Kinder des Kreuzes von Maginisha ================================================================================ Kapitel 6: VI ------------- Das Lagerhaus lag etwas abseits des Hauptweges. Tagsüber diente das marode Gebäude mit seinen Hantelbanken, Reckstangen und Kletterseilen den Insassen des Lagers als Trainingsraum. Die Geräte waren alt, abgegriffen und vom Verfall gekennzeichnet. Im schwindenden Licht der bereits hereinbrechenden Nacht wirkten sie wie mittelalterliche Folterinstrumente. Die eigentliche Bedrohung ging jedoch vom hell erleuchteten Bereich im hinteren Teil der Halle aus. Hier stand ein Boxring, dessen Errichtung deutlich jüngeren Datums war. In einer Ecke hatte sich bereits ein Kämpfer eingefunden und wartete auf seinen Gegner. Brad ließ die Arme kreisen, um die Muskeln warm und geschmeidig zu halten. Sein bloßer Oberkörper zeigte durch stetige Training definierte, wenngleich auch nicht unbedingt voluminöse Muskeln. Seine Hände waren mit weißen Bandagen umwickelt. Ein wenig ungeduldig ließ er den Blick zur Eingangstür schweifen. Vertigo ließ ihn heute Abend warten. Nicht, dass das ungewöhnlich gewesen wäre, doch er hatte die Gier im Blick des Mannes gesehen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er sich mit dem Beginn des Schauspiels so lange Zeit ließ. Im Halbdunkel um den Ring hatten sich mit ihm bereits eine andere Insassen versammelt. Eine eigentümliche Anspannung war unter ihnen zu spüren. Sie nahm zu, je länger sich der Beginn des Kampfes verzögerte. Es erinnerte Brad an ein Zitat, das er jüngst gelesen hatte. Es gibt Dinge, denen wir nie müde werden, sie zu betrachten: Feuer, Wasser und das Leid anderer Leute. Die Meute um den Ring gierte förmlich nach Blut, so lange es nicht ihr eigenes war. Und Brad war ein Garant dafür, dass Blut fließen würde. Er verstand es, seine Gabe auch während des Kampfes einzusetzen und so die Bewegungen seines Gegners vorauszuahnen. Die wenigsten konnten dem etwas entgegensetzen. Zudem hatte er keine Skrupel, einen Vorteil unbarmherzig auszunutzen. In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein massiger Schatten zeichnete sich gegen die mondhelle Nacht ab. An seiner Seite ein kleinerer Umriss, der nun von ihm zum Ring geführt wurde wie ein Lamm zur Schlachtbank. Im Lichtkreis des Rings erschienen Vertigo und der rothaarige Telepath. „Ah, du hast bereits alles vorbereitet“, strahlte Vertigo Brad an. „Sehr schön, dann lass uns anfangen.“ Er wandte sich an den kleineren Jungen. „“Du hast eine Chance. Gewinne den Kampf und du kommst noch einmal mit heiler Haut davon.“ Brad unterdrückte ein Schnauben. Dieser Satz war eine einzige Farce. Die halbe Portion hatte nicht den Hauch einer Chance gegen ihn. Wie immer hatte sich Vertigo einen kleinen, eher schmal gebauten Jungen ausgesucht. Es entsprach seinen Vorlieben. Wie die anderen vor ihm war auch er noch nicht ausgebildet, sodass er seine Fähigkeiten nicht gegen Brad einsetzen konnte. Der Junge war lediglich hier, damit Vertigo ein neues Spielzeug bekam. Nach dem Kampf würde ihm Vertigos spezielle „Pflege“ zuteilwerden und dann würde er für immer verschwinden. So wie die anderen vor ihm. Brad dachte nicht weiter darüber nach, solange es seinen Mentor bei Laune hielt und ihm seine Stellung sicherte. Der Kampf begann und Brad ging direkt zum Angriff über. Vertigo mochte es, wenn er nicht lange fackelte, und auch die anderen Zuschauer begrüßten diese schnelle Eröffnung ebenfalls mit lauten, anfeuernden Rufen und Beifall. Zu Brads Erstaunen wich der kleinere Junge ihm jedoch mit gerade zu spielerischer Leichtigkeit aus und lachte nur. Er sah ganz und gar nicht verängstigt aus und ließ eine wüste Tirade von Schimpfwörtern auf Brad herabregnen. Die meisten davon verstand er nicht, doch Vertigo schienen sie zu amüsieren. Brad sah zu ihm hinüber und hob fragend eine Augenbraue. „Oh“, prustete Vertigo,“er nannte dich ein lahmes Maultier, eine Zimperliese und etwas, das ich dir lieber nicht übersetze.“ Der Ausbilder grinste. „Ich möchte den Jungen ja gerne noch in einem Stück wiederhaben.“ Brad drehte sich zu dem feixenden Jungen um und knurrte: "Das werden wir ja noch sehen, du kleiner Teufel." Dann stürzte sich er auf den anderen Jungen auf und ließ seine Fäuste sprechen. Brad erwischte den Jungen zwei- oder dreimal hart, bis dieser aus der Ecke flüchten konnte und sich auf der anderen Seite des Rings in Sicherheit brachte. In seinen Augen stand nun doch etwas Unsicherheit und die Erkenntnis, dass er seinen Gegner offensichtlich unterschätzt hatte. Brad grollte eine unmissverständliche Drohung und bewegte sich dann langsam auf den Jungen zu. Er wusste, dass er ihn nicht zu sehr verletzten durfte, doch das hier war jetzt etwas Persönliches. Er hatte gewagt, den Verlauf des Kampfes Brads Kontrolle zu entziehen, und das war etwas, das er nicht dulden würde. Die Augen des Jungen wurden noch größer, als Brad fast gemächlich näher kam. Fast glaubte er, einen Schimmer von Panik darin zu entdecken. Gleichzeitig begannen die Kopfschmerzen. Brad fühlte, wie sich schleichend, aber unaufhörlich, eine psychische Kraft in seinem Kopf zu schaffen machte. Vertigo konnte es nicht sein, denn dessen Wirkung kannte Brad. Das hier war kein Schwindelanfall. Es war mehr eine Art geistige Nadel, die sich immer weiter in sein Gehirn bohrte und dort höllisch Schmerzen auslöste. Unsicher blieb Brad stehen und seine Hand glitt wie von selbst in Richtung seines Kopfes. Sein Blick fiel auf seinen Gegner, dessen Gesicht höchste Konzentration anzeigte. Ärger schwappte in Brad hoch. Er hatte nicht angenommen, dass dies ein Kräftemessen der besonderen Art werden würde. Also schön, dachte Brad, wenn du es so haben willst, können wir den Kampf auch gerne auf dieser Ebene austragen. Er verstärkte seine Abwehr und fühlte, wie die Kopfschmerzen langsam nachließen. Aber dann kehrten sie mit derartiger Heftigkeit zurück, dass Brad unwillkürlich aufstöhnte. Die Nadel hatte sich inzwischen in ein glühendes Messer verwandelt, das seine Gedanken durchbohrte und seine Schilde schwanken ließ. Undeutlich nahm er wahr, dass noch jemand den Ring betrat, während der rothaarige Junge die Attacke noch verstärkte. Ein Gefühl von Furcht begann in Brad aufzusteigen. Was, wenn er die Kontrolle total verlieren würde. Wenn die Schilde fielen und er dem Wahnsinn ausgesetzt wurde, der dahinter lauerte. Eine Stimme an seinem Ohr holte ihn ein wenig in die Wirklichkeit zurück. "Na los, Brad, du kannst es", flüsterte Vertigo heiser und Brad nahm undeutlich den warmen, sauren Atem war, der an seinem Ohr entlang strich. "Denk an das, was ich dir beigebracht habe. Seine Schilde sind komplett unten. Glaubst du, er wäre in der Lage, dich noch abzuwehren? Na los, schnapp ihn dir." Brad überlegte nicht lange und ließ seine Schilde fallen. Gleichzeitig zog er seine Wahrnehmung so weit wie möglich in sich selbst zurück, sodass der Strom an Bildern und Informationen ungefiltert durch die Verbindung schoss, die der andere Junge geschaffen hatte. Brad hörte einen ersticken Schrei und öffnete mühsam die Augen. Was er sah, war gleichzeitig interessant und grausam. Die Augen des anderen Jungen waren weit aufgerissen, sein Körper zuckte unkontrolliert. Offensichtlich war er, genau wie Vertigo vorausgesehen hatte, nicht in der Lage, sich dagegen abzuschirmen. Blut begann in einem dünnen Rinnsal aus seiner Nase zu laufen, während sein Geist überflutet wurde. "Es ist genug", befahl Vertigo nach einer Weile. "Lass ihn gehen." Gehorsam, wenn auch mit einiger Anstrengung, fuhr Brad die geistigen Schilde wieder hoch. Der andere Junge schwankte kurz, dann verdrehten sich seine Augen und er brach auf dem Fußboden zusammen. Vertigo trat auf ihn zu, fühlte seinen Puls und nickte dann. "Die Show ist für heute vorbei", verkündete er dem restlichen Publikum, das sich offensichtlich während des Kampfes noch um eine ganze Menge Personen vergrößert hatte, denn Brad nahm nach und nach immer mehr Augenpaare war, die aus dem Halbdunkel zu ihnen hinaufstarrten. "Wer nicht in zwei Minuten draußen ist, kriegt gewaltigen Ärger mit mir." Diese Drohung wirkte Wunder und binnen kürzester Zeit waren nur noch er, Brad und der bewusstlose Junge übrig. Vertigo bückte sich und nahm den schlaffen Körper vorsichtig hoch. In den Armen des großen Mannes wirkte der Rotschopf wie eine Puppe, deren Kopf haltlos von rechts nach links pendelte. Vertigo drehte sich zu Brad um. "Das war gut, Bradley", lobte er und sah mit einem maliziösen Grinsen auf seine Beute hinab. Brad antwortete nicht. Sein Blick war immer noch auf seinen bewusstlosen Gegner gerichtete. Aus irgendeinem Grund hatte er einen bitteren Nachgeschmack von diesem Kampf zurückbehalten. Sein Mentor ruckten den Jungen noch einmal in seinem Arm zurecht und wollte an Brad vorbeigehen, als dieser ihn am Arm zurückhielt. Vertigos Augenbrauen zogen sich zu einer zornigen Falte zusammen. "Was ist?", fauchte er ärgerlich und funkelte Brad drohend an. Innerlich fragte Brad sich, was ihn diese offensichtliche Dummheit wohl kosten würde, doch jetzt war es zu spät. Wenn er jetzt zurücksteckte, waren seine Tage sowieso gezählt. Er hatte den ersten Schritt zum Widerspruch gemacht und nun konnte er nicht mehr zurück. "Ich will es nicht.", sagte er lediglich und wies mit einer knappen Geste auf den anderen Jungen. "Er hat nicht verloren." Vertigos Augen wurden schmal. "Aber er hat auch nicht gewonnen. Oder stimmst du mir da auch nicht zu, Bradley?" Die Drohung in diesen Worten war fast körperlich spürbar, aber es blieb bei Worten. Brad bemerkte nichts von Vertigos Fähigkeiten, die ihn in die Knie zwingen sollten. So versuchte er ruhig zu bleiben und grollte leise: "Ich habe gesagt, ich will es nicht. Nicht heute und nicht er." Der Mann verstärkte den Griff um den Rotschopf kurz, dann wich die Anspannung in seinem Gesicht einem breiten Grinsen. "Ach so ist das." Er lachte nun lauthals los und Brad fragte sich ernsthaft, was in aller Welt denn jetzt komisch sein konnte. Vertigo wurde mit einem Mal wieder ernst und trat nahe an Brad heran, sodass sich der Körper des Jungen zwischen ihnen befand. "Hier", zischte er mit einem hinterhältigen Ausdruck in seinem Gesicht, der sein Raubtiergebiss fast bis zu Gänze enthüllte. "Nimm ihn!" Bei diesen Worten stieß er Brad den Jungen so heftig in den Arm, dass dieser mit der plötzlichen Last einen Schritt rückwärts taumelte, bevor er das Gleichgewicht wieder fand. Erstaunt sah er Vertigo an, der seinem Grinsen einen anzüglichen Unterton verlieh. "Wenn du ihn zähmen kannst", verkündete er großzügig, "darfst du ihn behalten. Sieh es als eine Art Belohnung an, Crawford." Damit wandte er sich am und verschwand mit einem gewaltigen Satz in der Dunkelheit unterhalb des Rings. Kurz darauf klappte die Tür und Brad war allein mit dem anderen Jungen. Missmutig sah er auf ihn hinab. So hatte er sich das eigentlich nicht vorgestellt. Das Blut an der Nase des Jungen fing bereits an zu trocknen. Brad ruckte das Gewicht in seinen Armen zurecht und machte sich auf den Weg zurück zu den Schlafstätten. Wenn er nicht rechtzeitig zum Zapfenstreich zurück war, konnte ihm das gewaltigen Ärger einbringen und er war sich nicht sicher, ob Vertigo dieses Mal für ihn einstehen würde. Crawford, schoss es ihm durch den Kopf. Das hieß wohl, dass er jetzt in der richtigen Liga mitmischte. Diese Entwicklung war nicht unbedingt die Schlechteste, doch der Grund dafür gefiel ihm nicht. Es war nicht ratsam, Vertigo gegen sich zu haben. So hatte er das eigentlich nicht geplant. Am Eingang zu seiner Baracke zögerte er. Die Worte seine Mentors hallten durch seinen Kopf. Wenn du ihn zähmen kannst, darfst du ihn behalten. Es stand außer Zweifel, wie das gemeint gewesen war und Brad verzog das Gesicht. "Perverser Mistkerl!", knurrte er und stieg kurzentschlossen die Stufen zum Schlafsaal empor. Das Bett neben ihm war leer, so ließ er den Rotschopf darauf fallen, deckte ihn leidlich zu und wollte sich schon abwenden, als der Junge die Augen aufschlug. “Wo?”, krächzte er und seine Augen weiteten sich, als er Brad erblickte. Der machte eine beschwichtigende Geste. “Keine Angst, ich tu dir nichts.” Der Rotschopf zog die Stirn kraus und setzte sich auf. Dabei schoss neues Blut aus seinen Nasenlöchern und tropfte auf die Bettdecke. Er fluchte und versuchte vergeblich, den Blutstrom mit der Hand aufzuhalten. Wortlos reichte Brad ihm ein Taschentuch. “Danke”, nuschelte der Deutsche. Er riss das Tuch in zwei Teile und stopfte es sich in die Nase. “Wie heißt du eigentlich?”, wollte Brad wissen, doch sein Gegenüber zuckte nur mit den Achseln. Er ließ sich auf das Kissen sinken und starrte an die Decke. Dabei murmelte er etwas, das Brad nicht verstand. Ekel stand auf seinem Gesicht und Vertigos Name fiel. Gut möglich, dass der Bursche gesehen hatte, was Vertigos mit ihm vorhatte. Immerhin war er ein Telepath. Der Junge wendete den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Er sagte etwas, aber Brad schüttelte nur den Kopf als Zeichen, dass er ihn nicht verstanden hatte. Der andere schnitt eine Grimasse. Dann setzte er sich aufrecht hin und versuchte wohl möglichst ernst und würdevoll zu wirken. Die Wirkung wurde nur unwesentlich von dem Taschentuch in seiner Nase gemindert. “Because of Vertigo I am...schuldig to you.” Schuldig. Guilty. Brad schnaubte verächtlich. Der Junge hatte sich allerdings einer ganzer Menge Dinge schuldig gemacht. Schuldig daran, dass Brad seine gesicherte Stellung verloren hatte. Schuldig daran, dass die anderen gesehen hatten, dass er verwundbar war. Schuldig daran, dass alles, was er sich in den letzten drei Jahren aufgebaut hatte, in Schutt und Asche lag. Der Junge war tatsächlich ein einziges, großes Schuldig für ihn. Er nahm die Brille ab und massierte seine Nasenwurzel. Es war definitiv zu spät für solche Überlegungen. “Wir verschieben das Ganze auf Morgen. Du siehst aus, als könntest du Schlaf gebrauchen. Und ich werde mich Morgen Vertigo stellen müssen. Das wird kein Spaziergang werden.” Wie er es geschafft hatte, dass der anderen ihn dieses Mal verstand, wusste Brad nicht.Tatsache war jedoch, dass sich der rothaarige Deutsche auf seinem Bett zusammenrollte und binnen weniger Augenblicke eingeschlafen war. Brad löschte das Licht, legte seine Brille zur Seite und betrachtete das Muster, dass der Mond durch das Fenster auf den Boden der Baracke malte. “Schuldig”, brummte er noch einmal. „Ich sollte dich so nennen als Erinnerung daran, mich nicht mit persönlichen Beziehungen zu belasten. Nur Narren lassen sich auf so etwas ein. Ich muss verrückt gewesen sein, mir ausgerechnet dich ans Bein zu binden.“ Er warf noch einen Blick auf den roten Haarschopf im anderen Bett, der selbst im bleichen Licht der Nacht noch von innen heraus zu leuchten schien. Ja, ganz eindeutig verrückt. Man musste kein Hellseher sein um zu erraten, dass ihn dieser Bursche in Schwierigkeiten bringen würde. Trotzdem fühlte sich Brad auf seltsame Weise für ihn verantwortlich. „Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.“, murmelte er und schloss endgültig die Augen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)