Sex, Guns & Rock 'n' Roll von UrrSharrador („Herzlich willkommen beim Schicksalslos!“) ================================================================================ Kapitel 1: „Herzlich willkommen beim Schicksalslos!“ ---------------------------------------------------- Es hat geschneit, als ich mich auf den Weg zur Arbeit gemacht habe, aber das kalte Wetter hat die Leute nicht davon abgehalten, uns die Bude einzurennen. Alles, was weder Rang noch Namen hat, drängt sich in diesem Massengrab der Kultur, sodass der Club zum Bersten mit schwitzenden Leibern vollgestopft ist und die Temperatur eines Backofens erreicht. Die Uniformen von uns Kellnerinnen bestehen zwar aus einem dunklen Rock und einem knappen, bauchfreien Top, aber trotzdem kleben mir die Haare bald von meinem eigenen Schweiß auf der Stirn und im Nacken. Überflüssig zu sagen, dass die kaum vorhandenen Vorteile dieser Kleidung auch direkt durch die Nachteile erschlagen werden. Bereits zum dritten Mal versucht mir einer dieser widerlichen Skinheads auf den Po zu grapschen. Ich gebe Dandy, unserem Türsteher, ein kurzes Zeichen und denke voller Genugtuung daran, dass er sich den Kerl merken und sich zu gegebener Zeit um ihn kümmern wird. Für uns beide schaut dann ein sattes Trinkgeld heraus – sofern ein verschworener Alkoholiker wie der viel Bares besitzt. Meine Kollegin winkt mich eilig hinter die Bar. „Mensch, Ino, was brauchst du so lange?“, fragt sie. „Die Leute warten! Sie rennen mir fast …“ Verde stoppt und fängt den Satz neu an. „Sie laufen bald auf meine Seite der Bar! Du musst sie schneller bringen!“ Sie deutet hektisch auf das Tablett mit leeren Bechern, das ich vor mir ablade. Wir nennen sie Verde, weil sie ihr Haar giftgrün gefärbt hat. Ihren Worten haftet ein unüberhörbarer italienischer Akzent an. An sich wäre das kein Problem, auch wenn dieser Laden ein Tummelplatz für sämtliche Rechtsradikale aus dieser Stadthälfte ist. Dummerweise sind ebenjene meist zu betrunken, um ihren Akzent als italienisch einzuordnen – und für sie bedeutet dann Akzent automatisch die Herkunft aus einem Land, das sie prinzipiell verabscheuen. Der Inhaber hat Verde darum eingeschärft, nur im absoluten Notfall den Mund aufzumachen. Um sich mit mir zu verständigen, muss sie momentan schreien, aber außer uns beiden hört kaum jemand ihre Worte, so laut brüllt die Band in der Ecke. Ich mische ein paar Gläser Cola-Whiskey und gehe dabei großzügig mit der Cola um. Als ich zum ersten Mal hier gearbeitet habe – eine Feuertaufe mit einem Andrang wie heute –, habe ich tatsächlich versucht, die Leute schneller betrunken zu machen, damit sie eher Ruhe geben würden. Der Plan ist gehörig nach hinten losgegangen: Die Meute schwitzt den Alkohol in Windeseile aus, und außerdem sind sie geeicht und werden mit steigendem Spiegel nur noch unausstehlicher. Laut Verde ist das aber in jedem Club dieses Stadtteils so. Da sie keinen lukrativen Quasi-Job hat wie ich, kellnert sie in verschiedenen Bars und Diskotheken, um sich über Wasser zu halten. Ich würde mir die Kugel geben, müsste ich das auf Dauer machen. Als die Hardcore-Band in der Ecke mal eine Pause einlegt, wird es endlich ein bisschen ruhiger – akustisch gesehen. Dafür klettern die Männer fast übereinander bei dem Versuch, die Bar zu stürmen. Ich sage Männer, aber das kommt wohl daher, dass die am lautesten ihre Bestellungen brüllen. Gut ein Drittel der Kundschaft ist sogar weiblich: Die meisten davon haben schwarz gefärbte Haare, Smokey Eyes, die aussehen, als hätten sie in einen Aschehaufen gepustet, und von Nieten und Stacheln übersäte Kleider und Accessoires, mit denen sie sich gegenseitig aufspießen könnten. Und dann gibt es heute Abend genau eine Person, bei der man zweimal hinsehen muss um festzustellen, ob sie männlich oder weiblich ist. Zuerst denke ich mir nichts. Ich versuche gerade angestrengt, mir vier neue Arme wachsen zu lassen, um bei den ganzen Bestellungen hinterherzukommen, als mir jemand, gerade als ich Wechselgeld über die Bartischplatte schiebe, auf die Finger klopft. „Einen doppelten Whiskey on the Rocks.“ Ich stutze erst im nächsten Moment, in dem ich meine, die Stimme zu erkennen, und gleichzeitig in ein ziemlich lächerliches Gesicht sehe. „Naruto?“, bringe ich heraus. „Sozusagen“, murmelt er, und als er von jemandem angerempelt wird, bekommt er ein paar Haare seiner Perücke in den Mund und spuckt sie verärgert aus. Ich pruste los. „Was ist denn mit dir passiert?“ Ein Drittel der Gäste in dieser Bar ist weiblich – weniger eins. Ich kann nur erahnen, warum Naruto geschminkt und mit schwarzer Langhaarperücke vor mir steht, dazu in einem der Location nicht wirklich angepassten Frauentop, das seine Schultern zu sprengen drohen. Wie er unterhalb der Gürtellinie aussieht, kann ich hinter der Bar nicht erkennen, aber ich stelle mir ein schickes Röckchen vor. Sofern er irgendwas auf Modegeschmack gibt, würde es perfekt dazu passen. Ich ziehe seine Bestellung vor, während mein Lachanfall einfach nicht abklingen will. Er stiert mich wütend an, als ich ihm sein Glas aushändige. Obwohl mir die anderen Leute bereits wieder ihre Getränkewünsche entgegenwerfen, rufe ich ihm erneut zu: „Was ist denn mit dir los?“ „Schlechte Chips erwischt“, brummt er und nimmt einen vorsichtigen Schluck. Naruto mag eigentlich keinen Whiskey. Nein, das ist nicht richtig. Nach allem, was ich weiß, hasst er ihn wie die Pest. „Aber schnelles Geld.“ „Und was genau hast du für Chips?“, lache ich. „Die plötzliche Geschlechtsumwandlung? Oder darfst du das nicht sagen?“ „Eine Woche das komplette Gegenteil“, knurrt er. „Ach du Schande. Und deswegen verkleidest du dich als Mädchen?“ Bei den Aufgaben, die einem viel Interpretationsspielraum geben, schneidet Naruto meist am schlechtesten ab. Dass er auf die Idee gekommen ist, einfach mal das Geschlecht zu tauschen, in Clubs zu verkehren, die er sonst meiden würde, und das zu trinken, was er eigentlich hasst, ist ein ziemlich schlauer Plan für seine Verhältnisse. „Und dein zweiter Chip?“ „Genieße dein Leben“, sagt er. „Keine Ahnung, ob das auch das Gegenteil sein soll. Aber ich hoffe, dass sie da gnädig mit der Beurteilung sind, weil selbst das Genießen wird irgendwie zum Gegenteil.“ Ich nicke mitfühlend. Sofern er als Zusatz nicht den Joker gezogen hat und über seine Chips lügen muss, ist das echt eine unangenehme Kombination. Da ist meine um Längen besser. „Trink langsam“, rate ich ihm. „Sonst haust du dir deine Drinks immer auf ex rein.“ Er brummt irgendwas und verzieht sich von der Bar, während ich den nächsten Kunden abfertige und eine neue Band zu krächzen beginnt.   Die Männer haben den bewusstlosen Sasuke in ihren Truck geworfen und werden ihn irgendwo am Stadtrand ins Gemüse kippen. Ich bin eigentlich ganz froh darüber, dass ich ihm nicht mehr in die Augen sehen muss. Es ist nicht ganz billig gewesen, die beiden Schläger zu engagieren, aber die einzige Alternative wäre gewesen, Sasuke selbst zu verprügeln. Ich traue mir mittlerweile eine ganze Menge zu, aber ich fürchte, dass ich mit ihm dennoch zu sanft umgesprungen wäre. Lieber ein paar Extraausgaben als ein Risiko. Und ich hätte mir einen kleinen Dorn in die Seele getrieben, wenn ich ihn selbst so zugerichtet hätte. Aber daran will ich nicht denken. Ich friere. Die Hände in den Manteltaschen vergraben, atme ich zittrig Dampfwolken aus. Ich stehe vor dem kleinen Wochenendhaus, das für diese Aktion zu haben war. Mit Sasukes Abtransport habe ich das Recht verloren, länger drin zu bleiben. Es ist halb fünf Uhr morgens und ich muss selbst sehen, wie ich von hier nachhause komme. Ich gebe mir Mühe, nicht an Sasukes zerschlagenes Gesicht zu denken, während mich immer wieder das schlechte Gewissen überrollen will. Stattdessen versuche ich daran zu denken, dass erst Dienstag ist und ich für den Rest der Woche somit quasi frei habe. Und die Sache wird mir dreißigtausend einbringen. Mindestens. Gleichzeitig ärgere ich mich über meine Schwäche. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass ich so was abgezogen habe. Einmal war es ein junger Geschäftsmann aus der Innenstadt, einmal ein bekannter Rocksänger, dem ich ein hysterisches Groupie vorgespielt habe. Beide sind eigentlich ganz passable One-Night-Stands gewesen, die sich wahrscheinlich nicht mal mehr an meinen Namen erinnern, obwohl ich sie beklaut und heimlich Fotos von ihnen geschossen habe. Ein drittes Mal wäre ein Mann nach meiner Wahl dran gewesen, aber auch da hatte ich die Gottesanbeterin erwischt. Wenn ich die Regeln hätte ernst nehmen wollen, hätte ich den Typen töten müssen … So weit bin ich trotz allem noch nicht. Ich habe die zweite Option genommen und einen Haufen Kohle dabei verloren. Ich versuche, die finsteren Gedanken gemeinsam mit der Kälte abzuschütteln, und es hat ungefähr denselben Effekt – nämlich gar keinen. Die Straße geht schnurgeradeaus, alte Holzhäuser und Schrebergärten und sogar ein verlassenes Motel ächzen unter der Last des Schnees auf ihren Dächern. Ich stapfe knöcheltief durch den Neuschnee und meine Zehen fühlen sich bereits an wie Eisklötze. Ich war so schlau, zu der Party nicht nur mit Abendkleid und Stöckelschuhen zu erscheinen, sondern unter anderem auch festes Schuhwerk mitzubringen, da ich wusste, dass ich zu Fuß würde heimgehen müssen – festes Schuhwerk, wohlgemerkt, kein wasserfestes. Dass es so plötzlich schneien könnte, hatte ich nicht bedacht. Ich bibbere vor mich hin und bleibe schließlich vor dem alten Motel stehen. Abgesehen davon, dass es baufällig und vielleicht verschlossen ist, hätte ich es kurz trocken, aber meine Probleme wären damit nur aufgeschoben. In diese Gegend wird sich kaum ein Taxi verirren, und ob es einen Bus gibt, weiß ich nicht. Schlotternd und zähneklappernd gehe ich weiter, fort von einer eigentlich erfreulichen, mich aber trotzdem irgendwie nachdenklich stimmenden Nacht und hin zu einem Leben in Luxus für ungefähr fünf weitere Tage.   Ich weiß im ersten Moment nicht, wo ich bin oder wie ich hierher komme. Ich weiß auch nicht, was passiert ist. Ich weiß nur eins: Mir ist eisig kalt. Meine rechte Körperhälfte scheint in Flammen zu stehen, aber auch dieses Brennen kommt von der Kälte. Ich liege quer über einem immergrünen Busch, der mit Schnee bestäubt ist. Mein Hemd und meine Jacke sind beide aufgeknöpft, und die Kälte sticht in meine Haut, als wäre das hier ein Dornbusch. Stöhnend will ich aufstehen, aber meine Knie geben nach und ich rolle seitwärts zu Boden. Noch mehr Schnee, der meinen Rücken und Nacken umklammert. Mir bleibt die Luft weg. Was zum Teufel ist passiert? Der zweite Versuch klappt schließlich. Ich merke, dass ich in einem Park liege, den ich nicht kenne – ausgestreut wie Futter für die Tauben. Oder eher wie ein Penner, der kein Nachtquartier gefunden hat. Schnee glitzert in der Morgensonne, die einen hellen und klaren Himmel beleuchtet. Scheiße, wie spät ist es? Was mache ich um diese Uhrzeit in einem … Als ich beginne, meinen Körper wieder zu fühlen, fühle ich auch den Schmerz in meinem Gesicht und an meinem Oberkörper. Ich kann ein paar Blutergüsse ausmachen, meine Backe und mein Jochbein sind geschwollen und meine Rippen fühlen sich geprellt an. Und damit kommt auch die Erinnerung an gestern Nacht. Sakura. Ihr helles Lachen, das verführerische Schnurren, mit dem sie mein Hemd aufgeknöpft hat … Vorher, was war vorher? Da war diese Party, genau, ein flüchtiger Bekannter hat eine Party geschmissen. Eine feine Location, ein Haufen blasierter Leute … und sie. Sakura, die ich seit drei Jahren nicht mehr gesehen habe. Sie war genauso überrascht wie ich, aber sie hat es im Gegensatz zu mir offen gezeigt. Wir haben nicht mal viel getrunken, eher geredet und … Ich sehe an mir herunter. Leere meine Taschen. Geldbörse, Kreditkarte, Handy – alles da. Habe ich irgendetwas Skurriles geträumt, oder ist dieser zweite Teil der Erinnerung wirklich passiert? Warum sollte Sakura mich von solchen Typen zusammenschlagen lassen? Sicher habe ich nur auf dem Heimweg mit irgendjemandem einen Streit angefangen, weil ich zu viel getrunken habe … Die Kopfschmerzen könnten diese Theorie bestätigen. Das Unlogische daran ist: Ich weiß genau, wie viel ich trinken kann – sofern es sich nicht um ein Wetttrinken mit Naruto handelt. Und der taucht in meiner Erinnerung nicht auf. Und so viel haben Sakura und ich wie erwähnt nicht gebechert. Ich zermartere mir das Gehirn über gestern Nacht. Da muss doch noch irgendein logisches Puzzlestück vergraben sein, irgendein Missing Link, das Sakura mit meinem unschönen Erwachen hier verbindet … Ich habe sie genauso lange nicht gesehen wie meine anderen früheren Freunde. Aber ich habe sie damals als eifrige Medizinstudentin in Erinnerung behalten, die immer schon einen kleinen Stand auf mich hatte. In ihrer Jugend einen richtig hysterischen, später ist sie reifer und interessanter geworden, aber ich habe ihre Gefühle nie ernstgenommen und schon gar nicht erwidert. Gestern Abend habe ich es für eine gute Gelegenheit gehalten. Meine Rückkehr in diese Stadt ganz allein auf einer Party zu feiern, wäre öde gewesen, aber ein Mädchen, das sich mal total in mich verguckt und mich immer durch eine rosarote Brille gesehen hat … Das hat mich gereizt. Ich gebe zu, dass ich auf Aufriss war, aber Sakura flachzulegen hatte sozusagen meinen Jagdinstinkt mit einer Lust auf Spielchen, Nostalgie und ein wenig Schicksalshaftigkeit verknüpft … Ah, Neji wäre sicher stolz auf mich, wäre er nicht so unheimlich prüde. Dass Sakura sich verändert hat, ist mir schnell aufgefallen, aber es war mir eigentlich egal. Sie ist selbstbewusster geworden, ja. Eigentlich hatte ich gehofft, sie mit meinen Annäherungsversuchen komplett zu überfordern … das wäre niedlich gewesen. Stattdessen hat sie mir allzu bald das Ruder aus der Hand genommen. Und geendet hat die Sache dann in … genau, in so einem winzigen Zweizimmer-Wochenendhaus, auf das sie angeblich achtgibt und zu dem sie deswegen einen Schlüssel hat. Ich habe nicht nachgefragt, warum wir nicht einfach zu ihr gefahren sind – mit zu mir wollte ich sie auch nicht nehmen. Also das Ferienhaus, genau. Und dann … tja, dann fehlt ein großes Stück in meinem Gedächtnis, als hätte jemand es herausgebissen. Ich weiß nur noch, wie ich plötzlich, halb im Einnicken, von ein paar riesigen Pranken hochgerissen und ans Bett gefesselt wurde. Und dass man mich im Anschluss geschlagen hat, davon kann mein Körper ein Liedchen singen, das gar keiner Erinnerung bedarf. Aber dass Sakura danach noch einmal mit mir geredet hat, muss ein Irrtum sein, oder? Eine Halluzination? Vielleicht habe ich Dinge zusammenfantasiert. Vielleicht haben die Kerle mich auch unter Drogen gesetzt. Vielleicht ist Sakura längst weggewesen, und die beiden Kerle sind so was wie die schwulen Eigentümer der Bude, die sich für meinen scheinbaren Einbruch rächen wollten … Aber irgendwas sagt mir, dass dem nicht so ist. Sagt mir, dass meine Erinnerung mich nicht trügt. Ich kann es nur nicht fassen, dass Sakura solche Dinge gesagt haben soll, wie sie die Sakura in meinem Gedächtnis gesagt hat. Ich stapfe fluchend durch den Schnee. Man sieht Reifenspuren, die zu dem Busch führen, in dem ich aufgewacht bin. Ich schwöre den Typen bittere Rache, auch wenn ich nicht weiß, wie sie aussehen. Hier hole ich mir den Tod – und eine ganze Menge fragender bis höhnischer Blicke. Ich muss meine Gedanken sortieren. Nach dem anfänglichen Schock kocht Wut in mir hoch und vertreibt fast die Kälte aus meinen Gliedern. Jemand hat mich gefesselt, geschlagen und hier ausgesetzt, mich, Sasuke Uchiha! Das kann ich nicht einfach so stehen lassen. Und wenn Sakura dabei irgendwie ihre Hände mit im Spiel hatte, warum auch immer und was auch immer mit ihr in den letzten paar Jahren passiert ist, dann gnade ihr Gott!   Es ist hell, als ich endlich heimkomme, todmüde und durchgefroren. Ich hätte mich echt mehr auf den Wetterbericht konzentrieren sollen … Nein, es hilft nichts, jetzt darüber zu lamentieren. Als ich hinter mir die Tür zu meiner kleinen, ziemlich heruntergekommenen Wohnung abschließe, seufze ich erst mal tief auf. Immerhin, die Schuldgefühle wegen Sasuke bin ich erst mal los. Ich bin einfach zu müde dafür. Ich muss ein wenig an meinem Schlüssel werken, der mal wieder im Schloss hängen bleibt. Überhaupt ist meine Tür eine Frechheit. Sie ist so dünn, dass man sämtlichen Lärm von der Straße hört, und man spürt ständig einen Luftzug, wenn man genau aufpasst. Wenn ich Sasuke mit hierher gebracht hätte, hätte ich mich ordentlich blamiert. Endlich bekomme ich den Schlüssel aus dem Schloss und lege ihn auf meine Kommode. Innerlich gehe ich die Beträge durch, die ich nun schon gespart und erwirtschaftet habe. Ich kann mir eine bessere Wohnung eigentlich spätestens Anfang nächster Woche leisten. Wird Zeit, dass ich mich auf die Suche mache. Ich nehme eine lange, heiße Dusche – ein Bad will ich nicht riskieren, weil ich befürchte, einfach einzuschlafen und zu ertrinken oder so. Mein Handy blinkt. Ich öffne die SMS von Ino, kaum dass ich mich in mein Bett gelegt habe. Sie hat heute mal wieder die vorletzte Schicht in diesem Club gehabt. Angeblich muss sie mir was Lustiges erzählen, wenn wir uns das nächste Mal sehen, aber fürs Erste wünscht sie mir eine gute Nacht. Mir fällt auf, dass wir beide immer öfter die Nacht durchmachen, seit das Spiel angefangen hat. Naja, bei einer Rollenkarte wie meiner ist das auch kein Wunder. Ich verschiebe das Video auf morgen – beziehungsweise heute –, stelle mir den Wecker auf zwölf Uhr und hole dringend nötigen Schlaf nach. Als ich um zwölf aus den Federn krieche, merke ich, dass ich die Sache am liebsten vor mir herschieben möchte. Ich mache mich extra langsam frisch, koche mir dann eine Kleinigkeit zu essen und schaue meine Post durch. Dann ertappe ich mich dabei, wie ich eine Serie auf meinem Laptop schauen möchte, und schelte mich schließlich dafür. Besser, ich bring‘s hinter mich. Nun, da die Müdigkeit einigermaßen von mir abgefallen ist, habe ich ein mulmiges Gefühl im Magen, als ich das kleine, runde Ding aus der Tasche des Mantels fische, den ich gestern getragen habe. Es ist keine erfüllte Aufgabe, solange es nicht dokumentiert ist. Was ja auch Sinn macht. Fotos sind okay, aber bei Videos springt viel mehr heraus. Keine Ahnung, warum. Ich puste gedankenverloren Fussel von der Kameralinse und suche dann auf der Rückseite die Schnittstelle. Dann schließe ich das Ding per Kabel an meinen Laptop an. Die Kamera ist nicht meine, sondern gehört zur Ausstattung des Ferienhäuschens. Sie war so auf einem Regal zwischen zwei Büchern versteckt, dass man sie nicht gesehen hat. Immerhin ist sie ein recht einfaches Ding, das das, was es aufnimmt, auf eine SD-Karte speichert, und man gestattet mir, das Video selbst zu übertragen und dann zu bearbeiten, wie ich will. Alles, was drauf sein muss, ist ein Beweis, dass ich meine Chips gegen Sasuke ausgespielt habe. Je mehr Material es gibt, desto mehr bringt es mir ein. Ich spiele alles auf meinen Laptop und stelle nochmal sicher, dass ich auch wirklich die Tür verschlossen habe. Irgendwie macht mich diese Aufgabe paranoid. Wenn mich jetzt jemand spontan besuchen käme, würde ich wohl vor Scham sterben … Zur Sicherheit ziehe ich sogar die Vorhänge zu. Dann beginne ich damit, das Video zusammenzuschneiden. Ich gebe mir Mühe, nicht genau hinzusehen. Alles in mir sträubt sich dagegen. Ich mache das nicht zum ersten Mal, aber es kostet mich trotzdem immer eine Menge Überwindung, ein geheimes Video, in dem ich mit einem Mann schlafe, zu bearbeiten. Es ist, als hätten wir einen Porno gedreht und ich würde ihm den Feinschliff verpassen … Meine Gedanken in eine kalte Ecke meines Verstandes schiebend, schneide ich alle Szenen raus, in denen man meinen Kopf oder generell einen zu großen Teil meines Körpers sieht. Da die Kamera einen fixen Winkel hatte, muss ich manchmal ein wenig tricksen, damit das Bild immer schön unter meiner Halslinie bleibt. Haben wir echt so oft die Stellung gewechselt? Ein weiterer Grund, warum ich diese Beweisvideos verabscheue, ist, dass sie immer eine gewisse Enttäuschung bedeuten. In der Hitze des Gefechts ist mir Sasuke viel muskulöser vorgekommen und … naja. Aus der Ferne wirkt er regelrecht dürr … Wenn er das je herausfindet, bin ich tot, denke ich, während ich noch einmal durch das Video hüpfe. Die meiste Zeit sieht man nur ihn, mich selbst nur ganz kurz und da auch nur von hinten und ohne Kopf. Ich werde langsam ziemlich versiert darin. Das Video muss beweisen, dass wirklich ich die Rolle der Schwarzen Witwe oder der Gottesanbeterin gespielt habe, aber das ist nicht weiter schwierig. Da wird schon für Diskretion gesorgt, denn die beiden Muskelpakete, die ich angeheuert habe, haben das Häuschen im Auge behalten, nachdem wir darin verschwunden sind. Ich habe ihnen dann per SMS ein Zeichen gegeben, und auf dem Video sieht man noch, wie sie Sasuke vermöbeln. Auch da springe ich nur kurz drüber. Das war’s. The End. Die beiden Kerle werden bestätigen, dass niemand außer uns beiden dort drin war. Aufgabe erfüllt. Ich lehne mich seufzend zurück und lasse die Schultern kreisen, dass sie knacken. Jetzt nur noch das Ursprungsvideo löschen – glücklicherweise habe ich nicht die Archivaren-Rolle gezogen – und dann die geschnittene Version zum nächsten Treffen mitbringen. Von meinen Freunden wird sie keiner sehen. Ich habe mich oft gefragt, wer die Leute, die unsere Aufgaben auswerten, eigentlich sind. Im Grunde kann ich sie mir nur als perverse, alte Säcke vorstellen, die viel Kohle und wenig zu tun haben. Und irgendwo müssen die Preisgelder ja auch herkommen. Ich überlege, ob ich vor zwei Jahren so weit gegangen wäre, wie ich es heute tue. Vermutlich nicht. Irgendwann in der frühen Phase des Spiels habe ich wohl Blut geleckt. Ich glaube, nach dem ersten richtigen Jackpot ist uns das allen so ergangen. Ich schaue auf die Uhr und überlege, dass Ino wohl schon wieder wach sein wird.   „Ernsthaft? Ich glaub’s ja nicht!“, lache ich, als mir Ino von Narutos Kostümierung erzählt. „Ich konnt’s zuerst auch nicht glauben“, gluckst sie am anderen Ende der Leitung. „Ich hab ein paar Fotos. Treffen wir uns morgen Nachmittag? Dann zeig ich sie dir. Ich hab immer noch eine Menge Kohle zu verpulvern, also wie wär‘s mit einer kleinen Shopping-Tour?“ Inos Aufgaben haben sie mal wieder in diesen Club geführt, und als Beweis, dass sie diese Aufgabe möglichst korrekt ausführt, hat sie kleines Gerät bekommen, das noch unauffälliger als meine Kamera ist und das sie wie einen Knopf einfach an ihrem Top befestigen kann. Es schießt dann jede Minute ein Foto. Auf die ganze Woche gerechnet kommt sicher eine Menge Material zusammen. Ich frage mich, was die Spielmacher mit einer Horde besoffener Neonazis wollen, aber ich kann mir auf vieles, was sie so tun oder wollen, keinen Reim machen. „Und wie läuft es mit deiner Aufgabe?“, fragt Ino und ich höre ihr Grinsen heraus. „Du musst doch wieder irgendeinen Typen vernaschen, oder? Das ist ja bei deinen Chips ziemlich eindeutig.“ Ich werde es immer bereuen, ihr davon erzählt zu haben. „Ist nichts Besonders“, meine ich. „Ich bin nur froh über meine Zusatzregel.“ „Die Keiner-darf-sterben-Regel? Nimmst du die Chips echt so genau?“ „Naja, eine weibliche Gottesanbeterin reißt dem Männchen schließlich den Kopf ab“, sage ich unbehaglich. „Und eine Schwarze Witwe … tut im Prinzip das Gleiche. Die letzten zwei Mal hatte ich den Sukkubus und den Satyr. Da war es was anderes.“ „Hm“, macht Ino. „Und? Hast du schon ein Opfer?“ Die Sache ist längst über die Bühne gelaufen, denke ich. „Mal sehen. Ich hab eines in Aussicht“, schwindle ich. „Lass dir nicht zu viel Zeit. Am Sonntag ist wieder Stichtag“, sagt sie gut gelaunt. „Übrigens, langsam fällt es auf.“ „Was denn?“ „Die ganzen prickelnden Chips kriegst immer du ab.“ Wieder höre ich ihr unverschämtes Grinsen. „Also, wo wollen wir uns morgen treffen?“, wechsle ich das Thema. Ich denke hinterher noch über Inos Worte nach. Mit einem hat sie recht: Es ist merkwürdig. Von den rund vierhundert Rollen, die es angeblich gibt, habe ich in den ersten zwei Jahren des Spiels immer recht harmlose gezogen. Ich glaube, das Schlimmste war, ein Feuerwerk auf Obdachlose zu schießen – jedenfalls habe ich den Feuerteufel und den Heimatlosen Wanderer so interpretiert. Aber im letzten Jahr sind meine Rollen ziemlich abgedriftet. Da waren plötzlich Sachen mit Drogen dabei, Diebstähle, Körperverletzung, Voyeurismus, und Sex. Ich werfe einen Blick auf meinen Laptop und frage mich, ob das Zufall ist. Oder ob jemand die Chips nach und nach gegen andere austauscht. Oder ob es an mir liegt und an meiner Bereitschaft, die Rollen immer skrupelloser zu interpretieren. Sasukes zerschlagenes Gesicht taucht vor meinem inneren Auge auf. Ich war früher mal so sehr in ihn verknallt, dass ich kaum schlafen konnte. Jetzt ist er ein Opferlamm für mich geworden. Eigentlich war es eine dumme Idee, denke ich mir. Wenn ich mir irgendeinen x-beliebigen Party-Gast aufgerissen hätte, hätte ich ihm einen falschen Namen nennen können, und vermutlich hätte ich ihn nie wieder gesehen. Sasuke hingegen kennt mich – nur habe ich in dem Moment einfach nicht widerstehen können. Natürlich habe ich bemerkt, dass er mich am Anfang immer noch für ein unschuldiges Püppchen gehalten hat. Ich glaube, ich wollte ihm einfach etwas beweisen – und mir selbst. Ich würge den Gedanken energisch ab. Ich habe schon viel zu viel über diese Nacht nachgedacht – und außerdem kann man über Sasuke sagen, was man will, er ist definitiv niemand, der irgendjemanden gleich wegen Körperverletzung vor Gericht schleppt.   „Ich hätte nicht gedacht, dass du mich schon so bald besuchst“, sagt Itachi und lässt eine Augenbraue hochwandern. „Ich auch nicht“, brumme ich und schiebe mich an ihm vorbei in die Wohnung. Hübsch ist sie; mein Bruder verdient genug, um sich ein richtig nobles Heim leisten zu können. Der Grundton ist dunkel, aber edel – dunkles, geöltes Holz, schwarze Vorhänge, Regale und Tischplatten aus Glas auf teuren Stehern. Man sieht von hier die Küchenzeile, und alles blitzt vor sauberem Chrom. Die Deckenlampen sind verschlungene Kunstwerke und mehr hell als warm. Es sieht aus wie eine Wohnung, in der ein Manager seine Gentleman-Freunde mit preisgekröntem Sekt in langstieligen Gläsern verwöhnt. Überflüssig zu sagen, dass die Wohnung riesig ist. Kaum zu glauben, dass Itachi vor wenigen Jahren noch mit seinen zwielichtigen Freunden in einer WG gehaust hat. „Na dann, was hat mein kleiner Bruder auf dem Herzen? Hat er denn schon ein Herz?“ „Sehr witzig“, knurre ich, lasse mich unaufgefordert auf einem der teuren schwarzen Ledersessel nieder und warte darauf, dass Itachi auch mir ein Glas mit Alkohol in die Hand drückt. Er sieht mich stattdessen auffordernd an und wartet, bis ich von selbst zu reden beginne. Soll mir recht sein. „Ich muss meine alten Freunde ausfindig machen.“ „Ist das so schwierig?“ „Sonst wäre ich nicht hier“, schnaube ich. Itachis Adresse habe ich gewusst; er hat ja auch schon hier gewohnt, als ich damals fortgezogen bin. Von meinen Freunden vermute ich das nicht – zumindest nicht von denen, auf die es ankommt. „Was ist mit Handynummern und sozialen Netzwerken?“ „Ich brauche so einen Kram nicht“, brumme ich. „Handys?“ „Soziale Netzwerke“, sage ich ärgerlich. „Verarschst du mich absichtlich?“ „Es kann doch nicht so schwierig sein, alte Freunde aufzutreiben. Muss dir da wirklich dein großer Bruder dabei helfen? Das ist nicht sehr erwachsen, wenn du mich fragst.“ „Ich frage dich aber nicht. Ich hab vor drei Jahren nicht damit gerechnet, wieder zurückzukommen. Und ich will ihre Adressen, nicht ihre Telefonnummern.“ Itachi seufzt, durchmisst die riesige Wohnung und steuert den blitzenden Kühlschrank in der Kochzeile an. „Was zu trinken?“ „Wenn du was da hast.“ Er holt tatsächlich Champagner hervor. „Auf die Rückkehr meines kleinen Bruders“, erklärt er und stößt mit mir an. „Und darauf, dass er sich überhaupt nicht verändert hat und noch immer nicht sagen kann, was er wirklich denkt.“ „Was soll das jetzt schon wieder heißen?“ „Deinen älteren Bruder legst du nicht so leicht herein. Du willst nicht einfach deine Freunde wiederfinden, du suchst einen bestimmten, oder zwei. Und deinem finsteren Gesicht nach hast du irgendeinen Groll auf sie und willst dich für irgendetwas rächen. Der- oder diejenige hat dir also wahrscheinlich übel mitgespielt. Entweder erst kürzlich oder schon vor drei Jahren. Kürzlich, sagt dein Veilchen.“ Volltreffer. „Kannst du mir nun helfen oder nicht?“ Ein Wiedersehen zwischen Brüdern nach drei Jahren sollte wohl gemeinhin etwas herzlicher ausfallen. Würde es nach Itachi gehen, wäre das wohl auch so, aber ich habe keinen Bock, Erinnerungen aufzuwärmen oder groß auf heile Familie zu machen. Itachi hat meine Familie und mich auch mal sitzen gelassen. Er hat zwar immer nur an mich gedacht – behauptet jedenfalls er … und die Umstände. Aber trotzdem, er hat sich nicht sonderlich wie ein großer Bruder verhalten. Auch davon berichten die Umstände. „Und wie genau stellst du dir das vor?“, fragt er und nippt an seinem Glas. „Ich unternehme auch nichts mit deinen Freunden, und eigentlich habe ich andere Sachen zu tun, als ihnen hinterher zu spionieren.“ „Aber du bist Abteilungsleiter in der Sicherheitsabteilung des größten IT-Konzerns der Stadt“, sage ich. „Du wirst doch wohl irgendwelche Möglichkeiten haben, ihre Adressen rauszufinden – oder auch nur, was sie wann planen und wo ich sie allein treffen kann. Hack dich doch in ihre Computer oder so.“ „Du stellst dir das alles sehr einfach vor“, seufzt Itachi. „Ist es das nicht?“ Der Blick, mit dem er mich misst, verärgert mich mehr als jedes Wort. Ich bin also immer noch der uneinsichtige, kleine, dumme Bruder, der keine Ahnung von nichts hat und sich nur aufspielt. Der ein Puzzlestück verflucht und kein Interesse daran hat, das große Ganze zu betrachten. Gerade als ich beschließe, dass das Gespräch sinnlos war, und gehen will, öffnet Itachi seinen Mund. „Vielleicht kann ich da wirklich was machen. Aber ehe ich mich abmühe, zu jedem deiner Freunde etwas rauszufinden, wovon dich das meiste dann doch nicht interessiert, will ich, dass du mir sagst, auf wen genau du es abgesehen hast.“ Es lässt sich wohl nicht vermeiden. „Sakura“, nuschle ich, nachdem ich eine Weile mit mir gerungen habe. „Sakura Haruno? Die kleine Rothaarige?“ „Eher rosa als rot“, schnaube ich. „Ich erinnere mich. Und dieses nette Mädchen hat dir einen Hund angetan?“ „Nett ist sie ganz sicher nicht“, knurre ich. „Nicht mehr. Und ich werde verdammt nochmal genauso wenig nett sein, wenn ich sie in die Finger kriege.“ „Das klingt aber nicht nach Wiedersehensfreude“, seufzt Itachi. „Stimmt. Hilfst du mir jetzt also?“ Und wieder seufzt er. Ich hätte ihm nicht so viel verraten dürfen. Hätte ich gleich gesagt, Itachi, finde raus, wo Sakura steckt, wäre es einfacher gewesen. „Dafür hast du doch deinen großen Bruder, oder? Ich rate dir nur, dir noch ein wenig dein Mütchen zu kühlen, ehe du mit ihr sprichst. Was immer sie getan hat, manchmal ist es besser, ein Problem auszudiskutieren, weißt du?“ Die Geste, mit der er mir auf die Schulter klopft, hätte er sich sparen können, aber ich schweige dazu und stürze meinen Champagner in einem Rutsch runter.   „Herzlich willkommen beim Schicksalslos!“, ruft Olga uns strahlend entgegen und schüttelt freudig ihre blonden Korkenzieherlocken. „Es freut mich, dass Sie alle hier sind! Dann können wir ja direkt anfangen!“ Mit alle meint sie die ganze Truppe, die sich mal wieder im Untergeschoss des bekanntesten Casinos der Stadt versammelt hat. Was mich irritiert, ist, dass es eben nicht alle sind. Sicher, unsere Partie ist vollzählig: Ich bin da, Ino, Hinata, Neji, Naruto, Kiba, Chouji, Tenten, Lee. Aber von den drei anderen Typen, die sich jeden Sonntag hier mit uns getroffen haben, sind heute nur zwei anwesend, die darüber ebenso ratlos wirken wie ich. Ein mulmiges Gefühl ergreift von mir Besitz. Ich schiebe es zur Seite. Darin habe ich langsam richtig Übung. „Dann begeben Sie sich jetzt in die Beweiskabine. Geben Sie dort bitte auch Ihre Chips und Ihre Zusatzkarte ab. Wenn Sie fertig sind, nehmen Sie wie gewohnt in der Runde Platz.“ Der unterirdische Raum ist holzvertäfelt und, obwohl es keine Fenster gibt, von gelben Lampen in angenehmes Licht getaucht. Dieser Bereich des Casinos ist so exklusiv, dass nicht einmal die gewöhnlichen VIP-Gäste Zutritt haben. Dass es uns gestattet wird, an den Security-Typen, Metalldetektoren und Überwachungskameras vorbeizugehen, ist mir immer noch unbegreiflich. Wir müssen nur ein, zwei Mal unsere gezogenen Chips vorzeigen und werden durchgelassen. Auf der anderen Seite haben wir dem Gremium, das dafür verantwortlich ist, ja einiges zu bieten, und erhalten im Gegenzug eine Bezahlung dafür. So gesehen ist es wie ein Geschäftsmeeting. Als das Spiel begonnen hat, haben wir alle Nummern zugewiesen bekommen, anhand derer wir nun eine Schlange bilden. Ich bin die Nummer sieben. Die Sechs vor mir fehlt tatsächlich, und nachdem Ino als Nummer fünf fertig ist, winkt mich Olga eifrig in die Kabine. Die Beweiskabine ist in Wahrheit eine Art Archiv … oder vielleicht sollte ich sie eher mit dem Schließfachraum einer Bank verglichen, denn für jeden von uns gibt es hier ein silbrig blitzendes Schließfach. Olga schließt Fach Nummer sieben für mich auf und ich lege den USB-Stick mit dem bearbeiteten Beweisvideo, meine beiden Chips und die Niemand-darf-Sterben-Karte hinein. Die blonde Betreuerin nickt nur dankend und schließt es wieder ab. Ich weiß nicht, wer es im Endeffekt wieder aufschließen und meine Beweise überprüfen wird, aber ich bin froh, dass ich das Video los bin. Ich habe es jedenfalls so eingerichtet, dass sie zufrieden sein werden. Mein Gewinn wird übermorgen auf meinem Konto eintrudeln. Ich verlasse den Raum und wende mich der Sesselrunde zu. Die Stühle sind fix im Boden verschraubt, so als wollte man hier für größtmögliche Ordnung sorgen. Der Kreis ist um die mechanische Lostrommel angeordnet, durch deren milchige Außenhaut die Umrisse der Chips zu erkennen sind. Auf dem Tisch daneben liegen die Karten mit den Zusatzregeln. Ich überlege, ob der Stapel seit Spielbeginn einmal gewachsen oder geschrumpft ist, kann es aber nicht sagen. Als alle ihre Beweismittel abgegeben haben, stellt sich Olga an die Trommel und lächelt uns nacheinander an. Das tut sie jedes Mal. Ich weiß nicht, ob sie selbst unsere Videos oder Bilder zu Gesicht bekommt, aber wenn, dann lässt sie es sich nicht anmerken. „Also dann, liebe Mitglieder, die heutige Webstunde für Ihr persönliches finanzielles und den Nervenkitzel betreffendes Schicksal ist hiermit eröffnet.“ Olgas Grußworte werden immer ausgefallener. Sie scheint nach drei Jahren zwanghaft zu versuchen, frischen Wind in die Sache zu bringen. „Nummer eins, treten Sie bitte vor.“ Nummer eins ist Tenten. Sie geht zu der Trommel, und Olga lässt diese mit einer Kurbel wirbeln. Tenten fasst hinein und zieht zwei Chips heraus. Als ich ihren Blick sehe, wird mir klar, dass sich das Spiel wieder auf ein neues Level gehoben hat. Tentens Gesicht wird weiß wie geronnene Milch, ihre Augen zucken hin und her, als suche sie nach einem Hinweis darauf, dass sich jemand einen Scherz mit ihr erlaubt. Schließlich begegnet sie Olgas unerschütterlichem Lächeln. Ein weiterer Blick auf die Chips, wie um sich zu überzeugen, dass sie sich nicht irrt. Tenten hat eigentlich auch schon etliche gefährliche Dinge getan, aber so verunsichert hat sie ihr Los noch nie. Als sie wieder aufblickt, gleitet ihr Blick wieder durch die erwartungsvolle Runde und bleibt zufällig an mir hängen. Dann sagt sie nur ein Wort, und selbst das verlässt nur als kraftloses Hauchen ihre Lippen. „Sch-Scheiße …“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)