Sex, Guns & Rock 'n' Roll von UrrSharrador („Herzlich willkommen beim Schicksalslos!“) ================================================================================ Kapitel 9: „Du hast ihn umgebracht!“ ------------------------------------ „Du … Du hast ihn umgebracht!“, haucht Sakura. Ich lasse die Waffe sinken, klettere die Treppe hinunter und vergewissere mich mit der Schuhspitze, dass dieser Möchtegernrockstar nicht wieder aufsteht. „Du hast ihn umgebracht!“, wiederholt sie. Ihre Augen sind riesig groß, die Pupillen füllen fast alles aus. Ich habe nicht erwartet, dass sie in Begeisterungsstürme ausbricht oder mir um den Hals fällt, aber dass sie so sehr zur Salzsäule erstarrt, überrascht mich trotzdem. Scheint wohl doch nicht solche Stahlnerven zu haben, wie sie gern behauptet, die Gute. Aber vielleicht bin ich einfach zu abgestumpft. Ich hab während meiner Auszeit von unserer Freundschaft so einiges angerichtet. Wahrscheinlich wäre ein normales Mädchen nach der Flucht vor einem wahnsinnigen, bewaffneten Kerl, einem anschließenden Gerangel im Schnee und dann dessen letztendlichem Abkratzen mit den Nerven dermaßen fertig, dass es sich von der Welt abgekapselt und in einen Kokon aus Ohnmacht oder Geisteskrankheit eingesponnen hätte. Immerhin ist Sakura wach und starrt mich an. „Hier, nimm.“ Ich will ihr die Pistole in die Hand drücken, doch sie weicht instinktiv zurück. „Jetzt nimm schon“, dränge ich gereizt. Das Schrillen der Alarmanlage ist sicher im ganzen Haus zu hören, und wenn ich die Betreiber der Halle richtig einschätze, blinkt jetzt auch irgendwo in einem Feuerwehrhaus zumindest ein Lämpchen auf. Zögerlich nimmt sie die Waffe an sich, sichtlich ratlos. Ihre Hand zittert. „Läuft deine Knopfkamera noch?“, frage ich. Es dauert, bis sie versteht, dass sie Riviera getötet haben müsste, und nicht ich. „Du … willst sie glauben machen, dass ich es war?“ „Was sonst? Du kannst ihn ja jetzt nicht mehr abknallen“, brumme ich unwillig. „Was ist jetzt mit der Kamera?“ Sie sieht an ihrem durchnässten Top hinab und zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht hat sie der Schnee auch kaputtgemacht.“ „Umso besser“, sage ich. „Hol dein Handy raus.“ „Warum …“ „Ist doch eine gute Ausrede, dass die Kamera den Geist aufgegeben hat“, falle ich ihr ins Wort. „Mach endlich, wir haben nicht viel Zeit!“ Ein wenig apathisch ist Sakura immer noch. Sie holt ihr Smartphone aus der Hosentasche – es funktioniert noch – und müht sich ab, mit ihren zittrigen Fingern den richtigen PIN einzugeben. Sie schaltet den Kameramodus ein und will es mir reichen, aber ich schüttle den Kopf. „Du bist allein hier, schon vergessen? Mach ein Selfie-Video mit der Leiche.“ Ich gebe mich äußerlich hart, aber etwas Nervöses beginnt in mir zu zappeln. Ich stecke mir eine Zigarette zur Beruhigung an und verbanne die Hände in meine Jackentaschen, damit Sakura nicht sieht, dass auch sie nicht ganz ruhig sind, um es mal so auszudrücken. Sie wiederum gibt sich wirklich tapfer, als sie sich breitbeinig vor Riviera aufpflanzt, in einer Hand die Pistole, die auf ihn gerichtet ist, in der anderen das Smartphone, das sie herumschwenkt, bis ich ihr mit einem Nicken zu verstehen gebe, dass sowohl sie selbst als auch die Leiche im Bild sind. Ob Letztere der Grund ist, dass sie nicht gleich die Selfie-Kamera benutzt? „S-So“, bringt sie heraus. Ihre Zähne klappern vor Kälte. Ich bin zufrieden mit diesem zittrigen Bild – es sieht wahnsinnig überzeugend aus, so als hätte sie echt gerade den ersten Mord in ihrem Leben begangen. „Seid ihr zufrieden?“, presst sie hervor. „Der Rockstar ist tot.“ Sie beendet die Aufnahme. Ich überlege, ob ich applaudieren soll, aber ich lasse es sein. Erstens steht mir nicht der Sinn nach Scherzen – ihr wahrscheinlich auch nicht –, und zweitens sind meine Hände so kalt, dass sie vermutlich zerspringen würden. Stattdessen nehme ich Riviera das rockertypische Lederarmband ab, das er am Handgelenk trägt. Sakura muss ihm etwas stehlen, damit sie ihre Aufgabe erfüllt. Womöglich lässt dieses Gremium sich nicht davon überzeugen, dass es auch zählt, sein Leben zu stehlen. Ich stecke das Band ein. „Was jetzt?“ Sakura steht etwas verloren auf der Feuerleiter rum und fixiert Riviera, als müsste sie ihn sich genau einprägen. Vermutlich hat sie genau das vor. Sie hat diese letzte Grenze überquert. Ihren persönlichen Rubikon überschritten. Oder wie immer man dazu sagen mag. Geschossen habe zwar ich, aber sie war dabei, und sie rechnet es sich selbst an. „Mach das nicht“, sage ich. „Was denn?“ Ihre Stimme klingt monoton, nun, da der erste Schock abflaut. „Ihn dir einprägen. Du willst unbedingt kaltblütig werden, oder?“ Sie nickt. „Das meine ich. Mach das nicht.“ „Wieso?“ Sie wirkt plötzlich wütend. „Das Spiel wird immer gnadenloser. Wenn ich meine Schwächen nicht überwinde …“ „Wenn es eine Schwäche ist, dass man nach einem Mord seelisch hinüber ist, dann ist der Großteil der Menschen schwach“, erkläre ich sachlich und nehme einen tiefen Zug von meinem Glimmstängel. Der Qualm füllt warm und beruhigend meine Lungen. „Ich weiß, wovon ich rede.“ Sie starrt mich an. „Was hast du getan, als du so lange weg warst?“, flüstert sie. „Spielt keine Rolle.“ Ich zucke mit den Achseln. „Komm, hauen wir ab. Wir haben eh schon viel zu viele Spuren hinterlassen. Fehlt nur noch, dass sie uns finden.“ Sie nickt. Ich gebe ihr ihre Jacke, die ich dabei habe. Dennoch schlottert sie, als würde gleich ihr Skelett auseinanderfallen. Wir klettern die Feuerleiter hinab und machen uns aus dem Staub. Sakura folgt mir ganz einfach. Ich übernehme die Führung, wechsle die Straßenseite, wann immer es möglich ist, damit sich unsere Spuren im Schnee verlieren. Sakura steuert einen Nachtbus an, der in einer Station vor uns hält, aber ich halte sie zurück. „Noch nicht. Wir sind noch nicht fertig, schon vergessen?“ Ich deute auf das Geisterkostüm, das ich mitgenommen habe. „Bitte nicht“, flüstert sie. „Ich kann nicht mehr.“ „Willst du das Spiel durchstehen oder nicht?“, frage ich. „Bringen wir es hinter uns. Oder willst du morgen vor dem Los noch schnell irgendwo reinspringen?“   Wir finden ein Apartmenthaus in der Nähe, das ziemlich vielversprechend aussieht. Mit dem Aufzug fahren wir in den ersten Stock – die Wohnungstüren drängen sich in einer Reihe wie aufgefädelt, und man braucht sonst keine Tür zu durchqueren. Sowohl im Aufzug als auch bei dem Klingelknopf der ersten Wohnungstür lasse ich meine Paranoia von mir Besitz ergreifen und drücke die Knöpfe mit einem Taschentuch in der Hand. Vorher haben wir Sakura noch in das Geisterkostüm gesteckt und ihr Handy schräg gegen das Geländer des offenen Flurs gelegt, sodass die Tür gefilmt wird. Ich verstecke mich hinter der Hausecke, als ein älterer Mann in Unterwäsche auf das Klingeln reagiert und die Tür öffnet. Sakuras „Buhuuu“ klingt abgehackt und zittrig, als wäre sie ein Geist mit Asthma. Aber für das Spiel wird es wohl reichen. „Witzbold“, knurrt der Mann, nachdem sie davongelaufen ist. Die Tür knallt ins Schloss. Ich gehe zurück, lese ihr Handy auf, überprüfe die Aufnahme, dann sind wir fertig. Auf den nächsten Nachtbus müssten wir eine viertel Stunde warten und Sakura bittet mich, das Risiko einzugehen, irgendwo was Warmes zu trinken. Wir finden in der Nähe eine Tankstelle mit 24-Stunden-Shop. Bevor wir sie betreten, vergewissere ich mich, dass ihr blutgetränktes Shirt vollständig durch die Jacke verdeckt wird. Mit Schnee wasche ich ihr auch die letzten Blutspuren aus dem Gesicht. Sie zuckt zusammen, scheint vergessen zu haben, dass sie überhaupt da sind. Ich lasse uns heißen Kakao aus einem Automaten runter und wir setzen uns damit nahe an die Auslage. Die einsame Bedienung hinter der Theke sieht mürrisch drein, weil wir sonst nichts kaufen, aber sie behelligt uns nicht weiter. „Danke“, seufzt sie irgendwann, als ihr das Heißgetränk wieder Leben eingehaucht hat. Ich zucke mit den Schultern. „Warum willst du nicht, dass ich kaltblütig werde?“, fragt sie leise. „Ich muss erbärmlich aussehen in deinen Augen. Erst spucke ich große Töne und dann …“ „Darum“, sage ich. „Weil ich mit kaltblütigen Frauen nichts anfangen kann.“ Es rutscht mir so heraus. Vielleicht, weil auch ich innerlich aufgewühlt bin. Da ich es nicht zeige, quillt es eben als unvorsichtiger Blödsinn bei meinen Lippen raus. „Und ich dachte immer, du magst generell nur Leute, die kaltblütig sind und emotional was aushalten“, brummt sie. „Tja, falsch gedacht. Die Sache ist nämlich die, dass niemand kaltblütige Leute mag. Wenn ich ehrlich bin, warst du mir ganz sympathisch, als ich gemerkt habe, dass eine durchtriebene Gaunerin aus dir geworden ist. Die eben noch nicht kaltblütig ist.“ Ich versuche sie mit einem fiesen Grinsen aufzuheitern. Das nächste emotionale Leck meinerseits. Was fasele ich da eigentlich? Warum sage ich ihr die Wahrheit? Sie lächelt unglücklich und nippt wieder an ihrem Kakao. Meiner ist noch so heiß, dass ich mir die Lippen verbrannt habe, aber ihr scheint es nichts auszumachen. „Ich will mich betrinken“, sagt sie plötzlich. „Später. Erst, wenn wir zuhause sind.“ Ich spezifiziere nicht, bei wem zuhause. Sie zuckt mit den Achseln. Wir werden nicht behelligt, als wir in den Nachtbus steigen. Ich erwarte jeden Moment, Einsatzkräfte mit Blaulicht durch die Gegend fahren zu sehen, aber nichts tut sich. Die Straßen sind wie immer. Selbst im Bus ist es scheußlich kalt.   Sasuke bringt mich nachhause und schenkt uns beiden einen Brandy aus meinem Vorrat ein. Das kommt mir schon vor wie ein kleines Ritual. Rivieras Pistole hat er immer noch in der Jackentasche – er hat versprochen, einen Ort für sie zu finden, wo niemand sie sucht. Bei ihm daheim wäre es fürs Erste am besten, meint er. Jetzt schweigen wir beide. Er hat an diesem Abend bereits so viel geredet wie sonst selten, und ich … ich versuche zu begreifen, was heute alles passiert ist. Mein vermeintliches Diebstahl-Opfer wollte mich umbringen. Sasuke hat den Kerl dann erschossen. Anschließend haben wir alles getan, um mir den Mord in die Schuhe zu schieben. Wir müssen verrückt sein. Er hat einen Menschen getötet. Und er hat es für mich getan. Oder? Vermutlich hätte er auch für jeden anderen von seinen Freunden den Abzug gedrückt. Dann wiederum bedeutet Sasuke Freundschaft nicht viel … Und wie viel bedeutet ihm ein Menschenleben? „Was hast du getan, als du drei Jahre lang weg warst?“, frage ich wieder, während die Zeit einfach so verrinnt und eine ewig lange Nacht ausklingt, mit einem düsteren Nachhall in meinem Verstand. „Dies und das“, sagt er. Ich erwidere nichts darauf. Sehe ihn nicht mal an. Ich höre ihn einen Mundvoll Brandy schlucken, dann beginnt er plötzlich zu erzählen. „Zuerst bin ich nur weggelaufen. Wie ein dummer, kleiner Junge. Ich hab es wohl nicht ausgehalten, dass Itachi so erfolgreich war in allem, was er anpackte. Das kannst du vielleicht nicht verstehen. Schon als wir klein waren, war immer er das Lieblingskind. Als unsere Eltern dann gestorben sind, hat er für uns beide gesorgt. Mir ist erst viel später klargeworden, wie unglaublich er ist – quasi als Alleinerzieher, der trotzdem Erfolg in seinem Job hat, dabei beliebt ist … Tja. Mein Bruder. Er ist ein Glückspilz und ein Genie.“ Er leert das Glas mit einem Schluck und schenkt sich nach. „Ich bin weggegangen, um es ihm so richtig zu zeigen.“ Ich erinnere mich an die Zeit, kurz bevor Sasuke uns verlassen hat. Er ist immer öfter mit Naruto aneinandergeraten, hat sich ziemlich von uns abgekapselt. Zu der Zeit hat er auch zu rauchen angefangen, und er hat begonnen, dem Werben seiner ganzen Verehrerinnen, die ihm seit der Schulzeit nachstellten, nachzugeben. Fast jedes Wochenende hat er eine andere gehabt. Ich weiß noch, wie Ino sich darüber ausgelassen hat. Und dann war es vorbei gewesen. Von einem Tag auf den anderen hat Sasuke uns die Freundschaft gekündigt. „Ich hab ein Angebot bekommen“, erzählt er mir nun. „Eine fixe Anstellung in einer erfolgreichen Firma. So ein Kerl hat mich angeschrieben und an seine Bosse vermittelt. Ich glaube, selbst die haben in mir den kleinen Bruder des erfolgreichen Itachi Uchiha gesehen. Keine Ahnung. Jedenfalls bin ich dorthin gegangen. Tja, und die Geschäfte von denen waren alles andere als sauber.“ Wieder trinkt er einen großen Schluck, ohne mich anzusehen. „Du hast gesagt, dieses Gremium wäre eine Art Mafia. Nach allem, was ich weiß, waren die Kerle, bei denen ich war, das, was am nächsten an eine Mafia rankommt. Ich hab mir selbst nicht die Hände schmutzig machen müssen, zuerst jedenfalls nicht. Hab nur ein paar ihrer Geschäfte betreut. Die haben mit allerlei illegalem Zeug gehandelt, und ich habe dafür gesorgt, dass die richtigen Leute die Transporte überwachen, dass unsere Bezahlung fristgerecht eintrudelt, dass die Kunden mit Nachdruck dran erinnert werden, wenn sie damit im Verzug sind … Ich hatte mit einem ganzen Haufen schmieriger Leute zu tun. Naja, und in so einer Position kannst du dich natürlich nicht auf die Polizei verlassen. Da musst du dein eigenes Recht durchsetzten. Es ist öfter vorgekommen, dass uns Kunden oder Verkäufer anschmieren wollten. Einmal hat eine andere Organisation unsere Bude gestürmt und angefangen, herumzuschießen. Wir hatten einen, zwei Verräter, die die oberen Bosse umlegen wollten, und mindestens einen Maulwurf, der Informationen nach draußen verkauft hat. Obwohl ich für die eher sauberen Arbeiten eingestellt war, hab ich mich wehren müssen. Ich hab’s nicht gern getan, aber wenn es nicht anders ging, hab ich die Leute abgeknallt, ehe sie mir zu nahe kommen konnten. Tja, das ist in etwa die Geschichte. Mal dir noch ein paar schmutzige Details aus, und du triffst wahrscheinlich ziemlich ins Schwarze.“ Ich lasse mein Glas in der Hand kreisen und sehe zu, wie die braune Flüssigkeit herumschwappt und Schlieren bildet. „Was ist aus der Organisation geworden?“, frage ich. „Nichts Besonderes. Sie hat sich irgendwann aufgelöst. Ein paar der Oberen haben sich mit ihrem Geld ins Ausland abgesetzt. Ganz plötzlich, von einem Tag auf den anderen. Ungefähr so, wie ich euch versetzt habe.“ Er grinst einseitig, aber es sieht fast wehmütig aus. „Tja, plötzlich gab es keinen mehr, der das Sagen hatte. Ein paar von meinen Mitarbeitern sind sich noch gegenseitig an die Gurgel gegangen, ein paar andere haben ihre Sachen gepackt und sind bei anderen Banden eingestiegen. Ich hab mir gedacht, es wäre eine schöne Ironie des Schicksals, dass ich jetzt dasselbe schmecke wie ihr damals – obwohl der Gedanke völliger Blödsinn war. Jedenfalls bin ich hierher zurückgezogen. Wollte sehen, was mein werter Bruder mittlerweile getan hat. Ich wollte nie dauerhaft wegbleiben. Schließlich wollte ich Itachi beweisen, was ich draufhabe. Ich weiß nur noch nicht, ob ich das geschafft habe oder ob ich kolossal versagt habe.“ Du wolltest es Itachi beweisen – und vor allem dir selbst, denke ich. „Hm“, mache ich und trinke aus. Wir schenken uns nach und die Flasche ist endgültig leer. „Ich muss schon ziemlich betrunken sein“, brummt er. „Nach der Kälte fährt der Alkohol ein wie in die Vene gespritzt. Vergiss, was ich gesagt habe. Du bist ja nicht mein Beichtvater.“ „Nein – ich hab ja gefragt“, sage ich. „Danke, dass du dich mir anvertraut hast.“ Er schnaubt hochmütig. „Das hat nichts mit Anvertrauen zu tun. Ich will dir nur klarmachen, dass du keinen Grund hast, so depressiv zu sein.“ Da hat er eigentlich recht. Ich bin erschrocken, fühle mich betäubt … Aber im Grunde ist mir nichts passiert. Ja, ich habe einen Mord aus nächster Nähe erlebt, Rivieras verdammtes Blut ist auf mich gespritzt, und es war Sasuke, der ihn umgebracht hat. Aber es hätte alles viel schlimmer kommen können. Letzten Endes habe ich mein Video zusammenbekommen, das mich als seinen Mörder ausweist. Und wir haben Rivieras Armband erbeutet, mit dem man ihn ebenfalls auf dem Video sieht. Ich habe alle meine Aufgaben erfüllt. Ich werde nicht aus dem Spiel ausscheiden. Ich werde weiterleben. „Danke“, sage ich. „Du hast dich schon bedankt. Vergiss es endlich, das hätte jeder getan.“ Das ist himmelschreiender Unsinn, aber ich sage nur: „Ohne dich wäre ich jetzt tot.“ Er zuckt mit den Achseln und sieht auf die Uhr. Es ist fast vier. Schweigend räumt er die Gläser zur Spüle, während ich mich unter die Dusche stelle. Jetzt, nachdem ich wieder einigermaßen bei Sinnen bin – wenn auch wohltuend berauscht vom Alkohol –, fühle ich mich verschwitzt und blutig und dreckig. Als ich im Pyjama wieder ins Zimmer zurückgehe, bin ich schläfrig. Verwundert sehe ich, dass sich Sasuke eine Art Deckenlager vor meinem Bett gebastelt hat – aus überschüssigen Kissen, Leintüchern und Decken. „Was wird das?“, frage ich. „Keine Lust, den ganzen Weg zu mir zu fahren. Ich hab morgen noch was vor.“ Ich klettere in mein Bett, während er seinerseits die Dusche benutzt. Ich höre dem Wasserbrausen zu und bin noch wach, als er in Boxershorts zurückkommt. Ich sehe zu, wie er es sich auf dem harten Boden gemütlich macht. „Das ist nicht der wahre Grund“, mutmaße ich. „Dass du morgen noch was vor hast.“ „Nein.“ Er schnaubt. „Ich bin ziemlich sicher, dass du heute Nacht Albträume kriegst. Würde zu einem Schwächling wie dir passen. Oder du kannst gar nicht einschlafen und kommst auf dumme Gedanken. Dann wirst du wahrscheinlich Naruto oder Ino anrufen und dich bei ihnen ausheulen. Und die spucken beide gern große Töne, haben aber in Wahrheit keine Ahnung. Deswegen bleibe ich hier, und wenn irgendwas ist, kannst du dich bei mir ausheulen.“ Das ist erstaunlich rücksichtsvoll von ihm … Auch wenn er es klingen lässt, als wäre es ein notwendiges Übel, dass er hierbleibt. „Danke“, nuschele ich in meine Decke.   Ich schlafe tatsächlich nicht gut. Zwar träume ich nicht von Riviera und seinem Tod, was ein wahrer Segen ist. Aber ich sehe vor meinem inneren Auge immer wieder Bilder aufblitzen, die ich nicht einordnen kann. Oft kommt Sasuke darin vor. Ich wache mehrmals auf, bin orientierungslos, und einmal erschrecke ich, weil ich Sasukes Atemzüge vor meinem Bett höre. Als die Sonne schon eine ganze Weile übers Firmament klettert, gebe ich auf. Es ist hell in meiner Wohnung. Die Uhr verkündet kurz vor zehn. Ich rede mir ein, dass ein paar Stunden Halbschlaf besser sind als gar keiner, und stelle mich an den Herd. Es tut gut, mich auf etwas Alltägliches zu konzentrieren. Bis Sasuke aufwacht, habe ich ein paar unförmige Pancakes gezaubert. Wir essen beide ohne großen Appetit und schweigen uns an. Draußen scheint es heute ein paar Grad wärmer zu sein als in den letzten Wochen; oder vielleicht haben sich einfach die höheren Schichten der Atmosphäre gedacht, dass die Eintönigkeit durchbrochen werden sollte. Jedenfalls höre ich leises Rauschen, als es nieselt, und dann und wann klingt das Geräusch härter, wenn sich der Regen in Schneeregen oder Graupelschauer verwandelt. Während wir essen, läuft der Fernseher, weil ich finde, dass ein wenig Berieselung nicht schaden kann. Dann kommen die Nachrichten, und der zweite Beitrag lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. „Die Rock-Ikone El Riviera wurde heute Nacht tot vor ihrer Wohnung aufgefunden. Der Musiker hatte am Vorabend ein Konzert gegeben und wurde in den späten Abendstunden im Obergeschoss der Konzerthalle, wo er die Nacht verbringen wollte, erschossen. Die Polizei geht von mehreren Tätern aus. Die Tatwaffe wurde noch nicht gefunden. Es wird vermutet, dass Riviera von einem Fan ermordet wurde. Diese Annahme wird von Aussagen seiner Bandkollegen bestätigt, die angeben, das Opfer hätte die Nacht mit einer jungen Frau verbracht. Die Polizei hat ein Phantombild der Verdächtigen anfertigen lassen und fahndet im Moment nach ihr.“ „Scheiße“, entfährt es mir. Die anderen Musiker hatte ich doch komplett vergessen! Ich werfe einen Seitenblick zu Sasuke. Äußerlich ist er ruhig, aber er hat zu essen aufgehört und fixiert mit verschränkten Armen den Bildschirm. „War man in den ersten Stunden von Mord ausgegangen, so könnte allerdings auch Notwehr der Handlungsgrund gewesen sein, so die leitenden Kommissare. Untersuchungen von El Rivieras Appartement haben belastende Beweise gefunden, anhand derer das Mitwirken des Rockstars an mehreren kleinen bis mittelgroßen Delikten nachgewiesen werden konnte. Mehrere Fotos und Videos, in denen Riviera beim Ausüben diverser Verbrechen zu sehen ist, wurden in einem Schmuckkästchen aufbewahrt.“ „Das ist doch …“, hauche ich. Ich kann es nicht fassen: Da kommt tatsächlich eine kurze Kameraaufnahme seiner gestrigen Absteige, und man sieht die Box, die auf seiner Kommode steht – diesmal geöffnet. USB-Sticks, CDs und Speicherkarten liegen davor ausgebreitet und – mir stockt das Blut in den Adern, noch mehr als vorhin, sodass ich meine, es würde plötzlich rückwärts fließen. Ich sehe ganz deutlich zwei Chips auf der Platte liegen – so wie wir sie immer im Schicksalslos erhalten! Die Szene wechselt zu schnell, als dass ich Einzelheiten erkennen könnte, aber ich bin plötzlich ganz hibbelig. In meinen Blutkreislauf mischen sich nun offenbar Ameisen, denn alle meine Poren beginnen scheußlich zu brennen, ehe sich der Schweiß durch sie presst. Im Fernseher erklärt die Nachrichtenmoderatorin eben, was für eine Art von Beweismitteln sie gefunden haben, und ein kurzes Video wird eingeblendet – schlechte Qualität, Rotstich, kein Ton, wohl mit einem alten Handy gefilmt; aber man sieht Riviera, eingehüllt in etwas wie Eskimo-Kleidung, auf einer abendlichen Straße. Er übergießt einen Passanten mit verpixeltem Gesicht mit einem Eimer voll rotem Zeug, das gut und gerne Blut sein kann. „Auch Fotos von Drogenpartys und Tierquälerei waren zu finden. Die Polizei versucht gegenwärtig einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Beweisstücken und Rivieras Tod herzustellen. Man vermutet eine Mitgliedschaft bei einer Sekte als Hintergrund. Politik. Das neue Mautgesetz sorgt für …“ Sasuke schaltete den Fernseher aus. Es ist, als würde ich aus einer Art Trance erwachen. Ich schwitze nun so stark, dass es mich regelrecht fröstelt. „Kann man …“, murmle ich mit trockener Zunge, „kann man die Sendung auch im Internet ansehen?“ Sasuke weiß sofort, was ich meine. Ohne ein Wort ruft er auf seinem Smartphone das Online-Portal des Nachrichtensenders auf, findet das Video mit Rivieras Beweisstücken und spielt es ab, bis wir die Chips sehen können. Dann pausiert er den Clip. „Der brutale Macho“, erkenne ich. Die Schrift des zweiten Chips kann ich nicht lesen, aber ich kenne das Motiv. „Jemandem die Pistole an die Brust setzen“, sage ich. Ein Sprichwort, das man auch wörtlich nehmen kann. „Verdammt, ich verstehe das nicht …“ In meinem Kopf dreht sich alles. Ich sinke in meinem Sessel zusammen. „Dasselbe wie bei Tenten! Sasuke, das ist kein Zufall!“ Sasuke schweigt grimmig und sieht mich forschend an. „El Riviera hat beim Schicksalslos mitgespielt – er war auf Tournee, also hat er die Chips sicher in einer anderen Stadt gezogen. Und er wollte mich … er wollte mich …“ Der brutale Macho und die Pistole. Er wollte mich mit vorgehaltener Waffe zum Sex zwingen. Es war ihm egal, ob sein Groupie in dieser Nacht freiwillig zu ihm in die Kiste gesprungen wäre – die Pistole hat einen essenziellen Part in dieser Farce gespielt. Darum hat er mich also plötzlich bedroht … Nicht, weil ich mich verraten habe. Sondern weil er selbst etwas Besonderes mit mir vorhatte. „Groupie eines Rockstars“, sagt Sasuke schließlich bedeutungsschwer. „Etwas, das innerhalb einer Woche zu erledigen ist. Und es sind diese Woche nicht viele Rockstars in der Stadt. Riviera hat sich geradezu angeboten. Du hast recht, das war kein Zufall.“ „Er muss die gleiche Rollenkarte gezogen haben wie Tenten, ganz am Anfang“, plappere ich das Offensichtliche vor mich hin. Ich bin dazu übergegangen, erregt im Zimmer auf und ab zu wandern. „Er muss seine Beweisstücke an einem gut sichtbaren Ort aufbewahren. Und die Chips von der letzten Runde hatte er auch noch. Ich hätte nur einen Blick in dieses Kästchen werfen müssen … Ich weiß nicht, was ich dann getan hätte.“ „Vielleicht ist diese Enthüllung ganz gut.“ Ohne zu fragen zündet Sasuke sich eine Zigarette in meiner Wohnung an. „Wenn die glauben, er hätte nicht alle Tassen im Schrank, erkennen sie vielleicht wirklich auf Notwehr.“ Abermals durchzuckt es meinen Körper wie ein Stromstoß – ich hatte es schon wieder fast vergessen. Rivieras Kumpel haben mich gesehen. Die Polizei sucht mit einem Phantombild nach mir. Ich habe Fingerabdrücke und wer weiß was noch alles überall in seiner Wohnung hinterlassen. Wenn sie mich finden, bin ich dran! „Was soll ich tun?“, hauche ich. „Die kriegen uns garantiert, Sasuke.“ „Werden sie nicht. Nicht so einfach.“ „Doch, werden sie! Ich hätte mich besser verkleiden müssen! Ich hätte den ganzen Abend mit Gummihandschuhen herumlaufen müssen, ich hätte meine Schuhe … Ich hätte gar nie dort aufkreuzen sollen! Warum hast du ihn erschossen, Sasuke? Es hätte gereicht, wenn wir einfach abgehauen wären, wenn wir …“ „Ich hatte keine Wahl“, knurrt er betont. „Hast du vergessen, dass er dich fast abgestochen hätte? Ich dachte, du hättest die hysterische Phase endlich hinter dir.“ „Du hast leicht reden, dich sucht ja niemand!“ „Sie gehen von mehreren Tätern aus, haben sie gesagt. Die haben sicher auch meine Fußspuren entdeckt. Außerdem war ich es, der ihn erschossen hat, also bist du sowieso aus dem Schneider.“ „Aber genau das darf niemals rauskommen! Das Gremium bringt mich um, wenn es rausfindet, dass ich ihn nicht eigenhändig umgebracht habe …“ „Es war immer noch Notwehr“, sagt er stoisch. „Die Bullen werden darauf kommen. Die rekonstruieren den ganzen Tatablauf, verlass dich drauf. Und Riviera hatte ein Messer dabei. Die werden bald feststellen, wie es abgelaufen ist, und selbst wenn du dich ihnen stellen würdest, würden sie dir kein Haar krümmen.“ Ich höre seine aufmunternden Worte kaum – falls sie überhaupt aufmunternd gemeint sind. Alle Kraft ist plötzlich aus meinen Gliedern gewichen. Seit Tagen stehe ich unter Hochspannung. Ich kann nicht mehr. Ich fühle mich ausgelaugt, wie eine leergesaugte Hülle. Als ich wankend vor ihm zum Stehen komme und durch ihn hindurch sehe, schnalzt Sasuke ärgerlich mit der Zunge, stößt seine Zigarette auf meinem Tisch aus und packt mich an den Schultern. „Hör mir zu, ja?“, knurrt er kehlig. „Dir wird nichts geschehen. Selbst wenn, werden wir damit fertig. Wir kommen da wieder heraus, also hör auf, dich hier schon wieder in was reinzusteigern, du dreimal verdammte Drama-Queen.“ „Ich“, murmele ich schwach. „Was?“ „Ich komme da heraus“, sage ich. „Du hast keinen Grund, mir zu helfen, schon vergessen? Ich muss das allein schaffen.“ „Von mir aus“, meint er gereizt. „Dann tust du es eben allein. Ich hab sowieso keinen Bock mehr, Psychiater für dich zu spielen. Also wirklich, und du sagst, du hättest dich verändert. Du bist genauso verweichlicht wie früher.“ „Ich bin nicht verweichlicht!“, bringe ich trotzig hervor. Ja, ich bin total mit den Nerven fertig, aber weiß er überhaupt, wie verletzend das ist, was er sagt? „Wie war das?“, fragt er. „Wenn du mir was zu sagen hast, dann nuschle gefälligst nicht wie ein Kind, das Süßigkeiten gestohlen hat.“ „Ich sagte, ich bin nicht verweichlicht!“, rufe ich und stoße ihm die Hände vor die Brust. Er zuckt kaum zurück. „Da ist die Tür! Verschwinde und lass mich in Ruhe!“ „Jetzt auf einmal wieder stark, ja?“, höhnt er. „Weiter so. So gefällst du mir besser. Nur schade, dass es kein bisschen überzeugend wirkt.“ Ich stoße ihn fester. „Ist das alles?“, spottet er. „Verdammt, hau endlich ab!“ Mein Verstand besteht aus lauter kleinen Glitzersternchen. Sie funkeln in gähnender, teilnahmsloser Leere, und ein Funken springt von einem zum nächsten wie ein Kugelblitz, lässt mich von einer Emotion in die nächste schlittern. Ich empfinde im Moment so ziemlich jedes Gefühl, das ich kenne: Angst, Trauer um mein baldiges Ableben, Reue, Hass und Zorn auf dieses verdammte Los und auf Sasuke und auf Riviera, Rachedurst auf das Gremium, dann wieder Panik, weil ich nicht weiß, was ich tun soll, Selbstmitleid, weil ich so armselig bin und am Ende meiner Kräfte, Selbsthass, eben weil ich nicht so armselig sein will und weil ich nicht glauben kann, dass das die Grenze sein soll von dem, was ich aushalte, und dann bin ich sogar dankbar; ich bin Sasuke dankbar, irgendwo ganz am Rande, weil er mir geholfen hat und mit seinen Worten diese Gefühle aus dem Kokon des Schwermuts und der panischen Schwerelosigkeit prügelt. Und ich bin wütend, unfassbar wütend, weil er mir eine Schwäche andichtet, die ich glaubte längst hinter mir gelassen zu haben; weil er einerseits nicht will, dass ich abstumpfe, und es mir andererseits zum Vorwurf macht, dass ich noch einen Funken mehr Menschlichkeit in mir trage als er. Die Wut ist das letzte, stärkste Gefühl. Ich schlage ihn mit der Faust. „Selbst vor drei Jahren hast du härter zugeschlagen“, sagt er. Mit einem Schrei werfe ich mich auf ihn. Ich höre, wie seine Zähne gegeneinanderschlagen, als er mit dem Hinterkopf gegen die Wand stößt. Ineinander verkrallt rutschen wir zu Boden, ich schaffe es irgendwie, auf ihn zu kriechen. Sasuke stemmt sich wütend in die Höhe, ich packe seine Schultern und presse ihn mit meinem ganzen Gewicht wieder zu Boden. Ich weiß nicht, was ich tue. Irgendwo in mir beschwört mich eine Stimme, es gut sein zu lassen. Meine Nerven fahren im Moment Achterbahn, und wenn ich mich nicht zusammenreiße, fliegen sie aus der Kurve und stürzen in einen bodenlosen Abgrund. Aber es hilft nichts. Alle Vernunft ist ausgeknipst. All meine Gefühle, all die Glitzersternchen fokussieren sich auf Sasuke. „Sag noch einmal, dass ich schwach bin“, keuche ich, als er sich erneut aufbäumt. „Jederzeit“, gibt er zurück. Ich lasse ihn ein paar Zentimeter in die Höhe kommen, nur um ihn dann wieder zu Boden zu werfen. Diesmal knallt sein Kopf gegen die Bodendielen. Er lässt ein schmerzerfülltes Grunzen hören. Ich bin selbst überrascht, dass ich noch die Kraft aufbringe, ihn festzunageln. „Runter von mir“, knurrt er schließlich durch zusammengebissene Zähne. „Sonst was?“, gebe ich hochmütig zurück. „Sonst kannst du was erleben.“ Erneut bäumt er sich auf. Ich knie mittlerweile auf seiner Brust, fixiere seine Oberarme mit den Händen, sodass er sich nicht mit den Armen abstützen kann. Meine Fingernägel drücken dabei so in seine Haut, dass es wehtun muss. „Ich warte auf eine Entschuldigung“, presse ich angestrengt hervor. „Ich warne dich ein letztes Mal. Geh runter, oder ich mache Ernst.“ „Entschuldige dich!“ Ich höre ihm gar nicht zu. „Du hast es so gewollt“, grollt er. Mit einem Ruck bekommt er die Arme frei, und ehe ich seine Hände abfangen kann, sind sie zu meinem Nacken geschnellt. Er zieht mich zu sich herunter und küsst mich auf den Mund. Erst sträube ich mich dagegen, dann lösen sich meine Finger von seinen Unterarmen, umfassen stattdessen seinen Kiefer, als müsste ich ihn festhalten. Es muss aussehen, als liege er tot am Boden und ich würde versuchen, ihn wiederzubeleben – nur dass ich immer noch auf ihm knie. Als ich mich grob von ihm löse, keucht er schwer. Meine Knie auf seinem Brustkorb lassen ihn nicht richtig atmen. „Das nennst du Ernst?“, grummele ich. Mit gewaltiger Kraftanstrengung stemmt er sich wieder in die Höhe – wobei man sagen muss, dass ich es diesmal verabsäume, ihn zurückzudrücken. Er schiebt mich von sich runter, sodass nun ich leicht gegen die Wand stoße, schlingt einen Arm um mich und küsst mich erneut. Wir sitzen nun beide auf dem Boden, sind auf derselben Höhe. Ich stehe auf, ziehe ihn mit mir hoch. „Wie gefällt dir das?“, keuche ich in den Kuss hinein. „Immer noch schwach?“ „Immer noch“, sagt er mit rauer Stimme. Ich drücke ihn gegen die Wand, und er lässt es geschehen. Wie ein Raubvogel stürzen sich meine Lippen erneut auf seine, während meine Hände so sehr an seinen Hemdknöpfen zerren, dass es mich nicht wundern würde, sollte einer abreißen. Ich weiß immer noch nicht, was ich tue. Mein Kopf ist noch so leergefegt wie gerade eben, als ich nichts lieber getan hätte, als ihn zu verletzen. Seine Hände schieben mein Top hoch. „Ich hab mich wohl geirrt“, meint er, als wir uns kurz voneinander lösen, um es mir über den Kopf zu streifen. „Du hast dich verändert. Du bist ein richtiges Miststück geworden, Sakura.“ „Und du bist noch derselbe Arsch wie früher. Ich hab dich also bald eingeholt.“ Wie in einem skurrilen Tanz torkeln wir auf mein Bett zu. Ich ziehe ihm das Hemd über die Schultern, es bleibt an seinem Handgelenk hängen, sodass ich fester daran reißen muss. Ich kichere aufgekratzt, finde das urkomisch. Ich war lange nicht mehr so … frei. Frei von allen Gedanken, frei von allen Sorgen. Wir lassen uns ins Bett fallen. Sasukes Lippen decken meinen Hals mit Küssen ein. „Ich habe keine Ahnung, was in mich gefahren ist“, seufze ich leise. „Dann finden wir am besten jemanden, der es uns erklären kann“, sagt er heiser. „Mir geht’s nämlich genauso.“ Ich beschließe, dass ich nie wieder zu denken beginnen will. Dass ich nie wieder jemandem beweisen muss, wie taff ich doch geworden bin. Dass ich nicht um mein Leben bangen muss. Ich will nichts mehr wissen vom Schicksalslos und von Riviera und der Polizei und von Olga und von Geld und von Karten und von Chips, nichts mehr von alledem, und mein Hirn gibt sich große Mühe, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Denn alles, was ich im Moment weiß, ist, dass es sich anders anfühlt als damals in der maroden Hütte, in der Nacht, in der ich Sasuke wiedergesehen habe. Ansonsten ist mein Kopf völlig leer.   Mein Kopf ist völlig leer. Sakura und ich wälzen uns in ihrem Bett herum, als gäbe es kein Morgen. Ich weiß nicht, was mein Denken auf Energiesparmodus umgeschaltet hat. Sakura, die so aufgelöst war, dass ich es nicht ertragen konnte? Die kleine, zerbrechliche Sakura von früher, die ihre Tapferkeit in der letzten Woche so sehr unter Beweis gestellt hat, dass es mich innerlich zerrieben hat vor Unglauben und Bewunderung, die ich mir nicht habe eingestehen wollen? Oder liegt es an ihren Versuchen, mir etwas zu bewiesen? Mir, gerade mir, obwohl ich doch angeblich der Eisblock bin, dem etwas beweisen zu wollen von Vornherein sinnlos ist? Vielleicht spielt das alles zusammen. Sicher ist nur, dass ich momentan verrückt bin nach dieser Frau. Und dass ich sie will, jetzt, und wenn wir mitten in einem verdammten Einkaufszentrum begonnen hätten, miteinander zu rangeln, wäre es zu demselben Ergebnis gekommen. Sakura hält sich nicht zurück, also kann ich gar nicht anders, als es ihr gleichzutun. Irgendwann liegen wir schwer atmend nebeneinander. Das Bett war unser Ring, und nur wir sind übrig geblieben. Das Kissen, die Decken, unsere restlichen Kleider, all das ist irgendwann auf dem Boden gelandet. Nur Sakura und ich liegen noch auf der Matratze, die für uns viel zu klein ist. Wenn das ein Kampf war, dann haben wir wohl jetzt ein Unentschieden.   „Ich …“, beginne ich irgendwann, verstumme aber. Ich will die schöne Ruhe nicht mit Worten durchbrechen. Es ist gerade so friedlich, der Schneeregen trommelt kalt gegen das Fenster, aber mir ist so warm wie lange nicht mehr. Sasuke löst sich aus meinen Armen, steigt aus dem Bett und sucht etwas in seiner Hosentasche. Seine Packung Zigaretten. Sie ist seit gestern so oft in Gebrauch, dass sie ganz verschlissen sein muss. „Auch eine?“, fragt er. Ich schüttle den Kopf. Schmunzelnd stellt er fest: „Dabei hast du selbst gesagt, dass eine Zigarette hinterher himmlisch ist.“ „Hab ich das?“ Ich will nicht daran denken. Ich will gar nichts denken, immer noch nicht. Es ist seltsam: Ich weiß nicht, was ich sagen soll, plötzlich habe ich nichts mehr mit ihm zu bereden. Habe ihm nichts zu beweisen, brauche ihn nicht für irgendwelche halsbrecherischen Aktionen oder als seelische Stütze. Es ist einfach trotzdem schön, ihn hier zu haben. Ich merke, dass ich mich an ihn gewöhnt habe. Ich lange nach meiner Bettdecke, die auf dem Boden liegt. „Weißt du, ich bereue es nicht, dass ich dich von diesen Typen habe zusammenschlagen lassen“, sage ich in einem plötzlichen Anfall von makaberer Sentimentalität. Er schnaubt und setzt sich neben mich auf die Bettkante, die Kippe noch unangezündet im Mundwinkel. „Du bist echt verrückt“, murmelt er. Ich lächle. „Unsere zweite Runde hat mir übrigens besser gefallen als die erste. Noch ein paar Mal, und du wirst ein anständiger Liebhaber“, necke ich ihn. Er schnaubt, dann starrt er in die Leere, als erinnerten ihn meine Worte an irgendwas. Irgendwo weit, weit weg klingelt mein Handy. Ich brauche einen Moment, um es zu orten. Es liegt auf der Kommode neben der Tür. In meine Decke gewickelt, hüpfe ich aus dem Bett und steige über die Kleider auf dem Boden hinweg. Ich fühle mich so leicht, es ist unglaublich. Nie hätte ich gedacht, dass eine atemlose Runde Sex derart meine tauben Lebensgeister wiedererwecken könnte. Schon gar nicht mit Sasuke. Mein Handy dödelt immer noch fröhlich vor sich hin. Inos Nummer. Gut gelaunt hebe ich ab. „Hallo?“ „Sakura?“ Allein an ihrem Tonfall erkenne ich, dass etwas nicht stimmt. „Es … Kannst du … kannst du zu Chouji kommen?“ „Was ist los?“, frage ich alarmiert. Etwas Kaltes breitet sich in meinen Eingeweiden aus und erstickt die angenehme Wärme von gerade eben. Sasuke sieht aufmerksam zu mir herüber. „Ich weiß nicht, wie … Es ist … Shikamaru, er …“ Inos Stimme bricht immer wieder ab, erstickt durch … Schluchzer? Es raschelt, als ihr jemand das Handy wegnimmt, und Choujis Stimme erklingt. „Sa-Sakura? Ich … Komm bitte her … Ihr solltet alle herkommen …“ Seine Stimme ist zittrig und hoch. So habe ich ihn noch nie reden gehört. „Chouji? Was ist denn los, um Himmels willen?“ „Shikamaru … Ich habe … Shikamaru ist tot!“ Seine Stimme wird lauter. „Ich habe … ihn umgebracht!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)