Sex, Guns & Rock 'n' Roll von UrrSharrador („Herzlich willkommen beim Schicksalslos!“) ================================================================================ Kapitel 10: „Ich war’s. Das mit deinem Video.“ ---------------------------------------------- Als wir mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bei Shikamarus und Choujis WG ankommen, ist es bereits Nachmittag, und von Shikamaru sehen wir nicht mehr viel. Jemand hat die Polizei gerufen – beim Anblick des Streifenwagens zieht sich alles in mir zusammen, doch natürlich haben die keine Ahnung, dass Sasuke und ich in der vergangenen Nacht ebenfalls einen Mord begangen haben. Aber dass Ino oder Chouji die Polizei alarmiert haben sollen … Sie müssen ordentlich mit den Nerven fertig sein. Was ich ihnen nicht verdenken kann. Selbst in meinem Hals steckt ein schmerzender Kloß. Ich betrachte mich nicht als Shikamarus beste Freundin, aber er hat trotzdem irgendwie zu uns gehört. Und auch wenn er nicht am Schicksalslos teilgenommen und damit seine Bande zu uns gefestigt hat – mitgefangen, mitgehangen und so –, ist er trotzdem immer ein Teil unserer Clique gewesen. Als wir die letzten Meter zu dem Miethaus am Stadtrand zurücklegen, das er und Chouji sich haben leisten können, überlege ich mir, was ich sagen kann. Mir fällt nichts ein. Die Schneedecke auf dem Dach ist dick und nass. Der Regen hat aufgehört, die Sonne strahlt von einem blauen Himmel, und es taut. Als wir näherkommen, sehe ich auch den Rettungswagen an der Hausecke parken. So war das also: Sie haben vermutlich nur Sanitäter bestellt, und die haben dann die Polizei nachalarmiert. Tod unter ungeklärten Umständen, wahrscheinlich … Ach, es zerreißt mich innerlich fast, so nüchtern darüber nachzudenken. Langsam weiß ich, warum Sasuke mir geraten hat, nicht abzustumpfen. Es fühlt sich eklig an. Ich überlege, ob ich nach seiner Hand greifen soll, lasse es aber bleiben. Die Tür ist nur angelehnt, und als wir eintreten, erwartet uns dank der hohen Fenster eine geradezu höhnisch helle Wohnung, und in der Wohnung erwarten uns unsere Freunde. Ino läuft uns entgegen, obwohl sie gerade mit einer Polizistin spricht. Sie hat sich etwas eingekriegt, aber ich habe sie trotzdem noch nie so aufgelöst gesehen. Ihre Augen sind gerötet, ihr Make-up verschmiert. Chouji sitzt auf der Couch, so in sich zusammengesunken, dass er fast unter der Lehne verschwindet. Außer den beiden ist noch Naruto hier. Auch er hat verweinte Augen und sieht ernst in unsere Richtung. Ino bleibt zögerlich vor mir stehen. Ich drücke sie fest an mich. Sasuke stellt sich ungefragt neben Naruto, aber keiner der beiden sagt etwas. Die Polizistin klappt schließlich ihr Notizbuch zu und meint, dass sie vorerst keine weiteren Fragen mehr habe. Ino und Chouji sollen sich aber zu ihrer Verfügung halten. Dann lassen sie und ihr Kollege die Trauernden allein. Shikamaru kann ich nirgends entdecken. Ich vermute, man hat ihn bereits abtransportiert. Einige Sanitäter, deren weite Overalls sie wie mittelalterliche Rüstungen einmummeln und die KIT auf dem Rücken stehen haben, wechseln noch ein paar Worte mit Chouji, der nur nickt und mit der Hand wedelt. „Ihr könnt gehen“, sagt auch Ino nun, an sie gewandt. „Jetzt sind unsere Freunde ja da.“ Als die Männer zögern, ruft sie: „Bitte, haut ab!“ Schließlich verlässt uns also auch das Kriseninterventionsteam. Man hört die Motoren draußen starten. Sasuke, Naruto, Chouji, Ino und ich verharren wie Statuen in der Wohnung, ebenso reglos und ebenso stumm. „Was …“ Mein Mund ist völlig trocken, und ich brauche einen neuen Versuch. „Was ist passiert?“ „Es ist alles meine Schuld.“ Inos Finger gleiten fahrig durch ihre Haare. Sie sieht adrett aus, wenn auch ein bisschen zerrupft. „Nein, meine“, jammert Chouji. Er schafft es nicht, uns anzusehen. „Wir hätten alle nie bei diesem verdammten Schicksalslos mitmachen dürfen“, murmelt Naruto durch zusammengebissene Zähne. Die Fäuste hat er geballt. Also hat es mit dem Los zu tun. Natürlich. „Was waren eure Chips?“, fragt Sasuke schlicht. Es dauert eine ganze Weile, bis wir mehr aus den beiden herausbekommen. Während sie noch herumdrucksen, klingelt es. Neji, Lee, Tenten und Hinata sind angekommen, kurz darauf trifft auch Kiba ein. Es vergeht wieder einige Zeit des gemeinsamen Trauerns und Schockiertseins. Tenten drückt Ino so fest, dass sie ihr erneut einige Tränen herauspresst, dann Chouji, der es reglos wie ein Teddybär über sich ergehen lässt. „Ich … meine Chips“, beginnt Ino schließlich mit verschnupfter Stimme zu erzählen. „Ich wollte das nicht … Ich hätte nie gedacht, dass das so ausartet! Der Narr vergiftet das eigene Feld war der eine. Und Deine Farbe ist Schwarz. Ich hab mich noch gefreut, weil ich mir dachte, das wäre was Leichtes, was relativ Ungefährliches …“ Ino presst die Hand vor den Mund und schluchzt: „Ich wusste ja nicht, dass … dass“ „Dass ich ihren Kaffee stehlen würde“, sagte Chouji tonlos. „Wie jetzt, eins nach dem anderen“, sagt Sasuke. „Ino hat ihren Kaffee vergiftet?“ Sie nickt und putzt sich geräuschvoll die Nase. Ihr Taschentuch ist von ihren Tränen schon ganz durchweicht. „Ich hab mir gedacht, ich vergifte eben irgendetwas Schwarzes, das mir gehört. Bei mir trinkt niemand Kaffee, und ich hatte noch eine halbe Packung Kaffeepulver herumstehen, die mein Vater mir mal geschenkt hat … Ich bin ins Chemielager auf der Uni eingebrochen, damit ich meine Beweismittel etwas aufpeppen kann. Das hab ich schon ein paarmal gemacht, aber es sieht auf Video halt spannend aus … Dann hab ich das erstbeste Zeug mit einem Totenkopf drauf genommen. Ich dachte mir, das bringt mir mehr Geld ein, als wenn ich Rattengift …“ Sie schluchzt und kneift die Augen zusammen, presst neue Tränen hervor. „Meine Karte war: Halte durch von Tag zwei bis Tag sieben. Ich dachte mir, ich lasse den Kaffee bis Sonntag stehen und knipse alle paar Stunden ein Foto davon, damit sie sehen, dass das Zeug noch im Regal steht … Am Montag hätte ich es dann weggeschüttet.“ „Und Chouji hat das vergiftete Kaffeepulver geklaut und Shikamaru damit Kaffee gekocht?“, fragt Neji zweifelnd. „Das klingt ziemlich abenteuerlich …“ „So war es aber“, zischt Ino aufgebracht. „O Gott, ich wünschte, es wäre nicht so …“ „Und deine Chips?“, fragt Tenten Chouji mit belegter Stimme. Er sitzt auf der Couch wie ein Sack Kartoffeln. „Einem Freund gestohlene Ware vorsetzen. Und Deine Farbe ist Schwarz, genau wie bei Ino. Und die Karte war: Das Gremium bestimmt dein Opfer. Und sie haben mir per Mail geschrieben, dass mit dem Freund mein Mitbewohner gemeint sei und mit dem Diebstahlopfer Ino.“ „Ganz schön konkrete Anweisungen“, meint Neji. „Die haben sich sicher ins Fäustchen gelacht, als sie unsere Chipkonstellation erfahren haben“, schluchzt Ino. „Das war verdammt nochmal Absicht! Die wollten, dass wir Shikamaru … dass wir ihn …“ „Und du hast also Ino besucht und in ihrer Wohnung nach etwas Schwarzem gesucht, das du Shikamaru vorsetzen konntest?“, hakt Sasuke nach. „Und hast den Kaffee genommen, den sie in ihrem Regal stehen hatte, und damit Shikamaru vergiftet?“ Also Chouji nickt, schnaubt Sasuke abfällig. „Ihr tut echt alles, was das Gremium verlangt, ohne es zu hinterfragen.“ „Hör schon auf“, knurrt Naruto. „Davon geht es jetzt keinem besser. Wir haben ewig lang getan, was die wollten, und nie ist … so etwas passiert.“ „Ihr hättet es euch aber denken können, dass es irgendwann um Leben und Tod geht“, beharrt Sasuke kalt. „Sakura ist gestern Nacht auch fast …“ „Hör auf“, murmle ich gerade rechtzeitig, und er verstummt. Die anderen sehen mich überrascht an, aber niemand hakt nach. Wir sind alle noch zu sehr geschockt. „Warum?“, ruft Ino aus. Ihre Stimme ist hoch und dünn wie dein Lufthauch. „Shikamaru hatte mit diesem verdammten Spiel doch gar nichts zu tun!“ „Da wäre ich mir nicht so sicher“, meint Sasuke plötzlich. Wir starren ihn an wie einen Geist. Er scheint auf irgendeinen Gedanken gekommen zu sein. Anstatt sich zu erklären, zündet er sich ohne zu fragen eine Zigarette an. Ich gehe neben Ino in die Hocke und streichle ihr den Rücken. Der Kloß in meinem Hals hindert mich daran, etwas zu sagen. Sie wirft sich mir um den Hals und weint weiter. Die arme Ino, immer so selbstbewusst, immer Herr der Lage – und nun gibt sie sich die Schuld für den Tod ihres besten Freundes. Auch Chouji schient zu zerfließen. Seine breiten Schultern beben und er starrt ins Leere. Er sieht so mitleidserregend aus, dass ich auch ihm einen Arm um die Schulter lege und sie beide an mich ziehe. „Es tut mir so leid“, flüstere ich. Wir verharren einige Minuten so. Niemand in dem Raum sagt ein Wort. Ich weiß genau, dass Naruto vor Wut zittert und die Fäuste geballt hat, dass Hinata seine Hand umklammert, dass Lee stumm weint, dass Kiba lautlos flucht und Tenten fassungslos vor sich hin starrt. Ich selbst habe keine Ahnung, wo mir der Kopf steht. Ich fühle mich ruhiger – im Vergleich zu meinen Freunden. Vielleicht, weil ich gestern schon Todesangst durchgestanden habe. Weil sich in den letzten vierundzwanzig Stunden so viel Haarsträubendes ereignet hat, dass ich nicht mehr die Kraft aufbringe, angemessen entsetzt zu reagieren. Vielleicht stumpfe ich ja wirklich ab, obwohl ich das gar nicht mehr will. „Hört zu“, murmle ich Ino und Chouji ins Ohr. „Egal, was ihr glaubt, egal, was andere sagen. Ihr habt keine Schuld, ja? Das Gremium war es. Die haben es so verteufelt eingefädelt, dass es so kommen musste. Die haben Shikamaru auf dem Gewissen, nicht ihr.“ „Nein“, haucht Ino. Sie klingt so kraftlos, so elend, als läge sie selbst im Sterben. „Wenn ich nicht …“ „Es war eine Verkettung der Umstände“, beharre ich. „Zum Teufel mit den Umständen, wir …“ Ino will sich losmachen, aber ich halte sie eisern fest, drücke ihren Kopf an meine Schulter, wo ihre Tränen meine Jacke getränkt haben. „Das ist nicht fair“, murmelt Chouji. „Ich verdiene keinen Trost von dir, Sakura …“ „Ich tröste euch nicht, ich sage nur die Wahrheit“, behaupte ich. Genau genommen sage ich einfach, was mir gerade einfällt, und hoffe, dass es ihnen hilft – zu mehr bin ich gerade nicht imstande. Chouji schweigt eine Weile. Dann sagt er leise: „Ich … hab dich und Kiba belauscht und erfahren, dass du schon davon weißt … Also …“ Er atmet tief durch. „Ich war’s. Das mit deinem Video. Ich hab es von deinem Computer kopiert, als du nicht daheim warst. Ich hab es auf acht Minuten gekürzt, wegen meiner Rollenkarte, und es auf diese Website geladen.“ Ich verkrampfe mich und fühle, wie mein Gesicht heiß wird, aber nur für einen Moment. Sofort werden der Zorn und das Schamgefühl wieder von der Trauer überschwemmt. Nun weiß ich also, wer das Sextape geleakt hat. Und es war mir noch nie so egal wie in diesem Moment. Wir bleiben alle noch eine Weile bei den beiden, aber es wird kaum noch geredet. Vermutlich kommt eine harte Zeit auf sie zu. Sie werden definitiv von der Polizei verhört werden, und man wird wissen wollen, wie es zu diesem Unfall kam. Die Geschichte wird die abgebrühtesten Kriminalisten ins Schwitzen bringen, da bin ich mir sicher. Aber wir sprechen nicht darüber. Wir wollen nicht mal darüber nachdenken. Wir haben einen unserer Freunde verloren, einen, der noch nicht mal in unser Dilemma involviert war. Das ist schlimm genug.   Auf der Heimfahrt in der Straßenbahn kommt es mir so vor, als wären die Kurven, die das Gefährt macht, heute ruckartiger, und als müsste ich mich fest in die Halteschlaufen krallen, um mich gegen die Fliehkräfte zu stemmen. Vielleicht entsteht die Illusion dadurch, dass ich ständig Sakura beobachte: Auch sie hat die Hand in einer Schlaufe, lässt sich aber durchbeuteln wie ein Tuch, an dem der Wind zerrt. Ihr Körper schlenkert herum, als wäre sie eine Marionette. „Du hast angedeutet, Shikamaru wäre vielleicht doch in das Schicksalslos verwickelt“, sagt sie plötzlich. „Was hast du damit gemeint?“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch, was sie mich ihrerseits fragend ansehen lässt. „Was?“ „Nichts. Ich bin beeindruckt. Unser Freund ist gerade gestorben und du schaffst es trotzdem, mir schon so eine Frage zu stellen.“ Sie mustert mich eine Weile stirnrunzelnd, als versuche sie festzustellen, ob das nun ein Kompliment oder eine Beleidigung ist. Dann zuckt sie die Achseln. „Vielleicht geschieht einfach, was du nicht willst, und ich stumpfe schon wieder ab.“ Als ich nichts darauf erwidere, fängt sie wieder an: „Also, was hast du gemeint?“ Ich sehe mich in der überfüllten Straßenbahn um. „Nicht hier. Wenn wir zuhause sind.“ Vielleicht werde ich allmählich auch paranoid – obwohl ich erst eine Runde in diesem dämlichen Spiel stecke. Aber den, der mir das verübeln kann, will ich mal sehen. Ich würde ihm ins Gesicht schlagen. Irgendwie haben wir uns stumm darauf geeinigt, dass mit zuhause Sakuras Zuhause gemeint ist. So schäbig ihre Behausung auch ist, gegen meine Bruchbude ist sie immer noch luxuriös, und irgendwie bin ich in letzter Zeit öfter bei ihr als bei mir daheim. Wir gehen die letzten Schritte zu dem Häuserblock zu Fuß. Der Schnee auf dem Bürgersteig ist zum größten Teil geschmolzen und hat sich in unansehnlichen Matsch verwandelt, durch den wir unsere Fußspuren ziehen. In der letzten Nebengasse zu dem Haus mit Sakuras Wohnung ändere ich meinen Plan. Ich nehme sie an der Hand und drücke sie an die Hauswand. Ich ziehe ihren Kragen ein wenig auf und beginne, ihren Hals zu küssen. „Nicht jetzt“, sagt sie und versucht mich wegzudrücken, aber sie tut es viel zu kraftlos, noch immer paralysiert von dem Schock, und ich weiche nicht zurück. Stattdessen flüstere ich in ihr Ohr. „Ich traue diesen Kerlen zu, dass sie deine Wohnung verwanzt haben. Hör mir genau zu.“ Sie erstarrt, gibt ihren Widerstand aber auf. Nahe an ihrem Ohr, während ich sie fest in den Arm nehme, murmele ich: „Shikamaru war ein heller Kopf. Er hat sicher geahnt, was ihr treibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sein WG-Kollege jahrelang so einen Scheiß abzieht und er nichts davon merkt.“ „Und weiter?“, flüstert sie zurück und schlingt die Arme um meinen Nacken. Für einen Passanten – oder eine Überwachungskamera des Gremiums, die vielleicht Sakuras Haustür samt der angrenzenden Straße filmt, man weiß ja nie – sieht es hoffentlich so aus, als würde ein schwerverliebtes Pärchen es gerade nicht lassen können, am helllichten Tag auf offener Straße übereinander herzufallen. Mir kommt sogar der Gedanke, dass auch unsere Kleidung verwanzt sein könnte, aber hier kappe ich meine Paranoia. Übervorsichtig zu sein ist nicht mein Ding. „Nehmen wir an, Shikamaru hat Wind von dem Schicksalslos bekommen und herumgeschnüffelt. Nehmen wir an, er hat herausgefunden, was ihr tut und wie das alles mit dem Casino zusammenhängt. Und nehmen wir an, das Gremium hat mitgekriegt, dass er ihnen auf die Schliche kommt. Vielleicht war er eine Gefahr für sie und musste aus dem Weg geräumt werden. Und wie geht das am besten, wenn nicht durch das Los selbst, durch die Leute, die ihm am nächsten sind?“ Ich sauge mich wieder an Sakuras Hals fest, damit sie Zeit bekommt, das Gesagte zu verarbeiten. Ein Schauer durchläuft ihren Körper, und die Härchen an ihrem Nacken richten sich auf. Ob von dieser Erkenntnis oder von meinen Liebkosungen, kann ich nicht sagen. Für sie muss es merkwürdig sein, dass sie über den Tod eines Freundes nachgrübeln soll, während ich sie küsse. Ich hingegen … Gut, ein wenig ungewohnt ist es für mich auch, diese Situation auszunutzen. Es kommt mir so vor, als würde ich hier nur schauspielern. Aber irgendwie tut es nach allem, was wir eben erfahren haben, verdammt gut, eine Ausrede zu haben, um ihr nahe zu sein – ich mieser Kerl, der ich bin. „Das wäre ein viel zu großer Zufall“, flüstert sie schließlich. „Wir ziehen die Chips aus der Lostrommel. Du hast es gesehen. Unmöglich, dass die getürkt ist.“ „Das muss sie gar nicht sein“, widerspreche ich. „Wenn die nur genügend Gift-Chips und Diebstahl-Chips reinwerfen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie von jemandem gezogen werden. Selbst wenn niemand die richtige Kombination zieht, macht es nichts. Es wäre ja niemandem aufgefallen. Ich habe zum Beispiel auch den Diebstahl-Chip gezogen – zweimal. Das darf ich dir eigentlich nicht verraten, weil ich der Geheimniskrämer bin, aber scheiß drauf.“ Sie zuckt zusammen und sieht mich entgeistert an, als hätte ich ihr eben mein brisantestes Geheimnis verraten. Dann drückt sie sich noch fester an mich. Sie sieht es wohl als Vertrauensbeweis, dass ich ihr von meinen Chips erzähle, obwohl ich das nicht darf. Und sie glaubt mir sofort. „Ich bin durch die Sache mit Riviera darauf gekommen“, fahre ich fort, während wir uns fest umarmen und leicht auf hin und her wippen wie beim Schunkeln auf der Tanzfläche. „Ich bin mir sicher, das Gremium wollte auch Riviera loswerden. Vielleicht, weil er eine zu bekannte Persönlichkeit ist, und wenn er irgendwann erwischt worden wäre, hätte die Sache viel größere Wellen geschlagen. Außerdem muss er sämtliche Beweise aufbewahren, und mit der Zeit werden das gefährlich viele. Also haben sie während seiner Ziehung dafür gesorgt, dass er sich demnächst auf ein Groupie einlassen soll – wenn das überhaupt von ihnen manipuliert war. Aber ganz sicher haben sie etliche Chips wie deine bei unserer Ziehung bereitgelegt, und dazu einige Töte-Karten, damit irgendjemand von uns den nächstbesten Rockstar umbringt, der ihm vor die Nase springt. Und die Chance, in dieser Woche Riviera als Opfer zu wählen, war hoch.“ „Du meinst, das Gremium manipuliert die Ziehung doch?“ Ich nicke kaum merklich. „Auf eine Art, die man nicht nachweisen kann. Sicher, es ist immer noch ein reines Glücksspiel. Aber diese Leute stehen auf Glücksspiele. Und wenn Riviera und Shikamaru nicht dieses Mal getötet worden wären, hätte auch niemand etwas gemerkt, und sie hätten einfach auf eine neue Gelegenheit warten können. Außerdem, wer weiß, wie lange sie es schon auf Shikamaru abgesehen hatten, bis es diesmal endlich geklappt hat?“ Als Sakura keine Erwiderung gibt, löse ich mich von ihr und wir gehen den Rest des Weges einträchtig nebenbeinander her. Ich sehe, wie sehr es in ihrem hübschen Köpfchen arbeitet, aber sie scheint sich den Rest selbst zusammenreimen zu können Es überrascht mich, dass ich erst auf der Treppe zu ihrer Wohnung merke, dass wir immer noch die Finger ineinander verschränkt haben. Als sie aufschließt, überlege ich, ob sie wohl auch auf den nächsten Schritt in diesem Gedankengang kommt. Dass es nämlich gar nicht sein muss, dass Riviera dem Gremium per definitionem gefährlich geworden ist. Denn die gefährlichsten Leute für das Gremium sind die Spieler selbst – alle Spieler. Sie könnten irgendwann zur Polizei gehen, wenn ihr schlechtes Gewissen zu groß wird. Sie könnten einen Patzer machen und sich verraten. Oder sie könnten so weit ins Minus kommen, dass das Gremium sie sowieso ausschalten will. Für alle diese Fälle wäre es denkbar, dass das Gremium so eine Sache abzieht wie mit Shikamaru oder Riviera. Neue Anwärter auf das Spiel finden sich sicher überall. Und wenn man annimmt, dass die Veteranen eine Gefahr für das Gremium bedeuten, kommt man schnell zu einem logischen Schluss. Dass diese Leute nämlich irgendwann versuchen werden, die aktuellen Spieler aus dem Weg zu räumen. Mit anderen Worten, meine Freunde.   Die Ziehung an diesem Abend bestätigt mir meinen Verdacht. Streng genommen kann es sich immer noch um einen Zufall handeln. Aber ich glaube nicht an Zufälle, und ich habe auch keinen Bock, meine Theorie zu verwerfen. Sakura und ich haben den Rest des Nachmittags in stummer Zweisamkeit verbracht. Ich glaube, das Einzige, was einer von uns über die Lippen gebracht hat, war die Pizzabestellung am Telefon. Wir haben zwei fetttriefende Salamipizzen verdrückt, dann sind wir zu mir gefahren. Sakura hat gemeint, sie wolle sich für das Schicksalslos nicht schickmachen. In einer Art stiller Rebellion gegen das Spiel wolle sie in schlabbriger Freizeitkleidung gehen. Und wenn man sie nicht ins Casino ließe, dann sei es drum. Ich hingegen habe immer noch die Kleider vom Vortag getragen, und seit dem Beginn von Rivieras Konzert hatte ich ausreichend Gelegenheit, sie gründlich durchzuschwitzen. So sind wir dann des Abends – ich frisch gekleidet und gestylt, Sakura in Jogginghosen und Schmuddelpulli und mit denselben zerzausten Haaren wie heute Morgen – zusammen beim Treffpunkt aufgekreuzt. Natürlich war die Stimmung gedrückt. Jeder weiß, dass das Schicksalslos für Shikamarus Tod verantwortlich ist. Und dennoch hat sich wieder jeder hier eingefunden. Keiner hat den Mut aufgebracht, das Los zu boykottieren. Ich vermute, das wäre die sinnvollste Reaktion gewesen – einfach nicht mehr aufzukreuzen, alles zu verfluchen, was damit zu tun hat, und auf die Rache des Gremiums zu warten, weil man den Pflichttermin versäumt hat. Ihm vielleicht die eigene Rache entgegen schmeißen. Das hätte wohl jeder normale Mensch getan, der nicht schon jahrelang bei diesem verrückten Spiel mitgemacht hat. Für den es nicht schon so zur Gewohnheit geworden ist, Dinge zu tun, die ihm zutiefst widerstreben. Nach dem Motto: Schlimme Dinge passieren, weiter geht’s. Alle meine Freunde sind da. Meine Freunde, die Veteranen. Und ich. Ich bin kein hundertprozentiger Eisklotz, den Shikamarus Tod nicht berührt – immerhin. Aber ich stecke solche Dinge vermutlich einfach besser weg. Außerdem kannte ich Shikamaru gar nicht sonderlich gut und habe ihn, seit ich wieder hier bin, auch noch nicht gesehen, weswegen er in meiner Vorstellung noch aussieht wie der Junge vor drei Jahren. Das ist also meine Rechtfertigung, warum ich hier bin. Und ich will Sakura nicht allein lassen. Ich will nicht behaupten, dass sie es ohne mich nicht durchgestanden hätte. Mittlerweile habe ich mitgekriegt, dass sie ein verdammt taffes Mädel geworden ist, egal was sie selbst oder ich in den letzten zwei Tagen behauptet habe. Aber irgendwie denke ich, dass ich es ihr schuldig bin. Das ist die eine Veränderung in meiner Geisteshaltung, die mich selbst überrascht. Die zweite ist, dass ich die subtile Solidarität bemerke, die sich in der Gruppe ausgebreitet hat. Abgesehen davon, dass niemand streitet, scheinen die Blicke, die sich die anderen zuwerfen, geradezu vor Empathie zu sprühen. Eine tiefe Verbundenheit hat sie alle erfüllt, die Überlebenden des Freundeskreises, die ein dunkles Geheimnis verbindet. Ein starkes Band, hätte Naruto gesagt. Dass ich das spüre, ist wohl der zweite Beweis, dass diese verdammte Schwarmintelligenz, die ich immer so sehr verabscheut habe, langsam auf mich übergreift. Sakura stumpft ab, und ich kann mich plötzlich in andere hineinversetzen. Bei dem Gedanken muss ich schmunzeln. Die Welt ist verrückt geworden. Niemand hat Ino und Chouji gefragt, wie es bei ihnen weitergegangen ist. Ob Shikamarus Angehörige bereits informiert wurden, ob sie noch irgendeine Aussage bei der Polizei gemacht haben. Sie sehen beide schick aus heute Abend. Vor allem Ino hat sich aufgebretzelt, als hinge ihr Leben davon ab. Vermutlich – die nächste Empathiewelle meinerseits – hat sie ihrer Trauer damit entgegenwirken wollen, dass sie sich beschäftigt, und diese Beschäftigung hat daraus bestanden, sich tonnenweise Make-up ins Gesicht zu klatschen und sich mit penibler Emsigkeit das perfekte Outfit für eine höllische Glücksspielrunde aus ihrem Schrank zu suchen. Chouji sieht adrett aus, sein Blick ist so ernst, wie ich es noch nie bei ihm gesehen habe. Die Gesichter der beiden sind trocken und sie wirken … entschlossen. Änderung in Sasuke Uchihas Geisteshaltung, Nummer drei: Ich nehme mir ihre Entschlossenheit zum Vorbild. Und ich warte mit grimmiger Erregung darauf, dass ich an der Reihe bin, meine Chips zu ziehen. Denn irgendwann zwischen dem Mord an Riviera und jetzt habe ich den einen Entschluss gefasst, der nur noch einen kleinen Schubser braucht. Einen passenden Chip. Einen einwandfreien Grund, damit ich … Olgas Strahlemiene verfolgt jede meiner Bewegungen, als ich meine Chips ziehe. Der Dreizehn-Tage-Kidnapper. Mir fällt auf, dass dieser Chip wie frisch lackiert aussieht, nicht abgegriffen, nicht zerkratzt. Sofort stelle ich mir vor, dass er erst kürzlich hergestellt wurde. Der zweite Chip. Der Drahtseilmörder. Ziemlich eindeutig. Ziemlich düster. Olga trippelt vor mir her zum Kartenstapel und mischt noch einmal. „Nun Ihre Regelkarte. Vergessen Sie nicht, dass Sie sie auf jeden Fall einhalten müssen, egal welchen ihrer Chips sie bearbeiten und wie Sie es tun.“ Schweigend ziehe ich eine Karte und meißle meine Miene in Stein. Ich wusste es. Das Ganze ist eine Farce. Wie Sakura mal sagte, die Chips und Karten werden immer krasser. Immer gefährlicher. Und wie ich selbst vermutet habe, letzten Endes versucht das Gremium, die Spielerrunde zu dezimieren. Auf der Karte steht klar und deutlich: Dein Ziel ist die Person, die dir am nächsten steht. Ich bin wie erstarrt, nur mein Verstand arbeitet, während mein Blick über die Chips, dann zu der Karte und wieder zu den Chips und schließlich zu meinen Freunden schweift. Die Person, die mir am nächsten steht. Als hätten diese dreckigen Kerle genau gewusst, dass uns Shikamarus Tod noch enger zusammenschweißen würde. Wer würde einem Schicksalslos-Spieler wohl am nächsten sehen? Als Erstes fällt mir die Familie ein. In meinem Fall Itachi. Aber wir sind alle unabhängige Erwachsene, die ihr eigenes Leben leben. Die meisten aus unserer Clique sehen ihre Verwandten selten, wenn man von Hinata und Neji mal absieht. Dann gibt es noch Freunde und Lebensgefährten. Es ist wohl ziemlich unwahrscheinlich, als Schicksalslos-Spieler jahrelang seine gefährlichen Tätigkeiten vor dem besten Freund oder der festen Freundin zu verheimlichen. Das Los ist so gestrickt, dass man eher als Gruppe – oder als Paar – in seinem Netz gefangen wird. Man sieht es schön an unserer Runde: Alles gute Freunde, und bei Naruto und Hinata und bei Neji und Tenten war ich mir noch nie sicher, ob sie nicht vielleicht etwas miteinander am Laufen haben oder sich zumindest näher stehen als den anderen. Es hat mich bis dato zwar nicht sonderlich interessiert, aber ich glaube, dass die anderen auch keine ernsten Liebschaften außerhalb dieser Gruppe pflegen. Bei all den finsteren Machenschaften muss sowas ja zu kurz kommen. Die Personen, die uns also am nächsten stehen, befinden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in diesem Raum. Das ist jedenfalls der Schluss, zu dem ich komme, und ich gehe jede Wette ein, dass das Gremium sich dasselbe gedacht hat, als es diese Karte entworfen hat. Ich werfe erneut einen Blick auf meine Chips, nachdem Olga mich ungeduldig auf meinen Platz scheucht. Sie sind beide ziemlich heftig, was mich praktisch dazu zwingt, zumindest einen davon zu erledigen. Das mit dem Mord ist ja wohl eindeutig. Und wenn ich einen der Leute hier für dreizehn Tage entführe, kann er nicht am nächsten Schicksalslos teilnehmen, was gleichbedeutend mit einem Rauswurf ist – und, Sakura zufolge, mit einem Todesurteil. Sie wollen mich in eine Zwickmühle manövrieren. Sie haben ja keine Ahnung, dass ich nun nur noch umso entschlossener bin. Ich, der neue Spieler, habe einen Entschluss gefasst, regelrecht gepackt habe ich ihn, mit Adlerklauen habe ich ihn umklammert und werde nicht mehr davon ablassen. Aus den blassen Mienen der anderen schließe ich, dass auch sie tödliche Chips oder Karten gezogen haben. Jeder Einzelne scheint Übelkeit zu verspüren, als wir das Casino verlassen. Sakura und ich fahren ein Stück gemeinsam heim. Wir reden nicht über die Ziehung. Wir reden gar nichts, starren nur unsere Spiegelbilder in den Scheiben des Busses an. Als ich mich in der Nähe meiner Wohnung verabschiede, sieht sie mich verletzt an, aber sie macht keine Anstalten, mich zurückzuhalten. Ich atme tief die kühle Nachtluft ein, die wieder nach Schnee schmeckt. Schnee, wie damals, als Sakura mich verprügeln und dann im Park aussetzen hat lassen. Dieser Tag scheint ewig lange her zu sein. Ich sehe dem Bus nach und überlege, wie sehr ich mich mittlerweile an sie gewöhnt habe. Und zum ersten Mal halte ich so etwas nicht für Schwäche, denn es nährt meine Entschlossenheit. Zwei Tage grüble ich darüber nach, was ich tun kann. Die Nächte liege ich größtenteils auch wach. Nebenbei hoffe ich, dass meine Freunde sich möglichst viel Zeit lassen, um ihre tödlichen Chips abzuarbeiten. Mittwochmorgen habe ich endlich einen Plan. Die ganze Zeit über habe ich mit niemandem gesprochen. Sakuras Anrufe habe ich ignoriert. Ich habe mich nur auf mich selbst konzentriert. Jetzt wähle ich zum ersten Mal wieder eine Nummer auf meinem Handy. „Bruderherz“, begrüßt mich Itachi. „Deine Anrufe sind fast so selten wie deine Besuche.“ „Ich brauche nochmal deine Hilfe“, sage ich. „Danach komme ich dich besuchen, sooft du möchtest.“ „Ach ja? Soll ich dir wieder mal mit einer Telefonnummer aushelfen?“ „Nein“, sage ich grimmig. „Diesmal brauche ich eine Maschinenpistole. Mit ausreichend Munition.“ „Tatsächlich?“ Er ist nur halb so überrascht, wie er tut, der alte Halunke. Ich gehe stark davon aus, dass er seine Unterweltkontakte noch aufrecht erhält. „Erzähl mir nicht, dass du einen Amoklauf planst, kleiner Bruder.“ „Unsinn“, brumme ich. „Ich muss nur ein wenig Kidnapper spielen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)