Sex, Guns & Rock 'n' Roll von UrrSharrador („Herzlich willkommen beim Schicksalslos!“) ================================================================================ Kapitel 8: „Hast du dich verlaufen, Kleine?“ -------------------------------------------- Vielleicht wäre es gar nicht nötig gewesen, dass wir das Konzert besuchen und uns dem Gedränge, der Hitze und der enormen Lautstärke aussetzen. Ich habe aber eine Ahnung bekommen wollen, was El Riviera für ein Mensch ist – oder eher, wie er sich gibt, denn das ist bei Promis erfahrungsgemäß fast wichtiger. Die Musik ist gar nicht so schlecht, und Riviera sieht auch gar nicht übel aus. Jünger jedenfalls, als er laut Wikipedia-Biographie ist. Sein Gesicht wirkt jedoch ausgezehrt, er hat eine lange, auftoupierte Haarmähne und ist eher schmächtig bis auf seine durchtrainierten Oberarme. Um seine Stirn schlingt sich ein breites Band, das ihn ein wenig wie ein Pirat wirken lässt. Seine Stimme ist angenehm, und er heizt die Menge gut gelaunt mit Scherzen an und feuert sie genauso viel an wie umgekehrt. Man merkt sofort, dass er der Star des Abends ist und die anderen Musiker ungefähr genauso viele Fans haben wie das Bühnenlicht. Die Texte handeln, soweit ich das sagen kann, von Herzschmerz, Drogen und verlorenen Zeiten, ein bisschen was Politisches scheint mir auch dabei zu sein. Ich wippe auf den Zehenspitzen vor und zurück, während die Menge rund um mich tobt, und brenne mir Rivieras Anblick in meine Netzhaut. Er soll der Mann sein, den ich beklaue. Und den ich, wenn es nach dem Gremium geht, umbringen soll. Sasuke steht dicht neben mir, da wir immer wieder aneinander gedrängt werden. Er hat die Arme verschränkt und steht da wie der Fels in der Brandung. Immerhin hat er an Ohropax gedacht. Mir hat das überbordende Schlagzeug längst etwas wie Watte in die Gehörgänge gestopft. „Ich gehe weiter nach vorne“, sage ich zwischen zwei Songs zu Sasuke. Der nickt nur. Wenn ich schon Rivieras Aufmerksamkeit bekommen muss, fange ich am besten gleich damit an. Die ersten zwei Reihen aus springenden Leibern, die sich vor die Bühne drängen, müsste man von dort aus erkennen. Der Rest versinkt wohl im Schatten hinter dem Scheinwerferlicht. Ich drängle mich an ausgeflippten Teenies und johlenden jungen Männern vorbei, ernte böse Blicke, und ein ziemlich betrunkenes Mädchen rempelt mich an und schimpft mich eine dumme Schlampe, aber dann schiebt sich noch jemand zwischen uns durch und ich verliere sie aus den Augen. Die Luft wird dicker, je näher ich der Bühne komme, oder bilde ich mir das ein? Ich rieche Schweiß und verschüttetes Bier; der Boden ist glitschig. Im Takt der Musik hüpft ein alter Mann mit einem Stapel Plastikbecher an mir vorbei, tänzelt mir kurz vor der Nase rum und trollt sich dann in Richtung Bar, um weitere Becher von den gebannten Fans einzusammeln und dann den Einsatz zu kassieren. Heute Nacht wird er reich werden, denke ich mir. Die letzten paar Meter sind fast unmöglich zu bewerkstelligen. Die Leute stehen dicht an dicht, als würden sie eine Mauer im American Football bilden – nein, selbst da gibt es mehr Lücken. Und keiner gibt freiwillig einen Zentimeter von dem Boden her, den er so eifrig erobert und so lange gehalten hat. Ich gerate bei dem Versuch, einen Durchlass zu finden, ziemlich an den Rand der Halle. Nicht gut. Immerhin, Riviera hastet auf der Bühne stets auf und ab, als hinge sein Leben davon ab. Schließlich finde ich einen einigermaßen guten Platz und positioniere mich in zweiter Reihe. Von da an tue ich alles, um seine Aufmerksamkeit zu erhaschen, so wie ich denke, dass es ein waschechtes Groupie tun würde. Meine Knopfkamera läuft bereits, damit das Gremium sieht, welche Mühe ich mir gegeben habe. Sobald Riviera hersieht, hüpfe und kreische ich, was das Zeug hält, bis meine Fußballen und mein Hals wund sind. Sein Blick gleitet über mich, aber ich glaube nicht, dass er mich wirklich wahrnimmt. Vielleicht fällt ihm ja irgendwann meine ungewöhnliche Haarfarbe auf. Was bin ich froh, dass das hier kein Punk-Konzert ist. Ein weiterer Song endet und ich bin sicher doppelt so erschöpft wie die Band. El Riviera zieht sich sein Stirnband vom Kopf, knüllt es zusammen und wirft das schweißfeuchte Ding in die Menge. Kreischend stürzen sich mehrere Mädchen darauf und zanken darum wie Hunde um ein Stück Fleisch. Ich könnte nie ein echtes Groupie sein. „Alles klar, Leute“, keucht Riviera ins Mikrofon. Er spricht mit einem spanischen Akzent, der auf mich übertrieben und falsch wirkt. „Danke! Ihr seid echt super! Den nächsten Song habe ich für jemand ganz Besonderen geschrieben. Ich weiß nur noch nicht, für wen.“ Sogar ein Scherz wie dieser reizt Gelächter aus hunderten von Kehlen hervor. Ich kann mir bildlich Sasuke vorstellen, wie er inmitten der kochenden Menge die Augen verdreht. „Es ist ein Song für euch alle, für meine treuen Fans, ohne die ich nicht hier stehen würde und ohne die ich keinen Grund hätte, überhaupt einen Fuß aus meinem Haus zu setzen“, fährt Riviera fort, umarmt seine Gitarre und ist offenbar beim rührseligen Part des heutigen Abends angekommen. „Dieser Song ist deswegen euch allen gewidmet!“, schreit er, und die Fans jubeln. „Und ganz besonders …“ Sein Blick gleitet durch die Menge. Jetzt!, schießt es durch meinen Kopf. Er will sich wirklich jemanden aus der Menge herauspicken? Wieder fangen die Fans zu zappeln an, die ersten beiden Reihen am stärksten. Rivieras sympathisches Gesicht wird von einem Lächeln geteilt, als er in meine Richtung … nein, er sieht nicht mich an, sondern das ziemlich kleine, pummelige Mädchen, das vor mir steht und ohne das ich vermutlich nicht geglaubt hätte, auf einem gut einsehbaren Platz zu stehen. „… der Glücklichen in der ersten Reihe! Alles Gute zur Hochzeit!“, ruft er und die Menge brüllt wieder, obwohl kaum einer sieht, was er überhaupt meint. Mir fällt auch erst jetzt auf, dass vor mir eine ganze Gruppe von jungen Frauen steht, die alle einheitliche Kleidung mit einer breiten Schärpe tragen, auf die ein Name gestickt ist, der im schwachen Licht unmöglich zu entziffern ist. Riviera hat sie wohl als eine Gruppe von Freundinnen identifiziert, die hier ihren Polterabend feiern – und das Mädel vor mir scheint die Braut zu sein. Zumindest hat sie als Einzige eine Plastikkrone auf dem Kopf, die mit Blumen verziert ist. Sie kreischt und springt glücklich auf und ab, wedelt mit den Armen, dreht sich einmal herum. Ich erkenne die Glückstränen in ihren Augenwinkeln, während El Riviera das alles mit einem wohlwollenden Lächeln quittiert. In meinem Kopf verschränken sich zwei Gehirnwindungen und spucken einen Plan aus. Kaum dass sie in meine Richtung sieht, schnappe ich ihr die Krone weg und setzte sie selbst auf. Das Mädchen starrt mich eine kleine Ewigkeit entgeistert an, während ich nur fies grinse. Mein Blick gleitet wieder zur Bühne. El Riviera ist meine Tat auch aufgefallen. Ich grinse ihn frech an, er grinst zurück. Ich gehe mein Repertoire an Aufreißtaktiken durch und will gerade Nummer eins, den koketten Wimpernaufschlag, umsetzen, als mir eine Freundin der Braut einen harten Stoß verpasst. Wortlos reißt sie mir die Krone vom Kopf und setzt sie der rechtmäßigen Besitzerin wieder auf, die mich so böse anfunkelt, als hätte ich eben den glücklichsten Tag ihres Lebens ruiniert. Ich frage mich unwillkürlich, ob der plötzliche Tod ihres Bräutigams sie so hart treffen könnte, wie sie sich nun getroffen gibt. Sie stößt mir ebenfalls mit erstaunlicher Kraft die Hände vor die Brust und schreit dabei irgendwas. Ich stolpere zwei Reihen zurück, wo ich gegen weitere Zuschauer pralle, die nicht mitbekommen haben, was los ist. El Riviera lacht gekünstelt in sein Mikrofon. „Ich sehe, dass ihr alle gut drauf seid. Los geht’s, Forever For Us!“ Meine plötzliche Abwesenheit in der zweiten Reihe hat ein Vakuum hinterlassen, das sich wie von selbst füllt. Da ich wohl keine Chance mehr habe, meine günstige Position zurückzuerobern, mache ich mich auf die Suche nach Sasuke. Riviera beachtet mich sicher gar nicht mehr, aber ich hoffe, dass zumindest das Gremium meine Aktion witzig findet. Als der letzte Song gespielt ist und der Drummer seine Sticks in die Menge schleudert, entdecke ich Sasuke an der Bar, einen Becher verwässertes Bier in der Hand. Wortlos nehme ich ihm den aus der Hand und trinke einen tiefen Schluck. Das Kreischen und Johlen hat meine Stimmbänder so sehr ausgetrocknet, dass sie mir wie verschrumpelte, scharfe Chilischoten im Hals brennen. Sasuke verzieht nicht mal den Mund, als ich ihm den halb leeren Becher wieder reiche. Ich merke erst jetzt, dass mir mein Top vom Schweiß am Rücken klebt und meine Haare auf meiner Stirn. „Erfolg gehabt?“, fragt Sasuke, als die Saalbeleuchtung angeht und man sich wieder einigermaßen unterhalten kann. Die Leute strömen den Ausgängen entgegen und verstopfen sie dabei erst mal. Ich erzähle ihm kurz, was ich in der zweiten Reihe so alles erlebt habe, und er schmunzelt sogar darüber. Als der Saal immer leerer wird – die Polterer sehe ich zum Glück nicht wieder –, deute ich auf die Tür hinter der Bühne, die in den Backstage-Raum führt. „Irgendwie müssen wir dort rein kommen.“ „Du meinst, du musst dort reinkommen.“ Ich seufze genervt. „Was hast du überhaupt für Chips?“ „Schon erledigt. Einer Freundin helfen und Leute verarschen.“ „Im Ernst?“, Ich hebe die Augenbrauen. Vielleicht stimmt das ja wirklich. Das würde erklären, warum er mir hilft … wobei mir der Gedanke irgendwie sauer aufstößt. Aus irgendeinem Grund wäre es mir lieber, seine Hilfe entspränge nicht seiner Verpflichtung dem Spiel gegenüber … Aber er würde mich dann immerhin als Freundin bezeichnen, nicht? Allein das gibt mir zu denken. Es sind mittlerweile fast keine Leute mehr da, aber da bereits Techniker auf der Bühne stehen, kommen wir auf diesem Weg unmöglich rauf. Also eilen wir nach draußen, dann durch einen Notausgang – gottlob geht keine Alarmanlage an –, und stehen irgendwann ohne unsere Winterklamotten, die noch brav in der Garderobe warten, in der frostigen Nachtluft. Laut meiner Karte ist der Backstage-Eingang gleich um die Ecke. Falls Riviera den nehmen wird, kommt er vielleicht hier vorbei … zumindest hat er nichts von einer Autogrammstunde gesagt. Aber wenn sie hinter der Bühne noch eine Aftershow-Party veranstalten, frieren wir uns hier alles ab. „Soll ich die Jacken holen?“, bietet Sasuke an. Ich nicke. Bereits jetzt zittere ich. Der Schweiß an meinem Körper scheint zu einer Eiskruste zu gefrieren. „Vergiss das Geisterkostüm nicht. Wenn ich nicht mehr hier bin, sehen wir uns am Treffpunkt.“ Der genau zwei Stockwerke über uns liegt, auf der Feuerleiter, die hoffentlich in Rivieras Zimmer oder zumindest zu dem Flur davor führt. Sasuke nickt. Der Notausgang lässt sich von außen nicht öffnen, also kämpft er sich zur Vorderseite der Location. Ich höre bereits das Geschnatter der Fans, die auf die Straße quellen, stehe mir die Beine in den Bauch und friere. Meine Knopfkamera nimmt das alles auf – wenn sie nicht in der Hitze da drin oder der Kälte hier draußen den Geist aufgegeben hat. Meine Gespräche mit Sasuke werde ich rausschneiden, aber soll das Gremium ruhig sehen, wie viel Mühe ich mir verdammt nochmal gebe, Rivieras Nummer eins zu werden! Ich versuche natürlich irgendwann, die Backstage-Tür aufzubekommen, aber ebenso naturgemäß ist sie abgeschlossen. Zitternd reibe ich meine nackten Arme. Die Gänsehaut darauf schmerzt bereits. Ich stelle mir vor, wie meine Lippen schon blau angelaufen sind. Und Sasuke kommt und kommt nicht! Ein erschreckender Gedanke macht sich in meine Kopf breit – was, wenn er mich verraten soll oder einfach keine Lust mehr hat, mir zu helfen? –, doch der gefriert sofort zu einem Eiskristall, dessen Ecken mich noch pieken, aber nicht wirklich schrecken. Mein Zittern nimmt irgendwann ab, wie ich erschrocken bemerke. Meine Finger und Zehen sind Eisklumpen, die ich kaum noch bewegen kann. Ich überlege ernsthaft, einfach zu gehen und meine Jacke selbst zu holen, auch auf die Gefahr hin, dass Riviera mir gerade dann entwischt. Eben, als ich den Entschluss fasse, es zu riskieren, knarzt die Tür des Backstage-Bereichs. Ich kann es kaum fassen. Sie kommen tatsächlich heraus! El Riviera ist natürlich der Erste. Seine ausgefranste Haarmähne mit den mehrfarbigen Strähnen ist unverkennbar. Er hat sich den Gurt seiner Gitarre um die Schulter geschlungen und trägt eine Lederjacke mit hochgekrempelten Ärmeln, was für diese Temperaturen eigentlich auch zu luftig ist. Er ist in ein Gespräch mit den anderen Bandmitgliedern vertieft und fuchtelt gut gelaunt mit den Händen. Hinter ihnen kommen noch zwei bullige Typen aus dem Backstage-Bereich – und dann sieht Riviera mich, wie ich mir die Seele aus dem Leib schlottere. Überrascht bleibt er stehen und starrt mich an wie ein Gespenst. Ich frage mich, ob damit ein Teil meiner Aufgaben schon erfüllt ist. „Holla“, sagt er. „Ist dir nicht kalt?“ Er ist so verblüfft, dass er ganz vergisst, den spanischen Akzent in seine Stimme zu packen. „Nein“, behaupte ich mit klappernden Zähnen. „Ich zittere vor Wut, weil es nicht noch kälter ist.“ Riviera glotzt mich immer noch an wie das achte Weltwunder, dann schnippt er mit den Fingern. „Laurie, gib der Frau mal deine Jacke. Die holt sich noch den Tod.“ Einer der Männer – der Drummer, glaube ich – schält sich missmutig aus seinem Pelzkragen und gibt ihn mir. Ich bin im ersten Moment noch zu verdattert, aber der Instinkt schreit mich an, das Ding sofort anzuziehen. Es riecht nach Zigarettenrauch, ist aber wirklich schön warm. „Hast du dich verlaufen, Kleine?“, fragt Riviera grinsend. Ich bemühe mich zwar um schlagfertige Antworten, aber was ich auch sage, die Tatsache, dass meine Zähne bei jedem Wort mindestens dreimal klackern und ich generell nur gepresste Worte rausbringe, lässt mich sicher ziemlich armselig erscheinen. „Ich bin hier schon richtig.“ „Die Show ist vorbei“, motzt mich einer der Typen im Hintergrund an. „Verschwinde, Mädchen.“ „Mit fremdem Eigentum?“ Ich deute lächelnd auf die Pelzjacke. Riviera lacht. „Hey, du warst bei dem Konzert, oder?“ Eine zugegebenermaßen nicht allzu schlaue Frage, bedenkt man, dass wir immer noch direkt vor der Halle stehen, aber er meint damit hoffentlich, dass er sich an mich erinnert. Ich nicke. „Nachdem ich dein Stirnband nicht erwischt habe, dachte ich, ich krieg vielleicht ein anderes Autogramm. Oder ein Abschiedsgeschenk.“ „Autogramme gibt’s heute keine“, erklärt er feixend. „Dann ein Abschiedsgeschenk.“ Innerlich bete ich, dass nicht plötzlich Sasuke auftaucht – wenn ich auf einmal einen besorgten Freund an der Seite hätte, würden mich die Typen sicher einfach links liegen lassen. Riviera schüttelt schmunzelnd den Kopf. Sein Akzent ist nicht wieder aufgetaucht – als wäre er in der Hitze während dem Konzert irgendwann einfach verdampft. „Weißt du, ich hab ja schon etliche durchgeknallte Mädels kennengelernt, aber du bist, glaube ich, die Erste, die sich als Eiszapfen für eine kleine Aufmerksamkeit bewerben will.“ „Ich dachte mir, ich müsste irgendwie so cool rüberkommen wie du“, plappere ich irgendeinen Unsinn, der mir durch den Kopf geht. Es scheint ihm zu gefallen. Vielleicht habe ich auch einfach seinen Beschützerinstinkt geweckt. „Na komm“, lacht er und legt mir den Arm um die Schultern. „Wir übernachten im dritten Stock, gleich über der Konzerthalle. Komm doch mit und wärm dich ein wenig auf.“ Ich kann es kaum glauben – er will mich wirklich mit auf sein Zimmer nehmen? Mir fällt auf, dass er mich nicht mal danach fragt, ob ich vielleicht irgendwo meine Jacke verloren habe, ob ich schon so gekommen bin oder ob mich jemand abholen wird oder ob ich ein Taxi will oder irgendwas, so als wäre es ihm im Grunde egal. Vielleicht gefalle ich ihm ja wirklich. Allzu hässlich bin ich ja nicht. „Coole Haarfarbe“, stellt Riviera fest, während wir um die Halle herumgehen. Seine Kollegen trotten schweigsam hinter uns her. „Danke“, bringe ich heraus. „Wie heißt du?“ „Sakura“, antworte ich – meine gerade erst wieder auftauenden Gehirnzellen haben sich auf die Schnelle keinen falschen Namen überlegen können. Ich frage mich, ob ich ihn auch nach seinem echten Namen fragen soll. Aber ein hysterisches Groupie würde das wohl nicht tun – für ein Groupie gäbe es nur El Riviera, und sein ganzes künstliches Image wäre alles, was ihm etwas bedeutet. „Gehen wir wirklich nach oben? Schmeißt ihr nicht noch irgendwo eine Party?“, frage ich. „Heute nicht. In zwei Tagen haben wir unseren letzten Auftritt. Danach lassen wir’s krachen, dass es für eine ganze Woche reicht.“ Ich habe wohl großes Glück, dass die Veranstaltungshalle so unmöglich unpraktisch gebaut wurde. Um zu den Apartments zu kommen, muss man einen Seiteneingang nehmen, den mit dem Backstage-Bereich zu verbinden wohl entweder zu kostspielig gewesen ist, oder es hat einfach niemand daran gedacht. Wir kommen an einem dicken Portier vorbei und nehmen den Lift in den dritten Stock. Während wir warten, bis die Türen wieder aufgleiten, steht Riviera ziemlich dicht an mich gedrängt. Falls ich noch einen Hinweis darauf gebraucht hätte, welcher Art sein Interesse an mir nun wirklich ist, wäre er das gewesen. Ich heiße das einen gelungenen Ablauf meiner Pläne – und gegen die Kälte hilft’s auch. Ein im Dunkeln liegender Flur nimmt uns auf. Der Boden ist mit Teppich ausgelegt, und auf der anderen Seite sehe ich ein Notausgang-Schild glimmen. Da muss die Feuerleiter sein. Riviera hat das Zimmer gleich neben dem Aufzug. Er verabschiedet sich von seinen Kameraden, von denen ihm einer mit einem anzüglichen Grinsen viel Spaß wünscht, und schließt die Tür auf. Das Zimmer ist erstaunlich groß und hell. Das einzige kleine Fenster sollen wohl die helle Tapete und die zahllosen Lampen ausgleichen – Deckenlampen, Wandlampen, Stehlampen; als hätte jemand seine Sammlung ausgedienter Lampen einfach hierher gebracht und Riviera hätte sie repariert. Nach der erbarmungslosen Kälte draußen werde ich nun schläfrig, aber ich registriere dennoch, dass Riviera die Tür hinter uns wieder absperrt. Kurz steigt Panik in mir hoch – aber es liegt wohl in der Natur der Sache, dass man nach Feierabend die Wohnungstür verschließt. Den Schlüssel legt er auf die Kommode. Ich sehe mich noch weiter in dem Zimmer um. Große Sitzecke, dunkle Lederbezüge. Ein Röhrenfernseher aus dem vorigen Jahrtausend. Ein Kühlschrank in der Ecke, aber keine Kochzeile oder etwas in der Art. Zwei Türen, die von hier abzweigen. Schlafzimmer und Bad, sage ich mir. „Also.“ Riviera reißt meine Aufmerksamkeit wieder an sich. Er hängt seine coole Lederjacke über einen nahen Stuhl, öffnet eine Schranktür und kramt darin herum. Ich stehe einen Moment verloren mit der fremden Jacke da, ehe ich sie zu seiner schmeiße und mich selbst auf die breite Ledercouch setze. Ich merke beiläufig, dass es auch in diesem Zimmer ziemlich kalt ist; so als würde nicht geheizt werden, wenn keine Gäste hier schlafen. Riviera tritt an mich heran und reicht mir ein Glas mit etwas bräunlich Schillerndem. „Hier. Zum Aufwärmen“, meint er grinsend. „Danke.“ Ich koste. Alkohol, höllisch scharf. Genau richtig. Er setzt sich auf den Sessel mir gegenüber, überschlägt die Beine und nippt an seinem eigenen Getränk. Sein Hemd zeigt massig Schweißflecken. Ich schätze, nach einem anstrengenden Auftritt und einer guten Stunde Herumgehopse im Rampenlicht steht ihm eher der Sinn nach einer ausgiebigen Dusche, bevor es mit uns zur Sache geht. Oder lässt sich ein Groupie bereitwillig den Auftrittsschweiß auf die Haut schmieren? Jedenfalls riecht er nicht gerade nach Shampoo, obwohl sie sicher auch im Backstage-Bereich Duschen haben, und auch jetzt lässt Riviera das Bad links liegen. Vielleicht will er mich nicht allein in seiner Wohnung lassen – was wird das dann also mit uns beiden? Soll ich mich nur aufwärmen und dann wieder gehen? „Tut mir leid, dass ich dir die Zeit stehle“, sage ich. Das ist wohl Sakuras Stimme in mir. Im nächsten Moment verbessere ich mich, und das Groupie sagt: „Aber das ist genau das, was ich schon immer tun wollte.“ „Glaub ich dir“, grient er. „Ist nicht das erste Mal.“ „Was? Dass eine leicht bekleidete Frau in der Kälte herumsteht oder dass du Damenbesuch hast?“, witzle ich. „Ich hatte schon leichter Bekleidete als dich.“ Er grinst immer noch. Aus der Nähe und bei guter Beleuchtung sieht er gar nicht mehr sooo gut aus. Seine Haut ist teigig und wirkt ungesund, und seine Haarmähne noch unechter. Und ich merke, wie sein Blick mich von oben bis unten taxiert. „Wie alt bist du?“, fragt er plötzlich. „Wieso?“, erwidere ich verblüfft. „Nur so.“ Er trinkt wieder einen Schluck Whiskey. Ich lächle unglücklich und tu es ihm gleich. Wenn wir nur hier sitzen, werden sich meine Chips nie erfüllen. Ich weiß, ich sollte als Groupie wohl die Initiative ergreifen, aber die Hauptsache wird sein, dass ich ihn beklaue. Und erschrecke. Ich spüre mein Handy in meiner Hosentasche vibrieren. Sasuke? Wie aufs Stichwort – nur dass ich jetzt unmöglich abheben kann. „Hättest du was dagegen, wenn ich deine Dusche benutze?“, frage ich. „Nur zu“, meint er. „Wärmt der Whiskey nicht genügend?“ „Geht so“, erwidere ich. „Aber ich bin momentan so verschwitzt, dass ich meinem Idol lieber nicht zu nahe kommen will. Und mich hat jemand mit Bier vollgeschüttet. Das fändest du sicher eklig.“ Ich schwafle einfach drauflos, aber die Nummer zieht. Riviera schmunzelt nur wohlwollend und deutet auf eine der beiden Türen. „Da drin. Aber pass auf – ich war erst ein paar Minuten in diesem Zimmer, heute Nachmittag. Keine Ahnung, wie oft hier jemand übernachtet, also kann es sein, dass nur kaltes Wasser kommt.“ „Schlimmer als die Kälte draußen kann’s nicht sein“, sage ich und zwinkere ihm zu. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen und versperrt habe, atme ich tief durch. Ich bin so schnell in sein Zimmer gelangt, dass ich noch keine Zeit gehabt habe, meinen eigentlichen Plan zu verfeinern. Für den Anfang muss ich Sasuke zurückrufen. Mit der Geisterverkleidung steht und fällt die Sache. Damit Riviera nichts davon mitbekommt, gehe ich so weit wie möglich von der Badezimmertür weg – was nichts anderes bedeutet, als dass ich in die Duschkabine schlüpfe. Diesmal schalte ich meine Kamera aus. „Sasuke“, zische ich in mein Handy, nachdem er abgehoben hat. „Wo steckst du?“ „Draußen auf der Feuerleiter. Bist du drin?“ „Ja, wie durch ein Wunder“, knurre ich. „Verdammt nochmal, wo warst du? Ich wäre halb erfroren!“ „Hat doch funktioniert, oder?“ „Schon, aber …“ Moment, was? Bedeutete das, es war Sasuke Plan, mich so lange in der Kälte zittern zu lassen, bis ein gut gelaunter Riviera des Weges kommt und Mitleid mit mir kriegt? „Deswegen rupfen wir zwei noch ein Hühnchen“, drohe ich ihm an. „Kann’s kaum erwarten. Ich hab dein Kostüm. Kommst du irgendwie zwischendurch raus, oder belassen wir es bei einem Diebstahl?“ „Ich geb mir Mühe. Warte noch ein bisschen.“ Vielleicht kriege ich Riviera ja doch noch dazu, sich schnell den Schweiß runterzuduschen. Das wäre die ideale Gelegenheit für, mich als Geist herzurichten und sein Portemonnaie – oder was auch immer er hier herumliegen hat – einzusacken. „Gut, wie du willst. Vergiss nicht, die Kamera einzuschalten, wenn ihr miteinander vögelt.“ „Ha-ha-ha, ich lach mich gerade tot“, knurre ich und lege auf. Damit mein Opfer nicht misstrauisch wird, entschließe ich mich wirklich zu einer kurzen Dusche – die tatsächlich sehr kurz ausfällt, da das Wasser, wie Riviera mich gewarnt hat, einfach nicht warm werden will. Hinterher ist mir wieder kalt, dafür ist mein Verstand wieder wach und klar. Ich schlüpfe wieder in meine verschwitzten Klamotten und föhne die Feuchtigkeit heraus, was die Sache etwas erträglicher macht. Dann schalte ich meine Knopfkamera wieder scharf und gehe ins Wohnzimmer zurück. El Riviera hat es sich in seinem Sessel gemütlich gemacht, wo er einen weiteren Drink schlürft. Und er trägt jetzt legere Jogginghosen. Ich denke mal, das heißt, dass er nicht gedenkt, sich den Schweiß vom Auftritt vom Leib zu waschen. Ich frage mich, ob er generell ein so unhygienischer Typ ist, oder ob er sich bei seinen zahllosen weiblichen Verehrern einfach nicht mehr die Mühe macht. „Da bist du ja. Noch ein Drink?“, fragt er. Ich gehe um ihn herum, damit ich ihm verführerisch die Arme um den Hals legen kann. „Ich hätte jetzt ganz gerne was anderes“, schnurre ich. „Ach ja?“ „Was zum Naschen.“ Ich knabbere an seinem Ohrläppchen. Innerlich verfluche ich ihn. Wie soll ich ihn verdammt nochmal außer Sichtweite kriegen, damit ich zu Sasuke und mir dieses dämliche Geisterkostüm holen kann? Noch dazu kann es sein, dass zumindest der Notausgang hier oben alarmgesichert ist … Vergiss es, sagt eine Stimme in meinem Inneren. Dieser zweite Chip bringt nur Ärger. Schlaf mit ihm und hau dann mit seiner Brieftasche ab. Es ist ganz einfach. Und es wäre nicht das erste Mal. Nur dass ich, wenn es sich vermeiden lässt, nicht mit ihm im Bett landen möchte. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich Hemmungen habe. Vielleicht wegen dem, was Sasuke zu mir gesagt hat? Ich weigere mich, mich so von ihm beeinflussen zu lassen! Aber es ist ein Faktum. Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, Riviera für Geld flachzulegen. Ich meine, er treibt es sicher ständig mit allen möglichen Mädchen aus allen möglichen Ländern, in denen er auf Tournee geht. Ganz zu schweigen davon, dass er gar nicht auf die Idee kommt, vorher unter die Dusche zu hüpfen, verdammt nochmal! Oder suche ich vielleicht einfach krampfhaft nach Ausreden? „Du riechst ein wenig streng“, stelle ich fest und lasse es wie einen Scherz klingen. „Möglich. Aufregend, nicht?“ „Was soll daran aufregend sein?“ Er legt den Kopf in den Nacken und schielt mich lasziv an. „Gib’s zu, ihr Mädels steht drauf. Ich hatte mal eine, die wollte, dass ich dabei noch meine Gitarre umgeschnallt habe. Ich konnte sie gerade noch überzeugen, dass wir’s nicht auf der Bühne hinter den Lautsprechern tun.“ „Und deswegen glaubst du, wir Mädels stehen alle auf so was?“ „Die Erfahrung gibt mir recht“, meint er hochnäsig. „Tja, vielleicht bin ich ja was Besonderes“, sage ich säuerlich. „Das glauben sie alle. Und tief drin wissen sie, dass das einzig Besondere ich bin.“ So, das war’s. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Zum Teufel mit diesem Kerl! Ich gebe zu, dass er auf der Bühne und auch auf dem Weg hierher sympathisch gewirkt hat. Ich frage mich, wie ich erst sein werde, wenn ich das Schicksalslos durchhalte und in ein paar Jahren auch eine Menge Geld gescheffelt habe. Falls es je dazu kommt. Denn schon beschleichen mich neue Zweifel. Wenn ich die Sache mit dem Geist sausen lasse, laufe ich Gefahr, zu verlieren. Je lahmer meine Aktion mit dem diebischen Rockstar-Groupie ist, desto höher mein Verlust. Wenn ich mit Riviera in die Kiste springe und dann doch den Geist hätte mimen sollen, werde ich es finanziell vielleicht trotzdem überleben, aber so … Ich schüttle den Kopf, als ich Sasukes abfälligen Gesichtsausdruck schon förmlich vor mir sehe. Keine Chance. Allein die Tatsache, dass ich so eiskalt kalkuliere, sagt mir, dass ich sowieso schon viel zu abgebrüht bin. Ich habe mir die Linie gezogen, nicht zu töten, und ich bin fest davon überzeugt, dass mein Plan aufgehen und mich davor bewahren wird. Dann setze ich mir eben gleich noch eine weitere Hürde: Ich schlafe nicht mit Riviera. Ich beklaue ihn, haue von hier ab und das war‘s mit dem Groupie-Chip. Ich kann ja immer noch jemanden in meiner Nachbarschaft erschrecken. „Ist was?“, fragt er. Offenbar war ich ziemlich lange in Gedanken versunken. „Nichts“, sage ich. „Ich hab nur wirklich gedacht, dass ich was Besonders wäre …“ Ich versuche zu klingen wie ein Schulmädchen, dessen großer Traum, endlich ein eigenes Pferd zu besitzen, gerade von der Realität zerschmettert wird, in der es kein Geld und eine Pferdehaarallergie hat. Während ich das sage, lasse ich meinen Blick durch den Raum gleiten. Wo ist seine Hose? Die, die er bei seinem Auftritt anhatte? Sicher im Schlafzimmer. Ob er da drin was Wertvolles hat? Oder in seiner Jacke? Würde er seine Brieftasche mit auf die Bühne nehmen? Kaum, oder? Mein Blick gleitet über die Deko auf der Kommode. Da steht eine hölzerne Schachtel, recht schlicht; daneben eine Buddha-Statue mit Blattgoldüberzug, und sie sieht ziemlich schwer aus. Gehört sicher zur Raumausstattung. „Denk nicht mal dran“, sagt Riviera mit zäher Stimme. „Hm?“ Mein Herz macht einen erschrockenen Hüpfer, als ich den veränderten Tonfall in seiner Stimme höre. „Was denn?“ „Du brauchst gar nicht darüber nachzudenken, ob du mich mit dem Ding von hinten niederschlagen und türmen kannst. So dumm bin ich nicht. Kalte-Füße-kriegen ist jetzt nicht mehr drin.“ Ehe ich protestieren oder mich auch nur fragen kann, was in ihn gefahren ist, packt er mich am Handgelenk und stößt mich zu seiner Schlafzimmertür, dass ich gegen das Holz taumle. „Genug gewartet“, sagt er. „Ich hab keine Lust auf ein langes Vorspiel. Rein da mit dir. Ich hole nur mal eben was zum Verhüten.“ Er grinst hämisch, zieht die oberste Schublade der Kommode auf und kramt darin herum. Meine Abneigung ihm gegenüber hat eindeutig ihr Maximum erreicht. Aber ich sehe meine Chance. Ich öffne die Schlafzimmertür und schlüpfe in den finsteren Raum. Meine Finger sind schweißnass, als sie den Lichtschalter finden. Zu wenig Zeit, ich habe garantiert zu wenig Zeit … Da! Als das Licht angeht, sehe ich seine Hose auf dem Bett liegen. Ich stürze mich regelrecht darauf, taste die Taschen nach Wertgegenständen ab und … ein Klicken lässt mich zusammenzucken. Erst denke ich, es ist das Schnappen eines Schlosses, weil er mich eingesperrt hat. Mein Herz pocht bis zum Hals. Aber als ich mich herumdrehe, sehe ich, dass ich mich geirrt habe – und mein Herz scheint plötzlich gar nicht mehr zu schlagen. Ich kauere da vor dem Bett wie schockgefrostet, die Hose immer noch in der Hand, und starre zur Tür. Riviera steht im Türrahmen. Sein Gesichtsausdruck ist abfällig. In der Hand hält er eine kleine Pistole, deren Hahn er eben wie ein Cowboy gespannt hat. Der Schalldämpfer darauf zeigt geradewegs auf mich. Scheiße! Das ist der einzige Gedanke, der sich durch meine Synapsen quetschen kann. „Warum so erschrocken? Ich hab doch gesagt, ich hol was zum Verhüten. Das hier ist das beste Verhütungsmittel gegen einen Hinterhalt von einer feigen Hure wie dir, findest du nicht? Gute Idee übrigens“, sagt El Riviera und deutete auf seine Hose. „Zieh den Gürtel raus. Mach schon.“ „Wa-was soll das?“, keuche ich. „Was hast du vor?“ „Hm? Ich fessle dich damit ans Bett, was hast du denn gedacht? So bist du weniger aufmüpfig.“ Ich starre in den Lauf der Pistole. Meine Finger wollen mir nicht gehorchen. Ich brauche ewig, ehe ich seinen Gürtel in der Hand halte, schwarz und aus Leder. „Braves Mädchen. Gib ihn mir.“ Er streckt die Hand aus. Ich bringe ein nervöses Lächeln zustande. „Eigentlich stehe ich nicht auf Fesselspielchen“, sage ich. „Wollen wir ausprobieren, ob ich auf Nekrophilie stehe? Her mit dem Ding!“ Er tritt auf mich zu. In dem Moment schlägt der Wahnsinn seine Krallen in mich. Ich tue so, als würde ich ihm den Gürtel in die Handfläche legen wollen. Stattdessen hole ich aus und schnalze ihm das Leder gegen die andere Hand, die mit der Waffe. Er zuckt zusammen, flucht und schreit, aber leider verliert er die Waffe nicht. Ich remple ihn so kräftig an, wie ich kann, und stürme an ihm vorbei ins Wohnzimmer. In meinem Kopf dreht sich alles – was zum Teufel ist plötzlich los? Wann ist aus dem diebischen Groupie ein Opfer in Todesangst geworden? Mit fliegenden Schritten durchquere ich das Zimmer, springe über die Ledersessel. Die Tür ist direkt vor mir – aber da rutsche ich in den Schneepfützen aus, die wir beim Hereingehen über den ersten Quadratmeter Boden gezogen haben. Ich schlage hart mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf, beiße mir heftig auf die Zunge und schmecke Blut. Meine Schuhsohlen knallen gegen das Holz des Türrahmens. Gleichzeitig höre ich ein seufzendes Geräusch und ein ausgefranstes Loch erscheint in der glatten Platte der Tür. Einen Moment lang bin ich wie erstarrt. Er hat auf mich geschossen! Der Kerl hat tatsächlich auf mich geschossen! Wäre ich nicht ausgerutscht, wäre ich jetzt tot! Ich werfe mich herum, springe mit einem Satz, der jedem Zirkusartisten zur Ehre gereicht hätte, auf die Beine und rüttle am Türknauf. Abgeschlossen. Natürlich, er hat ja den Schlüssel auf die … Ich unterdrücke einen Fluch, stürze zu der Kommode. Riviera poltert mit lauten Schritten ins Wohnzimmer, knurrend, die Pistole mit zwei Händen gepackt. Ich glaube, er drückt sogar noch einmal ab, ohne mich zu erwischen. Meine Finger schnappen sich nicht nur den Schlüssel, sondern auch den Goldbuddha. Mit aller Kraft werfe ich ihn auf Riviera und er prallte gegen seine Schulter, lässt ihn taumeln. Selbst schuld, denkt ein merkwürdig unbeteiligter Bereich meines Gehirns. Wenn er mich schon auf die Idee bringt … In den Sekunden, die er abgelenkt ist, stoße ich den Schlüssel ins Schlüsselloch und reiße die Tür auf. Der finstere Flur verschluckt mich, ich stürme nach rechts zum Notausgang mit der Feuerleiter. Das grüne Schild erscheint mir wie das Licht am Ende des Tunnels. Ich höre Riviera etwas schreien. Ohne Zweifel folgt er mir. Ich spucke Blut aus, beiße die Zähne zusammen und beschleunige meine Schritte. Ich habe Seitenstechen, als hätte ich schon die ganze Zeit über vergessen zu atmen. Die Glastür kommt in Sicht. Schneewehen lecken an ihrer Außenseite hoch und bedecken die Eisenplattform, von der die Feuerleiter hinabführt. Dort steht, wie die Figur aus einem Traum, Sasuke, den weißen Geisterfetzen in der Hand. Ich sehe ihn gut gegen den Schnee, in seinem Mundwinkel glimmt eine Zigarette. Er hält mir auffordernd das Kostüm entgegen – dann bin ich nah genug, um sein verwundertes Stirnrunzeln zu sehen. Ich pralle gegen die Tür, reiße sie auf. Irgendwo im Haus schrillt eine Alarmglocke, aber ich höre sie kaum. Ich stolpere, pralle gegen Sasuke und reiße ihn von den Füßen. Wir landen im aufstiebenden Schnee. Ich höre ein metallisches Pling – und vor meinem inneren Auge sehe ich die Pistolenkugel, die vom Metallgeländer gegenüber der Tür abprallt. Sasuke und ich verstricken uns in einem Knäuel aus Gliedmaßen, eisig kaltem Pulverschnee und dem weißen Laken. Ich versuche mich hochzukämpfen, meine Finger tasten über Sasukes Brust und sein Gesicht, ehe ich endlich das Geländer zu fassen bekomme, und ich trete ihm mehrmals auf den Oberschenkel und in den Bauch, dass er ächzt. „Scheiße, was ist los?“, höre ich ihn undeutlich. Er spuckt Schnee; sein Gesicht ist halb damit zugedeckt. Ich packe ihn am Arm und versuche ihn hochzuziehen, aber meine Muskeln scheinen plötzlich alle ganz schlaff zu sein. Wir müssen weg, will ich schreien, aber ich kann nur keuchen. El Riviera stolperte zu uns auf die Plattform, während das grelle Schrillen in dem Gebäude den Rest meiner Nerven freilegt. Seine Augen weiten sich überrascht, als er sieht, dass hier noch jemand ist, dann presst sich sein Mund zu einem grimmigen Strich zusammen. Er senkt die Hand mit der Pistole – und Sasukes Fuß trifft sein Schienbein und lässt ihn aufjaulen. Ich kann nicht sagen, ob es Zufall war oder ob Sasuke den Ernst der Lage so schnell erkannt hat. Jedenfalls nutze ich die Gunst der Sekunde, in der Riviera abgelenkt ist, und ramme ihn mit der Schulter, so fest ich kann. Diesmal habe ich ihn kalt erwischt. Noch kälter ist der Schnee, in dem er landet. Ich höre etwas scheppern; die Pistole, wie ich hoffe. Sie ist irgendwo in einer Schneewehe gelandet. „Komm“, keuche ich, schaffe es endlich, Sasuke in die Höhe zu ziehen, und will die Treppe hinunter fliehen. Ich habe Schnee in den Schuhen, meine Füße schmerzen von der Kälte – und ich merke kaum, wie Rivieras Hand sich um meinen Knöchel schließt und mich mit einem Ruck zu Fall bringt. Ich stürze vornüber auf die Metalltreppe, die eben noch mein Fluchtweg war. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht; ich fühle, wie heißes Blut aus meiner Nase läuft und dampfende Löcher in den Schnee frisst. Meine Zähne schmerzen, noch mehr Blut in meinem Mund, und für einen Moment verliere ich die Orientierung. Die Kampfgeräusche höre ich noch. Einen Tritt, ein Ächzen. Dann ist der Klammergriff um mein Bein wieder da, jemand versucht mich über die harten Stufen zu schleifen. Ich wehre mich, so gut es geht, drehe mich auf den Rücken und sehe Riviera, wie er sich über mich beugt. Sasuke krümmt sich eine Stufe weiter oben im Schnee. Riviera sieht furchterregend aus. Sein Gesicht ist gerötet von der Kälte, die Augen funkeln und seine Extensions stehen ihm wirr und schneebesprenkelt vom Kopf ab. Mit einem Knurren zieht er ein Schnappmesser aus der Brusttasche. Ein hartes, metallisches Geräusch ertönt, dann funkelt das Licht der Straßenlaternen auf der gebogenen Klinge. Ich reiße die Augen auf, versuche rückwärts wegzukriechen, aber mein Ellbogen rutscht dabei so abrupt auf die nächstuntere Stufe, dass meine Zähne wieder schmerzhaft gegeneinander schlagen. Automatisch greife ich nach dem Geländer, ziehe mich hoch … Riviera tritt auf mich zu, ich sehe die Mordlust in seinen Augen … Ein Geräusch, als hätte jemand eine Sektflasche geöffnet. Plötzlich spritzt etwas Rotes aus Rivieras Brust, klatscht gegen mein Gesicht und meinen Oberkörper. Ich schaffe es nicht einmal, zu schreien. Rivieras Körper taumelt schlaff gegen mich, das Messer landet irgendwo im Schnee. Sein schwerer Brustkorb fühlt sich irgendwie … schleimig an; er gleitet an mir herab und stürzt die Treppe hinunter, bis ihn das Geländer dort auffängt, wo die Feuerleiter eine Kehre macht. Die Eisenstäbe scheppern, und der Rockstar, den ich beklauen sollte, sackt leblos in sich zusammen. Ich sehe die Treppe hoch und erblicke Sasuke, Rivieras rauchende Pistole in der Hand. Hosted by Animexx e.V. 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