumes gehabt hatten. Was folgte, war unvermeidlich, denn wenn es etwas gab, das Vertigo noch mehr hasste als mangelnden Gehorsam, war es Dreck auf seinen Schuhen. Er funkelte den rothaarigen Jungen an und zischte ihm etwas zu. Dann winkte er zwei uniformierten Wachen, die den Unglücklichen in Gewahrsam nahmen und abtransportierten. Vertigo richtete sich auf und sah sich prüfend um. Unzählige Köpfe ruckten herum und sofort brandete wieder der übliche Lärm auf, den viele Löffel auf bereits zerkratzten Tellern machten. Vertigos und Brads Blick trafen sich über die vielen gesenkten Häupter hinweg. Der Ausbilder reckte das Kinn und der Schüler senkte ergeben den Blick. Er wusste, worin seine Aufgabe an diesem Abend bestehen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)