Sex, Guns & Rock 'n' Roll von UrrSharrador („Herzlich willkommen beim Schicksalslos!“) ================================================================================ Kapitel 4: „Sag mir, ob du das bist.“ ------------------------------------- Neji hat mir dabei geholfen, die Waffe anzufordern. Und dabei hat er wirklich nicht gut ausgesehen. Ich kann ihm nicht noch mehr aufbürden. Der Rest liegt an mir … nur an mir. In ein paar Minuten wird sich entscheiden, ob nächsten Sonntag ein weiterer Platz in unserer Runde frei bleibt. Das Gremium reagiert wirklich schnell auf Bestellungen. Ich hab die Erfahrung selbst noch nie gemacht, aber Sakura und Ino haben schon ein paarmal Sachen oder Leute angefordert, das weiß ich. Olga hat mir gesagt, die Leihgebühr für die Pistole beträgt einen Tausender. In meiner momentanen Lage sind mir derartige Beträge ziemlich egal. Einen Tag nach meinem Anruf hat mir ein Lieferdienst die Waffe wie ein ganz normales Päckchen zugestellt. Von außen war es getarnt mit dem Logo eines Versandkatalogs. Immerhin brauche ich die Pistole nicht aufzubewahren wie die anderen Beweismittel – schließlich ist sie nur geliehen. Und nun sitze ich hier. Im Keller unseres Apartmenthauses. Mit bunten Klamotten, kriegsbemalten Wangen und einem Cape aus einem Duschvorhang als lächerlichste Superheldin aller Zeiten verkleidet. Es ist spät in der Nacht; um diese Uhrzeit kommt hier niemand mehr runter. Das Russische Roulette in der Wohnung zu spielen, habe ich nicht gewagt. Meine beiden Mitbewohner wollen garantiert nicht länger in einem Apartment wohnen, in dem ein Mädchen Selbstmord begangen hat. Ich hab auch überlegt, ob ich einen Abschiedsbrief schreiben soll, nur für alle Fälle. Damit die Sache nicht auffliegt, vielleicht. Wenn ich sterbe, durchsuchen die Bullen sicher meine Wohnung und finden das Kästchen mit den Beweisen … so oder so würde rauskommen, dass ich krumme Dinge gedreht habe. Als ich merke, dass sich meine Gedanken nur um den einen Ausgang drehen, dass ich nämlich sterbe, würge ich sie brutal ab. Es ist nur eine Kugel. Fünf Kammern sind leer. Ich will die Wahrscheinlichkeit berechnen, will sie mir in Prozent vorsagen, aber ich wage es dann doch nicht. Es kommt, wie es kommen wird. Es gibt keinen anderen Ausweg – oder anders gesagt, ich schätze die Aufgabe, mir kaltes Metall an den Kopf zu setzen, als diejenige ein, bei der ich mit der höchsten Wahrscheinlichkeit überlebe. Wie weit ist es nur mit mir gekommen? Meine Kehle ist staubtrocken, als ich den Deckel von dem Päckchen hebe. Darin liegt sie, blitzblank poliertes, silbernes Metall. In den Lauf ist irgendeine Gravur eingearbeitet, die mir nichts sagt. Meine Finger sind so kalt, dass sich das Metall unter meinen Fingerspitzen fast warm anfühlt. Vielleicht bilde ich es mir auch ein. Neben der Knarre liegt eine einzige, annähernd konische Patrone mit einem sanften Goldschimmer. Sie hat nur den einen Zweck: mich zu töten. Mein Leben fortzufegen in dem Moment, in dem ich den Abzug drücke. Ein Schauer durchfährt mich, und anschließend kann ich kaum meine Glieder stillhalten, als hätte ich Schüttelfrost. Mein Blickfeld scheint sich kurz zu spalten. Mach schon, du blöde Ziege, sage ich mir. Täusch jetzt keinen Ohnmachtsanfall vor! Sowas hattest du noch nie! Ich versuche, meinen Hals durch Schlucken zu befeuchten, aber es fühlt sich an, als würde ich ihn mit Sand durchspülen. Mein Herz klopft hart gegen meine Brust, als ich die Pistole hochhebe – es tut schon fast weh. Bis in meine Fingerspitzen fühle ich meinen Puls. Etwas juckt auf meiner Stirn, läuft dann über meinen Nasenrücken. Von der Nasenspitze fällt der Schweißtropfen auf die Tischplatte. Es ist ein alter Tisch, billig und als Plastik und zusammenklappbar. In dem Raum stehen die zwei Waschmaschinen für die Mieter, und auf diesem Tisch wird üblicherweise Wäsche zusammengelegt oder sortiert. Ich lege den Kopf in den Nacken, um mich von dem Anblick der Pistole zu erlösen, wenigstens kurzfristig. Über mir brennt eine nackte Glühbirne. Das Surren, das sie von sich gibt, ist betäubend, aber es beruhigt mich kein bisschen. Auch nicht die kahlen, grauen Wände mit den Schimmelsprenkeln in den Ecken … Der Raum ist trostlos wie eine Gefängniszelle. Oder wie der Verhörraum der Polizei in den ganzen Krimis. Dann könnte die Glühbirne über mir genauso gut die Lampe sein, die sie da immer auf den Schreibtischen stehen haben, und ich stelle mir vor, wie sich ein Beamter zu mir herabbeugt und auf Bad-Cop-Art fragt: Nun, Tenten? Wollen Sie endlich Verantwortung übernehmen? Dann jagen Sie sich doch diese Kugel in den Kopf und lassen Sie Ihr Verbrecherdasein los.“ Ich werde noch verrückt. Als Nächstes stelle ich mir vor, dass meine Freunde hereinstürmen und mir die Pistole aus den Händen reißen. Ich wünsche es mir so sehr, dass sie mich aufhalten, dass sie mich in ihre Arme schließen und ich mich ausweinen kann, dass sie mir ihr Geld anbieten und mich aus der Sache freikaufen … Aber es kommt niemand. Natürlich nicht. Ich hab ja keinem gesagt, dass ich es jetzt tun werde. Neji glaubt, die Waffe käme erst am Freitag. Und irgendwie denke ich auch nicht, dass ich jetzt überhaupt weinen könnte. Mit meinen zittrigen Fingern ist es gar nicht so leicht, die Patrone in die Munitionstrommel zu schieben. Ich teste, wie gut das Ding rotiert – es ist, als wäre sie frisch geölt oder wie immer man das bei Revolvern macht. Mein Atem bebt, mein Brustkorb zittert mit meinen Händen um die Wette. Ich muss mir den Pistolenlauf ganz fest gegen die Schläfe drücken, sonst wackelt er wie verrückt herum. Am Ende trifft die Kugel nur die Wand und ich muss Olga um eine zweite bitten. Das würde ich seelisch nicht überstehen. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich das wirklich tue. Noch habe ich die Finger so weit weg vom Abzug, wie es nur geht. Vielleicht kann ich mich an das kalte Stechen des Metalls an meiner Schläfe gewöhnen, an den Druck, den das Korn auf meiner Haut auslöst. Vielleicht fällt es mir dann leichter, die Sache durchzuziehen. Ich atme jetzt noch heftiger, fällt mir auf. Lauter. Und ich meine mein eigenes, leises Wimmern dabei zu hören, als ich schließlich den Zeigefinger vorsichtig um den Abzug hake. „O mein Gott“, flüstere ich. „O mein Gott, o mein Gott …“ Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Bitte, lass mich überleben. Bitte, lass mich aufwachen … Nein, bitte mach, dass es wirklich passiert und dass es kein Traum ist und ich nicht in der Realität nochmal so weit gehen muss, um diesen Punkt zu erreichen. Nur einmal den Finger krümmen … und dann habe ich diese Aufgabe hinter mir. Und vielleicht auch das ganze Spiel … Ich beiße die Zähne zusammen, bis es wehtut, verzerre das Gesicht. Ich schnippe mit dem Daumen über die Trommel und warte, bis sie zum Stillstand kommt. Die Karten sind auf dem Tisch. Jetzt kann ich nicht mehr ändern, ob ich lebe oder sterbe. Jetzt bleibt mir nur, endlich abzudrücken. Mein Finger juckt, und er zittert, weil er halb angespannt ist. Mein Arm schmerzt ebenfalls, meine Schulter auch, ich spüre jeden Muskel, der mithilft, den Revolver an meinen Kopf zu halten. Jetzt, sage ich mir. Tu es! Ich schaffe es nicht. Ich bringe es einfach nicht über mich. Am liebsten würde ich das Ding von mir schleudern, aber ich weiß genau, dass ich es dann nie wieder anfassen werde. Tu es jetzt, befehle ich mir. Tenten! Tu es endlich, oder du tust es nie! Und wenn ich es bis Samstag aufschiebe, dann habe ich vielleicht noch was vom Leben … Nein, vergiss es! Du tust es jetzt, jetzt hast du endlich den Entschluss gefasst, sei kein ängstliches Kätzchen, tu es! Ich drücke mir den Lauf so fest an die Schläfe, dass er sich wohl im nächsten Moment durch meine Haut bohren wird. Mir kommen so viele Sachen in den Sinn, die ich noch tun muss … Ich will nicht sterben! Ich habe noch so viel vor … Ich will endlich mein Studium wieder ernster nehmen, will mit meinen Freunden Spaß haben und mich wieder öfter mit ihnen treffen, und ich muss mich bei Ino bedanken, dafür, dass sie mir ihr Ohr geliehen hat, und bei Neji, genau … Ich halte die Luft an und drücke den Finger gegen den Abzug. Ich spüre, wie er sich langsam bewegt … Es ist, als würde ihn etwas blockieren. Ist die Pistole defekt? Hat sie eine Ladehemmung oder etwas in der Art? Mein Finger gleitet durch den Schweißfilm etwas tiefer und plötzlich reicht die Hebelwirkung aus. Ich merke, wie der kleine Metallzacken nachgibt. Im Bruchteil einer Sekunde wird mir klar, dass es das war. Jetzt habe ich es getan. Jetzt entscheidet es sich. Klick. Das Geräusch dringt erst nach mehreren Sekunden an meine Ohren. Dann höre ich auch das Surren der Glühbirne wieder. Ich sitze wie erstarrt an dem Tisch, Schweißbäche laufen über mein Gesicht, brennen in meinen Augen. Ich bin noch da. Ich lebe! Ein freudiger Schluchzer entfährt mir. Für einen Moment wird mir ganz schwindlig. Dann brennen heiße Tränen über meine Wangen. Ich kann also doch noch weinen. Ich weine, weil ich noch lebe. Ich presse mir die Hand vor den Mund. In meiner Kehle hat sich ein schmerzender Knoten gebildet, aber selbst dieses unerträgliche Gefühl ist wie ein Segen für mich. Ich lege die Pistole vor mir auf die zerkratzte Tischplatte. Vielleicht sollte ich Luftsprünge machen, aber ich bin zu verdattert und fühle mich so geschlaucht, als hätte ich drei Tage lang ohne Pause Schwerstarbeit geleistet. Ich lebe! Ich habe das Russische Roulette überlebt! Wie um mich zu überzeugen, dass ich keinen Fehler gemacht habe, nehme ich die Pistole noch mal in die Hand – plötzlich fällt es mir viel leichter – und prüfe das Magazin. Die Patrone steckt auf der anderen Seite der Trommel. Ich laufe zu der Waschmaschine, auf der hochkant mein Handy liegt. Ich halte die Waffe vor die Kamera, die alles aufgenommen hat, seit ich das Päckchen mit der Pistole geöffnet habe. Es stört mich nicht, dass das Gremium mein verheultes, überglückliches Gesicht sieht. Ich habe es getan … Ich habe Russisches Roulette gespielt und gewonnen! „Und wenn das ein Traum sein sollte“, plappere ich drauf los, als mir der Gedanke erneut kommt, „dann bestelle ich mir noch ein paar Patronen und erschieße mich wirklich.“ Vielleicht ein etwas unglücklich gewählter Schlusssatz für mein Beweisvideo, aber ich fühle mich, als hätte ich das Preisgeld für diese Woche schon gewonnen.   „Naruto, da sieht mich schon wieder einer schief an“, ruft mir Lee ins Ohr. Ich verstehe ihn trotzdem kaum. Obwohl heute Nacht keine Live-Musik auf dem Plan steht, ist die Musik aus der Dose auch laut genug, dass man sich wohl genauso gut das Trommelfell mit einem Nadelkissen bearbeiten kann. Lee, der über seinen typisch grünen Grundton eine recht coole, zerfetzte Lederjacke gezogen hat, zieht am Strohhalm seiner Mineralwasserflasche. „Halt deine Hände so, dass er die Handrücken sieht“, rate ich ihm genervt. „Ich versuch gerade, Kunden zu finden, also stör mich nicht!“ Lee hat schon mehrmals gemeldet, dass er fragend betrachtet wird – natürlich nicht ängstlich. Er hat es einfach festgestellt, weil er weiß, dass es meinen Geschäften in die Quere kommen kann. Und ich weiß, dass es ausnahmsweise nicht an seinem Äußeren liegt. Wir sind in dem gleichen Club, in dem ich letztens Ino über den Weg gelaufen bin. Ich habe nämlich vermutet, dass man hier ganz gut Drogen verkaufen könnte – jedenfalls scheinen alle Ordnungshüter einen großen Bogen um den Laden zu machen. Und wenn es einem nicht sowieso egal ist, wenn man gegen das Gesetz verstößt, kommt man auch nicht her. Ich hab aus der Lostrommel einen Chip mit der Aufschrift Sei der Dealer gezogen. Aufgemalt ist ein Poker-Spieler gewesen, aber ich habe sofort draus geschlossen, dass es um Drogen gehen soll, und bei Olga einen ganzen Koffer voller Kokain bestellt. Das Gremium liefert schnell, echt jetzt, und ich hab mir eh schon zu lange Zeit damit gelassen, einen geeigneten Umschlagplatz für das Zeug zu finden. Also bin ich wieder hierhergekommen. Ich trage eine Knopfkamera, wie Ino sie wohl auch gehabt hat, als sie hier gearbeitet hat – und ich hoffe, dass die Bildqualität in dem Zwielicht hier nicht total grottig wird. Lee habe ich als Bodyguard engagiert. Schließlich kann es gefährlich sein, hier aufzukreuzen, noch dazu mit einem Haufen Schnee in den Jackentaschen. Ich hab ihm die Hälfte meines Gewinns dafür versprochen – eigentlich ist es mir ja egal, wie viel Kohle ich erwirtschafte. Die Drogen des Gremiums waren echt nicht billig, aber es reicht, wenn ich sie mit minimaler Gewinnspanne weiterverkaufe – wenn man das so nennt. Von geschäftsmännischen Sachen hab ich keine Ahnung. Aber ich weiß, dass ich das meiste Geld eh verdienen werde, wenn der Dealer-Chip nächste Woche als gültig ausgelost wird. Und genug Budget für den Ankauf hatte ich. Meine Geschlechtsumwandlung, wie Ino sie genannt hat, hat sich ausgezahlt. Sonntagabends, als ich wieder vom Casino daheim war, habe ich eine SMS vom Gremium bekommen, dass ich für meine letzte Aufgabe Geld überwiesen bekomme. Generell scheint es eine einträgliche Woche für uns gewesen zu sein. Sakura, Ino, Lee und Kiba haben auch alle ein Plus gemacht, von den anderen weiß ich es nicht. Wenn man mit Lee an einem Ort wie diesem zusammenarbeitet, hat man automatisch ein bestimmtes Problem am Hals. Wer in diesen Club kommt, ist ein rauer Haudegen und verträgt eine Menge Alkohol. Es gehört zum guten Ton, dass man hier säuft – auf jeden Fall sollte man das tun, um nicht noch weiter aufzufallen, wenn man schon keinen kahlgeschorenen Kopf, Punkerklamotten oder Springerstiefel hat. Aber Lee und Alkohol … das ist nicht ratsam. „Sag mir noch mal, was die Kreuze überhaupt bedeuten“, ruft Lee mir zu. „Damit ich die richtige Antwort gebe, wenn jemand fragt.“ Ich rolle mit den Augen. „Die Kreuze zeigen denen, dass du Straight Edge bist. Das ist irgend so eine Punker-Erfindung, und wer Straight Edge ist, gibt damit an, dass er eben nichts trinkt.“ Das ist mein Plan für Lee für heute Nacht gewesen. Ich hab mal eine Dokumentation über Straight-Edge-Leute gesehen und fand sie eigentlich ziemlich cool – die ziehen ihr Ding durch und sind stolz drauf, ihre Grundsätze einzuhalten. Ich habe gehofft, dass Lee damit ein wenig Eindruck schinden und gleichzeitig eine Erklärung für seinen Abstand zum Alkohol abliefern kann. Cool genug zu sein, um es ganz anders zu machen als die anderen, sozusagen. Aber irgendwie hilft es nicht viel, denn ein paar Skinheads in der Nähe zeigen gerade mit dem Finger auf ihn und lachen, und zumindest einer schaut finster drein. Vielleicht kennen sie das Zeichen auch gar nicht. „Hey, bist du nicht ein Freund von Ino?“, reißt mich plötzlich eine Stimme aus meinen Gedanken. Die Bedienung hinter der Bar, die mir gerade meinen Drink reicht, lächelt mich gewinnend an. Ich kann mich an sie erinnern – ihr knallgrünes Haar ist ziemlich auffällig. Sie spricht mit einem starken Akzent. „Ähm, ja … Woher weißt du das?“, rufe ich ihr zu. „Ino hat letztens geschwärmt von dir.“ „Echt jetzt?“ „Ja, sie hat erzählt, dass du ziemlich schlau warst, dich als Mädchen zu verkleiden“, grinst die Kellnerin. Ich spüre, wie meine Ohren rot werden. „Ich hab dich im ersten Moment wirklich für ein Mädchen gehalten. Ino hat mich dann aufgeklärt.“ „Und du hast mich wiedererkannt?“, frage ich, gerade als zwei bullige Typen sich zu Lee gesellen und ihm jeder einen Arm über die Schulter legen – gespielt freundschaftlich und mit wölfischem Grinsen im Gesicht. „Na, Kleiner? Was ist denn das da in deiner Flasche?“ „Prickelndes Mineralwasser“, erklärt Lee wahrheitsgemäß. „Ich merk mir Gesichter gut“, erklärt die Kellnerin und ich muss mir Mühe geben, überall gleichzeitig hinzuhören. „Auch wenn du geschminkt warst. Und Ino hat mir ein Foto von dir gezeigt, damit ich weiß, wie du wirklich aussiehst. Ich hab ihr nämlich wirklich nicht geglaubt, dass du ein Mann bist.“ Ich glaube, ich muss mal mit Ino darüber reden, was sie so alles über mich erzählen darf und was nicht … Immerhin kenne ich diese Frau gar nicht, und Ino hat sie sicher auch nur ein paar Tage lang gekannt. „Und warum trinkst du nicht was Ordentliches?“, fragt einer der Skinheads Lee. „Zum Beispiel so was. Riecht gut, oder?“ Der andere lässt Lee an seinem Flachmann schnuppern. „Tut mir leid, das darf ich nicht“, sagt Lee. Er ist wohl der Einzige, den ich kenne, der ohne Scham zugibt, dass er nichts verträgt. „Wenn ich Alkohol trinke, fange ich an zu randalieren und schlage alles kurz und klein.“ Der eine Kerl lacht schallend, währen der andere die Brauen zusammenzieht. „War das gerade ‘ne Drohung oder was?“, fragt er lallend. „Ich bin Verde“, reißt die Barkeeperin wieder meine Aufmerksamkeit an sich. „Äh … Naruto.“ Ich sollte Lee helfen – besser, ich beende das Gespräch … „Ich weiß“, kichert Verde spitzbübisch. Ich verziehe den Mund. Ino, dieses Plappermaul … Aber gut, sie wird Verde schon vertrauen, sonst hätte sie nicht so viel von uns preisgegeben. „He! He, Schnitte!“, kräht ein dürrer Kerl neben mir und winkt Verde mit einem Geldschein zu. „Ich wart‘ schon ewig!“ Verde lächelt ihn nur an, zwinkert mir dann zu und hört sich seine Bestellung an. Ich drehe mich um – und finde Lee allein vor, er steht ruhig da und schlürft sein Mineralwasser aus. „Wo sind die zwei Typen hin?“, frage ich stirnrunzelnd. Lee grinst sein strahlend weißes Grinsen. „Ich habe zwei Kunden für dich ausgemacht.“ „Echt jetzt?“ Ich reiße die Augen auf. „Sie treffen uns um halb fünf im Hinterhof. Sie sagen gerade noch ein paar Kumpeln Bescheid.“ „Wie hast du das …“ Ich werde angerempelt, als sich ein Schwergewichtsboxer – von der Statur her könnte er zumindest einer sein – an die Bar drängt. Obwohl ich neugierig bin, wie Lee das angestellt hat, verschiebe ich die Sache auf später. Ein paar Kunden reichen leider nicht, ich muss bis Sonntag einen ganzen Koffer voller Schnee loswerden. „Okay, wir teilen uns auf“, rufe ich Lee ins Ohr. „Alle, die Interesse haben, schickst du in den Hinterhof. Ab halb fünf verkaufen wir das Zeug dort.“ „Ist gebongt!“ Er salutiert kindisch und drängt sich durch die Menge.   An diesem Morgen haben wir sechs Kunden. Die ersten beiden sind wirklich die Schlägertypen, die Lee angequatscht haben. Sie treiben raue Scherze, aber sie zahlen brav und bedanken sich für die Ware. Dann kommt ein ziemlich ausgeflipptes Mädchen, das ich selbst angeworben habe, eben weil es so ausgeflippt ausgesehen und sich benommen hat, als wäre es bereits auf Drogen. Es kichert aufgekratzt und vergisst fast, uns zu bezahlen. Der vierte ist ein massiger Typ ohne Hals. „Wo ist der Stoff?“, knurrt er und sein Goldzahn reflektiert das Mondlicht heller als der matschige Schnee ringsum. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass es fürchterlich kalt in diesem Hinterhof ist, außerdem menschenleer, und dass es grässlich nach Abfall, Kotze und Pisse stinkt. „Den hab ich in meinen Taschen“, erkläre ich. „Kannst du auch bezahlen?“ „Her damit“, brüllt der Mann, als hätte er mich gar nicht gehört. „Nur gegen Bezahlung!“, sage ich etwas lauter. „Willst du sterben, hä?“, schreit er mich an, dass Speicheltröpfchen in mein Gesicht klatschen. Ich pralle zurück. Wie kann man dermaßen schnell von null auf hundert kommen? Lee schiebt sich pflichtbewusst zwischen uns. „Ohne Geld keine Ware. Bitte gehen Sie wieder“, sagt er. „Verpiss dich, du Spargelheini!“, keift der Mann. „Ich bring dich um! Rück sofort das Zeug raus!“ „Wenn Sie kein Geld haben, haben wir auch nichts für Sie“, sagt Lee und ich bin echt unheimlich froh, ihn dabeizuhaben. Der verrückte Junkie macht mir Angst. Schnaufend wie eine Dampflok krümmt er die Hände zu Klauen. „Wenn ihr jetzt nicht sofort den Stoff rausrückt, seid ihr tot!“ Und ohne uns Gelegenheit zu geben, es uns nochmal zu überlegen, stürmt er los. Ich springe in einem Reflex außer Reichweite – der Kerl sieht aus, als könnte er eine Betonwand einrennen. Lee macht nur einen Schritt und schafft es irgendwie, den Typen kalt zu erwischen. Wie eine Kugel aus Fleisch, über die sich Kleidung spannt, segelt der Süchtige durch die Luft und knallt in den Schnee, dass eine weiße Wolke aufstiebt. Brüllend und spuckend rappelt er sich wieder auf, die Augen vor Kälte zusammengekniffen, und taumelt in die ungefähre Richtung von Lee los. Der weicht ihm diesmal aus und tritt ihm in derselben Bewegung die Beine weg. Die Dampflok landet wieder im Schnee. „Ich werde Sie verprügeln, so sehr Sie wollen“, erklärt er. „Aber wir möchten unsere Ware gern verkaufen, und es kommen bald noch andere Kunden.“ „Ich bring euch um!“, heult der Mann und stürmt schon wieder auf Lee zu. Der tritt nur zur Seite und macht eine Probe aufs Exempel, was die Sache mit der Wand angeht: Der fette Typ knallt mit dem Kopf gegen die frostige Backsteinwand des Clubs, erzittert, dass sein ganzer Körper schwabbelt, verdreht die Augen und landet k.o. im Schnee. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Mauer nach Rissen absuche, aber ich finde keine. Wir hören jemanden am anderen Ende des Hofes lachen. Behandschuhte Hände schlagen applaudierend aufeinander. „Statt dem Schnee in eurer Tasche darf er jetzt echten Schnee fressen. Klasse Idee.“ Der Mann sieht nicht aus wie einer der üblichen Gäste in dem Lokal. Er ist ein wenig älter als ich, trägt modische Kleidung und hat langes, blondes Haar, das er sich fast kunstvoll über ein Auge und über den Rücken gegelt hat. Für die Kälte ist er außerdem recht sommerlich unterwegs. In seinem Mundwinkel glimmt ein roter Punkt. Ich glaube, ihn zu kennen. Ist das nicht einer von den Freunden von Sasukes Bruder? „Sind Sie unser nächster Kunde?“, fragt Lee. „Kommt drauf an. Was habt ihr sonst noch, außer Kokain? Man muss es ja nicht gleich übertreiben. Ein netter Ofen bei der Kälte wär zum Beispiel schon was Feines.“ „Wir haben nur Schnee. Willst du was, oder nicht?“, frage ich misstrauisch. Irgendwie ist er mir nicht gerade sympathisch. „Okay, hab’s verstanden. Dann lass ich euch mal mit dem Zeug alleine. Sagt, ihr kennt doch Ino, oder? Ist das hier der Laden, in dem sie mal gekellnert hat? Ich hab über ein paar Ecken davon erfahren“, wechselt er plötzlich das Thema. „Und wenn?“, frage ich. Schon wieder Ino. Heute scheint sie mich zu verfolgen. Der Mann winkt ab. „Nicht so wichtig. Ich dachte mir, ich seh‘ ihn mir mal an, aber wenn ich die Gestalten bedenke, die da momentan raus und rein gehen …“ Er deutet bezeichnend auf den dicken Junkie, der immer noch reglos im Schnee liegt. „Wir können Ino etwas von Ihnen ausrichten“, bietet Lee brav an, ehe ich ihm auf den Fuß treten kann. „Bloß nicht“, lacht er. „Am Ende nennt sie mich einen Stalker. Ich glaube, ich werd‘ einfach nach Hause gehen. Bei der Kälte jagt man ja keinen Hund vor die Tür.“ „Du hättest dir auch was Richtiges anziehen können, und nicht nur so eine Herbstjacke“, platze ich heraus. Ich bin eindeutig übermüdet – meine Feindseligkeit schwappt ihm offen entgegen. „Hätte ich“, gibt er zu. „Leonardo da Vinci hätte die Mona Lisa auch mit Augenbrauen malen können. Hätte-Wäre-Könnte gibt’s viele.“ Ich verstehe den Zusammenhang nicht, aber da vergräbt er auch schon die Hände in den Hosentaschen und trollt sich. Ich schüttle nur über ihn den Kopf.   Wir müssen fast eine halbe Stunde warten, ehe noch drei Kunden aufkreuzen – sie wirken wie ein Pärchen, auch wenn sie zu dritt sind, und sind recht jung. Lee hat sie herbestellt, und wir schaffen es, einen der beiden total betrunkenen Jungs zu überreden, auch noch die beiden letzten Päckchen Kokain zu kaufen, die wir übrig haben. Da er zu wenig Geld dabei hat, einigen wir uns auf einen Sonderpreis, der unseren Gewinn noch einmal deutlich schmälert. Aber dafür habe ich erstens meine Aufgabe erfüllt und bin immer noch im Plus, und zweitens umarmt mich der Junge stürmisch, nennt mich einen Helden und einen Gott, und das Mädchen küsst mich sogar, ehe die drei abdampfen. „Damit wären wir fertig“, seufze ich, als sie aus unserem Blickfeld verschwunden sind. „Hauen wir lieber ab, sonst kommt noch jemand vorbei.“ Der dicke Fleischklops liegt bereits im Schatten einiger Fässer und eines Daches. Lee hat ihn dorthin gezerrt, weil es dort trocken ist. Hin und wieder zuckt er, aber aufgewacht ist er noch nicht. Wahrscheinlich kann es nicht mehr lange dauern. „Ich hoffe, er erkältet sich nicht“, sagt Lee auf dem Weg zur Straße. „Bei so einem Wetter holt man sich schnell eine Lungenentzündung.“ Rock Lee ist einer der wenigen von uns, die immer noch Mitleid mit den diversen Opfern unserer Spiele haben. Ich meine, ich will auch eher wenig Schaden anrichten als viel, aber der Kerl hat sich ja wohl selbst ausgeknockt. Die U-Bahnen fahren unter der Woche nicht mehr um diese Uhrzeit. Wir werden uns ein Taxi rufen müssen … Meine Finger sind ganz klamm von der Kälte, als ich mein Handy hervornestle und den Taxidienst meiner Wahl anrufe. „Teilen wir jetzt das Geld auf?“, fragt Lee. „Machen wir das, wenn wir im Warmen sind“, schlage ich vor. „Wir können uns ja morgen bei mir treffen.“ „Okay. Aber ich würde gerne wissen, wie viel wir eingenommen haben, Naruto.“ Traut er mir nicht? Gerade er würde doch keine Verdächtigungen gegenüber seinen Freunden in seinen Kopf lassen, oder? Vielleicht lernt er ja doch dazu. Ich hole das Geldbündel raus und beginne die Scheine abzuzählen. Da passiert es. Ich sehe es gar nicht kommen, und ich weiß sekundenlang nicht, was eigentlich geschehen ist. Plötzlich küsse ich mit der Schnauze den kalten Bürgersteig und schmecke frischen Schnee im Mund. Vor meinen Augen tanzen Sterne. Lee zieht die Geldbündel aus meiner Hand. Der Mistkerl hat mich mit einem Handkantenschlag im Genick erwischt! „Tut mir leid, Naruto“, sagt er ernst. „Ich habe den Hinterhältiger-Betrüger-Chip gezogen.“ Ich reiße den Mund auf, aber kein Ton verlässt meine Lippen. Fassungslos sehe ich zu, wie er davonsprintet. Voller Energie, als wäre er eben frisch ausgeruht aus einem Power-Napping erwacht. Nie im Leben hole ich den ein. Schließlich ballt sich in meiner Kehle ein wortloser Wutschrei zusammen, den ich ihm hinterherschicke. Dieser Scheißkerl!   Es ist bereits Freitag. Ich sitze in einer heruntergekommenen Mietwohnung, deren Eigentümer ein Arsch ist und mehr dafür verlangt, als wahrscheinlich die Versicherung zahlen wird, wenn mir das Dach über dem Kopf zusammenbricht. Die Wohnung ist winzig und war schon schmutzig, als ich eingezogen bin, und abgesehen davon, dass ich nicht gerne putze, habe ich einige Flecken auch mit allergrößer Mühe und eimerweise Putzmittel nicht wegbekommen. Kein Vergleich zu den edlen vier Wänden meinen feinen Herrn Bruders. Itachi Uchiha müsste man heißen. Ich könnte ihn um finanzielle Unterstützung anpumpen oder ihn fragen, ob er ein Plätzchen frei hätte – selbst eines seiner Ledersofas wäre besser als mein knarzendes Bett –, aber das macht mein ohnehin beschädigter Stolz nicht mit. Und außerdem habe ich hier meine Ruhe. Ich denke über eine bestimmte Person nach. Immer noch. Daran, was sie mit mir gemacht hat. Darüber, ob ich ihr ihre Geschichte abkaufen soll. Ich kann nicht vergessen, wie sie mich angesehen hat, als sie hilflos unter mir gelegen ist … nämlich überhaupt nicht hilflos, sondern voller Kraft und rebellisch. Je länger ich darüber nachgrüble, desto rasender werde ich – aber nicht länger vor Wut, die keinen Ausweg findet, sondern … etwas anderes macht mich rasend. Lässt mich fahrig und gereizt werden, gibt mir das Gefühl, dass ich etwas Entscheidendes übersehe, dass irgendetwas in meinem doch recht ziel- und planorientierten Leben fehlt. Immer, wenn ich mir vorsage, dass ich keine Frau in meinem Leben für mehr als ein paar Stunden brauche, und schon gar nicht Sakura … taucht plötzlich ihr Gesicht vor meinem meinen inneren Auge auf. Ich spüre noch den Kater von gestern – ich habe versucht, in einer Flasche Whiskey eine Antwort zu finden. Die Antwort war dann letztendlich, dass ich mit Sakura geredet habe, als wäre sie bei mir im Zimmer gewesen. Ich kann mich nur schemenhaft daran erinnern, aber ich scheine tatsächlich meine inneren Gedanken nach außen gekehrt und eine leere Whiskey-Flasche damit belästigt zu haben. Irgendwie würde mich interessieren, was genau ich gesagt habe. Vielleicht ist es mir ja tatsächlich gelungen, die widersprüchlichen Gedanken, die mein Hirn neuerdings durchkreuzen, in Worte zu fassen. Geholfen hat es nichts. Ich muss wohl einfach Gras über die Sache wachsen lassen. Sakura noch mal nach Antworten zu drängen hat auch keinen Sinn, und ich will mich nicht noch mehr mit ihr beschäftigen, als meine Gedanken es gezwungenermaßen ohnehin schon tun. Als mein Handy läutet, schmerzt der Klingelton in meinem brummenden Schädel. Kiba ruft mich an. Stöhnend hebe ich ab, eigentlich nur, damit Ruhe ist. „Was willst du?“, frage ich. „Yo, Sasuke. Bist du grad für ‘ne Minute frei?“ „Was willst du?“, wiederhole ich ungehalten. Nur weil wir ein, zweimal geredet haben, müssen wir jetzt nicht auf beste Freunde machen. Ich bin schon froh, dass Naruto offenbar Besseres zu tun hat, als sich an mich zu kleben. „Sag mir mal eben deine Mail-Adresse.“ „Wozu?“, frage ich. „Ich schick dir ‘nen Link. Sag mir, ob das du bist.“ Stirnrunzelnd nenne ich ihm die Adresse, und kurz darauf ist seine Mail auf meinem Smartphone. Ich schalte die Freisprechoption ein und betrachte dann stirnrunzelnd den Link, den er mir gesendet hat. „Was zum Teufel soll das werden?“, frage ich. „Mach ihn schon auf“, drängelt Kiba. „Ist garantiert kein Virus.“ Täusche ich mich, oder klingt er noch lästiger als sonst? Aufgeregter? So gut kenne ich ihn nicht. Und eigentlich hab ich momentan was anderes im Kopf – ein brummendes Wespennest von meiner Solo-Sauforgie gestern, zum Beispiel. Seufzend öffne ich den Link. Das Fenster, das mein Browser öffnet, sagt mir, dass mein erster Gedanke richtig war. Dieser Scherzkeks hat mich zu einer Porno-Seite gelotst. Ich will ihm gerade eine verbale Maulschelle verpassen, als ich das Video sehe, das abgespielt wird. Unmöglich. Es überläuft mich heiß und kalt. Fassungslos starre ich auf mein Smartphone. Das kann doch nicht … Das kann doch wohl nicht … „Und? Und?“, höre ich Kiba wie aus weiter Ferne. „Ich seh‘ doch richtig, oder?“ Und ob er richtig sieht. Ich kann es nicht glauben. Das Video … auf dieser Pornoseite … Ein heruntergekommenes, aus rohen Dielen gebautes Zimmer … ein ramponiertes Bett … und der Mann, der sich gerade splitterfasernackt über eine Frau beugt, die man nicht erkennen kann … bin ich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)