Sex, Guns & Rock 'n' Roll von UrrSharrador („Herzlich willkommen beim Schicksalslos!“) ================================================================================ Prolog: „Du bist nicht die Sakura, die ich kenne.“ -------------------------------------------------- Ich schaue in die Finsternis hinaus und genieße den Anblick des Schnees, der sich kühl und sanft über die Straßen gelegt hat. Die Schneedecke lässt alles nur halb so dunkel erscheinen, wie es sein sollte, so spät in der Nacht und in einer Gegend, in der es nur wenige Straßenlaternen gibt, wovon noch weniger funktionieren. Ich blase den Zigarettenrauch in die kalte Nachtluft hinaus. Kurz verdeckt er die wenigen Sterne, die sich heute zeigen. Auf der gewundenen Straße fährt ein Auto vorbei, die Scheinwerfer stechen hart und grell in meine Augen. Eine seltsame Schwermut hat mich ergriffen. Wahrscheinlich tut Sasuke mir leid. Und das, obwohl ich mit meinen letzten Chips wirklich Glück gehabt habe. An manches gewöhnt man sich eben nicht so schnell. Nicht, dass es eine Rolle spielt. Meine Augen passen sich mehr und mehr an die Düsternis an. Der Schnee ist noch frisch, erst gestern gefallen. Kaum ein Stiefel hat ihn zertrampelt. Schnee hat immer eine beruhigende Wirkung auf mich. Es fühlt sich an, als könnte er sich über meine Seele legen, und die Kälte täte mir gut. Ich seufze tief – erst jetzt fällt mir auf, dass ich es mindestens zum fünften Mal tue, dann werfe ich die aufgerauchte Zigarette beim Fenster hinaus. Sie landet im Schnee und sterbend brennen sich noch ein paar Funken in das unberührte Weiß. Ich gehe in den anderen Raum zurück. Das grelle Licht ist wie ein Schlag ins Gesicht, auch wenn es nur aus einer einzelnen Schirmlampe kommt. Das Bett darunter ist zerwühlt. Die zerknitterten Laken und zerdrückten Kissen zeugen noch von der wilden Nacht, die ich mit Sasuke hatte. Sasuke selbst ist noch immer nur in Boxershorts gekleidet. Er ist an den Bettpfosten gefesselt und sein Gesicht ist längst zugeschwollen. Offenbar sind sie immer noch nicht mit ihm fertig. Obwohl sie ihm die Augen verbunden haben, dürfte er bemerkt haben, dass ich zurückgekommen bin. Vielleicht riecht er den Zigarettenrauch. Vielleicht auch mein Parfüm, das er, seinem eigenen Aufreißerspruch von gestern zufolge, unter tausend anderen wiedererkennen würde – solange ich nahe genug an ihn herankäme. Vielleicht hat er auch einfach nur meine Schritte gehört. Ich glaube, Ino ist es, die mal gesagt hat, ohne Schuhe würde ich klingen wie eine betrunkene Katze – leise, aber nicht leise genug. Sasuke atmet schwer, als er den Kopf in meine Richtung dreht. „Wo warst du?“ Was für eine Frage. Man könnte meinen, er hätte andere Sorgen. Aber Sasuke ist schon immer für eine Überraschung gut gewesen. Die beiden Muskelpakete, die ihn wie zwei Türme aus Fleisch flankieren, werfen mir einen fragenden Blick zu. Der eine wackelt mit dem Gummiknüppel wie mit einem Spielzeug. Ich sehe, dass die Dielen zu Sasukes Füßen mit seinem Blut besprenkelt sind. Die beiden Jungs sind nicht gerade zimperlich. „Rauchen“, beantworte ich Sasukes Frage salopp. „Das ist einfach himmlisch nach einer heißen Runde Sex. Hast du’s noch nie ausprobiert?“ „Wer bist du?“, knurrt er mit zusammengebissenen Zähnen. Jeder Zoll von ihm ist ein Rebell. Er bäumt sich gegen seine Fesseln auf, und der Muskelprotz zu seiner Linken vergräbt sein Knie in seinem Magen. Stöhnend sackt er zu dem Häuflein Elend zusammen, das er eigentlich darstellen sollte. „Ich weiß nicht, was du meinst“, sage ich. „Du bist nicht Sakura“, stellt er fest. Ich lache leise. „Wer soll ich denn sonst sein?“ „Du bist nicht die Sakura, die ich kenne“, wiederholt er. „Die Sakura, die in der Schulzeit eine oberflächliche, nervtötende Klammer war. Die Medizin versucht hat und sich immer mit Naruto und den anderen getroffen hat. Du siehst aus wie sie, aber du bist ganz anders.“ Ich hocke mich vor ihn hin. Er kann mich freilich nicht sehen, aber ich weiß, dass er mich bemerkt. „Wir haben uns drei Jahre nicht gesehen“, rufe ich ihm in Erinnerung. „In drei Jahren kann viel passieren. Zum Beispiel kann die alte Sakura, die du kanntest, in drei Jahren spurlos verschwinden.“ „Blödsinn“, schnaubt er. „Die alte Sakura ist tot. Wir verändern uns alle, Sasuke.“ „Und was will die neue Sakura dann von mir?“, knurrt er. Seine widerborstige Art geht mir gehörig auf die Nerven. Er ist stur wie ein Ochse. Unbeugsam wie ein Politiker mit einem Haufen von Lobbyistenfreunden. Überheblich, dass er sich eigentlich tagtäglich die Augen auskugeln müsste bei dem Versuch, auf all seine Mitmenschen herabzublicken. Und genauso unwiderstehlich wie früher. „Was denkst du denn, was ich von dir will, Sasuke?“, frage ich in dem Versuch, ihn aus der Reserve zu locken. Kurz stutzt er, als würde er tatsächlich über diese Frage nachdenken. Aber dann übernimmt sofort wieder sein Ego die Kontrolle. „Ich habe eigentlich geglaubt, dass du nur mit mir schlafen willst. Gestern hat es zumindest danach ausgesehen. Und befürchtet habe ich, dass du hoffst, etwas Ernsthafteres anfangen zu können.“ Er grinst. Das Grinsen steht seinem angeschwollenen Gesicht nicht. Ich verziehe die Lippen. „Du solltest spüren, wie ernst ich es meine“, sage ich säuerlich. „Ich stehe eigentlich nicht auf SM“, keucht er, als ihn der Gummiknüppel auf mein Zeichen hin an der Schläfe trifft – nicht fest, aber schmerzhaft genug. „Du hast dich auch verändert, Sasuke. Du bist lustiger geworden“, stelle ich fest. Ich merke, dass das Eis auf meiner Seele schon wieder zu tauen beginnt. Ich will ihn so nicht sehen. Ich sollte mir bald wieder ein Fenster mit der Aussicht auf Schnee suchen. Der nächste Hieb lässt ihn Blut spucken. „Vielleicht sagst du mir endlich, was das soll, zum Teufel nochmal!“ Endlich klingt er wütend. Damit kann ich besser umgehen als mit seiner unnahbaren Coolness. „Ich hatte einfach Glück“, sage ich. „Ich habe diese Woche die Gottesanbeterin und die Schwarze Witwe gezogen. Das ist eine ziemlich einfache Kombination. Und die Zusatzbedingung wird dir gefallen, Sasuke. Du wirst die Trennung von mir nämlich überleben.“ Ich denke mir, dass es genug ist, und lasse die beiden Kraftprotze noch zwei Minuten weiter auf ihn einprügeln, damit es sicher genug ist. „Okay“, sage ich. „Zeit für den Taser. Machen wir, dass wir hier fortkommen.“ „Was zur Hölle …“, bringt Sasuke noch nuschelnd hervor, ehe die bläulichen Blitze an seinem Hals ihm die Worte rauben. Kapitel 1: „Herzlich willkommen beim Schicksalslos!“ ---------------------------------------------------- Es hat geschneit, als ich mich auf den Weg zur Arbeit gemacht habe, aber das kalte Wetter hat die Leute nicht davon abgehalten, uns die Bude einzurennen. Alles, was weder Rang noch Namen hat, drängt sich in diesem Massengrab der Kultur, sodass der Club zum Bersten mit schwitzenden Leibern vollgestopft ist und die Temperatur eines Backofens erreicht. Die Uniformen von uns Kellnerinnen bestehen zwar aus einem dunklen Rock und einem knappen, bauchfreien Top, aber trotzdem kleben mir die Haare bald von meinem eigenen Schweiß auf der Stirn und im Nacken. Überflüssig zu sagen, dass die kaum vorhandenen Vorteile dieser Kleidung auch direkt durch die Nachteile erschlagen werden. Bereits zum dritten Mal versucht mir einer dieser widerlichen Skinheads auf den Po zu grapschen. Ich gebe Dandy, unserem Türsteher, ein kurzes Zeichen und denke voller Genugtuung daran, dass er sich den Kerl merken und sich zu gegebener Zeit um ihn kümmern wird. Für uns beide schaut dann ein sattes Trinkgeld heraus – sofern ein verschworener Alkoholiker wie der viel Bares besitzt. Meine Kollegin winkt mich eilig hinter die Bar. „Mensch, Ino, was brauchst du so lange?“, fragt sie. „Die Leute warten! Sie rennen mir fast …“ Verde stoppt und fängt den Satz neu an. „Sie laufen bald auf meine Seite der Bar! Du musst sie schneller bringen!“ Sie deutet hektisch auf das Tablett mit leeren Bechern, das ich vor mir ablade. Wir nennen sie Verde, weil sie ihr Haar giftgrün gefärbt hat. Ihren Worten haftet ein unüberhörbarer italienischer Akzent an. An sich wäre das kein Problem, auch wenn dieser Laden ein Tummelplatz für sämtliche Rechtsradikale aus dieser Stadthälfte ist. Dummerweise sind ebenjene meist zu betrunken, um ihren Akzent als italienisch einzuordnen – und für sie bedeutet dann Akzent automatisch die Herkunft aus einem Land, das sie prinzipiell verabscheuen. Der Inhaber hat Verde darum eingeschärft, nur im absoluten Notfall den Mund aufzumachen. Um sich mit mir zu verständigen, muss sie momentan schreien, aber außer uns beiden hört kaum jemand ihre Worte, so laut brüllt die Band in der Ecke. Ich mische ein paar Gläser Cola-Whiskey und gehe dabei großzügig mit der Cola um. Als ich zum ersten Mal hier gearbeitet habe – eine Feuertaufe mit einem Andrang wie heute –, habe ich tatsächlich versucht, die Leute schneller betrunken zu machen, damit sie eher Ruhe geben würden. Der Plan ist gehörig nach hinten losgegangen: Die Meute schwitzt den Alkohol in Windeseile aus, und außerdem sind sie geeicht und werden mit steigendem Spiegel nur noch unausstehlicher. Laut Verde ist das aber in jedem Club dieses Stadtteils so. Da sie keinen lukrativen Quasi-Job hat wie ich, kellnert sie in verschiedenen Bars und Diskotheken, um sich über Wasser zu halten. Ich würde mir die Kugel geben, müsste ich das auf Dauer machen. Als die Hardcore-Band in der Ecke mal eine Pause einlegt, wird es endlich ein bisschen ruhiger – akustisch gesehen. Dafür klettern die Männer fast übereinander bei dem Versuch, die Bar zu stürmen. Ich sage Männer, aber das kommt wohl daher, dass die am lautesten ihre Bestellungen brüllen. Gut ein Drittel der Kundschaft ist sogar weiblich: Die meisten davon haben schwarz gefärbte Haare, Smokey Eyes, die aussehen, als hätten sie in einen Aschehaufen gepustet, und von Nieten und Stacheln übersäte Kleider und Accessoires, mit denen sie sich gegenseitig aufspießen könnten. Und dann gibt es heute Abend genau eine Person, bei der man zweimal hinsehen muss um festzustellen, ob sie männlich oder weiblich ist. Zuerst denke ich mir nichts. Ich versuche gerade angestrengt, mir vier neue Arme wachsen zu lassen, um bei den ganzen Bestellungen hinterherzukommen, als mir jemand, gerade als ich Wechselgeld über die Bartischplatte schiebe, auf die Finger klopft. „Einen doppelten Whiskey on the Rocks.“ Ich stutze erst im nächsten Moment, in dem ich meine, die Stimme zu erkennen, und gleichzeitig in ein ziemlich lächerliches Gesicht sehe. „Naruto?“, bringe ich heraus. „Sozusagen“, murmelt er, und als er von jemandem angerempelt wird, bekommt er ein paar Haare seiner Perücke in den Mund und spuckt sie verärgert aus. Ich pruste los. „Was ist denn mit dir passiert?“ Ein Drittel der Gäste in dieser Bar ist weiblich – weniger eins. Ich kann nur erahnen, warum Naruto geschminkt und mit schwarzer Langhaarperücke vor mir steht, dazu in einem der Location nicht wirklich angepassten Frauentop, das seine Schultern zu sprengen drohen. Wie er unterhalb der Gürtellinie aussieht, kann ich hinter der Bar nicht erkennen, aber ich stelle mir ein schickes Röckchen vor. Sofern er irgendwas auf Modegeschmack gibt, würde es perfekt dazu passen. Ich ziehe seine Bestellung vor, während mein Lachanfall einfach nicht abklingen will. Er stiert mich wütend an, als ich ihm sein Glas aushändige. Obwohl mir die anderen Leute bereits wieder ihre Getränkewünsche entgegenwerfen, rufe ich ihm erneut zu: „Was ist denn mit dir los?“ „Schlechte Chips erwischt“, brummt er und nimmt einen vorsichtigen Schluck. Naruto mag eigentlich keinen Whiskey. Nein, das ist nicht richtig. Nach allem, was ich weiß, hasst er ihn wie die Pest. „Aber schnelles Geld.“ „Und was genau hast du für Chips?“, lache ich. „Die plötzliche Geschlechtsumwandlung? Oder darfst du das nicht sagen?“ „Eine Woche das komplette Gegenteil“, knurrt er. „Ach du Schande. Und deswegen verkleidest du dich als Mädchen?“ Bei den Aufgaben, die einem viel Interpretationsspielraum geben, schneidet Naruto meist am schlechtesten ab. Dass er auf die Idee gekommen ist, einfach mal das Geschlecht zu tauschen, in Clubs zu verkehren, die er sonst meiden würde, und das zu trinken, was er eigentlich hasst, ist ein ziemlich schlauer Plan für seine Verhältnisse. „Und dein zweiter Chip?“ „Genieße dein Leben“, sagt er. „Keine Ahnung, ob das auch das Gegenteil sein soll. Aber ich hoffe, dass sie da gnädig mit der Beurteilung sind, weil selbst das Genießen wird irgendwie zum Gegenteil.“ Ich nicke mitfühlend. Sofern er als Zusatz nicht den Joker gezogen hat und über seine Chips lügen muss, ist das echt eine unangenehme Kombination. Da ist meine um Längen besser. „Trink langsam“, rate ich ihm. „Sonst haust du dir deine Drinks immer auf ex rein.“ Er brummt irgendwas und verzieht sich von der Bar, während ich den nächsten Kunden abfertige und eine neue Band zu krächzen beginnt.   Die Männer haben den bewusstlosen Sasuke in ihren Truck geworfen und werden ihn irgendwo am Stadtrand ins Gemüse kippen. Ich bin eigentlich ganz froh darüber, dass ich ihm nicht mehr in die Augen sehen muss. Es ist nicht ganz billig gewesen, die beiden Schläger zu engagieren, aber die einzige Alternative wäre gewesen, Sasuke selbst zu verprügeln. Ich traue mir mittlerweile eine ganze Menge zu, aber ich fürchte, dass ich mit ihm dennoch zu sanft umgesprungen wäre. Lieber ein paar Extraausgaben als ein Risiko. Und ich hätte mir einen kleinen Dorn in die Seele getrieben, wenn ich ihn selbst so zugerichtet hätte. Aber daran will ich nicht denken. Ich friere. Die Hände in den Manteltaschen vergraben, atme ich zittrig Dampfwolken aus. Ich stehe vor dem kleinen Wochenendhaus, das für diese Aktion zu haben war. Mit Sasukes Abtransport habe ich das Recht verloren, länger drin zu bleiben. Es ist halb fünf Uhr morgens und ich muss selbst sehen, wie ich von hier nachhause komme. Ich gebe mir Mühe, nicht an Sasukes zerschlagenes Gesicht zu denken, während mich immer wieder das schlechte Gewissen überrollen will. Stattdessen versuche ich daran zu denken, dass erst Dienstag ist und ich für den Rest der Woche somit quasi frei habe. Und die Sache wird mir dreißigtausend einbringen. Mindestens. Gleichzeitig ärgere ich mich über meine Schwäche. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass ich so was abgezogen habe. Einmal war es ein junger Geschäftsmann aus der Innenstadt, einmal ein bekannter Rocksänger, dem ich ein hysterisches Groupie vorgespielt habe. Beide sind eigentlich ganz passable One-Night-Stands gewesen, die sich wahrscheinlich nicht mal mehr an meinen Namen erinnern, obwohl ich sie beklaut und heimlich Fotos von ihnen geschossen habe. Ein drittes Mal wäre ein Mann nach meiner Wahl dran gewesen, aber auch da hatte ich die Gottesanbeterin erwischt. Wenn ich die Regeln hätte ernst nehmen wollen, hätte ich den Typen töten müssen … So weit bin ich trotz allem noch nicht. Ich habe die zweite Option genommen und einen Haufen Kohle dabei verloren. Ich versuche, die finsteren Gedanken gemeinsam mit der Kälte abzuschütteln, und es hat ungefähr denselben Effekt – nämlich gar keinen. Die Straße geht schnurgeradeaus, alte Holzhäuser und Schrebergärten und sogar ein verlassenes Motel ächzen unter der Last des Schnees auf ihren Dächern. Ich stapfe knöcheltief durch den Neuschnee und meine Zehen fühlen sich bereits an wie Eisklötze. Ich war so schlau, zu der Party nicht nur mit Abendkleid und Stöckelschuhen zu erscheinen, sondern unter anderem auch festes Schuhwerk mitzubringen, da ich wusste, dass ich zu Fuß würde heimgehen müssen – festes Schuhwerk, wohlgemerkt, kein wasserfestes. Dass es so plötzlich schneien könnte, hatte ich nicht bedacht. Ich bibbere vor mich hin und bleibe schließlich vor dem alten Motel stehen. Abgesehen davon, dass es baufällig und vielleicht verschlossen ist, hätte ich es kurz trocken, aber meine Probleme wären damit nur aufgeschoben. In diese Gegend wird sich kaum ein Taxi verirren, und ob es einen Bus gibt, weiß ich nicht. Schlotternd und zähneklappernd gehe ich weiter, fort von einer eigentlich erfreulichen, mich aber trotzdem irgendwie nachdenklich stimmenden Nacht und hin zu einem Leben in Luxus für ungefähr fünf weitere Tage.   Ich weiß im ersten Moment nicht, wo ich bin oder wie ich hierher komme. Ich weiß auch nicht, was passiert ist. Ich weiß nur eins: Mir ist eisig kalt. Meine rechte Körperhälfte scheint in Flammen zu stehen, aber auch dieses Brennen kommt von der Kälte. Ich liege quer über einem immergrünen Busch, der mit Schnee bestäubt ist. Mein Hemd und meine Jacke sind beide aufgeknöpft, und die Kälte sticht in meine Haut, als wäre das hier ein Dornbusch. Stöhnend will ich aufstehen, aber meine Knie geben nach und ich rolle seitwärts zu Boden. Noch mehr Schnee, der meinen Rücken und Nacken umklammert. Mir bleibt die Luft weg. Was zum Teufel ist passiert? Der zweite Versuch klappt schließlich. Ich merke, dass ich in einem Park liege, den ich nicht kenne – ausgestreut wie Futter für die Tauben. Oder eher wie ein Penner, der kein Nachtquartier gefunden hat. Schnee glitzert in der Morgensonne, die einen hellen und klaren Himmel beleuchtet. Scheiße, wie spät ist es? Was mache ich um diese Uhrzeit in einem … Als ich beginne, meinen Körper wieder zu fühlen, fühle ich auch den Schmerz in meinem Gesicht und an meinem Oberkörper. Ich kann ein paar Blutergüsse ausmachen, meine Backe und mein Jochbein sind geschwollen und meine Rippen fühlen sich geprellt an. Und damit kommt auch die Erinnerung an gestern Nacht. Sakura. Ihr helles Lachen, das verführerische Schnurren, mit dem sie mein Hemd aufgeknöpft hat … Vorher, was war vorher? Da war diese Party, genau, ein flüchtiger Bekannter hat eine Party geschmissen. Eine feine Location, ein Haufen blasierter Leute … und sie. Sakura, die ich seit drei Jahren nicht mehr gesehen habe. Sie war genauso überrascht wie ich, aber sie hat es im Gegensatz zu mir offen gezeigt. Wir haben nicht mal viel getrunken, eher geredet und … Ich sehe an mir herunter. Leere meine Taschen. Geldbörse, Kreditkarte, Handy – alles da. Habe ich irgendetwas Skurriles geträumt, oder ist dieser zweite Teil der Erinnerung wirklich passiert? Warum sollte Sakura mich von solchen Typen zusammenschlagen lassen? Sicher habe ich nur auf dem Heimweg mit irgendjemandem einen Streit angefangen, weil ich zu viel getrunken habe … Die Kopfschmerzen könnten diese Theorie bestätigen. Das Unlogische daran ist: Ich weiß genau, wie viel ich trinken kann – sofern es sich nicht um ein Wetttrinken mit Naruto handelt. Und der taucht in meiner Erinnerung nicht auf. Und so viel haben Sakura und ich wie erwähnt nicht gebechert. Ich zermartere mir das Gehirn über gestern Nacht. Da muss doch noch irgendein logisches Puzzlestück vergraben sein, irgendein Missing Link, das Sakura mit meinem unschönen Erwachen hier verbindet … Ich habe sie genauso lange nicht gesehen wie meine anderen früheren Freunde. Aber ich habe sie damals als eifrige Medizinstudentin in Erinnerung behalten, die immer schon einen kleinen Stand auf mich hatte. In ihrer Jugend einen richtig hysterischen, später ist sie reifer und interessanter geworden, aber ich habe ihre Gefühle nie ernstgenommen und schon gar nicht erwidert. Gestern Abend habe ich es für eine gute Gelegenheit gehalten. Meine Rückkehr in diese Stadt ganz allein auf einer Party zu feiern, wäre öde gewesen, aber ein Mädchen, das sich mal total in mich verguckt und mich immer durch eine rosarote Brille gesehen hat … Das hat mich gereizt. Ich gebe zu, dass ich auf Aufriss war, aber Sakura flachzulegen hatte sozusagen meinen Jagdinstinkt mit einer Lust auf Spielchen, Nostalgie und ein wenig Schicksalshaftigkeit verknüpft … Ah, Neji wäre sicher stolz auf mich, wäre er nicht so unheimlich prüde. Dass Sakura sich verändert hat, ist mir schnell aufgefallen, aber es war mir eigentlich egal. Sie ist selbstbewusster geworden, ja. Eigentlich hatte ich gehofft, sie mit meinen Annäherungsversuchen komplett zu überfordern … das wäre niedlich gewesen. Stattdessen hat sie mir allzu bald das Ruder aus der Hand genommen. Und geendet hat die Sache dann in … genau, in so einem winzigen Zweizimmer-Wochenendhaus, auf das sie angeblich achtgibt und zu dem sie deswegen einen Schlüssel hat. Ich habe nicht nachgefragt, warum wir nicht einfach zu ihr gefahren sind – mit zu mir wollte ich sie auch nicht nehmen. Also das Ferienhaus, genau. Und dann … tja, dann fehlt ein großes Stück in meinem Gedächtnis, als hätte jemand es herausgebissen. Ich weiß nur noch, wie ich plötzlich, halb im Einnicken, von ein paar riesigen Pranken hochgerissen und ans Bett gefesselt wurde. Und dass man mich im Anschluss geschlagen hat, davon kann mein Körper ein Liedchen singen, das gar keiner Erinnerung bedarf. Aber dass Sakura danach noch einmal mit mir geredet hat, muss ein Irrtum sein, oder? Eine Halluzination? Vielleicht habe ich Dinge zusammenfantasiert. Vielleicht haben die Kerle mich auch unter Drogen gesetzt. Vielleicht ist Sakura längst weggewesen, und die beiden Kerle sind so was wie die schwulen Eigentümer der Bude, die sich für meinen scheinbaren Einbruch rächen wollten … Aber irgendwas sagt mir, dass dem nicht so ist. Sagt mir, dass meine Erinnerung mich nicht trügt. Ich kann es nur nicht fassen, dass Sakura solche Dinge gesagt haben soll, wie sie die Sakura in meinem Gedächtnis gesagt hat. Ich stapfe fluchend durch den Schnee. Man sieht Reifenspuren, die zu dem Busch führen, in dem ich aufgewacht bin. Ich schwöre den Typen bittere Rache, auch wenn ich nicht weiß, wie sie aussehen. Hier hole ich mir den Tod – und eine ganze Menge fragender bis höhnischer Blicke. Ich muss meine Gedanken sortieren. Nach dem anfänglichen Schock kocht Wut in mir hoch und vertreibt fast die Kälte aus meinen Gliedern. Jemand hat mich gefesselt, geschlagen und hier ausgesetzt, mich, Sasuke Uchiha! Das kann ich nicht einfach so stehen lassen. Und wenn Sakura dabei irgendwie ihre Hände mit im Spiel hatte, warum auch immer und was auch immer mit ihr in den letzten paar Jahren passiert ist, dann gnade ihr Gott!   Es ist hell, als ich endlich heimkomme, todmüde und durchgefroren. Ich hätte mich echt mehr auf den Wetterbericht konzentrieren sollen … Nein, es hilft nichts, jetzt darüber zu lamentieren. Als ich hinter mir die Tür zu meiner kleinen, ziemlich heruntergekommenen Wohnung abschließe, seufze ich erst mal tief auf. Immerhin, die Schuldgefühle wegen Sasuke bin ich erst mal los. Ich bin einfach zu müde dafür. Ich muss ein wenig an meinem Schlüssel werken, der mal wieder im Schloss hängen bleibt. Überhaupt ist meine Tür eine Frechheit. Sie ist so dünn, dass man sämtlichen Lärm von der Straße hört, und man spürt ständig einen Luftzug, wenn man genau aufpasst. Wenn ich Sasuke mit hierher gebracht hätte, hätte ich mich ordentlich blamiert. Endlich bekomme ich den Schlüssel aus dem Schloss und lege ihn auf meine Kommode. Innerlich gehe ich die Beträge durch, die ich nun schon gespart und erwirtschaftet habe. Ich kann mir eine bessere Wohnung eigentlich spätestens Anfang nächster Woche leisten. Wird Zeit, dass ich mich auf die Suche mache. Ich nehme eine lange, heiße Dusche – ein Bad will ich nicht riskieren, weil ich befürchte, einfach einzuschlafen und zu ertrinken oder so. Mein Handy blinkt. Ich öffne die SMS von Ino, kaum dass ich mich in mein Bett gelegt habe. Sie hat heute mal wieder die vorletzte Schicht in diesem Club gehabt. Angeblich muss sie mir was Lustiges erzählen, wenn wir uns das nächste Mal sehen, aber fürs Erste wünscht sie mir eine gute Nacht. Mir fällt auf, dass wir beide immer öfter die Nacht durchmachen, seit das Spiel angefangen hat. Naja, bei einer Rollenkarte wie meiner ist das auch kein Wunder. Ich verschiebe das Video auf morgen – beziehungsweise heute –, stelle mir den Wecker auf zwölf Uhr und hole dringend nötigen Schlaf nach. Als ich um zwölf aus den Federn krieche, merke ich, dass ich die Sache am liebsten vor mir herschieben möchte. Ich mache mich extra langsam frisch, koche mir dann eine Kleinigkeit zu essen und schaue meine Post durch. Dann ertappe ich mich dabei, wie ich eine Serie auf meinem Laptop schauen möchte, und schelte mich schließlich dafür. Besser, ich bring‘s hinter mich. Nun, da die Müdigkeit einigermaßen von mir abgefallen ist, habe ich ein mulmiges Gefühl im Magen, als ich das kleine, runde Ding aus der Tasche des Mantels fische, den ich gestern getragen habe. Es ist keine erfüllte Aufgabe, solange es nicht dokumentiert ist. Was ja auch Sinn macht. Fotos sind okay, aber bei Videos springt viel mehr heraus. Keine Ahnung, warum. Ich puste gedankenverloren Fussel von der Kameralinse und suche dann auf der Rückseite die Schnittstelle. Dann schließe ich das Ding per Kabel an meinen Laptop an. Die Kamera ist nicht meine, sondern gehört zur Ausstattung des Ferienhäuschens. Sie war so auf einem Regal zwischen zwei Büchern versteckt, dass man sie nicht gesehen hat. Immerhin ist sie ein recht einfaches Ding, das das, was es aufnimmt, auf eine SD-Karte speichert, und man gestattet mir, das Video selbst zu übertragen und dann zu bearbeiten, wie ich will. Alles, was drauf sein muss, ist ein Beweis, dass ich meine Chips gegen Sasuke ausgespielt habe. Je mehr Material es gibt, desto mehr bringt es mir ein. Ich spiele alles auf meinen Laptop und stelle nochmal sicher, dass ich auch wirklich die Tür verschlossen habe. Irgendwie macht mich diese Aufgabe paranoid. Wenn mich jetzt jemand spontan besuchen käme, würde ich wohl vor Scham sterben … Zur Sicherheit ziehe ich sogar die Vorhänge zu. Dann beginne ich damit, das Video zusammenzuschneiden. Ich gebe mir Mühe, nicht genau hinzusehen. Alles in mir sträubt sich dagegen. Ich mache das nicht zum ersten Mal, aber es kostet mich trotzdem immer eine Menge Überwindung, ein geheimes Video, in dem ich mit einem Mann schlafe, zu bearbeiten. Es ist, als hätten wir einen Porno gedreht und ich würde ihm den Feinschliff verpassen … Meine Gedanken in eine kalte Ecke meines Verstandes schiebend, schneide ich alle Szenen raus, in denen man meinen Kopf oder generell einen zu großen Teil meines Körpers sieht. Da die Kamera einen fixen Winkel hatte, muss ich manchmal ein wenig tricksen, damit das Bild immer schön unter meiner Halslinie bleibt. Haben wir echt so oft die Stellung gewechselt? Ein weiterer Grund, warum ich diese Beweisvideos verabscheue, ist, dass sie immer eine gewisse Enttäuschung bedeuten. In der Hitze des Gefechts ist mir Sasuke viel muskulöser vorgekommen und … naja. Aus der Ferne wirkt er regelrecht dürr … Wenn er das je herausfindet, bin ich tot, denke ich, während ich noch einmal durch das Video hüpfe. Die meiste Zeit sieht man nur ihn, mich selbst nur ganz kurz und da auch nur von hinten und ohne Kopf. Ich werde langsam ziemlich versiert darin. Das Video muss beweisen, dass wirklich ich die Rolle der Schwarzen Witwe oder der Gottesanbeterin gespielt habe, aber das ist nicht weiter schwierig. Da wird schon für Diskretion gesorgt, denn die beiden Muskelpakete, die ich angeheuert habe, haben das Häuschen im Auge behalten, nachdem wir darin verschwunden sind. Ich habe ihnen dann per SMS ein Zeichen gegeben, und auf dem Video sieht man noch, wie sie Sasuke vermöbeln. Auch da springe ich nur kurz drüber. Das war’s. The End. Die beiden Kerle werden bestätigen, dass niemand außer uns beiden dort drin war. Aufgabe erfüllt. Ich lehne mich seufzend zurück und lasse die Schultern kreisen, dass sie knacken. Jetzt nur noch das Ursprungsvideo löschen – glücklicherweise habe ich nicht die Archivaren-Rolle gezogen – und dann die geschnittene Version zum nächsten Treffen mitbringen. Von meinen Freunden wird sie keiner sehen. Ich habe mich oft gefragt, wer die Leute, die unsere Aufgaben auswerten, eigentlich sind. Im Grunde kann ich sie mir nur als perverse, alte Säcke vorstellen, die viel Kohle und wenig zu tun haben. Und irgendwo müssen die Preisgelder ja auch herkommen. Ich überlege, ob ich vor zwei Jahren so weit gegangen wäre, wie ich es heute tue. Vermutlich nicht. Irgendwann in der frühen Phase des Spiels habe ich wohl Blut geleckt. Ich glaube, nach dem ersten richtigen Jackpot ist uns das allen so ergangen. Ich schaue auf die Uhr und überlege, dass Ino wohl schon wieder wach sein wird.   „Ernsthaft? Ich glaub’s ja nicht!“, lache ich, als mir Ino von Narutos Kostümierung erzählt. „Ich konnt’s zuerst auch nicht glauben“, gluckst sie am anderen Ende der Leitung. „Ich hab ein paar Fotos. Treffen wir uns morgen Nachmittag? Dann zeig ich sie dir. Ich hab immer noch eine Menge Kohle zu verpulvern, also wie wär‘s mit einer kleinen Shopping-Tour?“ Inos Aufgaben haben sie mal wieder in diesen Club geführt, und als Beweis, dass sie diese Aufgabe möglichst korrekt ausführt, hat sie kleines Gerät bekommen, das noch unauffälliger als meine Kamera ist und das sie wie einen Knopf einfach an ihrem Top befestigen kann. Es schießt dann jede Minute ein Foto. Auf die ganze Woche gerechnet kommt sicher eine Menge Material zusammen. Ich frage mich, was die Spielmacher mit einer Horde besoffener Neonazis wollen, aber ich kann mir auf vieles, was sie so tun oder wollen, keinen Reim machen. „Und wie läuft es mit deiner Aufgabe?“, fragt Ino und ich höre ihr Grinsen heraus. „Du musst doch wieder irgendeinen Typen vernaschen, oder? Das ist ja bei deinen Chips ziemlich eindeutig.“ Ich werde es immer bereuen, ihr davon erzählt zu haben. „Ist nichts Besonders“, meine ich. „Ich bin nur froh über meine Zusatzregel.“ „Die Keiner-darf-sterben-Regel? Nimmst du die Chips echt so genau?“ „Naja, eine weibliche Gottesanbeterin reißt dem Männchen schließlich den Kopf ab“, sage ich unbehaglich. „Und eine Schwarze Witwe … tut im Prinzip das Gleiche. Die letzten zwei Mal hatte ich den Sukkubus und den Satyr. Da war es was anderes.“ „Hm“, macht Ino. „Und? Hast du schon ein Opfer?“ Die Sache ist längst über die Bühne gelaufen, denke ich. „Mal sehen. Ich hab eines in Aussicht“, schwindle ich. „Lass dir nicht zu viel Zeit. Am Sonntag ist wieder Stichtag“, sagt sie gut gelaunt. „Übrigens, langsam fällt es auf.“ „Was denn?“ „Die ganzen prickelnden Chips kriegst immer du ab.“ Wieder höre ich ihr unverschämtes Grinsen. „Also, wo wollen wir uns morgen treffen?“, wechsle ich das Thema. Ich denke hinterher noch über Inos Worte nach. Mit einem hat sie recht: Es ist merkwürdig. Von den rund vierhundert Rollen, die es angeblich gibt, habe ich in den ersten zwei Jahren des Spiels immer recht harmlose gezogen. Ich glaube, das Schlimmste war, ein Feuerwerk auf Obdachlose zu schießen – jedenfalls habe ich den Feuerteufel und den Heimatlosen Wanderer so interpretiert. Aber im letzten Jahr sind meine Rollen ziemlich abgedriftet. Da waren plötzlich Sachen mit Drogen dabei, Diebstähle, Körperverletzung, Voyeurismus, und Sex. Ich werfe einen Blick auf meinen Laptop und frage mich, ob das Zufall ist. Oder ob jemand die Chips nach und nach gegen andere austauscht. Oder ob es an mir liegt und an meiner Bereitschaft, die Rollen immer skrupelloser zu interpretieren. Sasukes zerschlagenes Gesicht taucht vor meinem inneren Auge auf. Ich war früher mal so sehr in ihn verknallt, dass ich kaum schlafen konnte. Jetzt ist er ein Opferlamm für mich geworden. Eigentlich war es eine dumme Idee, denke ich mir. Wenn ich mir irgendeinen x-beliebigen Party-Gast aufgerissen hätte, hätte ich ihm einen falschen Namen nennen können, und vermutlich hätte ich ihn nie wieder gesehen. Sasuke hingegen kennt mich – nur habe ich in dem Moment einfach nicht widerstehen können. Natürlich habe ich bemerkt, dass er mich am Anfang immer noch für ein unschuldiges Püppchen gehalten hat. Ich glaube, ich wollte ihm einfach etwas beweisen – und mir selbst. Ich würge den Gedanken energisch ab. Ich habe schon viel zu viel über diese Nacht nachgedacht – und außerdem kann man über Sasuke sagen, was man will, er ist definitiv niemand, der irgendjemanden gleich wegen Körperverletzung vor Gericht schleppt.   „Ich hätte nicht gedacht, dass du mich schon so bald besuchst“, sagt Itachi und lässt eine Augenbraue hochwandern. „Ich auch nicht“, brumme ich und schiebe mich an ihm vorbei in die Wohnung. Hübsch ist sie; mein Bruder verdient genug, um sich ein richtig nobles Heim leisten zu können. Der Grundton ist dunkel, aber edel – dunkles, geöltes Holz, schwarze Vorhänge, Regale und Tischplatten aus Glas auf teuren Stehern. Man sieht von hier die Küchenzeile, und alles blitzt vor sauberem Chrom. Die Deckenlampen sind verschlungene Kunstwerke und mehr hell als warm. Es sieht aus wie eine Wohnung, in der ein Manager seine Gentleman-Freunde mit preisgekröntem Sekt in langstieligen Gläsern verwöhnt. Überflüssig zu sagen, dass die Wohnung riesig ist. Kaum zu glauben, dass Itachi vor wenigen Jahren noch mit seinen zwielichtigen Freunden in einer WG gehaust hat. „Na dann, was hat mein kleiner Bruder auf dem Herzen? Hat er denn schon ein Herz?“ „Sehr witzig“, knurre ich, lasse mich unaufgefordert auf einem der teuren schwarzen Ledersessel nieder und warte darauf, dass Itachi auch mir ein Glas mit Alkohol in die Hand drückt. Er sieht mich stattdessen auffordernd an und wartet, bis ich von selbst zu reden beginne. Soll mir recht sein. „Ich muss meine alten Freunde ausfindig machen.“ „Ist das so schwierig?“ „Sonst wäre ich nicht hier“, schnaube ich. Itachis Adresse habe ich gewusst; er hat ja auch schon hier gewohnt, als ich damals fortgezogen bin. Von meinen Freunden vermute ich das nicht – zumindest nicht von denen, auf die es ankommt. „Was ist mit Handynummern und sozialen Netzwerken?“ „Ich brauche so einen Kram nicht“, brumme ich. „Handys?“ „Soziale Netzwerke“, sage ich ärgerlich. „Verarschst du mich absichtlich?“ „Es kann doch nicht so schwierig sein, alte Freunde aufzutreiben. Muss dir da wirklich dein großer Bruder dabei helfen? Das ist nicht sehr erwachsen, wenn du mich fragst.“ „Ich frage dich aber nicht. Ich hab vor drei Jahren nicht damit gerechnet, wieder zurückzukommen. Und ich will ihre Adressen, nicht ihre Telefonnummern.“ Itachi seufzt, durchmisst die riesige Wohnung und steuert den blitzenden Kühlschrank in der Kochzeile an. „Was zu trinken?“ „Wenn du was da hast.“ Er holt tatsächlich Champagner hervor. „Auf die Rückkehr meines kleinen Bruders“, erklärt er und stößt mit mir an. „Und darauf, dass er sich überhaupt nicht verändert hat und noch immer nicht sagen kann, was er wirklich denkt.“ „Was soll das jetzt schon wieder heißen?“ „Deinen älteren Bruder legst du nicht so leicht herein. Du willst nicht einfach deine Freunde wiederfinden, du suchst einen bestimmten, oder zwei. Und deinem finsteren Gesicht nach hast du irgendeinen Groll auf sie und willst dich für irgendetwas rächen. Der- oder diejenige hat dir also wahrscheinlich übel mitgespielt. Entweder erst kürzlich oder schon vor drei Jahren. Kürzlich, sagt dein Veilchen.“ Volltreffer. „Kannst du mir nun helfen oder nicht?“ Ein Wiedersehen zwischen Brüdern nach drei Jahren sollte wohl gemeinhin etwas herzlicher ausfallen. Würde es nach Itachi gehen, wäre das wohl auch so, aber ich habe keinen Bock, Erinnerungen aufzuwärmen oder groß auf heile Familie zu machen. Itachi hat meine Familie und mich auch mal sitzen gelassen. Er hat zwar immer nur an mich gedacht – behauptet jedenfalls er … und die Umstände. Aber trotzdem, er hat sich nicht sonderlich wie ein großer Bruder verhalten. Auch davon berichten die Umstände. „Und wie genau stellst du dir das vor?“, fragt er und nippt an seinem Glas. „Ich unternehme auch nichts mit deinen Freunden, und eigentlich habe ich andere Sachen zu tun, als ihnen hinterher zu spionieren.“ „Aber du bist Abteilungsleiter in der Sicherheitsabteilung des größten IT-Konzerns der Stadt“, sage ich. „Du wirst doch wohl irgendwelche Möglichkeiten haben, ihre Adressen rauszufinden – oder auch nur, was sie wann planen und wo ich sie allein treffen kann. Hack dich doch in ihre Computer oder so.“ „Du stellst dir das alles sehr einfach vor“, seufzt Itachi. „Ist es das nicht?“ Der Blick, mit dem er mich misst, verärgert mich mehr als jedes Wort. Ich bin also immer noch der uneinsichtige, kleine, dumme Bruder, der keine Ahnung von nichts hat und sich nur aufspielt. Der ein Puzzlestück verflucht und kein Interesse daran hat, das große Ganze zu betrachten. Gerade als ich beschließe, dass das Gespräch sinnlos war, und gehen will, öffnet Itachi seinen Mund. „Vielleicht kann ich da wirklich was machen. Aber ehe ich mich abmühe, zu jedem deiner Freunde etwas rauszufinden, wovon dich das meiste dann doch nicht interessiert, will ich, dass du mir sagst, auf wen genau du es abgesehen hast.“ Es lässt sich wohl nicht vermeiden. „Sakura“, nuschle ich, nachdem ich eine Weile mit mir gerungen habe. „Sakura Haruno? Die kleine Rothaarige?“ „Eher rosa als rot“, schnaube ich. „Ich erinnere mich. Und dieses nette Mädchen hat dir einen Hund angetan?“ „Nett ist sie ganz sicher nicht“, knurre ich. „Nicht mehr. Und ich werde verdammt nochmal genauso wenig nett sein, wenn ich sie in die Finger kriege.“ „Das klingt aber nicht nach Wiedersehensfreude“, seufzt Itachi. „Stimmt. Hilfst du mir jetzt also?“ Und wieder seufzt er. Ich hätte ihm nicht so viel verraten dürfen. Hätte ich gleich gesagt, Itachi, finde raus, wo Sakura steckt, wäre es einfacher gewesen. „Dafür hast du doch deinen großen Bruder, oder? Ich rate dir nur, dir noch ein wenig dein Mütchen zu kühlen, ehe du mit ihr sprichst. Was immer sie getan hat, manchmal ist es besser, ein Problem auszudiskutieren, weißt du?“ Die Geste, mit der er mir auf die Schulter klopft, hätte er sich sparen können, aber ich schweige dazu und stürze meinen Champagner in einem Rutsch runter.   „Herzlich willkommen beim Schicksalslos!“, ruft Olga uns strahlend entgegen und schüttelt freudig ihre blonden Korkenzieherlocken. „Es freut mich, dass Sie alle hier sind! Dann können wir ja direkt anfangen!“ Mit alle meint sie die ganze Truppe, die sich mal wieder im Untergeschoss des bekanntesten Casinos der Stadt versammelt hat. Was mich irritiert, ist, dass es eben nicht alle sind. Sicher, unsere Partie ist vollzählig: Ich bin da, Ino, Hinata, Neji, Naruto, Kiba, Chouji, Tenten, Lee. Aber von den drei anderen Typen, die sich jeden Sonntag hier mit uns getroffen haben, sind heute nur zwei anwesend, die darüber ebenso ratlos wirken wie ich. Ein mulmiges Gefühl ergreift von mir Besitz. Ich schiebe es zur Seite. Darin habe ich langsam richtig Übung. „Dann begeben Sie sich jetzt in die Beweiskabine. Geben Sie dort bitte auch Ihre Chips und Ihre Zusatzkarte ab. Wenn Sie fertig sind, nehmen Sie wie gewohnt in der Runde Platz.“ Der unterirdische Raum ist holzvertäfelt und, obwohl es keine Fenster gibt, von gelben Lampen in angenehmes Licht getaucht. Dieser Bereich des Casinos ist so exklusiv, dass nicht einmal die gewöhnlichen VIP-Gäste Zutritt haben. Dass es uns gestattet wird, an den Security-Typen, Metalldetektoren und Überwachungskameras vorbeizugehen, ist mir immer noch unbegreiflich. Wir müssen nur ein, zwei Mal unsere gezogenen Chips vorzeigen und werden durchgelassen. Auf der anderen Seite haben wir dem Gremium, das dafür verantwortlich ist, ja einiges zu bieten, und erhalten im Gegenzug eine Bezahlung dafür. So gesehen ist es wie ein Geschäftsmeeting. Als das Spiel begonnen hat, haben wir alle Nummern zugewiesen bekommen, anhand derer wir nun eine Schlange bilden. Ich bin die Nummer sieben. Die Sechs vor mir fehlt tatsächlich, und nachdem Ino als Nummer fünf fertig ist, winkt mich Olga eifrig in die Kabine. Die Beweiskabine ist in Wahrheit eine Art Archiv … oder vielleicht sollte ich sie eher mit dem Schließfachraum einer Bank verglichen, denn für jeden von uns gibt es hier ein silbrig blitzendes Schließfach. Olga schließt Fach Nummer sieben für mich auf und ich lege den USB-Stick mit dem bearbeiteten Beweisvideo, meine beiden Chips und die Niemand-darf-Sterben-Karte hinein. Die blonde Betreuerin nickt nur dankend und schließt es wieder ab. Ich weiß nicht, wer es im Endeffekt wieder aufschließen und meine Beweise überprüfen wird, aber ich bin froh, dass ich das Video los bin. Ich habe es jedenfalls so eingerichtet, dass sie zufrieden sein werden. Mein Gewinn wird übermorgen auf meinem Konto eintrudeln. Ich verlasse den Raum und wende mich der Sesselrunde zu. Die Stühle sind fix im Boden verschraubt, so als wollte man hier für größtmögliche Ordnung sorgen. Der Kreis ist um die mechanische Lostrommel angeordnet, durch deren milchige Außenhaut die Umrisse der Chips zu erkennen sind. Auf dem Tisch daneben liegen die Karten mit den Zusatzregeln. Ich überlege, ob der Stapel seit Spielbeginn einmal gewachsen oder geschrumpft ist, kann es aber nicht sagen. Als alle ihre Beweismittel abgegeben haben, stellt sich Olga an die Trommel und lächelt uns nacheinander an. Das tut sie jedes Mal. Ich weiß nicht, ob sie selbst unsere Videos oder Bilder zu Gesicht bekommt, aber wenn, dann lässt sie es sich nicht anmerken. „Also dann, liebe Mitglieder, die heutige Webstunde für Ihr persönliches finanzielles und den Nervenkitzel betreffendes Schicksal ist hiermit eröffnet.“ Olgas Grußworte werden immer ausgefallener. Sie scheint nach drei Jahren zwanghaft zu versuchen, frischen Wind in die Sache zu bringen. „Nummer eins, treten Sie bitte vor.“ Nummer eins ist Tenten. Sie geht zu der Trommel, und Olga lässt diese mit einer Kurbel wirbeln. Tenten fasst hinein und zieht zwei Chips heraus. Als ich ihren Blick sehe, wird mir klar, dass sich das Spiel wieder auf ein neues Level gehoben hat. Tentens Gesicht wird weiß wie geronnene Milch, ihre Augen zucken hin und her, als suche sie nach einem Hinweis darauf, dass sich jemand einen Scherz mit ihr erlaubt. Schließlich begegnet sie Olgas unerschütterlichem Lächeln. Ein weiterer Blick auf die Chips, wie um sich zu überzeugen, dass sie sich nicht irrt. Tenten hat eigentlich auch schon etliche gefährliche Dinge getan, aber so verunsichert hat sie ihr Los noch nie. Als sie wieder aufblickt, gleitet ihr Blick wieder durch die erwartungsvolle Runde und bleibt zufällig an mir hängen. Dann sagt sie nur ein Wort, und selbst das verlässt nur als kraftloses Hauchen ihre Lippen. „Sch-Scheiße …“ Kapitel 2: „Angeblich hat der kleine Uchiha Streit mit jemandem von euch.“ -------------------------------------------------------------------------- „Was denn? Was hast du?“, fragt Kiba. Er ist immer mit Herz und Seele dabei – mit anderen Worten, er ist sehr schnell schockiert über die Aufgaben, die er zieht, erledigt sie dann aber meistens ziemlich gewissenhaft. Tenten schüttelt nur den Kopf und will zu ihrem Platz zurückgehen, aber Olga hält sie auf. „Augenblick! Ihre Zusatzkarte.“ Tenten schluckt und wendet sich dem Kartenstapel zu. Dass sie die Regelkarte vergisst, sieht ihr nicht ähnlich. Die Chips, die sie gezogen hat, müssen sie wirklich aus der Bahn geworfen haben. Olga mischt die Karten mit der phänomenalen Eleganz eines geübten Croupiers und lässt Tenten eine ziehen. Sie wirft kurz einen Blick darauf, aber die kurz aufkeimende Hoffnung in ihrem Blick weicht bald wieder Leere. Was immer ihre Zusatzregel für diese Woche ist, es hilft ihr nicht dabei, die Chips abzuschwächen. Wie ein begossener Pudel trottet sie zurück zu ihrem Platz. „Hey, macht dir keine Sorgen“, flüstert Naruto und knufft sie gegen die Schulter. „Es kommt ja drauf an, wie du die Chips interpretierst. Alles halb so wild.“ „Hm“, ist Tentens einziger Kommentar. Als Nächstes ist Kiba dran. Er grinst, als er sein Los betrachtet, aber nach der Sache mit Tenten kann ich nicht anders, als mich unwohl zu fühlen. Der Verdacht, den ich diese Woche hatte, erhärtet sich. Die Aufgaben werden gefährlicher. Nacheinander ziehen meine Freunde ihr Los. Ich verschlafe fast den Moment, in dem ich drankomme. Olga räuspert sich bereits vernehmlich. Meine Knie sind weich, als ich auf die Lostrommel zutaumle. Nervös stecke ich meine Hand in die Öffnung und grabe darin herum. Meine Finger berühren das kühle Plastik, von dem die nächste Woche meines Lebens abhängen wird. Schließlich schimpfe ich mich ein Weichei und greife entschlossen zu, ziehe alle zwei Chips auf einmal heraus. Atemlos werfe ich einen Blick auf die gemalten Figuren und die verschnörkelten Schriftzüge auf der Vorderseite der Chips. Ein Baseballspieler, der den Ball fortschlägt. Dazu die Bezeichnung Homerun vor dem Gesetz. Und eine Figur, die sich eine freundlich lächelnde Maske vor dem Gesicht wegzieht und darunter teuflisch grinst. Der Verräter. Ich atme tief aus. Na also, ich hätte es viel schlimmer erwischen können. Überhaupt, wovor habe ich Bammel? Wir spielen dieses Spiel schon seit drei Jahren und haben einiges dabei erlebt. Eine Komfortzone gibt es nicht. Und ist es nicht natürlich, dass bei einem Spiel der Schwierigkeitsgrad immer mal wieder ansteigt? Selbst wenn sie die Chips verändern – es wäre doch sonst langweilig, oder? Der Homerun vor dem Gesetz ist ziemlich eindeutig. Stell etwas an und lass dich nicht vor von der Polizei erwischen. Da gibt es haufenweise Möglichkeiten. Am meisten wird es dem Gremium gefallen, wenn ich als Tatwaffe gleich einen Baseballschläger verwende. Ich brauche also nur jemanden auf offener Straße niederzuschlagen und dann die Beine in die Hand zu nehmen. Der Verräter ist schon tückischer. Jemanden zu verraten bedeutet, ihn zu hintergehen, obwohl er einem vertraut. Sprich, ich muss irgendwie meine Freunde enttäuschen … Auch hier sind die Möglichkeiten breit gestreut. Ich kann Neji die Busfahrkarte klauen und dann vor ihm damit angeben, dass ich sie verbrannt habe. Aufgabe gelöst. Auch wenn ich dafür nicht viel Geld bekommen würde. Das Teuflische an diesem Spiel ist, dass am Ende nur ein Chip zählt. Per Zufallsprinzip wird bestimmt, welcher der beiden Chips nun die wahre Aufgabe gewesen ist, und nur wenn man die erledigt hat, bekommt man Kohle zu sehen. Ansonsten läuft man ins Minus, und das Gremium darf ungestraft vom Konto des jeweiligen Spielers abheben. Es gibt mehrere Arten, mit den Chips umzugehen. Je krasser man eine Aufgabe interpretiert, desto mehr schaut dabei heraus. Wenn ich nur den ersten Chip interpretiere und jemanden mit einem Baseballschläger töte – nur als Beispiel – und der Homerun-Chip wird als der Chip gewählt, auf den es ankommt, dann kriege ich vermutlich ein kleines Vermögen. Wenn ich einem Kind den Kaugummi klaue und die Sache mit dem Baseballschläger gar nicht mit einbaue, geben sie mir vielleicht eine paar Münzen als Belohnung. Umgekehrt, wenn ich das Kind beklaue und der Verräter-Chip gewinnt bei der Beurteilung, darf ich einen Haufen blechen, weil ich erstens die falsche Aufgabe ausgeführt habe und zweitens dabei auch noch viel Potenzial für etwas Aufregendes verschenkt habe. Würde ich jemanden erschlagen und der Homerun-Chip wäre trotzdem der falsche gewesen, würden sie mir nur ein bisschen was abziehen, weil ich das, was ich gemacht habe, ziemlich spektakulär gemacht habe. Und natürlich gibt es noch eine Überdrüber-Lösung, und wir alle haben recht schnell herausgefunden, dass das die beste Möglichkeit ist, Kohle zu machen. Man tut etwas, das beide Chips betreffen kann. Die Schwarze Witwe und die Gottesanbeterin von meiner letzten Ziehung haben sich zum Beispiel wunderbar kombinieren lassen. Das war eine sichere Methode, mit einem Plus auszusteigen, und man bekommt dafür angeblich sogar einen Bonus, wenn die Kombination wirklich gut überlegt ist. In meinem Fall müsste ich jetzt also einem meiner Freunde mit dem Baseballschläger eins überziehen. Es versteht sich von selbst, dass das nicht infrage kommt. Also wird es diesmal nur einer der beiden Chips werden. Während Olga die Karten mit den Zusatzregeln mischt, überlege ich mir bereits eine Strategie. Am besten steige ich wohl aus, wenn ich tatsächlich einen Fremden niederknüpple. So was Ähnliches habe ich schon mal getan, es ist also keine große Sache für mich. Selbst wenn dann der Verräter als alleingültiger Chip gehandelt wird, verliere ich nicht viel. Auf der anderen Seite müsste ich meinen Freunden etwas wirklich Schlimmes antun, um mein Konto nicht zu gefährden. Ja, ganz klar. So mache ich’s. Nach drei Jahren hab ich längst den Dreh in diesem Spiel raus. So leicht lasse ich mich nicht kleinkriegen! Dass Tenten dermaßen erbleicht ist, liegt daran, dass sie einfach zu weich ist und keinen Nervenkitzel verträgt, so! Ich ziehe energisch eine Karte aus Olgas Händen und lese mir die Regel durch, die für diese Aufgaben zusätzlich für mich gilt. Und fühle mich wie mit Eiswasser übergossen.   Es ist Sonntagabend und ich schlage mir die Zeit in einer winzigen Bar tot, die ich noch von der Zeit kenne, ehe ich hier fortgezogen bin. Gerade als ich mir meine zweite Kippe anstecken will, klingelt mein Handy. Itachi. „Ja?“, sage ich ins Mikro und ziehe an meiner Zigarette. „Ich habe etwas für dich“, sagt er. „Wird auch Zeit.“ Wieder dieses Seufzen. Seit wir uns nach seiner Aktion damals ausgesprochen haben, seufzt er öfters, wenn er mit mir redet. Es macht mich wahnsinnig. Es gibt mir das Gefühl, nicht zu genügen – wem auch immer. Ihm, unseren Eltern oder mir selbst. „Die Woche war sehr stressig. Ich habe erst gestern und heute Zeit gefunden. Sei mir lieber dankbar; ich wollte die Nacht schon durchmachen, da bin ich auf was gestoßen“, sagt er. Soll ich wirklich dankbar sein, dass bei ihm trotzdem die Arbeit vorgeht? „Und was ist das?“ „Leider nichts zu Sakura selbst, aber …“ „Was rufst du mich dann an?“ Wieder ein Seufzen. „Lass mich doch wenigstens ausreden. Ich habe die Nummer von jemand anderem herausgefunden. Die von diesem Kiba Inuzuka. Und wenn ich mir sein Facebook-Profil ansehe, gehört er noch immer zum harten Kern der Leute, die gelegentlich etwas mit Sakura unternehmen.“ „Du schlägst also vor, dass ich ihn anrufe und ihn dann nach Sakura frage?“ Eigentlich ist es gar keine so dumme Idee, wenn ich genauer darüber nachdenke. Falls Kiba sich nicht auch um hundertachtzig Grad gewandelt hat, gehört er zu den Leuten, die freimütig jede Information über andere ausplappern, wenn man sie richtig danach fragt. „Seine Nummer herauszufinden war übrigens nicht schwierig. Würdest du dich auch auf Facebook tummeln, bräuchtest du dich nur durch ein paar öffentliche Informationen von ihm zu klicken.“ „Du sagst also, dass du nur ein paar Daten im Internet angeklickt hast, um mir zu helfen?“, frage ich kalt. „Vielen Dank auch. Ich wusste ja gar nicht, dass ich dir so wichtig bin, dass du dich gleich ein paar Tage nach unserer Unterhaltung vor den Computer setzt und Facebook-Profile liest. Und dann lieferst du mir sogar noch Infos zu jemandem, der nur manchmal mit Sakura Kontakt hat. Wirklich; vielen, vielen Dank.“ Bei Itachis nächsten Worten wird auch sein Tonfall abfällig. „Ich weiß nicht, wie du das siehst, Sasuke, aber wir haben, glaube ich, keinen geschäftlichen Vertrag oder etwas in der Art abgeschlossen, der mich dazu verpflichtet, innerhalb einer gewissen Zeit genau diese und jene Ergebnisse zu beschaffen, damit ich auch ja meine Bezahlung nicht in den Wind schreiben kann.“ „Wär dir das lieber gewesen?“, frage ich spitz. Es wirkt fast so, als würde er zugeben, dass ihm das Geschäftliche wichtiger ist. „Du verlangst etwas von mir, um das du dich ruhig selbst kümmern könntest“, sagt Itachi, immer noch so ruhig und kühl wie ein Gebirgssee. „Und du spannst mich für deine persönlichen Rachegelüste ein. Verzeih, wenn ich nicht der Meinung bin, ich müsste dir dabei helfen, um als Nebeneffekt die Welt zu retten. Willst du Kibas Nummer jetzt oder nicht?“ „Damit du dich auf die faule Haut legen kannst und endlich Ruhe vor mir und meinen persönlichen Rachegelüsten hast?“, knurre ich ungehalten. Ich gebe zu, dass ich schon etwas getrunken habe. Vielleicht wäre ich unter anderen Umständen nicht ganz so gereizt von alledem. Als mir der Gedanke kommt, seufze diesmal ich. „Okay, sorry. Gib mir die Nummer, und ich sehe, was ich selbst herausfinde.“ Er wartet, als wäre er nicht sicher, ob ich es ernst meine. Schließlich gibt er mir die Nummer durch. Ich bedanke mich – was mir erstaunlich schwer fällt –, lege auf und beschließe, trotz meiner Gemütslage gleich mal Kiba wegen Sakura zu belästigen.   Sakura macht gerade Anstalten, sich auf ihren Stuhl zu setzen, und Naruto ist schon aufgestanden, um nach ihr zu ziehen, als Kibas Handy klingelt. Ich erschrecke fürchterlich bei dem plötzlichen, schrillen Ton. Ich fühle mich sowieso immer angespannt, wenn die Lostrommel geschüttelt wird. Neji, der neben mir sitzt, fährt auch zusammen. Mein Cousin ist an Abenden wie diesem auch immer ziemlich schreckhaft. „Sorry“, sagt Kiba und sieht auf sein wie verrückt bimmelndes und vibrierendes Mobiltelefon. Seine Stirn zerfurcht sich, als würde er die Nummer nicht kennen. Mich wundert eher, dass er in diesem Bunker überhaupt Empfang hat. Obwohl Olga irgendwann mal gesagt hat, dass sie keine Störungen im Ablauf des Losziehens wünscht und ihn auch jetzt finster anblickt, hebt er ab mit den Worten: „Hey, ich kann grad nicht, wer … Sasuke?“, stößt er überrascht aus. „Im Ernst? Alter, von dir hört man ja gar nichts mehr!“ Mir entgeht nicht, dass Sakura wie von der Tarantel gestochen zusammenzuckt und ihn entgeistert anstarrt. Sie bleibt stehen, als hätte sie vergessen, dass sie eben noch dabei war, in ihren Sessel zu sinken und für den Rest der Auslosung aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit zu fliehen. Nicht nur sie ist überrascht. „Sasuke? Echt jetzt?“, ruft Naruto und läuft zu ihm, als könnte er damit auch näher bei seinem alten Freund sein. „Wo steckt er? Warum ruft er dich auf einmal an?“ „Kiba! Naruto!“, zischt Ino zornig und deutete mit dem Kinn auf Olga, die bereits genervt hüstelt. „Ja, okay, sorry“, brummt Kiba. „Hey, Sasuke, ich würd gern mit dir reden, aber es geht grad nicht. Ich ruf dich zurück, wenn ich unterwegs bin, okay? Nein, es geht wirklich nicht. Ja, mach ich. Bis dann.“ Er legt auf. „Habt ihr gewusst, dass Sasuke wieder in der Stadt ist?“, fragt er erstaunt in die Runde. Alle schütteln den Kopf, Sakura etwas später als die anderen. „Können wir dann?“, fragt Olga säuerlich und auch die zwei jungen Männer, die noch in unserer Runde sitzen und die wir alle nicht kennen, sehen genervt aus. „Logo.“ Naruto eilt zu der Lostrommel, um sich seinem Schicksal zu stellen, wie Neji es einmal ausgedrückt hat.   Es ist halb zwölf und somit hat es länger gedauert als üblich. Im Casino herrscht noch Hochbetrieb, als wir mit dem Aufzug aus dem Kellergeschoss fahren. Die bulligen Securitys mit ihren verkabelten Ohren und den edlen Fracks geleiten uns in die Haupthalle, wo sich wohl Hunderte von Leuten in bunter Abendgarderobe um Blackjack- und Roulettetische tummeln. Wir sind fürs Erste bedient, was Glücksspiele angeht. So viel Nervenkitzel wie wir haben diese Leute wohl nach zwanzig Casinobesuchen nicht. Meine Gedanken kreisen nicht mehr nur um Homeruns und Verräter und um diese verdammte Regelkarte, die ich gezogen habe. Es ist noch etwas anderes dazugekommen, das mir mentales Bauchweh verursacht. Wir holen unsere Mäntel an der Garderobe ab und treten in die eisige Nachtluft hinaus. Die Innenstadt ist hell erleuchtet, und auch hier ist noch viel los. Die beiden anderen Mitspieler, die wir nur vom Sehen her kennen, machen sich aus dem Staub wie immer – der Erste ohne irgendeine Form des Abschieds, der andere nickt uns immerhin zu. „Okay, jetzt mach’s nicht so spannend!“ Naruto reibt sich vorfreudig die Hände. Vor seinem Mund dampfen Atemwölkchen. „Ruf Sasuke zurück, los!“ „Jaja“, mault Kiba, holt sein Handy raus und hält dann inne. „Warum rufst du ihn nicht an? Ich geb dir die Nummer.“ „Noch besser! Her damit!“ „Es wird schon einen Grund haben, warum Sasuke Kiba angerufen hat“, ermahnt Neji die beiden. „Er sollte die Nummer nicht einfach so weiterreichen.“ „Auch gut, Frau Lehrerin“, brummt Kiba. Können sie die Sache nicht einfach blieben lassen? Können sie es nicht einfach als Telefonstreich abtun? Nach dem zweifelhaften Glück, das ich heute gehabt habe, verkrafte ich eine Konfrontation mit Sasuke nicht – auch nicht, wenn ich nur einem Telefonat zuhöre. Wie kommt er an Kibas Nummer? Ich meine, es war ja nur eine Frage der Zeit, bis er mit uns Kontakt aufnimmt, aber … „Wir sollten uns beeilen und zur Haltestelle gehen. Der nächste Bus kommt sicher bald“, versuche ich das Thema von unserem verloren geglaubten Freund wegzulenken. „Kein Problem, wir können auch mit dem Taxi fahren.“ Chouji deutete auf die gelben Wagen, von denen gleich mehrere hintereinander am Straßenrand warten. „Ich lade euch ein, wenn ihr wollt. Ich glaube, ich habe demnächst wieder ordentlich was auf meinem Konto.“ Er lächelt, als er das sagt. Wahrscheinlich rechnet er sich schon die Grillplatten aus, die er mit seinem neuen Einkommen spachteln kann. Ich würde ihm im Moment am liebsten ins Gesicht schlagen. Für die nächsten Tage möchte ich nichts mehr von Geld oder diesem Spiel oder von Sasuke hören! „Wenn Chouji das schon anbietet …“, meint Ino gut gelaunt. „Muss morgen jemand von euch arbeiten? Sonst können wir den heutigen Abend auch noch begießen.“ Offenbar hat sie mehr Glück bei den Chips gehabt als ich. Ein paar melden aber, dass sie lieber bald ins Bett kommen wollen, mich eingeschlossen. „Also ich rufe Sasuke jetzt zurück“, verkündet Kiba. „Also wartet noch kurz.“ „Warte“, sage ich. „Wenn er wirklich nur mit Kiba reden will, dann sollten wir nicht alle zuhören. Ruf ihn doch zurück, wenn du daheim bist.“ Naruto sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Was soll das heißen? Ich will verdammt nochmal wissen, warum Sasuke wieder hier ist und wie es ihm geht!“ „Bringt es schon hinter euch“, seufzt Neji. Selbst die Stimme der Vernunft ist gegen mich. Ich werfe Tenten einen hilfesuchenden Blick zu, doch sie ist ganz apathisch, seit sie ihre Hand wieder aus der Lostrommel gezogen hat – als hätte man ihr dort drin ein langsam wirkendes Gift injiziert. Ihr Gesicht sieht ganz grau aus, oder liegt das am Licht? Kiba hat das Handy schon am Ohr und ich ahne, dass das jetzt meine letzte Chance ist. „Warte – sag ihm nicht, dass ich auch hier bin!“ Ich bin mir sicher, dass Sasuke das fragen wird. „Hä? Wieso?“, fragt Kiba, während offensichtlich bereits die Verbindung aufgebaut wird. „Ist doch egal, bitte!“ „Okay, okay … Sasuke? Ja, genau, ich bin’s. Sorry, jetzt können wir quatschen, so viel zu willst.“ Während er mit ihm redet, wird mir ganz schlecht. Ich denke an sein mysteriöses Lächeln letzten Dienstag, an seine warmen, starken Hände, an seine Lippen und den Geruch seines Schweißes, dann an sein Gesicht, wie es zerschlagen und blutig und geschwollen ist, und dann an das Video von ihm, das ich ohne sein Wissen aufgenommen und bearbeitet und gerade eben dem Gremium zur Beurteilung vorgelegt habe. „Ja, ja, alles klar. Klar, können wir gern mal wieder machen. Ja, das bereden wir am besten mal bei einem Bier oder so.“ Kiba lacht. „Ja, klar. Ja, ich bin gerade mit ihnen unterwegs. Sicher haben wir noch Kontakt. Du wirst dich schnell wieder eingewöhnen, es ist … Was? Ähm, mit Naruto – der will übrigens auch mit dir reden, ist es okay, wenn ich ihm deine Nummer gebe? Super. Ja, Ino gibt’s auch noch. Und Neji und Hinata und Chouji und Tenten und Lee sind auch hier. Sakura?“ Er sieht mich mit bohrendem Blick an. Seine Zunge wirkt schwer bei seinen nächsten Worten und ich hoffe, dass Sasuke ihn nicht durchschaut. „Nein, die ist nicht da. Keine Ahnung, wo sie steckt. Nein, das ist schon eine Weile her. Aber ich könnte dir ihre Nummer geben …“ Ich mache hektisch verneinende Armbewegungen. Er versteht. „Okay, doch nicht, sorry. Ich hab ein neues Handy und hab ihre Nummer noch nicht eingespeichert. Ja, am besten fragst du Naruto, ob er sie hat. Alles klar, Mann. Danke, noch ‘nen schönen Abend. Klar, bis dann.“ Als Kiba auflegt, merke ich, dass ich die ganze Zeit den Atem angehalten habe. „Sag mal, was sollte das überhaupt?“, fragt er gereizt. „Ich mach mich komplett zum Affen wegen dir.“ „Würd mich auch interessieren“, mischt sich Ino ein. „Ist doch egal. Können wir jetzt bitte gehen? Ich erklär’s euch ein andermal“, sage ich missmutig und setze mich schon mal in Richtung Bushaltestelle in Bewegung. „Aber Sakura, wir nehmen doch die Taxis“, ruft Lee. „Ich nicht. Ich fahre mit dem Bus.“ „Warte mal. Was ist los?“ Naruto läuft mir hinterher. Ich seufze. „Nichts. Schlechte Chips, klar? Ich hab keine Lust, nach so einem Tag alte Geschichten aufzuwärmen, okay?“ Er sieht mich an und seine ehrlichen Augen wirken nicht überzeugt. „Wenn Sasuke mich nachher auch anruft … soll ich auch sagen, dass ich nicht weiß, wo du bist oder was deine Nummer ist?“ Ich stöhne und fahre mir mit den Fingern durch die Haare. „Ja. Nein.“ Es hilft ja alles nichts, irgendwie wird er mir schon auf die Schliche kommen. „Mir doch egal, mach, was dir gerade einfällt.“ Unsere Stadt ist groß, aber wenn ich Sasuke schon in den ersten Tagen nach seiner Rückkehr auf einer Party treffe, dann ist es wohl sowieso äußerst unwahrscheinlich, dass ich ihn nicht wiedersehe, solange wir beide leben. Naruto sieht mich bohrend an und verkündet dann: „Ich bringe Sakura nachhause. Fahrt ihr ruhig ohne uns.“ „Danke, das muss nicht sein“, sage ich. „Doch. Dir geht’s nicht gut.“ „Mir geht’s bestens! Hör auf, mich zu bemuttern!“, fauche ich ihn an und er zuckt zurück. „Ich wollte doch nur …“ „Ich weiß!“ Ich hole tief Luft und sage sanfter: „Ich weiß. Danke. Aber ich möchte ein bisschen allein sein. Verstehst du?“ Er ringt mit sich, dann sagt er: „Ruf mich an, wenn du daheim ist, okay?“ „Von mir aus.“ „Wenn du mich nicht anrufst, rufe ich dich an“, droht er. „Ich hab‘s ja verstanden.“ Ich bringe ein seichtes Lachen zustande. Wenn er mit mir telefoniert, kann Sasuke ihn nicht anrufen … Was für ein bescheuerter Gedanke. „Okay, dann gute Nacht.“ „Nicht gute Nacht. Bis nachher.“ „Alles klar, bis nachher.“   Bis auf Chouji sind wir ein reines Mädchentaxi geworden. Das heißt, außer mir ist nicht nur Hinata mit von der Partie, sondern auch Tenten. Chouji sitzt vorne – ich als seine beste Freundin kann mir wohl erlauben zu behaupten, dass wir sonst hinten zerquetscht worden wären –, und die anderen beiden schweigen beharrlich. Was zumindest Tenten nicht ähnlich sieht. Sie und ich sind nicht gerade beste Freundinnen. Nicht, dass ich sie unsympathisch finde, wir haben nur wenig miteinander zu tun. Ich glaube, das kommt daher, dass Tenten meistens mit Kerlen abhängt. Ich tu mir irgendwie schwer, ein Gesprächsthema bei ihr zu finden. Aber ich bin ja kein Unmensch. Selbst ein Blinder mit Krückstock würde sehen, dass sie echt miese Chips gezogen hat. Ein wenig seelischen Beistand kann ich ihr ja wohl leisten – sieht ohnehin so aus, als bliebe das an mir hängen. „Alles klar?“, frage ich sie, während die Lichter der Straßenlaternen an den Autofenstern vorbeifegen. Sie schrickt aus ihren Gedanken hoch. „Was? Ja, sicher.“ „Und wirklich?“ Keine Antwort. „Hey, was ist los? Welche Chips hast du gezogen? Oder darfst du mir das nicht verraten?“ Wir dürfen die Chips, die wir ziehen, bis zum nächsten Sonntag behalten, und es ist uns im Normalfall auch gestattet, den anderen davon zu erzählen. Ich weiß aber aus eigener Erfahrung, dass es zumindest eine Regelkarte gibt, die es einem verbietet, die Wahrheit über die gezogenen Chips zu sagen. „Sag schon“, dränge ich sie neckisch, als sie immer noch apathisch schweigt. „Sonst breche ich bei dir ein und stell deine Wohnung auf den Kopf, und dann weiß ich es so der so.“ Tenten lächelt gequält. Das eben war keine leere Drohung. Es gibt die Chips und die Karten. Jede Woche ziehen wir davon einen neuen Satz. Und dann gibt es noch die Rollen, die wir seit drei Jahren über die gesamte Spieldauer befolgen müssen. Ich zum Beispiel bin die Nymphomanin – sehr schmeichelhaft –, und wir kennen sogar die der beiden unbekannten Mitspieler. Tenten hat vor drei Jahren die Rolle der Archivarin zugeteilt bekommen. Ähnlich wie die Regelkarten erlauben sie keinen Interpretationsspielraum: Tenten muss alle Aufzeichnungen, die sie über ihre Missetaten gemacht hat, um Geld vom Gremium zu bekommen, in Kopie behalten. Einfach gesagt, darf sie keine Beweise vernichten, egal worum es geht, sondern muss alles in einem unverschlossenen Behälter aufbewahren, der gut sichtbar in ihrer Wohnung steht. Soweit die Regel, und nach allem, was ich weiß, befolgt Tenten sie auch. Plötzliche unangekündigte Stichproben hat es schon ein paarmal für sie gegeben. „Also. Schlechte Chips?“, frage ich. Auch Hinata hat sich uns zugewandt, und Chouji beginnt plötzlich, mit dem Taxifahrer über irgendetwas Belangloses zu reden, betont laut und wie ein Wasserfall, sodass wir hier hinten ungestört reden können. „Scheiß-Chips“, gibt Tenten zu. „Ich hab nicht mal gewusst, dass es solche überhaupt gibt … Sie sind total heftig. Ich weiß echt nicht, was ich mit denen machen soll.“ Sie kratzt sich hilflos die Kopfhaut. „Kannst du nicht irgendwie versuchen, sie ein bisschen … milder zu interpretieren?“, fragt Hinata vorsichtig. „Ich wüsste nicht, wie. Ich hab den Henker gezogen. Und das Russische Roulette.“ „Autsch“, murmel ich. „Das ist echt … wow.“ Mir fehlen die Worte. „Russisches Roulette?“, fragt Hinata. Damit Tenten nicht antworten muss, übernehme ich das. „Noch nie davon gehört? Du nimmst eine Pistole, steckst genau eine Patrone rein, richtest sie auf deinen eigenen Kopf und lässt die Trommel rotieren. Dann drückst du ab und hoffst, dass du dich nicht selbst erschießt.“ Hinata reißt die Augen auf. „Aber das … das ist doch …“ „Furchtbar“, seufzt Tenten. „Und der Henker bedeutet nichts Geringeres, als dass ich jemanden umbringen soll. Das kann man ja wohl nicht missverstehen. Tolle Aussichten.“ „Mal nicht gleich den Teufel an die Wand“, sage ich. In Wahrheit beneide ich sie kein bisschen. „Und deine Regelkarte? Hilft dir die nicht weiter?“ Tenten schnaubt. „Verkleide dich als Superheld, wenn du losschlägst.“ „Na, das ist ja wohl total unnötig“, seufze ich. Tenten nickt. „Ich hab die Chance, mir selbst das Hirn wegzublasen, oder jemand anderen umzubringen. Ich bin erledigt.“ „Nicht so schnell“, sage ich. „Ich dachte, du bist eine echte Kämpfernatur? Denken wir darüber nach und finden wir einen Weg, das anders zu interpretieren.“ „Und wie?“, ruft sie aus. „Wie kann man den Henker anders verstehen?“ „Den Henker vielleicht nicht, aber das Russische Roulette. Sieh mal, Hinata hat gar nicht gewusst, was das ist. Tu doch einfach so, als würdest du es wörtlich interpretieren. Mach einen Trip nach Moskau und geh dort in ein Casino. Oder leg dir einen russischen Akzent zu und spiel hier Roulette. Es gibt einen Haufen Möglichkeiten.“ Tenten sieht mich zweifelnd an. „Danke, dass du versuchst mir zu helfen, aber das ist garantiert nicht, was die sehen wollen. Wo bleibt da die Spannung?“ „Vergiss die Spannung“, sage ich schnippisch. „Wenn sich das Gremium wie ein Haufen Arschlöcher benimmt, müssen sie sich halt auch mit sowas begnügen. Dann kriegst du eben statt ein paar Tausend nur ein Trinkgeld.“ „Und wenn dann der Henker-Chip als gültig ausgelost wird? Wenn ich für den Russen etwas Einfaches mache und der Gewinnerchip was Extremes ist, kann ich das nie im Leben bezahlen! Ich steh bei denen doch eh schon in der Kreide!“ „Du sollst nicht gleich den Teufel … Was hast du gesagt?“ Ich starre sie erschrocken an. „Wie viel schuldest du ihnen?“ „Hundertzwanzigtausend“, brummt Tenten missmutig. Ich bewundere sie plötzlich für ihre Tapferkeit. Wir reden alle nicht über unsere finanziellen Errungenschaften bei dem Spiel – aber es gibt einige, die bei einem solchen Minus in Tränen ausgebrochen wären, die Jungs eingeschlossen. „Hundertzwanzigtausend? Tenten …“, haucht Hinata. „Du veralberst uns gerade“, murmle ich. „Nein, verdammt!“ Sie wirft verzweifelt die Arme in die Luft. „Ich hab die vorletzten zwei Wochen Pech gehabt, okay? Ich hab auch versucht, den Schaden so klein wie möglich zu halten. Keine Passanten ausrauben, keine Pensionisten erschrecken. Und jedes Mal hätte der andere Chip gewonnen und sie haben mir einen Batzen Geld als Strafe aufgebrummt. Das hab ich jetzt davon. Verdammt nochmal!“ Sie schlägt wütend mit der Faust gegen die Wagendecke. „He, he“, macht der Taxifahrer, der offenbar nicht länger Chouji zuhört – aber bei unserem Lärm ist das verständlich. „Lassen Sie uns bitte hier aussteigen“, sage ich. „Chouji, übernimm bitte die Kosten.“ „Klar.“ Hinata steigt mit uns aus, als das Taxi an der nächsten Straßenecke anhält. Von hier aus ist es nicht weit bis in meine Wohnung. Ich beschließe, die Mädels auf ein paar Drinks einzuladen. „Ich hab’s auch dieses Mal nicht geschafft, alle zwei Chips unterzubringen“, fährt Tenten fort und redet sich richtig in Rage. Wahrscheinlich tut es ihr gut, das eisige Gefühl der Ohnmacht als heißen Dampf abzulassen. „Wenn ich diesmal kein Plus mache, bin ich sowas von erledigt! Aber selbst wenn, ich kann da allerhöchstens zwanzigtausend rausschlagen, und das ist schon eine utopische Vorstellung. Olga hat mir schon einen blauen Brief geschrieben und mir brühwarm erklärt, dass ich so richtig im Arsch bin, wenn ich mehr als hundertfünfzigtausend ins Minus komme.“ Ich schlucke. Noch hat es keinen von uns so schlimm erwischt, und es hat uns auch niemand gesagt, was passiert, wenn wir uns verschulden. Nur, dass es unangenehme Folgen für uns hätte. Ich denke an den Typen, der heute einfach nicht mehr gekommen ist. Scheiße. Genau. Tentens Ausruf vor der Lostrommel hat ihre Situation ziemlich gut zusammengefasst. „Hm“, mache ich. „Und Russisches Roulette und Henker sind beides hochkarätige Chips, mit Sicherheit! Wenn ich da das Falsche erwische, würde ich sicher von null auf minus hundertfünfzigtausend kommen … Aber was rede ich, ist ja nicht so, als hätte ich überhaupt die Wahl! Ich kann keine von diesen verdammten Sachen machen! Ich bin geliefert!“ „Jetzt komm mal wieder runter“, sage ich. „Du kannst immer noch das Schlupfloch mit den Russen nehmen und hoffen, dass das Russische Roulette der gültige Chip wird.“ „Ja, hoffen. Ganz toll“, knurrt sie. Wir erreichen bald darauf meine Wohnung und ich bugsiere Tenten mit sanfter Gewalt hinein. „Kommt. Wir trinken was und schlafen eine Nacht darüber, und dann überlegen wir uns, wie wir dich da rausboxen. Wenn alle Stricke reißen, helfen wir dir mit Geld aus.“ Tenten ist nicht überzeugt, dass wir eine Lösung finden, das sieht man. Und ehrlich gesagt, ich auch nicht.   Im Bus lasse ich die Geschehnisse der letzten beiden Stunden Revue passieren, während draußen die Laternen und Reklameschilder an mir vorbeirauschen und zu einem Pudding aus bunten Lichtspritzern werden. Ich fühle mich wie auf einer Reise durch Götterspeise in allen Regenbogenfarben. Der Anblick beruhigt mich etwas. Auch im Inneren des Busses ist es relativ still, und ich kann meine Gedanken ordnen. Sasuke hat am Telefon eindeutig nach mir gefragt. Natürlich hat er das. Wenn er schon mal Kiba an der Strippe hat, bleibt ihm nach Dienstagnacht gar nichts anderes übrig, als sich nach mir zu erkundigen. Was habe ich mir nur dabei gedacht, ihn als Opfer zu nehmen? Gar nichts. Ich habe ihn nach wie vor heiß gefunden, die Gelegenheit hat sich geboten … und ich wollte ihm zeigen, dass ich nicht mehr das unschuldige, verträumte Mäuschen von früher bin. Ganz toll gemacht, Sakura. Dabei hätte ich letzte Woche noch die Wahl gehabt. Ich atme tief durch und fühle mich elend. Eine Konfrontation mit Sasuke allein hätte ich vielleicht noch irgendwie überlebt. Zumindest die Sache mit dem Video wird er ohnehin nicht erfahren, und für den Rest fällt mir vielleicht eine Geschichte ein. Auch wenn er jedes Recht hat, stinkwütend zu sein, kann ich vielleicht mit ihm reden. Vielleicht im Beisein von Naruto … Nein, das wäre auch nicht gut. Erstens würden sich die beiden nur gegenseitig aufstacheln. Zweitens brauche ich seine Hilfe nicht. Ich werde mit Sasuke doch wohl allein fertig! Mit dem Mann, den ich immer für so wild und gefährlich und cool gehalten habe und der nicht halb so viele gefährliche Dinge, die äußerste Coolness erfordern, hinter sich gebracht hat wie ich! Nein, Sasuke allein ist nicht das Problem. Das richtige Problem ist mein Los für diese Woche. Genauer gesagt, die Zusatzregel. Homerun vor dem Gesetz. Kein Problem. Verräter. Kommt wenn, dann nur abgeschwächt in Frage. Beides kombiniert sicher nicht. Ich habe eigentlich einen wildfremden Mann auf der Straße mit einem Baseballschläger vermöbeln wollen. Dabei hätte die meiste Kohle herausgeschaut. Und dann ist die Zusatzregel ins Spiel gekommen. Das Gremium wählt dein Opfer aus. Allein bei dem Gedanken daran schüttelt es mich noch. Scheiße! Scheiße, Scheiße und nochmal Scheiße! Sie lassen mich nicht einfach irgendjemanden verprügeln, sie schreiben mir die Person vor! So etwas ist schon ein paarmal in dem Spiel vorgekommen. Es gibt einige solcher Karten im Stapel. Sicher gefallen die einzigartigen Möglichkeiten, die sie bieten, den reichen alten Säcken. Und jedesmal war das Opfer, das sie gewählt haben, jemand aus der Runde. Mit anderen Worten, sie wollen mich zwingen, Hinata zu verprügeln oder Ino oder Neji. Da kann ich genauso gut den Verräter nehmen und demjenigen die Brieftasche klauen. Und wenn der Homerun nächste Woche als gültiger Chip gewählt wird und nicht der Verräter, dann kann ich blechen … Ich finde keine Lösung für mein Dilemma. Vielleicht hätte ich früher die mögliche Strafe auf mich genommen, um meine Freunde zu schützen, aber diesmal stecke ich wirklich in einem Zwiespalt. Als ich endlich zu meiner Wohnung komme, bin ich fast versucht, die Tür einzutreten, weil der blöde Schlüssel mal wieder nicht beim ersten Mal aufsperrt. Ich werfe mich auf mein Bett und stoße einen kleinen Schrei aus. Nachdem ich mich beruhigt habe, sage ich mir, dass es am schlauesten ist, auf die Nachricht vom Gremium zu warten, die mir meine Zielperson mitteilt. Wie ich so im Bett liege, vibriert mein Handy. Naruto, wie versprochen. Ich habe keine Lust, mit ihm über meine Probleme zu reden. Energisch drücke ich ihn weg und schalte das Ding aus. So kann mich auch Sasuke nicht erreichen. Irgendwo zwischen Groll und Selbstmitleid sinke ich in Orpheus‘ Arme.   Ich gehe allein nachhause. Ino hat beschlossen, dass Tenten heute bei ihr schlafen darf. Und Tenten hat gemeint, sie hätte keine Lust auf das Geschnatter ihrer WG-Kollegen und es wäre ihr ganz recht, noch ein wenig mit Ino zu trinken. Ich habe das eine oder andere Glas mitgetrunken und meine Schritte fühlen sich ziemlich leicht an. Tenten tut mir leid. Ich selbst habe immer ziemlich Glück gehabt und die Chips, die ich erledigt habe, sind dann tatsächlich gewählt worden. Allerdings habe ich mit meinen Aktionen nie sonderlich viel Geld gemacht. Ich fahre noch ein paar Stationen mit dem Nachtbus und bete, dass Ino und Tenten gemeinsam etwas aushecken können. Von Ino weiß ich, dass sie selbst ziemlich viel Geld gemacht hat. Sie hat es uns bereitwillig erzählt, als wir zum Casino gefahren sind. Sie hat Fünf Tage im Alkohol und Fremdenfeindlich hoch zehn ziemlich clever kombiniert und einen kurzfristigen Job als Kellnerin in einem Club gefunden, der als Treffpunkt von Neonazis gilt. Dort war sie jetzt schon zwei Mal sozusagen undercover. Sie meint, selbst wenn sie ihr dafür weniger als einen Tausender zahlen, hätte sie trotzdem ein hübsches Plus gemacht: Die Arbeit war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hat, sie hat um die zweihundert als Bezahlung bekommen und nochmal in etwa dieselbe Menge als besonderes Trinkgeld – wobei sie niemandem verraten hat, was das Trinkgeld so besonders machte, außer dass es ziemlich viel war. Bis ich daheim ankomme – ich wohne bei meiner Schwester und meinem Vater –, überlege ich mir, wie ich meine eigenen neuen Aufgaben angehen könnte.   Ich glaube, er merkt, dass mich irgendetwas beschäftigt. Selbst einem emotionalen Vollpfosten wie ihm muss auffallen, dass ich dieses Mal viel deutlicher die Initiative ergreife als sonst. Und dass ich schon mal sanfter war. Die Matratze unter uns quietscht jedenfalls ziemlich laut. Er beugt sich vor, presst sein Gesicht gegen meine Brüste und beginnt an meinen Nippeln zu knabbern. Ich seufze auf, ehe ich ihn wieder nach unten stoße und mir weiter Mühe gebe, mich völlig auszupowern. Seine Hände klammern sich heute nicht fest genug um meine Hüften, und ich presse meine dagegen, wie um den Druck zu verstärken. Ich beiße die Zähne zusammen, als ich merke, dass ich wütend fluchen will. Tenten hat sich bis in die frühen Morgenstunden bei mir ausgeheult – ich hätte nicht gedacht, dass ich ihr so geduldig zuhören könnte. Sie hat dann bei mir übernachtet und ist grübelnd irgendwann am Nachmittag abgerauscht, und seitdem habe ich ebenfalls weiter darüber nachgegrübelt. Bin ich nicht eine gute Freundin? Obwohl ich mir langsam meine eigene Strategie überlegen sollte, versuche ich pausenlos, einem Mädchen zu helfen, das einfach nicht so risikobereit war wie ich und sich in eine Unmenge an Schulden geritten hat. Sein Stöhnen holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Ich habe mich eigentlich mit ihm getroffen, um mal abzuschalten und den Frust über mein ergebnisloses Hirnzermartern zu vernichten. Jetzt bin ich wütend, als es viel zu schnell vorbei zu sein droht. Ich lasse mein Becken langsamer kreisen und beuge mich zu seinem Gesicht hinunter, dass ich die Schweißperlen auf seiner Stirn glitzern sehe und er meine. Sein Atem riecht nach Wein. Ich kralle die Fingernägel in seine Schultern, damit er ein kurzfristiges Andenken an heute hat. Als es vorbei ist und ich meine Bluse zuknöpfe, sagt er: „Heute stimmt was nicht mit dir.“ „Ach ja? Verträgst du es nicht ab und zu ein wenig härter?“ „Bedrückt dich irgendwas? Das war ja fast so, als hättest du mich als Sandsack benutzt. Oder als so eine Stresspuppe.“ Ich schieße einen säuerlichen Blick auf ihn ab. „Du bist nur mein Fickfreund. Du hast keinen Grund, dir über meine Probleme den Kopf zu zerbrechen.“ „Wenn du mir deswegen fast die Haut von den Knochen ziehst, dann schon“, meint er und betastet mit übertrieben schmerzverzerrtem Gesicht die roten Furchen, die ich in seine Schulterblätter gezeichnet habe. Ich zucke mit den Achseln und suche den Rest meiner Klamotten zusammen. Das fehlt mir gerade noch, dass ich dem unsensibelsten Kerl auf der Welt – okay, nach Kiba vielleicht – meine Probleme auf die Nase bilde. Ich überlege sowieso immer wieder, warum ich jemanden wie ihn eigentlich als etwas bessere Matratze benutze. Er hat mal gemeint, das liege daran, dass wir Seelenverwandte sind, was Haarfarbe und Styling angeht. Ja, so dämlich kann er sein. Und trotzdem hat er immer mal wieder Anwandlungen, während derer er mir offenbar beweisen will, dass er nicht so hohl wie ein morscher Ast ist. „Such dir ‘ne Freundin, wenn du unbedingt deine Nase in andere Angelegenheiten stecken willst“, rate ich ihm. „Aber vorher solltest du damit aufhören, so ein Weichei zu sein.“ „Aua, das hat ja jetzt fast noch mehr wehgetan“, spottet er. „Übrigens hab ich was von Itachi gehört. Wir haben uns letztens auf ein Bier getroffen und er hat mir gesagt, dass sein Bruder wieder in der Stadt ist.“ „Weiß ich“, sage ich unbeeindruckt und tue so, als müsste ich Nachrichten auf meinem Handy checken. In Wahrheit bin ich ganz Ohr. „Angeblich hat der kleine Uchiha Streit mit irgendjemandem von euch. Mehr wollte mir Itachi nicht sagen. Weißt du was darüber?“ „Keine Ahnung“, sage ich, lasse ihn in seinem Schlafzimmer hocken und gehe nach draußen, um mir meine Tasche und meinen Mantel zu schnappen und abzuhauen. Ich war schon viel zu lange hier. Sasuke hat also Streit mit jemandem von uns? Das ist ja hochinteressant. Es waren eigentlich alle überrascht, als er plötzlich angerufen hat – und Sakura war sogar sehr überrascht. Und dann wollte sie auf keinen Fall, dass Kiba sie mit irgendeinem Wort erwähnt … Es ist Montagabend. Streng genommen hätte Sasuke auch heute mit jemandem von uns streiten können, nachdem er gestern wieder mit uns Kontakt aufgenommen hat. Und Sasuke könnte das heute Nachmittag Itachi gesagt haben und der könnte es etwas später meinem Prellbock erzählt haben … nur wäre da der zeitliche Rahmen schon ziemlich eng. Sakura und Sasuke … Da ist doch was im Busch. Aber warum hat sie mir nichts davon erzählt? Wenn sie sonst Probleme mit Männern hat, bin ich die Erste, die es erfährt. Und jetzt weiß es sogar der Typ früher als ich, der mir eben hinterherruft: „Beim nächsten Mal dann wieder bei dir?“ „Wenn es ein nächstes Mal gibt“, sage ich kühl. Deidara grinst nur, als wüsste er, dass das lediglich eine leere Floskel ist.   Es ist zum Verrücktwerden. Langsam komme ich mir vor wie im falschen Film! Nicht nur, dass Kiba mich abgewimmelt hat, nachdem ich ihn erneut angerufen habe, und er mich einfach auf Naruto vertröstet hat mit der Ausrede, dass Sakura und er jetzt nicht so gute Freunde wären – was höre ich von Naruto? „Hast du irgendwie Streit mit Sakura oder so?“ Er hat die Frage gestellt, als wüsste er die Antwort längst. „Sag mir einfach, wo ich sie finde. Oder gib mir ihre Nummer“, habe ich geantwortet. Eigentlich habe ich erwartet, dass Naruto überschwänglich darauf besteht, dass wir erst mal was gemeinsam unternehmen, oder dass er irgendeinen peinlichen Kitsch faselt, aber er hat ernst und erwachsen geklungen. „Sie möchte, glaube ich, nicht mit dir reden. Ich glaube nicht, dass es ihr recht wäre, wenn ich dir ihre Adresse oder Handynummer gebe. Tut mir leid.“ „Red keinen Müll, Idiot. Spuck’s schon aus.“ „Tut mir leid. Ich wäre ein schlechter Freund.“ „Glaubst du? Du bist ein schlechter Freund, Naruto“, habe ich gereizt geantwortet und aufgelegt. Warum zum Teufel ist es so schwer, etwas über sie herauszubekommen? Ich kann mir das nur so erklären, dass sie alle mit drin stecken. Ich überlege, ob die beiden Kerle, die mich vermöbelt haben, sogar Naruto oder Kiba gewesen sein könnten … Nein, ich hatte das Gefühl, sie wären massiger gewesen. Trotzdem, Sakura hat das nicht allein durchgezogen. Warum auch immer sie beschlossen hat, dass sie mich verprügeln und dann in der Kälte aussetzen will – sie hatte Hilfe dabei. Mein Bruder ist mir auch keine Unterstützung. Er meint, ich solle meine dummen Streitigkeiten allein lösen, mithilfe der Freunde, zu denen ich wieder Kontakt habe. Wenn der wüsste, was für dumme Streitigkeiten das sind … Schließlich kommt mir eine Idee, die ich eigentlich entwürdigend finde, aber meine Wut wird mit jedem verstrichenen Tag schärfer. Je mehr die Schwellungen in meinem Gesicht abklingen, desto deutlicher fühle ich die Stacheln in meinem Stolz. Also beschließe ich, Kiba persönlich zu treffen. Auf Naruto habe ich so oder so keine Lust. Wir reden beim Running Sushi ein bisschen über die letzten drei Jahre. Besonders gut kann ich ihn nach wie vor nicht leiden. Obwohl es mir unter den Nägeln brennt, warte ich ganz bis zum Schluss, als wir beide drei Bier intus haben, ehe ich Sakura anspreche. „Ich hab ihr einen Brief geschrieben, als ich im Ausland war“, lüge ich. „Der Inhalt war nicht besonders nett, und ich glaube, es hat sie ziemlich getroffen.“ Kiba glotzt mich dämlich an. „Im Ernst? Sakura will dich nicht sehen wegen einem lächerlichen Brief? Unsere Sakura?“ „Die Sakura, die ich kenne, kann man mit so etwas ziemlich verletzen“, behaupte ich. „Da kennst du die Sakura, die ich kenne, aber gar nicht“, lacht er. „Und ich dachte schon, da hat’s richtig groß gekracht zwischen euch. Das ist ja nur ‘ne Lappalie. Was hast du denn geschrieben? Dass sie fett ist?“ „So etwas in der Art“, fühle ich mich verpflichtet zu sagen. Ich fische ein kleines Päckchen aus der Jackentasche. „Da ihr ja alle so versessen darauf seid, mich von ihr fernzuhalten, sei du doch bitte ein Mann und bring ihr diese kleine Aufmerksamkeit von mir, ja? Sag ihr, dass es mir leidtut.“ Das Überbringen von Entschuldigungen an eine nicht erreichbare Freundin ist nicht unbedingt etwas, das einen männlich macht, aber so ein Argument zieht bei Kiba sogar, wenn nur heiße Luft dahinter steckt. „Alles klar, mach ich“, grinst er. „Aber tu mir den Gefallen und bring es ihr bis morgen. Das, was drin ist … sagen wir, es hat ein Ablaufdatum. Kriegst du das hin?“ „Klar, kein Problem.“ „Danke, Kumpel.“ Vor so viel Falschheit wird mir übel. Ich bin eigentlich immer ziemlich ehrlich in dem, was ich sage oder tue. Ich opfere meinen angeschlagenen Stolz hier für höhere Zwecke, rede ich mir ein. „Alles klar, trink aus. Ich bestell uns noch eine Runde Sapporo, dann zahle ich uns ein Taxi.“ Ich gebe vor, in derselben Richtung wie Kiba zu wohnen, nur etwas weiter weg – mit dem Ergebnis, dass wir das Taxi direkt vor seiner Haustür halten lassen. Jetzt weiß ich immerhin, wo er wohnt. Zeit, ein wenig Stalker zu spielen.   Ich bin lange nicht mehr auf der Uni gewesen. Seit ich das Spiel ernsthaft betreibe, liegt darauf meine große Priorität – und warum noch emsig studieren, wenn man mit den diversen, teils auch ziemlich aufregenden Aufgaben recht schnell recht viel Geld machen kann? Aber manchmal, so wie jetzt, wenn man spielmäßig in einer echten Zwickmühle ist, kann es in der Tat beruhigend sein, einem alten Professor bei seinem einschläfernden Vortrag zuzuhören. Als ich mit geringfügig balsambeschmierten Nerven in der Mensa sitze und etwas Geschmackloses in mich hineinschaufle, ruft mich Kiba an. Allein das ist seltsam; üblicherweise lässt er mir Sachen über Naruto oder Chouji oder manchmal auch Hinata ausrichten. Noch kauend, hebe ich ab. „Ja?“ „Sakura? Bist du zuhause?“ Warum will er das jetzt wissen? „Im Moment nicht.“ „Okay. Und wann ist im Moment vorbei?“ Ich sehe auf die Uhr auf dem großen Fernsehbildschirm, der in der Mensa hängt. „Etwa ab vier.“ „Okay, dann komm ich vorbei.“ „Worum geht’s denn?“ „Ich hab was zum Abgeben für dich.“ Ich höre, wie er grinst. „Wird dir gefallen. Es ist alles in Butter.“ Damit legt er auf. Verwirrt stecke ich das Handy weg. Wenn ich es recht bedenke, stört es mich gar nicht, dass dieser verrückte Typ üblicherweise Mittelsmänner schickt, um mit mir zu kommunizieren. Pünktlich um vier klingelt es tatsächlich an meiner Wohnungstür. Ich bin gerade dabei, mir eine langweilige Serie im Internet anzusehen, um meine immer noch revoltierenden Reizleitungsorgane zu betäuben, und hätte fast schon wieder vergessen, dass er ja was von mir will. Mal wieder muss ich ein paar Sekunden an der Tür werken, bis ich den Schlüssel herumdrehen kann. Draußen hat leichter Schneefall eingesetzt, und Kiba steht grinsend vor mir, die roten Gesichtstattoos untermalt von der vor Kälte geröteten Haut. In seiner Struwwelfrisur haben sich Schneeflocken gesammelt. „Da“, sagt er und drückt mir ein blaues Päckchen in die Hand. Es ist etwa so lang wie mein Unterarm und mit einer schillernden Schleife verziert – allerdings hängt das Ding irgendwie lieblos dran. „Gestehst du mir gerade deine Liebe oder so?“, frage ich verdutzt. „Du bist lustig“, gackert er. „Das ist von Sasuke.“ Ich hab mich wohl verhört! „Von Sasuke?“, keuche ich. „Jep. Er will sich entschuldigen. Jetzt mach schon auf.“ Ich verstehe die Welt nicht mehr. Sasuke hat Kiba mit einem Geschenk zu mir geschickt? Um sich zu entschuldigen? „Mach schon, ich frier mir hier die Füße ab“, drängelt Kiba. „Danke“, sage ich gedehnt. „Danke für deine Mühen. Ich mach’s später auf. Brauchst du sonst noch was?“ „Ein Glühwein wäre nett“, feixt er. „Dann lad ich dich mal bei einem Punschstand ein“, umgehe ich seine versteckte Aufforderung. „Mach’s gut.“ „Oh, okay. Ciao.“ Ich schlage ihm die Tür vor der Nase zu und starre das Päckchen an. Ich weiß nicht mal, ob es eine gute Idee ist, es mit in meine Wohnung zu nehmen. Soll ich es überhaupt aufmachen? Ich habe das Gefühl, der Inhalt wird mir nicht gefallen. Er wird mir doch wohl keine Briefbombe schicken, oder? Da kommt mir ein neuer Gedanke, der mich im ersten Moment noch mehr erschreckt als eine Bombe … Er wird doch unmöglich Fotos von unserem Techtelmechtel gemacht haben, oder? Das da drin können doch wohl keine Abzüge sein, mit denen er mich erpressen will? Nein, wie hätte er das tun sollen? Ich habe die Kamera aus der Hütte benutzen können, aber er hatte doch keine Gelegenheit zu so etwas … Ich schüttle das Paket. Es klingt, als wäre etwas drin … für Fotos ist es eindeutig zu schwer. „Okay, Sakura, du machst dich gerade verrückt. Du hast genug um die Ohren, mach dir nicht wegen einer kleinen Schachtel solche Sorgen“, schelte ich mich und reiße das Papier auf. Es ist eine mit Geschenkpapier verzierte Schuhschachtel. Und darin liegt … ein Stein. Ein einfacher, faustgroßer Stein. Ohne es verhindern zu können, lache ich erleichtert auf. Ein Stein … Und ich habe sonst was erwartet. Nur, warum schickt er mir einen Stein? Ehe ich weiter darüber nachdenken kann, klingelt es erneut. Der Kerl ist aber auch neugierig! Sicher fragt er mich gleich mit einem blöden Grinsen, ob ich endlich in das Päckchen gesehen habe, damit er auch erfährt, was darin war. In meiner erleichterten Trunkenheit – endlich eine Überraschung, die mir nicht das Blut in den Adern gefrieren lässt – denke ich nicht lange nach, sondern öffne einfach die Tür, die ich noch nicht einmal wieder abgesperrt habe. Sie fliegt mir regelrecht entgegen, als auch jemand von draußen dagegendrückt. Aber es ist nicht Kiba. Ich starre in Sasukes Gesicht, und sein Blick ist so hart wie der Stein, den ich immer noch in Händen halte. Kapitel 3: „Hab ich dich.“ -------------------------- Ich stoße instinktiv einen Schrei aus und will Sasuke die Tür vor der Nase zuwerfen wie gerade eben Kiba, doch er fängt sie mit der Hand auf und ist schon mit einem Fuß in meiner Wohnung. Ohne darüber nachzudenken, was ich tue, hole ich aus und schmettere ihm den Stein ins Gesicht. Er stößt ein Knurren aus und taumelt zurück. Ich knalle die Tür zu, lasse den Stein fallen. Er poltert laut über den Boden. Meine schweißnassen Finger versuchen den Schlüssel zu fassen zu kriegen. Mal wieder spinnt das Schloss. Ich rüttle mit beiden Händen, aber ich kann ihn nicht herumdrehen. Die Klinke wird nach unten gerissen, und ein kräftiger Stoß gegen die Tür lässt diesmal mich taumeln. Ich werfe mich mit aller Kraft dagegen, aber Sasuke hat bereits wieder seinen Schuh in den Türspalt geschoben. Scheiße! Was tue ich jetzt? Wie kriege ich ihn aus meiner Wohnung raus? Ich lasse von der Tür ab und springe zurück in das Zimmer. Eine Waffe, ich brauche eine Waffe … Ich habe keine Ahnung, was er vorhat, aber er wird mir sicher nicht erklären wollen, warum er mir einen Stein zur Versöhnung geschenkt hat! Die Nachttischlampe fällt mir als Erstes ins Auge. Ich packe sie und reiße das Kabel aus der Steckdose in dem Versuch, sie möglichst bedrohlich zwischen mich und Sasuke zu bringen, der mir gefolgt ist. „Hab ich dich“, knurrt er. Er sieht furchtbar aus. Die Schwellungen in seinem Gesicht sind noch nicht ganz abgeklungen, und jetzt hat er auch noch ein blutiges Cut dort, wo der Stein ihn getroffen hat … Verdammt, der Stein! Er liegt noch bei der Tür. Er wäre die bessere Waffe gewesen. In meiner Küche hätte ich Messer, aber um dorthin zu kommen, müsste ich noch einmal quer durch den Raum und an Sasuke vorbei … „Was willst du?“, frage ich und versuche meinen tobenden Herzschlag zu beruhigen. Reiß dich zusammen! Es ist nur Sasuke! Du kennst ihn von früher! Du bist nicht mehr so ängstlich wie damals! Du hast eine Menge Sachen getan, die dich ins Gefängnis bringen könnten! Selbst dort hätten sie Respekt vor dir! Du fürchtest dich doch wohl nicht vor einem einzigen Mann in deinen eigenen vier Wänden? Keines der Argumente greift. Verdammt, wenn ich die kalte Wut in seinen Augen sehe, wird mir ganz anders. In seiner Gegenwart fühle ich mich wieder wie das schwächliche Mädchen von damals … Mir kommt wieder der Gedanke, dass ich vielleicht überhaupt erst deswegen mit ihm geschlafen und ihn anschließend ausgeliefert habe, weil ich mir etwas beweisen wollte. „Kannst du dir nicht denken, was ich will?“, knurrt er gefährlich. „Die haben ja echt rührend auf dich aufgepasst. Treue Freunde hast du da. Leider sind sie ein bisschen dämlich.“ „Mach, dass du verschwindest“, speie ich ihm entgegen. „Wir sind fertig miteinander.“ „Ach ja?“ Er wird lauter und kommt näher. Meine Lampe beeindruckt ihn kein bisschen. Selbst ist er unbewaffnet, wie ich feststelle. „Fühlst du dich plötzlich unwohl, Sakura?“ „Du solltest dich unwohl fühlen“, fauche ich. Mit Wut versuche ich meine Furcht zu übertünchen. Es klappt ganz gut, den Umständen entsprechend. „Ich hab Leuten schon Schlimmeres angetan, als sie mit einer Lampe zu verdreschen. Und ich wollte diese Woche ohnehin jemanden niederschlagen.“ „Wie kampfeslustig wir auf einmal sind.“ Er fängt meine Hand ab, als ich zuschlagen will, und reißt mir die Lampe aus den Fingern. Sie zerklirrt an der Wand. „Apropos Lust. Reden wir doch darüber, wie schnell deine Lust in Mordlust umschlagen kann. Oder was waren das für Typen, die da plötzlich in dieser Hütte aufgetaucht sind? Deine Zuhälter?“ „Pass auf, was du sagst“, zische ich. „Hast du vergessen, was ich dir gesagt habe? Ich bin nicht mehr wie früher. Du solltest dich besser nicht mit mir anlegen.“ „Umgekehrt. Du solltest eigentlich wissen, dass man sich besser nicht mit mir anlegt. Schon gar nicht so hinterhältig wie du.“ Ich schlucke. Er steht ganz nah vor mir. Ich rieche kalten Zigarettenrauch in seinem Atem … oder ist es so etwas wie seine kalte Wut? Seine Augen scheinen mich mit Blicken aufspießen zu wollen. „Du zitterst“, sagt er. „Von wegen.“ Ich zittere wirklich nicht, fällt mir auf. Auch wenn ich innerlich eine leichte Panikattacke durchstehen muss, scheint mein Körper sich mit dem Nervenkitzel bereits abgefunden zu haben – drei Jahre lang wöchentliches Training sollte sich ja schließlich auszahlen. „Deine Bodyguards scheinen nicht in der Nähe zu sein“, stellt Sasuke fest. „Also klären wir das wie erwachsene Menschen. Unter vier Augen. Was zum Teufel sollte das?“ Er sagt es gefährlich leise und so nah an meinem Gesicht, dass mir ein Schauer über die Haut kriecht. Ich schweige eisern. „Ich frag dich noch einmal. Was sollte das letzten Dienstag? Bist du irgendwie psychisch abgedreht oder so? Hast du ernsthafte Probleme? Oder hat dein Minderwertigkeitskomplex irgendeine extreme Form angenommen?“ „Mit mir ist alles in Ordnung!“, werfe ich ihm entgegen. „Ich habe keinen Minderwertigkeitskomplex!“ Er schenkt mir einen seiner überheblichen Blicke, die mich früher oft verletzt haben. Nun läuft ihm auch noch Blut aus dem Cut ins Auge, was dem Ganzen einen ernsteren Touch verleiht. „Solltest du aber“, sagt er. Ich schnappe nach Luft und trete ihm wuchtig zwischen die Beine. Das heißt, ich versuche es. Irgendwie scheint er die Bewegung erahnt zu haben, denn ich treffe nur sein Knie. Er knurrt vor Schmerz auf, aber die erhoffte Langzeitwirkung bleibt aus. Er packt mich grob an den Armen und wirft mich auf mein Bett. Die Matratze federt quietschend unter meinem Gewicht, und vor Schreck bleibt mir die Luft weg. „Heute geht es anders aus“, höre ich ihn irgendwo außerhalb meines Blickfelds knurren. „Glaubst du, es macht Spaß, mit lauter blauen Flecken in einem winterlichen Park aufzuwachen?“ „Ich dachte, Mister Sasuke Uchiha ist durch so was nicht kleinzukriegen“, gebe ich mich trotzig. Ehe ich mich aufrichten kann, kniet er auf meiner Brust und umklammert meinen Hals. Röchelnd versuche ich nach Luft zu schnappen. Sein Gesicht ist wie erstarrt, aber sein Blick scheint zu brennen. Weiß er noch, was er tut? „Du bleibst erst mal schön liegen, während ich überlege, wie ich dir das am besten heimzahle“, knurrt er. Meine Augen treten aus den Höhlen, meine Lunge schreit schmerzhaft nach Luft. Meine Versuche, seine Hände von meiner Gurgel zu lösen, werden fahriger. Als er das merkt, lockert er den Griff etwas und rutscht halb von mir herunter, sodass seine Knie nicht länger gegen meinen Brustkorb drücken. Ich ringe nach Luft. Immer noch habe ich das Gefühl, dass kein bisschen Sauerstoff meine Lungen erreicht. Mir wird langsam schwarz vor Augen, meine Gedanken werden zäh wie kandierender Honig. Obwohl mein Sichtfeld zunehmend körniger wird, meine ich zu erkennen, wie Sasukes Blick über meine Lippen bis zu meinem Dekolleté gleitet. Himmel, er will doch nicht etwa … „Ich muss sagen, am Dienstag hast du mir besser gefallen“, sagt er mit heiserer Stimme. „Aber du hast mir ja mehr als deutlich gemacht, dass du es gern etwas rauer magst.“ Ich beginne heftiger unter ihm zu strampeln. Sein Gesicht nähert sich meinem immer weiter, bis ich die Blutergüsse sehen kann und das Blut, das noch immer auf seiner Stirnwunde glitzert. „Sasuke“, würge ich hervor, „hör auf! Das ist … Das ist Vergewaltigung!“ Das Wort lässt ihn innehalten. Er starrt mich an, als hätte er für einen Moment seine Wut auf mich vergessen. Schließlich klettert er endgültig von mir herunter. Ich richte mich auf, auf der Suche nach Atemluft, und die ersten Züge, die ich wieder voll ausschöpfen kann, scheinen meine Lunge zum Bersten bringen zu wollen. Minutenlang, wie mir scheint, sitze ich nur da und versuche, meinen Zellen wieder den Sauerstoff zuzuführen, von dem sie so lange abgeschnitten waren. „Wenn du mit Keuchen fertig bist, verrätst du mir ja vielleicht endlich, was ich wissen will“, knurrt Sasuke. Er steht mit verschränkten Armen neben dem Bett und stiert bitterböse auf mich herab. Ich lasse mir mehr Zeit, als ich brauche. Ich habe keine Lust mehr, mich mit ihm anzulegen. Er ist zumindest körperlich stärker. „Damit wir uns verstehen, mir sind drei Dinge klar“, beginnt er und füllt die Stille. „Erstens, du hast dich verändert in den drei Jahren. Von mir aus, das ist dein gutes Recht. Zweitens, du hast mit mir geschlafen und mich hinterher von irgendwelchen Typen zusammenschlagen lassen. Drittens, ich habe keine Ahnung, wieso und wie das mit Erstens zusammenhängt. Aber auch wenn du es mir nicht sagen willst, werde ich dich in einem ähnlichen Zustand zurücklassen – also kannst du mir verflucht nochmal verklickern, wieso ich dich gleich schlagen werde?“ „Du würdest wirklich eine Frau schlagen?“, frage ich. Mein Hals fühlt sich an, als würden darin glühende Kohlen aneinander schaben. „Ich spiele niemandem den Kavalier vor, der so etwas mit mir abzieht. Das lasse ich einfach nicht auf mir sitzen, verstehst du?“, knurrt er. „Aber du hast recht. Sich mit dir zu prügeln ist sicher nicht so befriedigend wie mit Naruto. Ich werde schon was finden, womit ich dein Leben runterwirtschaften kann, bis wir Quitt sind. Wo du wohnst, weiß ich ja jetzt.“ Ich weiß, dass er es ernst meint. Sasuke meint das meiste von dem, was er sagt, ernst. In der Hinsicht hat er sich nicht verändert. „Okay“, seufze ich heiser. „Ich erklär’s dir.“ „Ich bin gespannt. Glaub aber nicht, dass du dich rausreden kannst.“ „Ich hab mich verändert“, wiederhole ich klipp und klar. „Die alte Sakura gibt es nicht mehr. Die neue ist sich nicht zu schade dafür, Männer auszunutzen.“ „Und was genau hattest du davon, diese beiden Bulldoggen auf mich loszulassen?“, knurrt er. „Das waren … Wie soll ich’s dir erklären?“ „Das frag ich mich auch schon eine Weile.“ „Hör zu, ich hab ein paar Leute kennengelernt, ja? Meine Mutter würde sie wahrscheinlich einen schlechten Umgang oder falsche Freunde nennen, wenn sie davon wüsste.“ Das ist nicht mal gelogen. Jedenfalls ist es näher an der Wirklichkeit als so manche Ausrede, die ich mir hätte einfallen lassen können. Ihm die ganze Wahrheit zu erzählen, kommt natürlich nicht in Frage. Er zieht eine Augenbraue hoch. „Und was sind das so für falsche Freunde? „Leute mit viel Geld. Die mich für gewisse gefährliche Jobs einspannen. Gefährliche und schmutzige.“ Er lacht. „Du willst mir jetzt aber nicht erzählen, du wärst neuerdings eine Auftragsmörderin?“ „Ich habe noch nie jemanden umgebracht“, sage ich eisig, „aber alles andere wahrscheinlich schon.“ „Hm.“ Das gibt ihm zu denken. „Und deine reichen Freunde sind wohl von der Mafia? Du redest Müll.“ Ich zucke mit den Schultern. „Kommt drauf an, ob du ein paar reiche, alte Säcke so bezeichnen willst, wenn sie für ein wenig Kurzweil Geld ausgeben wollen. Und dafür, dass gewissen Leuten eine Lektion erteilt wird“, füge ich schnell hinzu. Dass ich Leute im Namen des Gremiums bestrafe, ist zwar völliger Blödsinn, aber es macht die Sache glaubhafter, denke ich. „Leuten wie mir, ja?“, fragt er schneidend. „Als hätte man dich dafür bezahlt, mich zu verarschen, am zweiten Tag, an dem ich wieder in der Stadt bin!“ „Das war etwas anderes“, lüge ich. Ich kann definitiv überzeugender lügen als noch vor drei Jahren. Sasuke fällt es bestimmt nicht auf, wenn ich von der Wahrheit mehr als drei Querstraßen abzweige. „Das sind eben die Schattenseiten meines Jobs. Ab und zu schicken sie ein paar Schläger, die mich daran erinnern sollen, dass ich nicht einfach aussteigen kann, verstehst du? Ich hab schon länger keine Aufträge für die erledigt, darum haben sie sich in mein Privatleben eingemischt. Die beiden Muskelprotze sind mir gefolgt und haben den richtigen Moment abgewartet, um mich daran zu erinnern, dass der Job wichtiger ist als mein Privatleben.“ „Ja, klar“, schnaubt er. „Lass dir was Besseres einfallen.“ „Es ist die Wahrheit!“, sage ich zornig, was meine Worte glaubhafter macht. Auch das hoffe ich zumindest. „Weißt du noch, als ich drüben in dem anderen Zimmer war? Ich bin dort rausgegangen, um mit meinem Boss zu telefonieren. Ich hab ihn gebeten, seine Leute abzuziehen, aber er hat gemeint, ich solle mitspielen und dir zeigen, was für eine … hinterhältige Frau ich bin“, sage ich geknickt. Gedanklich klopfe ich mir auf die Schulter für die geniale Idee, mich selbst in die Opferrolle zu schwingen. Sasuke wirkt nicht wirklich überzeugt, aber er sagt nichts mehr, steht nur weiter wie eine gegossene Statue mit verschränkten Armen vor mir. „Sakura, die für die Mafia arbeitet“, murmelt er. „Ich kann’s einfach nicht glauben.“ „Tja, deine blauen Flecken sprechen eine andere Sprache.“ Ich lächle unglücklich. „Ich wollte das echt nicht, Sasuke. Ich wollte dir vielleicht beweisen, dass ich nicht mehr so unsicher bin wie früher – darum hab ich mich so schnell auf dich eingelassen. Und eigentlich … hat es mir sogar gefallen. Sehr.“ Ich beiße mir auf die Zunge, ehe zu viel Wahrheit aus meinen immer noch schmerzenden Stimmbändern rutscht. Er zuckt mit keinem Muskel. „Tja, das ist mein neues Leben“, meine ich und breite demonstrativ die Arme aus. „Du kannst meinen Job wohl ein Art investigativen Journalismus nennen. Unbefristet vertragsgebundener investigativer Journalismus mit erweiterter Handlungskompetenz. Ich wollte nicht, dass du da mit reingezogen wirst, aber ich kann dir Schmerzensgeld zahlen, wenn du willst. Unter der Hand, natürlich. So viel du willst. Man sieht es meiner Wohnung nicht an“, schon gar nicht mit dieser verfluchten Tür, denke ich, „aber ich verdiene ziemlich gut dabei. Ich hab einiges auf die Seite geschafft. Lass mich dir eine Entschädigung zahlen, ja?“ „Du glaubst, du kannst diese Demütigung mit Geld abbüßen?“, knurrt er. „Keine Ahnung! Sag mir, was ich tun soll!“, rufe ich verärgert. Ja, ich habe ihn verraten. Ja, ich muss wieder jemanden verraten … Ich hab was anderes im Kopf, als mich ständig für meine Taten rechtfertigen zu müssen! Er zögert. Er zögert wirklich. Aber so, wie ich ihn kenne, liegt das nicht daran, dass meine Geschichte so überzeugend war. Nein, ich vermute, jetzt, wo wir geredet haben, ist seine aufgestaute Wut weit genug verraucht, dass er nicht mehr weiter weiß. Er ist in der Absicht hergekommen, sich zu rächen – aber er hat keinen Plan gehabt, wie er sich rächen will. Dieser reine Rachedurst ohne ein letztendliches Ziel kommt mir nun zugute. „Ich werde mir was überlegen“, sagt er schließlich. „Glaub nicht, dass du aus dem Schneider bist. Du wirst mir sagen, wo ich diese beiden Kerle finden kann. Und für dich überlege ich mir auch noch was.“ Mein Mund ist trocken, als ich sage: „Ich versuche, über sie rauszufinden, was ich kann.“ Sasuke betrachtet mich noch mit einem langen, eingehenden Blick, bei dem sich meine Nackenhaare aufrichten. Dann zieht er unheilvoll die Brauen zusammen – und zuckt leicht, als die Bewegung ihn an seine Kopfwunde erinnert. Er betastet die Blutkruste. „Und das kriegst du auch irgendwann zurück“, droht er leise. Dann macht er auf dem Absatz kehrt und stampft nach draußen. Die Tür bleibt offen, aber ich sinke in meinem Bett zusammen und bin einfach froh, dass ich noch lebe.   „Danke, dass du hier mit mir hochkommst“, sage ich zu Neji. Der kalte Winterwind bläst uns um die Ohren und rötet unsere Wangen. Ich finde, dass mein Cousin viel zu leicht angezogen ist, aber ich wage es nicht, ihm das zu sagen. „Keine Ursache“, sagt er. „Wann immer du etwas brauchst, sag es mir.“ Ich bin wirklich froh darüber, dass er mich begleitet. Die Dachterrasse des Krankenhauses ist zwar öffentlich zugänglich, aber mir kommt es so vor, als schauten mich die Schwestern und der Portier im Erdgeschoss schon schief an, weil ich seit Sonntag jeden Tag hierher komme. Eigentlich könnte man mich ja für die Angehörige eines Kranken halten, hat Neji gemeint, aber da ich weiß, dass ich das nicht bin, nagen Gewissensbisse an mir, und ich glaube, dass die Krankenhausmitarbeiter das spüren. Wahrscheinlich bemühe ich Neji also völlig umsonst, aber trotzdem ist mir wohler. „Was war dein Chip? Der Gipfelstürmer?“, fragt er. Ich nicke. „Mir ist nichts Besseres eingefallen als das hier …“ Vom Krankenhausdach hat man einen tollen Ausblick über diesen Teil der Stadt und es gehört zu den höchsten Gebäuden. Diesiges Nachmittagslicht hängt über den Betonkötzen, die wie zufällig ausgestreut wirken. Der Himmel ist zugezogen, und die Sonne lässt die ganze Wolkenfläche von hinten leuchten. Eigentlich gefällt mir der Anblick. So gesehen ist meine Aufgabe dieses Mal wieder eine leichte … fast jedenfalls. „Und dein zweiter Chip?“, fragt Neji, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich lasse den Kopf hängen. „Sparta“, sage ich. „Sparta?“ Ich nicke. „Ich kann mir eigentlich gar nicht vorstellen, was ich da machen soll … Es ist einer von diesen Männern drauf abgebildet, von diesem Film …“ „300?“ „Genau der. Hast du irgendeine Idee, was ich tun könnte, was mit Sparta zu tun hat?“ „Hm.“ Ich weiß nicht, ob Neji den Film gesehen hat. Er ist ja auch schon etwas älter. „So wie ich die Spielmacher einschätze, sollst du jemanden mit orientalischen Wurzeln verprügeln“, sagt er grimmig. Ich zucke zusammen. „Das … das kann ich nicht.“ Ich bin schon immer die Schlechteste in diesem Spiel gewesen. Die meisten Schandtaten traue ich mir nicht zu, und in einem Spiel, in dem Schandtaten das meiste Geld bringen … „Dann fällt mir nur dieser Spruch von König Leonidas ein“, sagt Neji. „Das ist Sparta!, hat er gerufen, und den persischen Botschafter in dieses Loch gestoßen. Mit dem Fuß.“ Plötzlich sieht er mich an, die Augen geweitet, den Mund leicht geöffnet. Wir haben beide diese Augen, deren Ausdruck man kaum lesen kann, aber gerade deswegen können wir es gegenseitig. Ich weiß sofort, was er denkt. „Ich würde dich nie hier vom Dach stürzen!“, rufe ich entsetzt. „Was denkst du da über mich?“ Er fährt zusammen und wendet beschämt den Blick ab. „Entschuldige“, murmelt er. „Es ist dieses Spiel … Ich werde noch paranoid.“ „Ich weiß, was du meinst“, sage ich leise und spüre einen Kloß im Hals. Wir sind alle nicht mehr die, als die wir ins Spiel eingestiegen sind. Das Schicksalslos macht uns verrückt. Es macht Verrückte aus uns, Verbrecher, Halunken … Ich meine es bei meinen Freunden zu sehen. Sie stumpfen ab. Ich kann ihnen das nicht sagen. Ich bin froh, dass wenigstens mein Cousin auch die Schattenseiten sieht. Aber Aussteigen ist nicht möglich. Neji rührt sich nicht und verharrt wie ein Wasserspeier auf dem Dach. Sein Haar weht im Wind. Er sieht verloren und einsam aus … Ich weiß, dass auch er sich von den anderen entfremdet. Eigentlich habe ich ja Naruto bitten wollen, mich zu begleiten. Aber der ist seit dem Wochenende unauffindbar. Ich frage mich, was er für Chips gezogen hat.   Die Sache ist mehr als nur seltsam. Ich war so kurz davor, meine ganze aufgestaute Wut über diesen unrühmlichen Dienstagabend an Sakura auszulassen – und dann bin ich einfach unverrichteter Dinge abgezogen. Ich habe mir ihre Geschichte angehört, die so haarsträubend klingt, dass es mir schwer fällt, ihr zu glauben. Aber ist es wirklich so abwegig? Drei Jahre können einen schon ziemlich verändern, egal, was andere sagen. Ich weiß selbst, wie das ist, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird und sich das Leben um hundertachtzig Grad dreht. Aber Sakura, eine Fast-Auftragsmörderin? Das Gerede von dem ganzen Geld, das sie hortet? Dabei ist es gar nicht das, was mich am meisten beschäftigt. Wie ich so von ihrer Wohnung wegtrotte und dem kalten Winterwind trotze – es hat stärker zu schneien begonnen, als wollte der Schnee eine Mauer zwischen mir und ihr aufbauen –, denke ich weniger an Sakura, sondern mehr an mich. Und an das, was ich empfinde. Ich habe nie viel mit Frauen anzufangen gewusst. Das heißt, ich weiß natürlich sehr wohl, wie was sie mir Gutes tun können. Mein Aussehen und offenbar auch irgendwie meine schroffe Art lassen sie mir zufliegen wie Mücken einem offenen Honigglas. Aber abgesehen davon habe ich nie die Notwendigkeit gesehen, irgendeine Form von Beziehung mit einem Mädchen aufzubauen. Mein Bruder hat mich einmal einen Sozialphobiker genannt. Daraufhin habe ich ihm auch einige ablehnenden Bemerkungen an den Kopf geworfen, aber Tatsache ist, dass mich andere Menschen nicht wirklich interessieren, egal welchen Geschlechts. Sie sind laut, nervtötend, aufdringlich, naiv. In diesem Sinne geht es mir im Hinblick auf Frauen sogar besser als mit Männern: Bei Frauen weiß ich wenigstens mit ihren Körpern was anzufangen. Ihre Persönlichkeiten haben mich dagegen noch nie interessiert, und ihr Herz und das alles ist sowieso nur kitschige Homöopathie. Dachte ich zumindest immer. Diese beiden Treffen mit Sakura verwirren mich deswegen. Klar, letzte Woche war ich auf Aufriss, und ich habe es eigentlich dabei bewenden lassen wollen. Nach dem, was sie dann abgezogen hat, habe ich jetzt eigentlich allen Grund, sie zu hassen. Und trotzdem habe ich nun gemerkt, dass ich sie begehre. Ich will das von Dienstag wiederholen, und wenn diese beiden Arschlöcher nicht dazwischengekommen wären, hätten wir beide uns vielleicht sogar noch länger amüsieren können. Damit wir uns richtig verstehen: Plötzliches Verlangen nach einer bestimmten Frau ist mir alles andere als fremd. Der Eisklotz in mir hat hin und wieder Momente, in denen er zu tauen beginnt, ehe die nächste Eiszeit anbricht. Aber ich habe selten mehrmals Verlangen nach ein- und derselben Frau gehabt. Wenn es schon eine bestimmte sein musste, dann aus einem bestimmten Grund – weil sie eine Herausforderung bedeutet, zum Beispiel. Aber Sakura … Ich kenne sie ewig. Sie hat mich hintergangen, meinen Stolz verletzt und mich jetzt vielleicht sogar schamlos angelogen. Warum will ich sie plötzlich? Warum will ich eine Frau, die ich hasse? Hatte sie tatsächlich Erfolg damit, mir zu imponieren? Etwa sogar mit dem krassen Zeug, das sie abgezogen hat? Am Ende der Straße drehe ich mich um. Ich kann das Haus durch den Schleier des fallenden Schnees kaum noch erkennen. „Scheißdreck“, murmle ich. Ich hasse es, wenn ich meine eigenen Gefühle nicht mehr verstehe.   „Bist du sicher, dass du das tun willst?“, frage ich Tenten. Wir sitzen in meiner Wohnung, weil sie selten Ruhe vor ihren Mitbewohnern hat. Tenten nickt fahrig. „Wenn ich es jetzt nicht mache, krieg ich das Ding zu spät. Und bevor mich der Mut verlässt, will ich’s hinter mich bringen. Ich will Ino nicht wieder damit nerven, also kannst du mir seelischen Beistand leisten? Bitte, Neji.“ Hinata hat mir von Tentens Dilemma erzählt. Es ist wirklich furchtbar, was sie für Chips gezogen hat. Ich schweige, und sie scheint es als Zustimmung aufzufassen. „Es reicht, wenn du meine Hand hältst. Drück einfach meine Hand ganz fest, damit ich das sagen kann, was ich sagen muss.“ „Ich kann das nicht gutheißen“, sage ich entschlossen. „Das ist viel zu gefährlich, Tenten. Es muss eine andere Lösung geben.“ „Es gibt aber keine“, meint sie unglücklich lächelnd. Sie wirkt, als hätte sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden … In den letzten drei Jahren ist mein Glaube daran, wie ergeben man sein Schicksal akzeptieren sollte, gehörig ins Wanken geraten. „Ich muss das hier tun, sonst kommt mein Konto so weit ins Minus, dass sie wer weiß was mit mir machen.“ Ich mahle mit den Zähnen. „Tenten, das ist …“ „Ruhig jetzt.“ Sie legt mir einen Finger auf die Lippen. Ich zucke vor der Berührung weg. „Bitte nicht“, sagt sie leise. „Wenn du zweifelst, komm ich auch wieder ins Zweifeln. Ich will mich nicht noch mal dazu entschließen müssen. Im Moment bin ich gewappnet. Bring mich bitte nicht von der Idee ab.“ „Jemand muss dich aber von dieser Idee abbringen!“, brause ich auf. „Tenten, das ist Wahnsinn. Wir zahlen dir jeder eine kleine Summe, und dein Konto wird es überstehen.“ „Danke, aber das will ich nicht“, gibt sie zu. „Es hat in all den Jahren noch nie jemand einem anderen helfen müssen. Ich will meine Aufgaben auch alleine schaffen. Versteht du das?“ Ich verstehe es, aber ehe ich das zugebe, schweige ich lieber grimmig. „Bitte, Neji. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Du musst nichts weiter tun, als zu verhindern, dass ich das Telefon wegschmeiße oder plötzlich auflege, okay?“ Sie hält mir ihre Hand hin. Warum sucht sie überhaupt Kraft für so eine Sache? Ist es ihr egal, dass mich mein Gewissen umbringen wird, sollte ihr etwas zustoßen? Auf ihren flehenden Blick hin ergreife ich schließlich ihre Hand. Ihre Finger sind eiskalt. „Danke“, flüstert sie und wählt auf ihrem Handy Olgas Nummer. Es dauert offensichtlich nicht lange, bis unsere blondgelockte Betreuerin abhebt. „Ja, hallo …“, sagt Tenten mit kratziger Stimme. Sie schluckt einmal, aber es wird nicht besser. „Hier ist Tenten … Ja, genau. Sie haben gesagt, dass Sie uns mit Material aushelfen können, wenn wir selbst nicht die Gelegenheit haben, da ran zukommen. Ja. Genau. Also ich, ich brauche …“ Sie atmet tief durch und sieht mich an. Ich will wegsehen – oder ihr am besten das Smartphone aus der Hand reißen und es an der Wand zerschmettern. Aber ich zwinge mich dazu, ihrem Blick standzuhalten. Vielleicht hat Hinata recht, und wir stumpfen alle ab. Tenten schluckt noch einmal und sagt: „Ich brauche eine Pistole. Irgendeine, ich kenn mich da doch nicht aus! Ja, mit Munition … aber ein Schuss reicht.“ Kapitel 4: „Sag mir, ob du das bist.“ ------------------------------------- Neji hat mir dabei geholfen, die Waffe anzufordern. Und dabei hat er wirklich nicht gut ausgesehen. Ich kann ihm nicht noch mehr aufbürden. Der Rest liegt an mir … nur an mir. In ein paar Minuten wird sich entscheiden, ob nächsten Sonntag ein weiterer Platz in unserer Runde frei bleibt. Das Gremium reagiert wirklich schnell auf Bestellungen. Ich hab die Erfahrung selbst noch nie gemacht, aber Sakura und Ino haben schon ein paarmal Sachen oder Leute angefordert, das weiß ich. Olga hat mir gesagt, die Leihgebühr für die Pistole beträgt einen Tausender. In meiner momentanen Lage sind mir derartige Beträge ziemlich egal. Einen Tag nach meinem Anruf hat mir ein Lieferdienst die Waffe wie ein ganz normales Päckchen zugestellt. Von außen war es getarnt mit dem Logo eines Versandkatalogs. Immerhin brauche ich die Pistole nicht aufzubewahren wie die anderen Beweismittel – schließlich ist sie nur geliehen. Und nun sitze ich hier. Im Keller unseres Apartmenthauses. Mit bunten Klamotten, kriegsbemalten Wangen und einem Cape aus einem Duschvorhang als lächerlichste Superheldin aller Zeiten verkleidet. Es ist spät in der Nacht; um diese Uhrzeit kommt hier niemand mehr runter. Das Russische Roulette in der Wohnung zu spielen, habe ich nicht gewagt. Meine beiden Mitbewohner wollen garantiert nicht länger in einem Apartment wohnen, in dem ein Mädchen Selbstmord begangen hat. Ich hab auch überlegt, ob ich einen Abschiedsbrief schreiben soll, nur für alle Fälle. Damit die Sache nicht auffliegt, vielleicht. Wenn ich sterbe, durchsuchen die Bullen sicher meine Wohnung und finden das Kästchen mit den Beweisen … so oder so würde rauskommen, dass ich krumme Dinge gedreht habe. Als ich merke, dass sich meine Gedanken nur um den einen Ausgang drehen, dass ich nämlich sterbe, würge ich sie brutal ab. Es ist nur eine Kugel. Fünf Kammern sind leer. Ich will die Wahrscheinlichkeit berechnen, will sie mir in Prozent vorsagen, aber ich wage es dann doch nicht. Es kommt, wie es kommen wird. Es gibt keinen anderen Ausweg – oder anders gesagt, ich schätze die Aufgabe, mir kaltes Metall an den Kopf zu setzen, als diejenige ein, bei der ich mit der höchsten Wahrscheinlichkeit überlebe. Wie weit ist es nur mit mir gekommen? Meine Kehle ist staubtrocken, als ich den Deckel von dem Päckchen hebe. Darin liegt sie, blitzblank poliertes, silbernes Metall. In den Lauf ist irgendeine Gravur eingearbeitet, die mir nichts sagt. Meine Finger sind so kalt, dass sich das Metall unter meinen Fingerspitzen fast warm anfühlt. Vielleicht bilde ich es mir auch ein. Neben der Knarre liegt eine einzige, annähernd konische Patrone mit einem sanften Goldschimmer. Sie hat nur den einen Zweck: mich zu töten. Mein Leben fortzufegen in dem Moment, in dem ich den Abzug drücke. Ein Schauer durchfährt mich, und anschließend kann ich kaum meine Glieder stillhalten, als hätte ich Schüttelfrost. Mein Blickfeld scheint sich kurz zu spalten. Mach schon, du blöde Ziege, sage ich mir. Täusch jetzt keinen Ohnmachtsanfall vor! Sowas hattest du noch nie! Ich versuche, meinen Hals durch Schlucken zu befeuchten, aber es fühlt sich an, als würde ich ihn mit Sand durchspülen. Mein Herz klopft hart gegen meine Brust, als ich die Pistole hochhebe – es tut schon fast weh. Bis in meine Fingerspitzen fühle ich meinen Puls. Etwas juckt auf meiner Stirn, läuft dann über meinen Nasenrücken. Von der Nasenspitze fällt der Schweißtropfen auf die Tischplatte. Es ist ein alter Tisch, billig und als Plastik und zusammenklappbar. In dem Raum stehen die zwei Waschmaschinen für die Mieter, und auf diesem Tisch wird üblicherweise Wäsche zusammengelegt oder sortiert. Ich lege den Kopf in den Nacken, um mich von dem Anblick der Pistole zu erlösen, wenigstens kurzfristig. Über mir brennt eine nackte Glühbirne. Das Surren, das sie von sich gibt, ist betäubend, aber es beruhigt mich kein bisschen. Auch nicht die kahlen, grauen Wände mit den Schimmelsprenkeln in den Ecken … Der Raum ist trostlos wie eine Gefängniszelle. Oder wie der Verhörraum der Polizei in den ganzen Krimis. Dann könnte die Glühbirne über mir genauso gut die Lampe sein, die sie da immer auf den Schreibtischen stehen haben, und ich stelle mir vor, wie sich ein Beamter zu mir herabbeugt und auf Bad-Cop-Art fragt: Nun, Tenten? Wollen Sie endlich Verantwortung übernehmen? Dann jagen Sie sich doch diese Kugel in den Kopf und lassen Sie Ihr Verbrecherdasein los.“ Ich werde noch verrückt. Als Nächstes stelle ich mir vor, dass meine Freunde hereinstürmen und mir die Pistole aus den Händen reißen. Ich wünsche es mir so sehr, dass sie mich aufhalten, dass sie mich in ihre Arme schließen und ich mich ausweinen kann, dass sie mir ihr Geld anbieten und mich aus der Sache freikaufen … Aber es kommt niemand. Natürlich nicht. Ich hab ja keinem gesagt, dass ich es jetzt tun werde. Neji glaubt, die Waffe käme erst am Freitag. Und irgendwie denke ich auch nicht, dass ich jetzt überhaupt weinen könnte. Mit meinen zittrigen Fingern ist es gar nicht so leicht, die Patrone in die Munitionstrommel zu schieben. Ich teste, wie gut das Ding rotiert – es ist, als wäre sie frisch geölt oder wie immer man das bei Revolvern macht. Mein Atem bebt, mein Brustkorb zittert mit meinen Händen um die Wette. Ich muss mir den Pistolenlauf ganz fest gegen die Schläfe drücken, sonst wackelt er wie verrückt herum. Am Ende trifft die Kugel nur die Wand und ich muss Olga um eine zweite bitten. Das würde ich seelisch nicht überstehen. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich das wirklich tue. Noch habe ich die Finger so weit weg vom Abzug, wie es nur geht. Vielleicht kann ich mich an das kalte Stechen des Metalls an meiner Schläfe gewöhnen, an den Druck, den das Korn auf meiner Haut auslöst. Vielleicht fällt es mir dann leichter, die Sache durchzuziehen. Ich atme jetzt noch heftiger, fällt mir auf. Lauter. Und ich meine mein eigenes, leises Wimmern dabei zu hören, als ich schließlich den Zeigefinger vorsichtig um den Abzug hake. „O mein Gott“, flüstere ich. „O mein Gott, o mein Gott …“ Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Bitte, lass mich überleben. Bitte, lass mich aufwachen … Nein, bitte mach, dass es wirklich passiert und dass es kein Traum ist und ich nicht in der Realität nochmal so weit gehen muss, um diesen Punkt zu erreichen. Nur einmal den Finger krümmen … und dann habe ich diese Aufgabe hinter mir. Und vielleicht auch das ganze Spiel … Ich beiße die Zähne zusammen, bis es wehtut, verzerre das Gesicht. Ich schnippe mit dem Daumen über die Trommel und warte, bis sie zum Stillstand kommt. Die Karten sind auf dem Tisch. Jetzt kann ich nicht mehr ändern, ob ich lebe oder sterbe. Jetzt bleibt mir nur, endlich abzudrücken. Mein Finger juckt, und er zittert, weil er halb angespannt ist. Mein Arm schmerzt ebenfalls, meine Schulter auch, ich spüre jeden Muskel, der mithilft, den Revolver an meinen Kopf zu halten. Jetzt, sage ich mir. Tu es! Ich schaffe es nicht. Ich bringe es einfach nicht über mich. Am liebsten würde ich das Ding von mir schleudern, aber ich weiß genau, dass ich es dann nie wieder anfassen werde. Tu es jetzt, befehle ich mir. Tenten! Tu es endlich, oder du tust es nie! Und wenn ich es bis Samstag aufschiebe, dann habe ich vielleicht noch was vom Leben … Nein, vergiss es! Du tust es jetzt, jetzt hast du endlich den Entschluss gefasst, sei kein ängstliches Kätzchen, tu es! Ich drücke mir den Lauf so fest an die Schläfe, dass er sich wohl im nächsten Moment durch meine Haut bohren wird. Mir kommen so viele Sachen in den Sinn, die ich noch tun muss … Ich will nicht sterben! Ich habe noch so viel vor … Ich will endlich mein Studium wieder ernster nehmen, will mit meinen Freunden Spaß haben und mich wieder öfter mit ihnen treffen, und ich muss mich bei Ino bedanken, dafür, dass sie mir ihr Ohr geliehen hat, und bei Neji, genau … Ich halte die Luft an und drücke den Finger gegen den Abzug. Ich spüre, wie er sich langsam bewegt … Es ist, als würde ihn etwas blockieren. Ist die Pistole defekt? Hat sie eine Ladehemmung oder etwas in der Art? Mein Finger gleitet durch den Schweißfilm etwas tiefer und plötzlich reicht die Hebelwirkung aus. Ich merke, wie der kleine Metallzacken nachgibt. Im Bruchteil einer Sekunde wird mir klar, dass es das war. Jetzt habe ich es getan. Jetzt entscheidet es sich. Klick. Das Geräusch dringt erst nach mehreren Sekunden an meine Ohren. Dann höre ich auch das Surren der Glühbirne wieder. Ich sitze wie erstarrt an dem Tisch, Schweißbäche laufen über mein Gesicht, brennen in meinen Augen. Ich bin noch da. Ich lebe! Ein freudiger Schluchzer entfährt mir. Für einen Moment wird mir ganz schwindlig. Dann brennen heiße Tränen über meine Wangen. Ich kann also doch noch weinen. Ich weine, weil ich noch lebe. Ich presse mir die Hand vor den Mund. In meiner Kehle hat sich ein schmerzender Knoten gebildet, aber selbst dieses unerträgliche Gefühl ist wie ein Segen für mich. Ich lege die Pistole vor mir auf die zerkratzte Tischplatte. Vielleicht sollte ich Luftsprünge machen, aber ich bin zu verdattert und fühle mich so geschlaucht, als hätte ich drei Tage lang ohne Pause Schwerstarbeit geleistet. Ich lebe! Ich habe das Russische Roulette überlebt! Wie um mich zu überzeugen, dass ich keinen Fehler gemacht habe, nehme ich die Pistole noch mal in die Hand – plötzlich fällt es mir viel leichter – und prüfe das Magazin. Die Patrone steckt auf der anderen Seite der Trommel. Ich laufe zu der Waschmaschine, auf der hochkant mein Handy liegt. Ich halte die Waffe vor die Kamera, die alles aufgenommen hat, seit ich das Päckchen mit der Pistole geöffnet habe. Es stört mich nicht, dass das Gremium mein verheultes, überglückliches Gesicht sieht. Ich habe es getan … Ich habe Russisches Roulette gespielt und gewonnen! „Und wenn das ein Traum sein sollte“, plappere ich drauf los, als mir der Gedanke erneut kommt, „dann bestelle ich mir noch ein paar Patronen und erschieße mich wirklich.“ Vielleicht ein etwas unglücklich gewählter Schlusssatz für mein Beweisvideo, aber ich fühle mich, als hätte ich das Preisgeld für diese Woche schon gewonnen.   „Naruto, da sieht mich schon wieder einer schief an“, ruft mir Lee ins Ohr. Ich verstehe ihn trotzdem kaum. Obwohl heute Nacht keine Live-Musik auf dem Plan steht, ist die Musik aus der Dose auch laut genug, dass man sich wohl genauso gut das Trommelfell mit einem Nadelkissen bearbeiten kann. Lee, der über seinen typisch grünen Grundton eine recht coole, zerfetzte Lederjacke gezogen hat, zieht am Strohhalm seiner Mineralwasserflasche. „Halt deine Hände so, dass er die Handrücken sieht“, rate ich ihm genervt. „Ich versuch gerade, Kunden zu finden, also stör mich nicht!“ Lee hat schon mehrmals gemeldet, dass er fragend betrachtet wird – natürlich nicht ängstlich. Er hat es einfach festgestellt, weil er weiß, dass es meinen Geschäften in die Quere kommen kann. Und ich weiß, dass es ausnahmsweise nicht an seinem Äußeren liegt. Wir sind in dem gleichen Club, in dem ich letztens Ino über den Weg gelaufen bin. Ich habe nämlich vermutet, dass man hier ganz gut Drogen verkaufen könnte – jedenfalls scheinen alle Ordnungshüter einen großen Bogen um den Laden zu machen. Und wenn es einem nicht sowieso egal ist, wenn man gegen das Gesetz verstößt, kommt man auch nicht her. Ich hab aus der Lostrommel einen Chip mit der Aufschrift Sei der Dealer gezogen. Aufgemalt ist ein Poker-Spieler gewesen, aber ich habe sofort draus geschlossen, dass es um Drogen gehen soll, und bei Olga einen ganzen Koffer voller Kokain bestellt. Das Gremium liefert schnell, echt jetzt, und ich hab mir eh schon zu lange Zeit damit gelassen, einen geeigneten Umschlagplatz für das Zeug zu finden. Also bin ich wieder hierhergekommen. Ich trage eine Knopfkamera, wie Ino sie wohl auch gehabt hat, als sie hier gearbeitet hat – und ich hoffe, dass die Bildqualität in dem Zwielicht hier nicht total grottig wird. Lee habe ich als Bodyguard engagiert. Schließlich kann es gefährlich sein, hier aufzukreuzen, noch dazu mit einem Haufen Schnee in den Jackentaschen. Ich hab ihm die Hälfte meines Gewinns dafür versprochen – eigentlich ist es mir ja egal, wie viel Kohle ich erwirtschafte. Die Drogen des Gremiums waren echt nicht billig, aber es reicht, wenn ich sie mit minimaler Gewinnspanne weiterverkaufe – wenn man das so nennt. Von geschäftsmännischen Sachen hab ich keine Ahnung. Aber ich weiß, dass ich das meiste Geld eh verdienen werde, wenn der Dealer-Chip nächste Woche als gültig ausgelost wird. Und genug Budget für den Ankauf hatte ich. Meine Geschlechtsumwandlung, wie Ino sie genannt hat, hat sich ausgezahlt. Sonntagabends, als ich wieder vom Casino daheim war, habe ich eine SMS vom Gremium bekommen, dass ich für meine letzte Aufgabe Geld überwiesen bekomme. Generell scheint es eine einträgliche Woche für uns gewesen zu sein. Sakura, Ino, Lee und Kiba haben auch alle ein Plus gemacht, von den anderen weiß ich es nicht. Wenn man mit Lee an einem Ort wie diesem zusammenarbeitet, hat man automatisch ein bestimmtes Problem am Hals. Wer in diesen Club kommt, ist ein rauer Haudegen und verträgt eine Menge Alkohol. Es gehört zum guten Ton, dass man hier säuft – auf jeden Fall sollte man das tun, um nicht noch weiter aufzufallen, wenn man schon keinen kahlgeschorenen Kopf, Punkerklamotten oder Springerstiefel hat. Aber Lee und Alkohol … das ist nicht ratsam. „Sag mir noch mal, was die Kreuze überhaupt bedeuten“, ruft Lee mir zu. „Damit ich die richtige Antwort gebe, wenn jemand fragt.“ Ich rolle mit den Augen. „Die Kreuze zeigen denen, dass du Straight Edge bist. Das ist irgend so eine Punker-Erfindung, und wer Straight Edge ist, gibt damit an, dass er eben nichts trinkt.“ Das ist mein Plan für Lee für heute Nacht gewesen. Ich hab mal eine Dokumentation über Straight-Edge-Leute gesehen und fand sie eigentlich ziemlich cool – die ziehen ihr Ding durch und sind stolz drauf, ihre Grundsätze einzuhalten. Ich habe gehofft, dass Lee damit ein wenig Eindruck schinden und gleichzeitig eine Erklärung für seinen Abstand zum Alkohol abliefern kann. Cool genug zu sein, um es ganz anders zu machen als die anderen, sozusagen. Aber irgendwie hilft es nicht viel, denn ein paar Skinheads in der Nähe zeigen gerade mit dem Finger auf ihn und lachen, und zumindest einer schaut finster drein. Vielleicht kennen sie das Zeichen auch gar nicht. „Hey, bist du nicht ein Freund von Ino?“, reißt mich plötzlich eine Stimme aus meinen Gedanken. Die Bedienung hinter der Bar, die mir gerade meinen Drink reicht, lächelt mich gewinnend an. Ich kann mich an sie erinnern – ihr knallgrünes Haar ist ziemlich auffällig. Sie spricht mit einem starken Akzent. „Ähm, ja … Woher weißt du das?“, rufe ich ihr zu. „Ino hat letztens geschwärmt von dir.“ „Echt jetzt?“ „Ja, sie hat erzählt, dass du ziemlich schlau warst, dich als Mädchen zu verkleiden“, grinst die Kellnerin. Ich spüre, wie meine Ohren rot werden. „Ich hab dich im ersten Moment wirklich für ein Mädchen gehalten. Ino hat mich dann aufgeklärt.“ „Und du hast mich wiedererkannt?“, frage ich, gerade als zwei bullige Typen sich zu Lee gesellen und ihm jeder einen Arm über die Schulter legen – gespielt freundschaftlich und mit wölfischem Grinsen im Gesicht. „Na, Kleiner? Was ist denn das da in deiner Flasche?“ „Prickelndes Mineralwasser“, erklärt Lee wahrheitsgemäß. „Ich merk mir Gesichter gut“, erklärt die Kellnerin und ich muss mir Mühe geben, überall gleichzeitig hinzuhören. „Auch wenn du geschminkt warst. Und Ino hat mir ein Foto von dir gezeigt, damit ich weiß, wie du wirklich aussiehst. Ich hab ihr nämlich wirklich nicht geglaubt, dass du ein Mann bist.“ Ich glaube, ich muss mal mit Ino darüber reden, was sie so alles über mich erzählen darf und was nicht … Immerhin kenne ich diese Frau gar nicht, und Ino hat sie sicher auch nur ein paar Tage lang gekannt. „Und warum trinkst du nicht was Ordentliches?“, fragt einer der Skinheads Lee. „Zum Beispiel so was. Riecht gut, oder?“ Der andere lässt Lee an seinem Flachmann schnuppern. „Tut mir leid, das darf ich nicht“, sagt Lee. Er ist wohl der Einzige, den ich kenne, der ohne Scham zugibt, dass er nichts verträgt. „Wenn ich Alkohol trinke, fange ich an zu randalieren und schlage alles kurz und klein.“ Der eine Kerl lacht schallend, währen der andere die Brauen zusammenzieht. „War das gerade ‘ne Drohung oder was?“, fragt er lallend. „Ich bin Verde“, reißt die Barkeeperin wieder meine Aufmerksamkeit an sich. „Äh … Naruto.“ Ich sollte Lee helfen – besser, ich beende das Gespräch … „Ich weiß“, kichert Verde spitzbübisch. Ich verziehe den Mund. Ino, dieses Plappermaul … Aber gut, sie wird Verde schon vertrauen, sonst hätte sie nicht so viel von uns preisgegeben. „He! He, Schnitte!“, kräht ein dürrer Kerl neben mir und winkt Verde mit einem Geldschein zu. „Ich wart‘ schon ewig!“ Verde lächelt ihn nur an, zwinkert mir dann zu und hört sich seine Bestellung an. Ich drehe mich um – und finde Lee allein vor, er steht ruhig da und schlürft sein Mineralwasser aus. „Wo sind die zwei Typen hin?“, frage ich stirnrunzelnd. Lee grinst sein strahlend weißes Grinsen. „Ich habe zwei Kunden für dich ausgemacht.“ „Echt jetzt?“ Ich reiße die Augen auf. „Sie treffen uns um halb fünf im Hinterhof. Sie sagen gerade noch ein paar Kumpeln Bescheid.“ „Wie hast du das …“ Ich werde angerempelt, als sich ein Schwergewichtsboxer – von der Statur her könnte er zumindest einer sein – an die Bar drängt. Obwohl ich neugierig bin, wie Lee das angestellt hat, verschiebe ich die Sache auf später. Ein paar Kunden reichen leider nicht, ich muss bis Sonntag einen ganzen Koffer voller Schnee loswerden. „Okay, wir teilen uns auf“, rufe ich Lee ins Ohr. „Alle, die Interesse haben, schickst du in den Hinterhof. Ab halb fünf verkaufen wir das Zeug dort.“ „Ist gebongt!“ Er salutiert kindisch und drängt sich durch die Menge.   An diesem Morgen haben wir sechs Kunden. Die ersten beiden sind wirklich die Schlägertypen, die Lee angequatscht haben. Sie treiben raue Scherze, aber sie zahlen brav und bedanken sich für die Ware. Dann kommt ein ziemlich ausgeflipptes Mädchen, das ich selbst angeworben habe, eben weil es so ausgeflippt ausgesehen und sich benommen hat, als wäre es bereits auf Drogen. Es kichert aufgekratzt und vergisst fast, uns zu bezahlen. Der vierte ist ein massiger Typ ohne Hals. „Wo ist der Stoff?“, knurrt er und sein Goldzahn reflektiert das Mondlicht heller als der matschige Schnee ringsum. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass es fürchterlich kalt in diesem Hinterhof ist, außerdem menschenleer, und dass es grässlich nach Abfall, Kotze und Pisse stinkt. „Den hab ich in meinen Taschen“, erkläre ich. „Kannst du auch bezahlen?“ „Her damit“, brüllt der Mann, als hätte er mich gar nicht gehört. „Nur gegen Bezahlung!“, sage ich etwas lauter. „Willst du sterben, hä?“, schreit er mich an, dass Speicheltröpfchen in mein Gesicht klatschen. Ich pralle zurück. Wie kann man dermaßen schnell von null auf hundert kommen? Lee schiebt sich pflichtbewusst zwischen uns. „Ohne Geld keine Ware. Bitte gehen Sie wieder“, sagt er. „Verpiss dich, du Spargelheini!“, keift der Mann. „Ich bring dich um! Rück sofort das Zeug raus!“ „Wenn Sie kein Geld haben, haben wir auch nichts für Sie“, sagt Lee und ich bin echt unheimlich froh, ihn dabeizuhaben. Der verrückte Junkie macht mir Angst. Schnaufend wie eine Dampflok krümmt er die Hände zu Klauen. „Wenn ihr jetzt nicht sofort den Stoff rausrückt, seid ihr tot!“ Und ohne uns Gelegenheit zu geben, es uns nochmal zu überlegen, stürmt er los. Ich springe in einem Reflex außer Reichweite – der Kerl sieht aus, als könnte er eine Betonwand einrennen. Lee macht nur einen Schritt und schafft es irgendwie, den Typen kalt zu erwischen. Wie eine Kugel aus Fleisch, über die sich Kleidung spannt, segelt der Süchtige durch die Luft und knallt in den Schnee, dass eine weiße Wolke aufstiebt. Brüllend und spuckend rappelt er sich wieder auf, die Augen vor Kälte zusammengekniffen, und taumelt in die ungefähre Richtung von Lee los. Der weicht ihm diesmal aus und tritt ihm in derselben Bewegung die Beine weg. Die Dampflok landet wieder im Schnee. „Ich werde Sie verprügeln, so sehr Sie wollen“, erklärt er. „Aber wir möchten unsere Ware gern verkaufen, und es kommen bald noch andere Kunden.“ „Ich bring euch um!“, heult der Mann und stürmt schon wieder auf Lee zu. Der tritt nur zur Seite und macht eine Probe aufs Exempel, was die Sache mit der Wand angeht: Der fette Typ knallt mit dem Kopf gegen die frostige Backsteinwand des Clubs, erzittert, dass sein ganzer Körper schwabbelt, verdreht die Augen und landet k.o. im Schnee. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Mauer nach Rissen absuche, aber ich finde keine. Wir hören jemanden am anderen Ende des Hofes lachen. Behandschuhte Hände schlagen applaudierend aufeinander. „Statt dem Schnee in eurer Tasche darf er jetzt echten Schnee fressen. Klasse Idee.“ Der Mann sieht nicht aus wie einer der üblichen Gäste in dem Lokal. Er ist ein wenig älter als ich, trägt modische Kleidung und hat langes, blondes Haar, das er sich fast kunstvoll über ein Auge und über den Rücken gegelt hat. Für die Kälte ist er außerdem recht sommerlich unterwegs. In seinem Mundwinkel glimmt ein roter Punkt. Ich glaube, ihn zu kennen. Ist das nicht einer von den Freunden von Sasukes Bruder? „Sind Sie unser nächster Kunde?“, fragt Lee. „Kommt drauf an. Was habt ihr sonst noch, außer Kokain? Man muss es ja nicht gleich übertreiben. Ein netter Ofen bei der Kälte wär zum Beispiel schon was Feines.“ „Wir haben nur Schnee. Willst du was, oder nicht?“, frage ich misstrauisch. Irgendwie ist er mir nicht gerade sympathisch. „Okay, hab’s verstanden. Dann lass ich euch mal mit dem Zeug alleine. Sagt, ihr kennt doch Ino, oder? Ist das hier der Laden, in dem sie mal gekellnert hat? Ich hab über ein paar Ecken davon erfahren“, wechselt er plötzlich das Thema. „Und wenn?“, frage ich. Schon wieder Ino. Heute scheint sie mich zu verfolgen. Der Mann winkt ab. „Nicht so wichtig. Ich dachte mir, ich seh‘ ihn mir mal an, aber wenn ich die Gestalten bedenke, die da momentan raus und rein gehen …“ Er deutet bezeichnend auf den dicken Junkie, der immer noch reglos im Schnee liegt. „Wir können Ino etwas von Ihnen ausrichten“, bietet Lee brav an, ehe ich ihm auf den Fuß treten kann. „Bloß nicht“, lacht er. „Am Ende nennt sie mich einen Stalker. Ich glaube, ich werd‘ einfach nach Hause gehen. Bei der Kälte jagt man ja keinen Hund vor die Tür.“ „Du hättest dir auch was Richtiges anziehen können, und nicht nur so eine Herbstjacke“, platze ich heraus. Ich bin eindeutig übermüdet – meine Feindseligkeit schwappt ihm offen entgegen. „Hätte ich“, gibt er zu. „Leonardo da Vinci hätte die Mona Lisa auch mit Augenbrauen malen können. Hätte-Wäre-Könnte gibt’s viele.“ Ich verstehe den Zusammenhang nicht, aber da vergräbt er auch schon die Hände in den Hosentaschen und trollt sich. Ich schüttle nur über ihn den Kopf.   Wir müssen fast eine halbe Stunde warten, ehe noch drei Kunden aufkreuzen – sie wirken wie ein Pärchen, auch wenn sie zu dritt sind, und sind recht jung. Lee hat sie herbestellt, und wir schaffen es, einen der beiden total betrunkenen Jungs zu überreden, auch noch die beiden letzten Päckchen Kokain zu kaufen, die wir übrig haben. Da er zu wenig Geld dabei hat, einigen wir uns auf einen Sonderpreis, der unseren Gewinn noch einmal deutlich schmälert. Aber dafür habe ich erstens meine Aufgabe erfüllt und bin immer noch im Plus, und zweitens umarmt mich der Junge stürmisch, nennt mich einen Helden und einen Gott, und das Mädchen küsst mich sogar, ehe die drei abdampfen. „Damit wären wir fertig“, seufze ich, als sie aus unserem Blickfeld verschwunden sind. „Hauen wir lieber ab, sonst kommt noch jemand vorbei.“ Der dicke Fleischklops liegt bereits im Schatten einiger Fässer und eines Daches. Lee hat ihn dorthin gezerrt, weil es dort trocken ist. Hin und wieder zuckt er, aber aufgewacht ist er noch nicht. Wahrscheinlich kann es nicht mehr lange dauern. „Ich hoffe, er erkältet sich nicht“, sagt Lee auf dem Weg zur Straße. „Bei so einem Wetter holt man sich schnell eine Lungenentzündung.“ Rock Lee ist einer der wenigen von uns, die immer noch Mitleid mit den diversen Opfern unserer Spiele haben. Ich meine, ich will auch eher wenig Schaden anrichten als viel, aber der Kerl hat sich ja wohl selbst ausgeknockt. Die U-Bahnen fahren unter der Woche nicht mehr um diese Uhrzeit. Wir werden uns ein Taxi rufen müssen … Meine Finger sind ganz klamm von der Kälte, als ich mein Handy hervornestle und den Taxidienst meiner Wahl anrufe. „Teilen wir jetzt das Geld auf?“, fragt Lee. „Machen wir das, wenn wir im Warmen sind“, schlage ich vor. „Wir können uns ja morgen bei mir treffen.“ „Okay. Aber ich würde gerne wissen, wie viel wir eingenommen haben, Naruto.“ Traut er mir nicht? Gerade er würde doch keine Verdächtigungen gegenüber seinen Freunden in seinen Kopf lassen, oder? Vielleicht lernt er ja doch dazu. Ich hole das Geldbündel raus und beginne die Scheine abzuzählen. Da passiert es. Ich sehe es gar nicht kommen, und ich weiß sekundenlang nicht, was eigentlich geschehen ist. Plötzlich küsse ich mit der Schnauze den kalten Bürgersteig und schmecke frischen Schnee im Mund. Vor meinen Augen tanzen Sterne. Lee zieht die Geldbündel aus meiner Hand. Der Mistkerl hat mich mit einem Handkantenschlag im Genick erwischt! „Tut mir leid, Naruto“, sagt er ernst. „Ich habe den Hinterhältiger-Betrüger-Chip gezogen.“ Ich reiße den Mund auf, aber kein Ton verlässt meine Lippen. Fassungslos sehe ich zu, wie er davonsprintet. Voller Energie, als wäre er eben frisch ausgeruht aus einem Power-Napping erwacht. Nie im Leben hole ich den ein. Schließlich ballt sich in meiner Kehle ein wortloser Wutschrei zusammen, den ich ihm hinterherschicke. Dieser Scheißkerl!   Es ist bereits Freitag. Ich sitze in einer heruntergekommenen Mietwohnung, deren Eigentümer ein Arsch ist und mehr dafür verlangt, als wahrscheinlich die Versicherung zahlen wird, wenn mir das Dach über dem Kopf zusammenbricht. Die Wohnung ist winzig und war schon schmutzig, als ich eingezogen bin, und abgesehen davon, dass ich nicht gerne putze, habe ich einige Flecken auch mit allergrößer Mühe und eimerweise Putzmittel nicht wegbekommen. Kein Vergleich zu den edlen vier Wänden meinen feinen Herrn Bruders. Itachi Uchiha müsste man heißen. Ich könnte ihn um finanzielle Unterstützung anpumpen oder ihn fragen, ob er ein Plätzchen frei hätte – selbst eines seiner Ledersofas wäre besser als mein knarzendes Bett –, aber das macht mein ohnehin beschädigter Stolz nicht mit. Und außerdem habe ich hier meine Ruhe. Ich denke über eine bestimmte Person nach. Immer noch. Daran, was sie mit mir gemacht hat. Darüber, ob ich ihr ihre Geschichte abkaufen soll. Ich kann nicht vergessen, wie sie mich angesehen hat, als sie hilflos unter mir gelegen ist … nämlich überhaupt nicht hilflos, sondern voller Kraft und rebellisch. Je länger ich darüber nachgrüble, desto rasender werde ich – aber nicht länger vor Wut, die keinen Ausweg findet, sondern … etwas anderes macht mich rasend. Lässt mich fahrig und gereizt werden, gibt mir das Gefühl, dass ich etwas Entscheidendes übersehe, dass irgendetwas in meinem doch recht ziel- und planorientierten Leben fehlt. Immer, wenn ich mir vorsage, dass ich keine Frau in meinem Leben für mehr als ein paar Stunden brauche, und schon gar nicht Sakura … taucht plötzlich ihr Gesicht vor meinem meinen inneren Auge auf. Ich spüre noch den Kater von gestern – ich habe versucht, in einer Flasche Whiskey eine Antwort zu finden. Die Antwort war dann letztendlich, dass ich mit Sakura geredet habe, als wäre sie bei mir im Zimmer gewesen. Ich kann mich nur schemenhaft daran erinnern, aber ich scheine tatsächlich meine inneren Gedanken nach außen gekehrt und eine leere Whiskey-Flasche damit belästigt zu haben. Irgendwie würde mich interessieren, was genau ich gesagt habe. Vielleicht ist es mir ja tatsächlich gelungen, die widersprüchlichen Gedanken, die mein Hirn neuerdings durchkreuzen, in Worte zu fassen. Geholfen hat es nichts. Ich muss wohl einfach Gras über die Sache wachsen lassen. Sakura noch mal nach Antworten zu drängen hat auch keinen Sinn, und ich will mich nicht noch mehr mit ihr beschäftigen, als meine Gedanken es gezwungenermaßen ohnehin schon tun. Als mein Handy läutet, schmerzt der Klingelton in meinem brummenden Schädel. Kiba ruft mich an. Stöhnend hebe ich ab, eigentlich nur, damit Ruhe ist. „Was willst du?“, frage ich. „Yo, Sasuke. Bist du grad für ‘ne Minute frei?“ „Was willst du?“, wiederhole ich ungehalten. Nur weil wir ein, zweimal geredet haben, müssen wir jetzt nicht auf beste Freunde machen. Ich bin schon froh, dass Naruto offenbar Besseres zu tun hat, als sich an mich zu kleben. „Sag mir mal eben deine Mail-Adresse.“ „Wozu?“, frage ich. „Ich schick dir ‘nen Link. Sag mir, ob das du bist.“ Stirnrunzelnd nenne ich ihm die Adresse, und kurz darauf ist seine Mail auf meinem Smartphone. Ich schalte die Freisprechoption ein und betrachte dann stirnrunzelnd den Link, den er mir gesendet hat. „Was zum Teufel soll das werden?“, frage ich. „Mach ihn schon auf“, drängelt Kiba. „Ist garantiert kein Virus.“ Täusche ich mich, oder klingt er noch lästiger als sonst? Aufgeregter? So gut kenne ich ihn nicht. Und eigentlich hab ich momentan was anderes im Kopf – ein brummendes Wespennest von meiner Solo-Sauforgie gestern, zum Beispiel. Seufzend öffne ich den Link. Das Fenster, das mein Browser öffnet, sagt mir, dass mein erster Gedanke richtig war. Dieser Scherzkeks hat mich zu einer Porno-Seite gelotst. Ich will ihm gerade eine verbale Maulschelle verpassen, als ich das Video sehe, das abgespielt wird. Unmöglich. Es überläuft mich heiß und kalt. Fassungslos starre ich auf mein Smartphone. Das kann doch nicht … Das kann doch wohl nicht … „Und? Und?“, höre ich Kiba wie aus weiter Ferne. „Ich seh‘ doch richtig, oder?“ Und ob er richtig sieht. Ich kann es nicht glauben. Das Video … auf dieser Pornoseite … Ein heruntergekommenes, aus rohen Dielen gebautes Zimmer … ein ramponiertes Bett … und der Mann, der sich gerade splitterfasernackt über eine Frau beugt, die man nicht erkennen kann … bin ich. Kapitel 5: „Du bist das verlogenste Miststück, das mir je untergekommen ist.“ ----------------------------------------------------------------------------- Obwohl wir all unsere grauen Zellen angestrengt haben, sind Neji und ich nicht wirklich weitergekommen. Mein Cousin hilft mir in letzter Zeit immer wieder bei meinen Aufgaben – das heißt, nicht bei der Durchführung, sondern er steuert Ideen bei, wie ich mehr Geld herausschlagen könnte. Meistens interpretiere ich die Chips nämlich viel zu harmlos, wie bei der Sache mit dem Krankenhausdach. Wenn das mein letztendlicher Chip wird, streiche ich sicher keine hundert ein. Und wenn es der andere wird … Ich will gar nicht darüber nachdenken, was mir dann für ein Verlust blüht. Mir würde ein knapper Hunderter ja auch reichen. Ich will gar nicht viel Geld verdienen, ich brauche es doch auch gar nicht. Es ist nur so, dass das Risiko, ins Minus zu geraten, in letzter Zeit rasant gestiegen ist. Ich muss also Geld scheffeln, so viel ich kann. Neji hilft mir aus einem Pflichtgefühl heraus – und weil er sich Sorgen macht –, aber wenn es um Ungesetzliches geht, ist er trotzdem nicht der beste Berater. Deswegen sind wir ein paar Stunden bei ihm zusammengesessen – meine Familie darf nichts von alledem mitbekommen – und haben reichlich wenige Ideen produziert, wie ich meinen Sparta-Chip am besten zu Geld machen könnte. Ich weiß, dass es unfair Neji gegenüber ist, aber ein wenig fühlt es sich jetzt wie Zeitverschwendung an. Ich habe nun zwar einen Plan, aber bei dem wird auch nicht viel herausschauen, und wir haben wirklich lange nachgegrübelt. Dabei hat mich ausgerechnet heute Sakura gefragt, ob ich etwas mit ihr unternehmen wolle. Wir Mädels haben in letzter Zeit immer seltener etwas miteinander gemacht. Wir haben alle weniger Zeit, das Spiel raubt sie uns – und es entfremdet uns. Aber ich habe ihr abgesagt, weil ich Neji nicht das Gefühl geben wollte, dass er die zweite Geige spielt. Nun ist es spät am Abend und stockfinster. Mich fröstelt. Ich gehe ungern nach Einbruch der Dunkelheit vor die Tür. Die anderen haben ihre Schandtaten sicher abgehärtet, aber ich fürchte mich irgendwie umso mehr, seit ich eine Schicksalslos-Spielerin bin. Neji wohnt ziemlich am Stadtrand in einem einfachen Miethäuschen. Er hat mich natürlich zur nächsten Busstation begleitet, aber damit ich zum Haus meiner Familie komme, das fast am gegenüberliegenden Rand liegt, muss ich nach der letzten Station noch einmal gute zehn Minuten zu Fuß gehen. Mein Schritttempo pendelt ständig zwischen eilig und vorsichtig hin und her, mein Atem ist unregelmäßig in der Kälte. Toll, denke ich. Das ganze Nachdenken über alle möglichen Untaten hat dazu geführt, dass sich mein Verstand jetzt alles Mögliche ausmalt, was mir in den dunklen Gassen hier passieren könnte. Dabei funktionieren die Straßenlaternen gut, der Schnee reflektiert viel Licht und meine Familie wohnt in einer sehr sicheren Gegend. Aber trotzdem. Es ist wieder Neuschnee gefallen und die Straße wurde noch nicht freigeräumt. Meine Stiefel hinterlassen einsame Fußspuren. Die wattige Stille tut mir regelrecht in den Ohren weh. Endlich kommt die Straße in Sicht, in der unser Haus liegt – eine kleine Villa mit einem großen Garten. Meine Familie ist so reich, wie Nejis arm ist, obwohl wir verwandt sind. Ich beschleunige erneut meine Schritte – und pralle zurück, als aus einer kleinen Seitengasse vor mir plötzlich eine dunkle Gestalt tritt. Sie trägt einen alten, flickenbesetzten Mantel, eine Kapuze und darüber noch eine Schirmmütze. Der Mund ist noch dazu von einem Schal verhüllt, sodass ich keinen Zentimeter Haut erblicken kann. Und am unheimlichsten ist, dass die Gestalt keinen Laut von sich gibt – sie streckt nur einen dicken Arm aus, der in einem schweren, schwarzen Lederhandschuh steckt. Mein Herz setzt wahrscheinlich zwei Schläge aus und will das gleich darauf kompensieren. Das Pochen presst einen abgehackten, spitzen Schrei über meine Lippen. Ich wirble herum und will losrennen, aber mein Stiefel gleitet auf der dünnen Schneedecke aus und ich kann nur mit einer ungeschickten Grätsche verhindern, dass ich stürze. Ein ziehender Schmerz macht sich in meinem Oberschenkel breit. Ich habe mir bestimmt irgendetwas gezerrt. Ich stolpere mehr, als dass ich renne, ehe ich mich endlich wieder in eine aufrechte Position kämpfen kann. Ich laufe. Ich laufe um mein Leben. Hinter mir höre ich schwere Winterstiefel. Der Unbekannte folgt mir! „Hilfe!“, presse ich hervor – ein pfeifender Laut, der wahrscheinlich nicht mal die nächste Fensterscheibe durchdringt. Mein Herz hämmert so schmerzhaft, dass ich meine, mein Brustkorb müsse gleich bersten. Wieso verfolgt er mich? Wieso passiert mir das? Der Schmerz in meinem Bein wird bei jedem Schritt schlimmer, aber ich lege noch einen Zahn zu. Die Tasche, die ich geschultert habe, schlenkert hin und her, klatscht einmal gegen meine Brust und dann wieder gegen meinen Rücken. Ich drehe mich nicht um, ich spüre einfach, dass der Fremde mir immer näher kommt. Wie auf ein Stichwort höre ich auch schon seinen Atem, spüre, wie kalte, lederne Finger mein Haar berühren … Ich schreie auf, reiße mir die Tasche von der Schulter und schwinge sie mit zusammengekniffenen Augen. Ich spüre einen dumpfen Schlag, als ich ihn treffe. Ich hyperventiliere beinahe, als ich wie erstarrt stehen bleibe, die Augen immer noch zusammengekniffen. Ich kann nicht mehr laufen. Meine Lungen bersten beinahe, und der Schmerz in meinem Oberschenkel durchzieht mittlerweile mein ganzes Bein. Der Schlag eben hat ihm garantiert nichts ausgemacht. Ich bin erledigt. Er hat mich. Gleich wird er mich packen und … Doch der Angriff bleibt aus. Es dauert eine Weile, bis ich die Geräusche, die durch das Rauschen in meinen Ohren dringen, einordnen kann. Schritte. Jemand entfernt sich im Laufschritt. Als ich die Augen öffne, ist der Kerl nicht mehr da. Seine Fußspuren führen die Straße runter, die ich gekommen bin. Am ganzen Leib zitternd und meine Tasche fest umklammernd, kann ich ein paar Minuten nichts anderes tun, als in der kalten Winterluft mitten auf der Straße zu schnaufen. Dann erst schaffe ich es, die letzten Dutzend Meter zu meinem Haus zurückzugehen.   Als ich an diesem Abend zu meiner Wohnung gehe, hat es auch hier geschneit. Auf der Straße ist das einst so schöne Weiß bereits zu einem dreckigen Braun verklumpt. Der Bürgersteig ist mit Schotter bestreut, aber trotzdem ist es unter der dünnen Schneeschicht tückisch glatt. Und es ist stockdunkel. Das ist das Einzige, woran ich mich im Winter nicht gewöhnen kann. Kaum dreht sich der Stundenzeiger über die Vier, wird es finster und finsterer. Um halb sechs habe ich das Gefühl, dass es längst neun sein muss. Diesem Jahr muss man wohl zugutehalten, dass es selbst in unserer Stadt recht viel Schnee gibt. Er reflektiert das Mondlicht und das der Straßenlaternen und Auslagen und somit wirken die Nächte hier heller. Und deswegen sehe ich auch die dunkle Gestalt sofort, die auf der Treppe zu meiner Wohnungstür steht, im Freien, schwarz vor der hell getünchten Hauswand und vor den Schneehäufchen auf dem Treppengeländer. Und bevor ich sein Gesicht sehe, erkenne ich Sasuke. Schon wieder. Auch er bemerkt mich sofort, wie ich, in Schal und Daunenjacke eingemummelt, die Straße entlangtrotte. Er sieht auf, regt sich aber nicht. Für einen Moment bereue ich es, meine erstickende Tracht von gerade eben wieder gegen meine übliche Winterkleidung eingetauscht zu haben und Erstere nur in einem Plastiksack mit mir herumzutragen. In mir wallt ein irrationaler Fluchtinstinkt auf, den ich entschieden niederkämpfe. Warum soll ich davonrennen? Das da ist meine Wohnung, und ja, er weiß, dass ich hier wohne! Ich habe keine Ahnung, was er schon wieder von mir will, aber er wird es sich kaum überlegt haben und mich plötzlich umbringen wollen. Und außerdem bin ich ja eine Fast-Killerin, wie ich ihm so schön gestanden habe. Trotzig gehe ich auf den Häuserblock zu, erklimme die Treppe, die außen um das Gebäude rum führt, klopfe mir auf den letzten Stufen den Schnee von den Stiefeln und starre dann unverwandt in seine dunklen Augen, in denen etwas funkelt. Gefährlich funkelt. Wie Kohlen, die in ihrem Inneren entfacht sind … „Was willst du?“, frage ich, bevor das unwohle Gefühl in mir zu groß wird. Ich sehe, wie seine Kiefermuskeln hervortreten, als er die Zähne zusammenbeißt. Das verheißt nichts Gutes. Bei niemandem, und schon gar nicht bei ihm. „Was ist das?“, knurrt er mit einer Stimme, die jeden Dobermann in die Flucht geschlagen hätte, und hält mir sein Handy entgegen. Erst weiß ich nicht, was er von mir will. Dann merke ich, dass er ein Video abspielt. Das Video, das ich selbst zusammengeschnitten habe. Ich erschrecke dermaßen, dass ich mich beinahe verschlucke. Eine schaurige Kälte kribbelt über meinen Nacken, als wäre mir Schnee in den Kragen gerutscht. Ich sehe deutlich, wie Sasuke und ich in dem alten Wochenendhaus … „Woher … hast du das?“, frage ich heiser. „Du streitest es also nicht ab“, grollt er. So schnell, dass ich es gar nicht registriere, packt er den Wulst meines Schals und stößt mich gegen die Wand. Seine Augen glitzern nun nicht mehr. Sie sind pechschwarz. „Was ist das?“, fragt er hasserfüllt, jede Silbe betonend. Er hält mir das Handy so knapp vors Gesicht, dass ich es gar nicht mehr erkennen kann. „Das … das ist unmöglich“, murmle ich. „Ich …“ „Was? Was ist unmöglich? Was hast du da ausgeheckt, du verrückte Hexe? Von wegen Mafia, von wegen Leute, die dich erinnern sollen, für wen du arbeitest! Du hast uns gefilmt, oder streitest du das etwa ab?“ „Ich … ich habe nicht …“ „Was?“, speit er mir entgegen. Sein Atem streift heiß über mein Gesicht. „So wie ich das sehe, war in dem Zimmer irgendeine Kamera aufgestellt. Willst du mir weismachen, du hast nichts davon gewusst? Wieso sieht man dann nur mich? Wieso sieht man verdammt noch mal nur mich, während von dir immer nur eine Schulter oder der Rücken ins Bild kommt?“ Er presst mich mit seinem Körpergewicht gegen die Hausmauer. Die Sache erinnert mich unangenehm an unsere letzte Begegnung. Ich schlucke meine Furcht hinunter. Hunde, die bellen, beißen nicht, sage ich mir. Dabei weiß ich genau, dass das auf ihn nicht zutrifft. Und abgesehen davon schwirrt mir selbst der Kopf. Ich habe gar nicht die Kraft, ihm weitere Lügen aufzutischen. „Das … das ist nicht möglich“, keuche ich erneut. Ich zermartere mein Hirn darüber, wie Sasuke an dieses Video kommen konnte. Ist er Mitglied im Gremium? Das wäre ja der Gipfel der Lächerlichkeit, oder? „Ich frage dich noch einmal, und du hast besser eine Antwort parat, die mehr Sinn macht als deine letzte“, presst er hervor. „Wie kommt ein Video von uns zwei auf eine verdammte Pornoseite?“ „Wie kommt …“ Ich reiße die Augen auf. Mein Herz macht einen Sprung ins Bodenlose. „Was hast du eben gesagt?“ „Spiel hier nicht die Dumme!“ „Hast du eben Pornoseite gesagt?“ „Was denn sonst? Auf einer Homepage für Kinderlieder wird man sowas ja kaum finden, oder?“ Ich bin plötzlich dankbar, dass er mich gegen die Wand drückt. Meine Knie beginnen nämlich weich zu werden. Ich weiß genau, dass ich ohne ihn einfach umgeknickt wäre. In meinem Kopf dreht sich alles. Das kann doch wohl nicht sein … Wie ist das überhaupt möglich? Würden sie … Nein, das Gremium ist da sehr diskret, würden die so was drehen, hätte es doch irgendjemand in der Vergangenheit schon mal bemerkt … Er erkennt, dass ich nicht ganz bei mir bin. „Wenn du jetzt eine Ohnmacht vortäuschst, bring ich dich um“, sagt er schneidend. „Ich will Antworten, und du wirst sie mir verdammt nochmal geben.“ Ich höre kaum hin. Ich vergesse beinahe, dass Sasuke überhaupt hier ist, während mir das ganze Ausmaß dieses Desasters klar wird. „O mein Gott“, hauche ich und schlage die Hände vor mein Gesicht. Ich bin im Internet! Sasukes und mein Sextape … ist auf einer Pornoseite aufgetaucht! „O mein Gott hilft dir hier nicht weiter“, knurrt er „Nimm sofort das Video von dieser Seite.“ „Das … kann ich nicht“, flüstere ich kleinlaut. „Was soll das heißen, du kannst es nicht?“ „Was ich sage!“, fahre ich ihn an. „Ich kann das Video nicht löschen!“ „Und warum zur Hölle nicht?“ „Weil ich, zur Hölle, keine Ahnung habe, wie das Video dort hinkommt! Ich habe es nicht hochgeladen! Was ist das überhaupt für eine Seite?“ „Du bist das verlogenste Miststück, das mir je untergekommen ist.“ Sein Knurren hat eine neue Note angenommen. Es ist kaum noch hörbar und klingt umso bedrohlicher. „Du hast auf dieses Haus aufgepasst, ja? Haben die Besitzer die Kamera dort drapiert oder was?“ Ich werfe wieder einen scheuen Blick auf das Video, das munter in Sasukes Handy weiterläuft. Eben ist seine blanke Seitenansicht zu sehen. Die Frau unter ihm liegt tief in den Kissen. Wo ihr Kopf sein sollte, ist das Bild zuende. Das da ist die bearbeitete Version des Videos, die ich als Beweis für meine letzten Chips zusammengeschnitten habe. Aber das ist unmöglich. Ich habe das Original von der SD-Karte gelöscht, habe es auf meinem Notebook bearbeitet – in meinen eigenen vier Wänden – und dann auf einen USB-Stick gespeichert, der meine Tasche nicht verlassen hat, bis ich ihn schließlich am Sonntag in mein Schließfach gelegt habe. Und natürlich habe ich alle Spuren von meinem Computer entfernt. Verdammt nochmal, wer hätte überhaupt Gelegenheit, da ranzukommen? Was soll das für ein Hokuspokus gewesen sein? Mein Blick fällt auf meine Wohnungstür. Das alte Schloss, der Schlüssel, der nicht richtig sperrt, die Tür, die schief in den Angeln hängt und durch die es zieht wie Hechtsuppe. Scheiße. Jemand ist bei mir eingebrochen! Jemand, der wusste, dass ich dieses Video habe. Die Erkenntnis überläuft mich eiskalt. Ich fühle mich, als wäre ich kopfüber in einer Schneewehe gelandet. „Oh nein.“ Das ist das Einzige, was ich noch herausbringe. Die Gewissheit, dass jemand bei mir eingebrochen ist, ohne dass ich es gemerkt habe – er muss das Schloss geknackt haben, mehr kaputt als üblich ist es ja nicht –, finde ich plötzlich sogar fast schlimmer als die Tatsache, dass in einem Internetvideo mein nackter Rücken zu sehen ist. Sasuke verfolgt jede meiner Gesichtsregungen aufmerksam. Sein Blick ist bohrend geworden, seine Mundwinkel kräuseln sich zornig. „Ich fasse es nicht … Nein … Dieser …“ „Dieser wer?“, unterbricht er meine abgehackten Sätze. Meine Gedanken fliegen herum wie ein Schwarm Libellen, schillernd und schwer brummend, aber nicht zu fassen. Ich kann nicht auf das Schlupfloch eingehen, das Sasuke mir bietet, aber vielleicht überzeugt ihn meine schockierte Miene davon, dass ich mit der Sache nichts zu tun habe … fürs Erste. Wenn er ein wenig darüber nachdenkt, wird er zu dem Schluss kommen, dass ich etwas damit zu tun haben muss. Ich sehe, dass er auf eine Antwort wartet. Dabei hätte ich selbst gern eine! Ich raufe mir die Haare, bringe keinen vollständigen Satz heraus. Schließlich packt er mein Handgelenk und schubst mich zu meiner Tür. „Sperr auf. Wir reden drinnen weiter.“ Mit klammen Fingern tue ich, wie geheißen. Wie um mich zu verhöhnen, klappt es gleich beim ersten Mal. Meine Wohnung kommt mir mit einem Mal fremd vor. Besudelt. Feindselig … Ich ertappe mich dabei, wie ich in alle Ecken spähe, als ob sich noch irgendwo der Schuldige verstecken würde. Sasuke wirft die Tür hinter mir ins Schloss und baut sich mit verschränkten Armen davor auf. „Also. Du bleibst bei deiner Geschichte, dass du nicht weißt, wie dieses Video dort hinkommt? Aber du wusstest, dass es das Video gibt. Das war nicht zu übersehen. Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ „Ich bin nicht deine Sklavin, dass du mich so herumkommandieren kannst!“, schreie ich ihm entgegen. Glaubt er denn, er ist der Einzige, dem hier jemand einen üblen Streich gespielt hat? Ja, sage ich mir. Das wird er glauben, solange du ihm nicht die Wahrheit erzählst. „Kannst du mir mal verraten, was ich davon halten soll? Oder was ich jetzt tun soll?“, knurrt Sasuke. „Erst werde ich von diesen Mafia-Heinis verprügelt, als hätte ich plötzlich irgendein heiliges Gangstergesetz übertreten. Dann erzählst du mir, dass du für die arbeitest und ab und zu mal Leute aufs Kreuz legst. Und dann ruft mich plötzlich Kiba an und erzählt mir, dass ich neuerdings ein Pornostar auf irgendeiner dubiosen Webseite bin!“ „Kiba war das?“, frage ich hellhörig. „Er hat dir das Video gezeigt? Was macht der überhaupt auf so einer Seite?“ Auch wenn ich diesbezüglich eine ungefähre Vorstellung habe … „Wenn du’s schon wissen willst – ich hab ihn auch gefragt. Sieht so aus, als hätte er neuerdings eine Freundin, die genauso durchgeknallt ist wie er. Er hat mir brühwarm erzählt, sie wollten sich ein wenig in Stimmung bringen.“ Die Kraft weicht endgültig aus meinen Beinen. Ich sinke auf mein Bett und vergrabe das Gesicht in Händen. Auch noch Kiba … Er hat unser Video also auch gesehen. Wenn er schon Sasuke davon erzählt hat, weiß es bald die ganze Clique … „Ich warte immer noch auf deine Erklärung“, brummt er. Seine Wut scheint verraucht, aber ich weiß, dass sie nur ein wenig unter der Asche schwelt. „Es gibt keine Erklärung“, versuche ich es halbherzig. „Die Hütte gehört mir ja nicht. Irgendjemand hat eben eine Kamera aufgestellt und uns aufgenommen.“ „Verarschen kann ich mich selbst“, sagt er. Er steht da wie eine Salzsäule. Unter seinen Stiefeln haben sich Wasserpfützen vom Schnee gebildet. „Ich hab mich immer noch nicht für das hier revanchiert.“ Er deutete auf das Cut an seiner Stirn. Er hat es nicht verarztet, fällt mir auf. Schorf hat die Wunde überwuchert. Ich atme tief durch. „Ich habe nur eine Vermutung. Es gibt muss einen Chip mit dieser Aufgabe geben. Und ich weiß, dass es zumindest eine Das Gremium bestimmt das Opfer-Karte gibt.“ „Was redest du da? Was für ein Gremium?“ „Die Leute, für die ich arbeite“, rutscht mir heraus, und erst im nächsten Moment wird mir bewusst, was ich da sage. „Ach, jetzt steckt wieder die Mafia dahinter, ja? Das würde immerhin erklären, warum du auf dem Video nur auszugsweise zu sehen bist. Wollt ihr mich erpressen, oder was? Was zur Hölle hab ich euch eigentlich getan?“ „Es ist nicht so, wie du denkst“, versichere ich ihm. „Ich … ich wusste nichts von … Okay, ich wusste von dem Video, aber …“ „Hab ich’s mir doch gedacht“, sagt er eisig. „Und, erzählst du ab und zu auch mal die Wahrheit, oder lügst du den ganzen Tag vor dich hin?“ „Hör zu, ich hab auch keine Lust, dass mich irgendwer im Internet als Wichsvorlage nimmt“, fauche ich. „Was ziehst du dann so einen Scheiß ab? Denkst du auch mal nach, bevor du was tust?“ Meine Wangen röten sich vor Wut. Er tut es schon wieder. Er ist wieder so überheblich wie vor drei Jahren – als würde er mit einem kleinen Mädchen sprechen, das keine Ahnung von der Welt hat und jedes seiner Worte auf die Goldwaage legt. „Hat der unfehlbare Mister Uchiha etwa einen Ruf zu verlieren? Ich dachte, es wäre dir sowieso egal, was andere von dir denken.“ „Wenn du mit denen unter einer Decke steckst, wirst du ihnen sagen, dass sie das Video löschen sollen“, knurrt Sasuke. „Sonst kann ich nämlich verdammt ungemütlich werden.“ „Die werden nicht einfach tun, was ich ihnen sage. Das gehört sicher zum Spiel.“ „Was für ein Spiel? Wenn das deine Bosse sind, warum verarschen die dich dann? Geht es am Ende wirklich nur um mich?“ „Nein, geht es nicht.“ Ich kann mich nur mit Mühe beherrschen. Ich zähle bis drei, atmete tief ein und aus. Es führt wohl kein Weg daran vorbei, ich muss es ihm beichten. „Setz dich. Es dauert wohl länger.“ Er bleibt mit verschränkten Armen stehen. „Gut, dann nicht“, schnappe ich. „Also, ich sag dir die Wahrheit. Wenn du mich unterbrichst, höre ich auf und werfe dich einfach raus.“ „Du kannst es ja versuchen“, meint er mit zuckenden Mundwinkeln. „Vor drei Jahren, als du gerade aus der Stadt verschwunden warst, sind wir in … in einen VIP-Bereich im Norns-Casino geladen worden.“ „Wer ist wir?“ „Ich hab gesagt, du sollst mich nicht unterbrechen!“ Der Kerl macht mich fertig. „Ino, ich und ein paar andere aus unserem Freundeskreis. Kiba inbegriffen.“ „Und Naruto?“ „Der auch.“ Ich beschließe, ihm nichts mehr zu verheimlichen. Vielleicht hat er ja auch so etwas wie ein Recht auf die Wahrheit – beziehungsweise wird er sie sowieso herausfinden. „Also steckt ihr da wirklich alle mit drin“, stellt er fest. „Kein Wunder, dass ich fast nicht an dich rangekommen bin.“ „Ich hab sie nur gebeten, dir nicht zu stecken, wie du mich finden kannst, verstanden? Die wissen alle nichts von uns.“ „Jetzt schon“, behauptet Sasuke ungerührt. „Und warum sollten sie mich von dir fernhalten? Hattest du solche Angst? Oder etwa Schuldgefühle?“ „Ich hatte nur keine Lust auf deinen ätzenden Charakter“, werfe ich ihm an den Kopf. „Autsch, das tat jetzt aber weh. Erzähl endlich weiter, sonst schlafen mir wirklich die Füße ein.“ Ich verzichte darauf, ihn dahingehend aufzuklären, dass er es ist, der mich ständig unterbricht. Tief hole ich Luft. „Also, wir sind in das Untergeschoss des Casinos gekommen und haben uns für ein Spiel angemeldet. Eine Art Glücksspiel – wobei es sehr verlockend geklungen hat. Wenig Risiko und hoher Gewinn, wenn du verstehst.“ „Ich kann mir Naruto irgendwie nicht als geldgeilen Zocker vorstellen.“ Ich wedle ungeduldig mit der Hand. „Wir waren auch nicht alle gleich damit einverstanden … Wir sind da mehr oder weniger reingerutscht. Willst du es jetzt hören oder nicht?“ Er nickt mir auffordernd zu. „Die Regeln sind simpel. Einmal die Woche treffen wir uns in dem Raum im Casino. Dort ziehen wir jeder zwei Chips aus einer Lostrommel. Die sind so was wie Glückskekse: Auf jedem steht ein Satz oder Spruch drauf. Das sind Aufgaben für uns. Was genau wir zu tun haben, müssen wir selbst hineininterpretieren.“ „Hast du deswegen das mit der Schwarzen Witwe erwähnt?“, fragt er. Ich bin überrascht, dass er sich noch daran erinnert. „Die Schwarze Witwe und die Gottesanbeterin waren meine Chips letzte Woche. Und wir müssen auch immer alle eine Karte mit einer Zusatzregel ziehen. Auf meiner stand, dass ich niemanden umbringen darf.“ „Wie schön. Sonst wäre ich tot, oder wie?“, ätzt er. „Moment, verstehe ich das richtig? Ihr trefft euch seit drei Jahren jede Woche, um irgendein krankes Spiel zu spielen?“ „Am Anfang war es nicht krank“, beharre ich. „Es waren immer Dinge, die ungesetzlich sind, ja, aber sie hatten alle ihren Reiz. Man hat immer eine Woche Zeit, um einen der beiden Chips abzuarbeiten – oder beide. Nach dem nächsten Treffen wird nämlich noch einmal ausgelost, welcher der beiden Chips nun zählt und welcher nicht. Wenn man den falschen umgesetzt hat, verliert man Geld, sonst bekommt man welches. Je krasser das ist, was man tut, desto mehr springt dabei heraus, beziehungsweise desto weniger belastet das Gremium unsere Konten. Am besten fährt man, wenn man versucht, beide Chips auf einmal abzuhandeln. Also wenn man irgendwie beide Stichworte in eine Tat integrieren kann oder zwei Dinge separat macht. Und damit man beweisen kann, dass man es tatsächlich getan hat, filmt man es oder schießt Fotos.“ „Und von daher kommt also das hier.“ Sasukes Faust ballt sich um sein Handy. Das Video ist längst erloschen, aber er packt es so fest, dass ich vor meinem inneren Auge schon das Display zerspringen sehe. Mir fällt auf, dass der Teil, in dem Sasuke zusammengeschlagen wird, fehlt. Offenbar hat der mysteriöse Übeltäter nur etwas weniger als zehn Minuten von meinem Zusammenschnitt hochgeladen. Plötzlich wird Sasukes Miene hämisch, und ich frage mich, was ihm jetzt für ein Gedanke gekommen ist. „Das ist ja wirklich sehr interessant. Die kleine, brave Sakura Haruno. Früher so selbstlos und lerneifrig. Und kaum lässt man sie drei Jahre aus den Augen, wird sie zur Prostituierten.“ „Ich bin keine … Was fällt dir ein?“, brause ich auf. Er stapft auf mich zu und wackelt mit seinem Handy vor meiner Nase herum. „Du schläfst mit anderen Leuten, um dafür Geld zu bekommen. Und offensichtlich bist du noch stolz drauf. Das nenne ich Prostitution.“ Ich ziehe scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Wäre ich nicht viel zu geschlaucht, hätte ich ihm vielleicht eine gescheuert. „Ich schlafe eben nicht mit Männern, die mich dann bezahlen! Ich bekomme Geld, weil ich etwas Ungesetzliches tue! Ich bekomme Geld, weil ich Leute wie dich übers Ohr haue und anschließend verprügeln lasse!“ Seine Augenbrauen senken sich unheilvoll. Upps. „Also geht es doch auf deine Kappe, dass die zwei Typen plötzlich aufgekreuzt sind. Warum überrascht mich das nicht?“ Ich will etwas erwidern, aber er schneidet mir das Wort ab: „Du kannst es schönreden, so viel du willst. Du hättest mich auch einfach mit K.O.-Tropfen lahmlegen und ausrauben können. Aber nein, du musstest mit mir schlafen und das Ganze filmen, damit du an deine heiligen Geldscheine kommst. Du bist eine Hure, Sakura!“ Seine Worte prallem gegen mich wie Steine gegen eine Statue – ja, sie tun weh, und ja, sie schlagen Risse, aber sie reichen nicht, um mich kaputtzuschlagen. Ich habe zu viel erlebt in den letzten drei Jahren, zu viel getan, um von ein paar wütenden Worten fertiggemacht zu werden. „Wenn das so ist, dann kriege ich noch Geld von dir, Sasuke“, sage ich bittersüß. „Da haben wir aber ein Problem“, sagt er kalt. „Für dich würde ich nämlich keinen Cent ausgeben.“ Diesmal schlage ich ihn wirklich und gebe mir Mühe, auf seine Stirnwunde zu zielen. Es wird einfach Zeit, dass er merkt, dass er nicht mir umspringen kann, wie es ihm gerade passt. Er zuckt kurz, aber alles, was ich erreiche, ist, dass er meine Hand abfängt, mich grob zu sich zerrt und seine Augen so dicht vor meine bringt, dass ich das Gefühl habe, in ein finsteres Loch zu fallen. „Du hast mir deine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt“, knurrt er kehlig. „Du solltest also irgendeinen Kerl ins Bett locken und dabei filmen, und zufällig hast du mich ausgewählt, hab ich das richtig verstanden? Und du solltest ihn gnädigerweise nicht umbringen. Wann kommt der Part ins Spiel, wo du das Video ins Internet hochlädst?“ Ich reiße mich los. Seine Finger haben brennende Abdrücke an meinem Handgelenk hinterlassen. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich das nicht war! Es muss einer der anderen gewesen sein! Es gibt Regelkarten, die besagen, dass das Gremium das Ziel deiner Untaten auswählt. Ich hab so eine erst kürzlich selbst gezogen. Das Ziel ist dann immer jemand aus unserer Runde – ich weiß nicht, warum, ich vermute, das Gremium findet es einfach amüsant, wenn wir uns gegenseitig was antun. Jemand muss einen Chip gezogen haben, auf dem steht, dass er die Beweise eines anderen veröffentlichen soll oder so. Und die Regelkarte hat ihm dann gesagt, dass er das Opfer nicht selbst wählen darf. Und weil mein Beweisvideo in der Woche vermutlich … etwas prickelnd ausfallen würde, hat das Gremium beschlossen, dass er mich bestehlen soll.“ „Prickelnd“, schnaubt Sasuke. „Wer war in dieser Woche alles in deiner Wohnung?“ „Niemand außer mir. Aber mein Schloss ist … Es funktioniert nicht richtig und es ist uralt. Gut möglich, das es mal nicht richtig gesperrt hat oder dass es einfach jemand geknackt hat.“ „So viel dazu, du hättest Geld“, brummt er. „Du haust hier in diesem Loch wie eine Pennerin.“ „Ich bin gerade auf Wohnungssuche“, sage ich gereizt. Wie lange will er mich eigentlich noch demütigen? Und warum habe ich nur das Gefühl, dass ich mich tatsächlich mies fühlen sollte in seiner Gegenwart? Ist es das Mitleid oder mein Gewissen? Ich glaube, beides schlägt bei Sasuke nicht mehr an. Es ist eher so, dass es mich an früher erinnert – als er so unnahbar und unerreichbar für mich gewesen ist. „Also, wen hast du in Verdacht?“, fragt Sasuke. Soll ich nun wirklich jemanden meiner Freunde anprangern? Ich schlucke meine Skrupel hinunter. Offensichtlich war es einer von ihnen, wer sollte es schließlich sonst gewesen sein. Und wir haben alle schon ganz andere Sachen angestellt. „Da sind drei … zwei Typen bei uns in der Runde, die ich nicht kenne. Aber ich glaube nicht, dass es die gewesen sind. Das wäre selbst für das Gremium zu billig, und außerdem kennen mich die nicht mal.“ „Vielleicht hat es das Gremium ihnen erzählt?“ Ich schüttle den Kopf. „Als wir eingestiegen sind, haben sie uns erklärt, dass unsere Anonymität perfekt gewahrt bleibt. Wenn wir uns nicht außerhalb des Spiels kennen, kennen wir uns auch nicht innerhalb, wenn du verstehst.“ „Also jemand von unseren sauberen Freunden. Wer war noch alles dabei, hast du gesagt? Kiba und Naruto? Wer noch?“ Ich atme tief durch. Ich habe ihm nicht alle aufgezählt, aber bevor er es herausfindet und mir wieder Vorhaltungen macht … „Naruto, Kiba, Ino, Neji, Tenten, Lee, Chouji und Hinata. Aber Hinata kann ich mir nicht als Täterin vorstellen – und Neji auch nicht, der hat zu viel Anstand dafür.“ Sasuke schnaubt, nicht überzeugt. „Und wie gedenkst du es rauszufinden? Willst du sie einfach fragen?“ Ich erwäge diese Option ernsthaft. Immerhin ist es nur ein Spiel und wir hegen ja keinen Groll gegeneinander … Zumindest bis jetzt nicht. Ich fühle mich ziemlich hintergangen – und der oder die Schuldige wird es sicher nicht zugeben, ein Sextape von mir und Sasuke veröffentlicht zu haben. „Ich glaube nicht, dass wir das so einfach rausfinden können“, sage ich schließlich. „Ich meine, ich kann es versuchen. Ich stelle ein paar Fragen … und versuche, unsere Rollen auszunutzen.“ „Rollen? Was soll das jetzt schon wieder heißen?“ Ich seufze ungeduldig. Das Geräusch lässt eine seiner Augenbrauen zucken, als würde es ihn an etwas Unangenehmes erinnern. „Als wir mit dem Spiel angefangen haben, haben wir alle eine bestimmte Rolle erhalten. Wir kennen unsere Rollen gegenseitig, und sie gelten, bis das Spiel eben vorbei ist – was in absehbarer Zeit nicht der Fall zu sein scheint. Ich zum Beispiel bin der Nachtmensch. Alles, was ich tue, muss zwischen sechs Uhr abends und sechs Uhr morgens passieren.“ „Und die Rollen der anderen?“ „Hinata hat zum Beispiel eine Rolle, mit der sie die letzten Chips einer Person erfragen darf – allerdings nur die aktuellen.“ „Was uns nichts bringt, weil der Täter unser Video schon letzte Woche geklaut hat.“ Irgendwie irritiert es mich, dass er es als unser Video bezeichnet. „Tenten muss all ihre Beweismittel in ihrer Wohnung aufbewahren. Wenn sie es war, finden wir es leicht heraus.“ „Also auf zu Tenten“, sagt Sasuke entschlossen. „Nein – warte. Ich überleg mir was, ja?“ Das fehlt mir gerade noch, dass er bei ihr genauso einen Krawall macht wie bei mir. Ino hat mir erzählt, dass sie eh schon ziemliche Probleme hat. „Na schön. Ich überlasse es dir. Ein Problem bleibt aber nach wie vor bestehen.“ Er hat wieder die Arme verschränkt. Eine Pose, die mir mittlerweile gar nicht mehr gefällt. „Nämlich?“ „Das Problem, dass ich keinen Grund habe, dir zu glauben.“ Ich stöhne auf. „Oh, komm sch–“ „Du hast mir schon einmal eine Riesen-Lügengeschichte aufgetischt“, fällt er mir ins Wort. „In drei Tagen kommst du wahrscheinlich doch mit dem Passwort für diese Seite und erpresst mich damit. Ich habe noch nie jemandem leicht getraut, Sakura, und dass sogar du mich hintergehst, beweist nur, wie gut ich daran getan habe.“ Ich seufze ergeben. „Okay. Was kann ich tun, damit du mir glaubst?“ „Sag du’s mir.“ „Ich kann dir das Video zeigen, das ich heute gemacht habe“, biete ich an. „Ich habe es mit einer Knopfkamera gefilmt, die ich vom Gremium habe. Ich habe … Hinata einen Streich gespielt.“ Er überlegt. „Das reicht mir nicht“, beschließt er dann. „Du kannst sonst was gefilmt haben. Nimm mich zu diesen ominösen Treffen im Norns-Casino mit. Dann reden wir nochmal darüber.“ Ich hätte mir denken können, dass er das vorschlägt. „Das geht nicht“, sage ich. „Wieso nicht?“ „Weil der Zutritt nur für Mitspieler ist.“ „Auch gut“, sagt er und bei seinen nächsten Worten glaube ich mich zu verhören. „Dann steige ich eben ein.“ Kapitel 6: „Läuft da was zwischen euch?“ ---------------------------------------- „Bist du sicher?“, fragt Sakura und macht dabei so große Augen, als hätte ich ihr eben erklärt, dass die Erde eine Scheibe ist. „Ja, bin ich“, sage ich. „Wenn meine ehemalige Clique dermaßen Mist baut, möchte ich den Grund dafür am eigenen Leib erfahren.“ Sie schüttelt den Kopf, langsam, als könnte er ihr im nächsten Moment von den Schultern rollen. „Das … Das wäre echt nicht gut.“ „Warum? Weil dein Lügenmärchen sonst auffliegt?“ „Es wäre nicht gut für dich!“ „Wie rührend, dass du dich um mich sorgst“, sage ich eisig. Sie zermartert sich das Hirn nach einem Ausweg. Die ganze Zeit hat sie nichts anderes getan, hat sich stückchenweise erweichen lassen, bis ich endlich zur Wahrheit vordringen konnte. Jetzt fährt sie eine letzte Verteidigung auf. Wohl um mich nicht in das Spiel hineinzuziehen – auch wenn das in Wahrheit längst geschehen ist. Eigentlich sollte ich mich ja geehrt fühlen. Und mir fällt wieder auf, wie anziehend ich sie finde, wenn sie so fieberhaft über etwas nachdenkt. „Ich kann dich einfach nicht mitnehmen“, sagt sie schließlich. „Das glaube ich nicht. Ihr seid doch auch reingekommen. Ich komme einfach mit, am – wann war das? Sonntag?“ „Es geht trotzdem nicht. Du verstehst das nicht, Sasuke. Die Aufgaben war zu Anfang harmlos, ja, aber sie werden immer gefährlicher … Vielleicht zwingen sie dich dazu, etwas zu tun, was du nicht willst …“ „Es gibt wenig, was ich nicht zu tun bereit bin, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe“, sage ich und meine es auch so. „Ich komme mit, Punkt. Ich finde heraus, wer dieses Gremium ist, und bringe sie dazu, das Video von der Plattform zu nehmen. Und ich finde raus, welcher Arsch es überhaupt erst dort raufgeladen hat. Die können alle etwas erleben.“ „Das stellst du dir so einfach vor“, murmelt sie. „Wir haben die Leute aus dem Gremium nie zu Gesicht bekommen. Wir wissen nur, dass sie unsere Beweise bewerten und das Geld austeilen. Und dass sie uns mit Hilfsmitteln versorgen, wenn wir welche brauchen. Vielleicht sind sie wirklich so etwas wie die Mafia, Sasuke. Mit denen solltest du dich nicht anlegen.“ „Blöderweise haben sie sich schon mit mir angelegt“, sagte ich und fixiere ihre grünen Augen finster. Spiegelt sich wirklich Besorgnis darin? Ich will so einen Gesichtsausdruck nicht abbekommen, nicht von ihr! Was glaubt sie, wer sie ist? Wenn sie sich um mich Sorgen machen dürfte, stünde sie ja eine Stufe über mir! Das kann ich nicht akzeptieren. „Hör zu, Sakura. Ich bin jemand, der offene Rechnungen begleicht. Und ich habe hier eine gewaltige Rechnung offen. Wenn du mich nicht zu dem Treffen mitnimmst, damit ich meine Rache bekomme, räche ich mich eben an dir.“ Sie zuckt nicht einmal zurück. Verflixt, wirkt meine Drohung so leer? Hat sie erkannt, dass es mir schwerfällt, auch nur darüber nachzudenken, ihr wehzutun? „Du redest von Rache“, sagt sie, „aber das ist unmöglich. Du wirst höchstens die gleichen Aufgaben kriegen wie wir. Du wirst in dem Spiel gefangen sein, und einfach Aussteigen geht wirklich nicht.“ „Von mir aus“, sage ich. Ich habe mich bereits zu weit vorgewagt, um noch einen Rückzieher machen und dabei das Gesicht wahren zu können. „Ich will einfach wissen, was euch umtreibt. Was ihr könnt, kann ich schon lange. Außerdem hat es sich so angehört, als könnte man leicht einen Haufen Geld machen, wenn man nur entschlossen genug ist. Es gibt nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste.“ Sie beißt die Zähne zusammen, weicht meinem Blick aus. Ihr eigener wandert quer durch ihre Wohnung, über ihre Tür, über ihren Laptop, und dann sieht sie wieder mich an und der Ausdruck in ihren Augen ist … anders. Gleichgültiger. So gefällt er mir schon besser. „Also schön“, gibt sie nach. „Du tust es auf eigene Verantwortung. Und du kannst dich gleich selbst davon überzeugen.“ „Wovon?“ „Dass es leicht ist, jemanden flachzulegen, wenn man die entsprechenden Chips zieht.“   Als ich gerade fürs Wochenende einkaufen bin, klingelt mein Handy. Deidara. „Was willst du?“, frage ich unfreundlich. „Hast du schon wieder Sehnsucht nach mir, oder ist dir einfach nur langweilig? Ich hab gerade keine Zeit.“ „Weißt du, dass deine Freunde Drogen verticken?“, fragt er unvermittelt. Ich bleibe mit meinem Einkaufswagen mitten in der Regalschlucht stehen. Nicht, weil ich über diese Offenbarung schockiert wäre – sondern weil er davon weiß. „Und wenn?“, frage ich kühl. Ich höre ihn seufzen. „Sonderlich überrascht wirkst du nicht. Hm.“ Er beendet den Satz mit diesem lästigen Laut, den ich ihm während unserer mittlerweile dreimonatigen Zweckbeziehung abtrainiert habe. Dass er nun wieder einen Weg an sein Satzende findet, verheißt nichts Gutes. „Was meine Freunde machen, ist ihr Bier“, erkläre ich. „Von mir aus können sie jemanden umbringen. Ich stehe hinter ihnen.“ „Das hast du aber schön gesagt“, sagt er spöttisch. „Würdest du dasselbe auch bei mir machen?“ „Sicher nicht. Ich würde Geschworene werden und dich vor Gericht in den Boden stampfen. Willst du sonst noch was?“ Ich greife nach einer Packung Müsli und lese mir die Nährwerte durch. „Ich frage mich, ob alle von eurer Generation so ruppig sind“, seufzt er. „Deine Freunde haben mich auch ganz schnell abgewimmelt.“ „Wenn du so redest, klingt es, als wärst du unglaublich alt“, stelle ich trocken fest und werfe das Müsli in meinen Wagen – so heftig, dass die Verpackung aufreißt und sich eine einzelne Flocke ins Freie kämpft. Ich fluche. „Naja, ich wollte dich nur darüber auf dem Laufenden halten, dass du in einem recht kriminellen Freundeskreis verkehrst. Falls du also wieder mal behauptest, meine Bekannten wären alle ein wenig zwielichtig, hab ich was, um zurückzufeuern.“ „Wenn das alles war, kannst du mich jetzt meine häuslichen Pflichten erledigen lassen, oder?“ „Ja, ja. Mach’s gut. Wir hören uns – melde dich einfach, wenn du dich mal wieder einsam fühlst. Oder wenn dir kalt ist. Ist ja eine ziemlich unfreundliche Jahreszeit gerade.“ Ich drücke ihn weg, ehe er noch weitere nervige Sprüche bringt. Zu spät erkenne ich, dass ich hätte fragen können, wen genau er bei seinen unlauteren Geschäften erwischt hat. Ich kenne Deidara leider schon ziemlich gut. Er spielt sich als Künstler auf, nimmt wenig ernst, hält sich für unwiderstehlich cool und ist vor allem eins: neugierig. Wenn es ihm in den Sinn kommt, meinen Freunden weiter nachzuspionieren – und am Ende vielleicht sogar mir –, dann kriegen wir alle unter Umständen ein gewaltiges Problem.   Ich klingele an Lees Wohnungstür. Ich war selten hier; Lee unternimmt zwar gerne was mit seinen Freunden, aber irgendwie lädt er sie kaum zu sich nachhause sein. Das Gebäude ist ein Altbau; im Erdgeschoss befindet sich ein Fitnesscenter, das das Neueste dran ist und wohl gleichzeitig auch der Hauptgrund, warum er hier wohnt. Noch bevor ich ein zweites Mal den Finger nach der Klingel ausstrecken kann, öffnet sich die Tür und Lees Topfschnitt springt mir entgegen, die Augen groß und rund und der Mund pflichtbewusst verzerrt. „Naruto!“, begrüßt er mich so heftig, dass es mich fast zurückweht. „Komm rein!“ Ich lasse verdutzt die Hand sinken. Okay, ich hab nicht erwartet, dass er mich einfach rausschmeißt, obwohl wir sozusagen nicht im Guten auseinandergegangen sind, aber er scheint mich sogar erwartet zu haben … Ich folge ihm in die Wohnung, die sehr spartanisch eingerichtet ist. Viel Platz für Lee, seine diversen Trainingsgeräte liegen zu lassen. Hanteln und Gummibänder und Springschnüre und Sachen, die ich noch nie gesehen habe, aber sicher etwas mit Fitness zu tun haben, nehmen jeden freien Quadratzentimeter Boden ein. Überflüssig zu sagen, dass er allein wohnt – er ist ein netter Kerl und so, aber ich glaube, auf Dauer wäre es anstrengend, sich mit ihm eine Wohnung zu teilen. „Setz dich doch!“ Lee rückt mir eifrig einen Plastiksuhl zurecht. So schnell, dass ich gar nicht weiß, wo er herkommt, knallt er vor mir einen Plastikbecher mit einer hellrosa Flüssigkeit auf den Tisch und baut sich mir gegenüber mit einem ähnlichen Getränk auf. „Lee, ich …“ beginne ich. Er macht eine abrupte Kopfbewegung und streckt mir schuldbewusst die Hand entgegen. „Tut mir leid, Naruto! Ich kann dir das Geld noch nicht zurückgeben.“ Ich atme die Luft aus, die ich eigentlich für meinen Satz verwenden wollte. „Es tut mir leid, dass ich dich übers Ohr gehauen habe. Ich hoffe, ich habe dich nicht verletzt“, sagt er und sieht mich dabei nicht an. Er verbeugt sich auf japanische Art so tief, dass sein Kopf fast den Tisch berührt. Meint er nun körperliche oder seelische Verletzungen? „Ähm“, mache ich. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er so offen mit mir darüber reden würde … andererseits ist das hier Lee. Ich hätte mir denken können, dass ihm die Tat längst wieder leid tut. „Warum? Ich meine, mir ist klar, dass das alles wegen dem Spiel ist und so … Wahrscheinlich hattest du keine Wahl, aber …“ „Das stimmt nicht, Naruto. Ich hatte den Verräter-Chip, aber ich konnte mir aussuchen, wen ich betrügen will“, sagt er ernst. „Als du mich gefragt hast, ob ich deinen Begleitschutz spielen will, war das einfach die erste Gelegenheit, die ich ergriffen habe. Es tut mir leid!“ „Hm“, brumme ich und nehme einen Schluck von dem Getränk, das er mir angeboten hat. Es schmeckt süß und nach Beere. Wahrscheinlich ist es das Zeug, das er während seines Trainings trinkt. „Und warum kannst du es mir nicht zurückzahlen? Ich brauche das Geld! Ich hab das Kokain vom Gremium und es ist noch nicht bezahlt!“ Ich habe es eigentlich von meinen Einkünften bezahlen und den Rest zwischen mir und Lee aufteilen wollen. „Es tut mir leid, ich kann es dir nicht geben.“ „Warum nicht?“, frage ich gereizt und springe auf. „Sind wir jetzt Freunde oder nicht? Ich dachte, es tut dir leid!“ „Darum geht es nicht!“ Er streckt die Hand wieder aus, diesmal eindeutig in einer verneinenden Geste, immer noch ohne mich anzusehen. Ich staune, wie viel allein seine gespreizten Finger über seinen Gemütszustand aussagen. „Es wäre kein Verrat, wenn ich dir das Geld zurückgebe. Ich will es am Sonntag dem Gremium übergeben, gemeinsam mit dem Video, das ich gemacht habe. Sobald ich meine Belohnung habe, bekommst du das Geld mit Zinsen zurück.“ „Aber das wäre erst nächste Woche! Ich brauche das Geld noch vor Sonntag!“ „Ich würde es dir von meinem Konto bezahlen“, sagt Lee, „aber ich glaube, das Gremium wird das merken.“ „Keiner von denen merkt, wenn du was von deinem Konto abhebst“, rufe ich erregt. Ganz sicher bin ich mir allerdings nicht. Ich will nicht, dass Lee wegen mir Scherereien kriegt, trotz allem nicht, aber … „Und was soll ich einstweilen machen? Ich hab gerade ein bisschen zu wenig Kohle auf meinem eigenen Konto!“ Das hab ich jetzt davon, dass ich jede Belohnung vom Gremium immer gleich verprasse. Und Olga hat klar gemacht, dass ich das Kokain bezahlen muss, noch bevor sie den Gewinn für die jetzige Aufgabe ausschütten. „Da habe ich mir etwas überlegt“, sagt Lee. „Du borgst dir etwas von den anderen aus.“ „Toll“, schnaube ich. „Das hilft mir. Die werden es mir ja sicher leihen.“ „Sakura wird es sofort tun!“, sagt er inbrünstig. „Und ich glaube, Neji hat auch einiges angespart, so wie ich ihn kenne. Schlag es ihnen als Geschäft vor. Ich zahle dir zehn Prozent Zinsen, versprochen! Du kannst ihnen nächste Woche mehr zurückgeben, als sie dir geliehen haben.“ „Hm“, mache ich wieder. So gesehen … Keine Bank der Welt würde mir so viel bieten. „Also schön“, seufze ich und trinke meinen Becher leer. „Danke. Ich wusste, dass du mich verstehst, Naruto.“ Ich zucke mit den Schultern. Alles für das Spiel, und alles für die Freundschaft. So in etwa lässt sich Lees Einstellung zusammenfassen. Bei seinen Prioritäten hakt es manchmal, aber man kann sich sicher sein, dass er im Normalfall an beides denkt und es auszugleichen versucht. „Aber nur, wenn du mich auf eine Portion Ramen einlädst.“   Der Sonntag naht mit Riesenschritten, kickt Stunde um Stunde eines tristen Samstags fort, und irgendwie habe ich bei jedem Schritt, den ich selbst tue, Sasuke an der Backe. Bereits am Morgen nach unserer Aussprache hat er mich angerufen, um mich mit finsterer Stimme daran zu erinnern, Tenten auszuspionieren. Ich habe geseufzt und ihn auf später verströstet. Da mir eine Menge unschönes Zeug durch den Kopf gegangen ist, hab ich den Tag zuhause verbracht, und am Abend ist Sasuke persönlich bei mir aufgetaucht und hat mich beim Abendessen gestört. „Und?“, hat er gefragt. „Nichts und“, habe ich gefaucht. „Ich war noch nicht bei ihr, okay? Sowas will ordentlich geplant sein.“ Dabei habe ich mich gefragt, ob ich wirklich gerade mit Sasuke Ränke gegen meine Freunde schmiede. „Tu es bald“, hat er geschnaubt, „oder ich tu es.“ Er hat meine schlabbrige Freizeitkleidung gemustert. „Warst du den ganzen Tag nur in deiner Wohnung?“ „Das geht dich überhaupt nichts an!“, habe ich gezischt und ihm die Tür vor der Nase zugeworfen. Kurz darauf habe ich Hinata angerufen und mich bei ihr für meinen Streich entschuldigt, was auch längst überfällig war. Sie hat sehr gefasst geklungen, auch wenn ihre Stimme kurz brüchig geworden ist, als sie erfahren hat, dass ich dahinter stecke. Aber sie hat gemeint, sie würde es verstehen. Toll, habe ich mir gedacht. Noch eine aus unserer Runde, die ich gegen mich aufbringen musste. Dämliches Spiel. Zum ersten Mal seit drei Jahren fühle ich mich so richtig arschig. Wenig später hat mich Naruto angerufen. Er hat Geld gebraucht – ziemlich viel Geld. Ich habe beschlossen, meinem Karma eine dringend nötige Generalsanierung zuteilwerden zu lassen, und ihm großzügig eine Art Kredit gewährt. Er hat am anderen Ende der Leitung hörbar Luftsprünge gemacht. „Danke, Sakura! Du bist ein Schatz!“, hat er gerufen. Immerhin einer. Schließlich ist der Sonntag da und der Vormittag vergeht nicht, ohne dass ich Sasuke erneut zu Gesicht bekomme. Er klingelt wieder. Da ich ahne, dass er es ist, erwäge ich ernsthaft, einfach nicht aufzumachen. „Ich weiß, dass du da bist“, hörte ich schließlich seine genervte Stimme durch die dünne Tür. Seufzend öffne ich. „Was willst du schon wieder?“ „Ich gehe jetzt zu Tenten“, sagt er. „Ob du mitkommst oder nicht, ist deine Entscheidung. Ich wollte es dir nur sagen.“ „Weißt du überhaupt, wo sie wohnt?“, frage ich schnippisch. „Klar.“ Er zieht spöttisch die Mundwinkel hoch. „Übrigens, nett von dir, Naruto aus der Patsche zu helfen.“ Mein Kiefer klappt auf. „Was?“ „Ich war bei ihm, als er dich angerufen hat. Wir haben uns bei McDonald‘s getroffen. Ich habe ihm gesagt, dass ich mal wieder mit ihm reden wollte.“ Jetzt verzieht Sasuke das Gesicht abfällig. „Er ist immer noch so treu wie früher. Hat dich ansonsten mit keinem Wort erwähnt. Du kannst ihm ruhig erzählen, dass wir bereits wieder Kontakt haben.“ „Wenn ich dran denke, wie wir in Kontakt gekommen sind, lieber nicht“, brumme ich. „Und er hat dir einfach so Tentens Adresse gesagt?“ „Nachdem er mit dir telefoniert hat, war er richtig euphorisch. Er hatte ja auch keinen Grund, mir was über Tenten zu verschweigen. Und nicht nur ihre – auch die Adressen und Nummern der anderen.“ „Naruto …“ stöhne ich. Wenn der wüsste, dass Sasuke nicht ohne Hintergedanken mit uns allen wieder in Kontakt treten will … „Also, kommst du jetzt oder nicht?“, fragt Sasuke. „Warum gehst du nicht allein zu ihr, wenn du die Adresse schon hast?“, fragte ich genervt. „Soll ich?“ Er sieht mich unbekümmert an. Gewissenlos. „Bloß nicht!“ Die arme Tenten hat diese Woche schon genug mitgemacht. Vielleicht ist es auch eine gute Gelegenheit, mal bei ihr nach dem Rechten zu sehen und sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Ich schiebe Sasuke nach draußen und werfe die Tür zu. „Bin in fünf Minuten fertig.“ „Übertreib’s nicht mit der Schminke“, höre ich ihn durch das dünne Holz der Tür sagen. „Bringt ja doch nichts.“ Ich verdrehe die Augen.   Tenten ist sogar zuhause, und sie hat Gesellschaft, als Sakura und ich ankommen. Es sind nicht ihre WG-Kollegen – Sakura hat erzählt, dass unsere Powerfrau angeblich mit zwei Typen zusammenwohnt, und sie hat es wie eine Drohung klingen lassen. Als müsste ich deswegen irgendwie aufpassen, was ich sage oder tue. Geöffnet hat dann dieser Mitbewohner, ein schlaksiger Kerl mit fettigen Haaren. Er hat Sakura nur knapp mit einem „Tag“ begrüßt und dann nach links gedeutet, wo Tenten wohl ihren Teil der Wohnung hat. Offenbar kennt er Sakura. Mich hat er nur mit einem kurzen, aber forschenden Seitenblick bedacht. In der kleinen, aber schmucken – zumindest im Vergleich zu Sakuras Bruchbude – Zimmer, das Tenten wohl sowohl als Arbeits- als auch als Schlafzimmer benutzt, sitzt nicht etwa der zweite Junge mit Tenten auf der Couch, sondern Ino. Ihre blonde Haarmähne ist das Erste, was einem ins Auge fällt, wenn man eintritt. „Sakura!“, begrüßt sie ihre Freundin und macht dann große Augen. „Und Sasuke? Träum ich? Dass du dich mal wieder blicken lässt!“ Ich erinnere mich, dass auch Ino mal in mich verknallt gewesen ist. Falls sich das nicht geändert hat, könnte die Begegnung lästig werden. „Hi, ihr zwei“, sagt auch Tenten und strahlt. Sie wirkt eigentlich so, wie ich sie in Erinnerung habe. Gut gelaunt und ohne all die Probleme, die Sakura mir weismachen will. „Hallo, Tenten. Wir haben gedacht, wir sehen mal nach dir“, sagt Sakura freundlich. „Wir? Was soll das denn heißen?“ Ino verengt die Augen schelmisch zu Schlitzen. „Läuft da was zwischen euch? Das ging ja schnell.“ „Eher so eine Art Hassliebe“, sage ich trocken und fange mir dafür einen finsteren Blick von Sakura ein. Zu Tenten sage ich: „Du siehst gar nicht so aus, als müsstest du um dein Leben oder dein Geld fürchten.“ Sie lacht verlegen. „Naja ich …“ Und dann verfällt sie plötzlich, sie starrt mich an und ihr Mund klappt auf. „Warte, was … Woher …?“ Ich sage nichts und überlasse Sakura das Feld, die sich sichtlich sträubt. Die Luft in dem Raum wird dicker, ehe sie schließlich seufzt: „Ich hab‘s ihm erzählt.“ „Bist du irre?“ Ino ist aufgesprungen. „Sag mir nicht, dass …“ „Ich weiß, dass ihr alle keine Unschuldsengel mehr seid“, unterbreche ihr ihren Vorwurf. „Also können wir das Schönreden und Schöntun bleiben lassen und ehrlich zueinander sein.“ Ino funkelt Sakura an, als wäre somit offiziell ihre Freundschaft in die Brüche gegangen. Ich sehe mich indessen in der Wohnung um. Hier irgendwo muss die Box sein, von der Sakura gesprochen hat. Tenten muss sie laut den Regeln irgendwo an einer offensichtlichen Stelle aufbewahren. Das soll das Spiel wohl gefährlicher machen, vermute ich. Wenn Tenten je die Polizei bei sich im Haus hätte, mit Durchsuchungsbefehl und allem, würden sie ihr ganz schnell auf die Schliche komme. Darum muss sie bei ihren Untaten besser aufpassen als die meisten anderen. Ich habe Sakura auf dem Weg hierher von meinem Plan erzählt, uns nichts anmerken zu lassen. Ich habe gewollt, das Sakura Tenten ablenkt und ich ihre Wohnung währenddessen auf den Kopf stelle. Das hat sie vehement verweigert – wenn, dann sollten wir ehrlich sein. Unser gemeinsames Abenteuer will sie andererseits nicht erwähnen. Von mir aus; jetzt darf sie die Suppe selbst auslöffeln, die in diesem Zwiespalt vor sich hin köchelt. Ehe ich nicht am Ende des Tages den Beweis habe, dass nicht Tenten dieses Video geklaut und sich an meinem nackten Körper aufgegeilt hat, bin ich nicht zufrieden. „Tenten“, sagt Sakura geduldig, „würde es dir was ausmachen, uns zu erzählen, welche Chips du letzte Woche hattest? Sonst lässt Sasuke mir keine Ruhe.“ Sicher. Soll sie mich ruhig als lästigen Bösewicht hinstellen. Mir ist es gleichgültig, Hauptsache, diese Sache wird aufgelöst. „Warum?“, fragt Tenten verwundert. „Augenblick“, mischt sich Ino ein. „Wir haben noch nicht geklärt, was ihn das überhaupt zu interessieren hat. Und wie kommst du dazu, ihm von … dieser Sache zu erzählen?“ „Weil er mitspielen will“, erklärt Sakura ergeben. „Ach? Ohne davon gewusst zu haben?“ „Bitte, Ino“, stöhnt Sakura. „Ich erkläre dir alles später, ja?“ Darauf bin ich ja mal gespannt. Die liebe Sakura hat sich mit ihrer Aktion ziemlich in die Bredouille geritten, scheint mir. „Und warum genau will Sasuke wissen, was ich für Chips habe?“, fragte Tenten stirnrunzelnd. „Es gibt über vierhundert. Er wird sich kaum ein Bild davon machen können, wenn ich ihm sage, an welche ich mich noch erinnere. Ich hab schon so viele verschiedene gehabt, dass ich die Hälfte wieder vergessen habe.“ „Das ist nicht der Grund“, sage ich. „Ich will auch nicht irgendwelche Chips. Ich muss wissen, welche du letzte Woche hattest.“ Als ob sie einfach so zugeben würde, mich ausspioniert zu haben … aber irgendwo muss ich anfangen. „Er meint, er bittet dich, es ihm zu verraten“, fügt Sakura hinzu und stößt mich dabei in die Rippen. „In puncto soziale Kompetenz müssen wir bei dir noch arbeiten“, zischt sie mir zu. Ich zucke mit den Schultern. Viel um den heißen Brei herumzureden war noch nie meine Stärke. „Und warum gerade die von letzter Woche?“, hakt Ino nach. Sie wirkt pikiert, als wäre da immer noch eine Sache auf dem Tisch, die noch nicht gegessen ist. „Weil Sasuke von jemandem übel aufs Kreuz gelegt worden ist und er glaubt, dass es jemand von uns war“, erklärt Sakura. Nicht übel, diese Interpretation. Ich lasse mir nichts anmerken. „Was ist denn passiert?“, fragt Tenten interessiert. „Das möchte er, glaube ich, lieber privat halten“, sagt meine zweckmäßige Bundesgenossin mit einem vielsagenden Blick. Wirklich nicht übel gespielt, denke ich mir. Mach so weiter, und du verbrennst dich. „Seit wann bist du denn sein Sprachrohr?“, fragt Ino. „Am Wochenende wolltest du doch nichts mit ihm zu tun haben. Schon merkwürdig, oder?“ „Wir hatten einen … Streit am Laufen“, seufzt Sakura, als ich das Reden immer noch ihr überlasse. Es macht mir tatsächlich Spaß zu sehen, wie sie sich abmüht, eine konsistente Lügengeschichte zu zeichnen. Sie kennt echt keine Skrupel mehr, diese kleine Schlange. „Wir haben uns aber mittlerweile ausgesprochen und es ist alles wieder in Butter“, fährt sie fort. „Frag Kiba. Der kann das bezeugen.“ Ino wirkt nun nicht nur so, als verstünde sie die Welt nicht mehr, sondern sie ist eindeutig beleidigt, weil man sie in der Angelegenheit außen vor gelassen hat. „Von mir aus“, meint sie. „Da ihr ja offensichtlich etwas zu besprechen habt, will ich nicht weiter stören.“ Resolut springt sie auf und will aus der Wohnung marschieren, aber ich halte sie zurück. Ich berühre bewusst ihren Oberarm, um zu sehen, wie sie reagiert – nicht zu fest, sondern mit perfektionierter, scheinbar absichtsloser Flüchtigkeit. Aber sie zuckt weder zusammen, noch kann ich irgendetwas von einem Schauer fühlen, der durch ihren Körper läuft. Frauen, die auf mich stehen, reagieren auf solche Berührungen oft ganz speziell. Das ist eines der wenigen zwischenmenschlichen Dinge, das zu entschlüsseln ich mir antrainiert habe. Doch Ino sträubt sich nur unwillig und schüttelt meine Hand ab. „Was ist denn noch?“ Gut. Dann brauche ich es auf die Ladykiller-Art gar nicht erst zu versuchen. Vielleicht war mein Timing auch daneben. Auf jeden Fall erspart es mir das Theater – auch wenn ich vielleicht zu besseren Ergebnissen gekommen wäre. „Ich würde auch gern deine letzten Chips wissen, Ino.“ „Weil ich dich verarscht haben soll? Ich kann mich nicht daran erinnern“, sagt sie spöttisch. „Schade nur, dass ich nichts glaube, wovon es nicht einen konkreten Beweis gibt.“ „Schade nur, dass ich keinen Beweis habe“, versetzt sie. „Wir dürfen über unsere Chips lügen, weißt du? Manchmal müssen wir das sogar.“ Ich sehe irritiert zu Sakura. „Erklär mir das.“ „Die Zusatzregeln, von denen ich gesprochen habe“, sagt sie ungeduldig. „Es kann auch vorkommen, dass man die Lüge-über-deine-Chips-Karte zieht. Wie du dir vorstellen kannst, muss man dann absichtlich die Unwahrheit darüber sagen.“ „Und das prüft jemand nach?“, frage ich schnaubend. „Die Sache wird immer suspekter.“ „Kann doch sein, dass sie’s stichprobenartig kontrollieren“, meint Sakura patzig. „Und dann kriegst du Probleme. Die kriegst du übrigens auch, wenn du pleitegehst. Oder frag Tenten: Die waren schon ein paarmal hier, um zu prüfen, ob sie auch wirklich die Beweise aufbewahrt. Sag’s ihm.“ „Das … das gehört hier wirklich nicht her“, sagt Tenten entgeistert. „Hast du plötzlich eine Erzähle-jedem-von-dem-Spiel-Karte gezogen?“, fragt Ino zickig. „Ich steige doch sowieso ein“, sage ich. „Also, wenn ihr unschuldig seid, beweist es mir. Dann habt ihr ja wohl auch nichts zu verbergen.“ „Mädels, bitte“, seufzt Sakura. „Er hängt mir seit vorgestern deswegen im Nacken.“ „Wenn du ein harmloses Opfer aus unserem Spiel bist, dann solltet du uns vielleicht auch mal verraten, worum es eigentlich geht“, entgegnet Ino. „Schön, ich kann auch anders“, sage ich kühl. „Ich weiß von Sakura, dass ihr alle ziemlich krumme Dinge angestellt habt. Wenn ich der Polizei einfach mal ein paar Hinweise gebe, dass eure Gruppe nicht ganz koscher ist, und ihnen vielleicht auch rate, sich mal in Tentens Wohnung umzusehen …“ „Stopp!“ Jetzt ist auch Tenten aufgesprungen und starrt mich mit Blicken wie Speere an. „Warum hast du den hier angeschleppt, Sakura? Du würdest uns doch nicht wirklich in den Rücken fallen, Sasuke, oder?“ Sakura öffnet den Mund, schließt ihn aber wieder. „Ich hab nur einen von euch auf dem Korn. Wer von euch mir in den Rücken gefallen ist, dem falle auch ich in den Rücken. So machen wir’s. Und für alle anderen werde ich ein netter Spielkamerad sein.“ Ich lasse offen, ob diese Ankündigung auch für Sakuras erwiesene Mittäterschaft gilt. „Ich habe Sasuke schon erzählt, was ich hatte“, sagt Sakura plötzlich. „Die Schwarze Witwe und die Gottesanbeterin. Und eine Karte, wonach ich mein Opfer nicht töten darf. Was hattet ihr?“ Ich muss mein Gesicht in Stein verwandeln, um nicht eine – oder beide – Augenbrauen hochzuziehen. Wieder mal gut gespielt, Sakura. Kann es sein, dass ich anfange sie zu bewundern? Sie sagt tatsächlich die Wahrheit – und doch klingt es so, als wäre sie völlig unschuldig. Jeder Verbrecher vor Gericht würde sie wohl um diese Fähigkeit beneiden. Ino schweigt immer noch verbissen. Sie starrt Sakura an, als ahnte sie trotz ihrer geschickten Ausflüchte etwas. Es ist Tenten, die als Nächstes spricht. „Ich hab Pech gehabt bei der vorletzten Ziehung. Trainsurfing und Online-Abzocke. Mit Hacking habe ich nichts am Hut, also bin ich auf einen Zug geklettert und eine Weile mitgefahren. War saumäßig kalt.“ Sie verzieht das Gesicht. „Falscher Chip. Ich hab eine Menge Geld dadurch verloren. Wahrscheinlich hätte das Gremium es lieber gesehen, wenn ich einen Zug mit Oberleitung genommen hätte!“ „Und du kannst das zweifelsfrei beweisen“, sage ich. Tenten nickt. Sie geht zu ihrem Regal und zieht das Taschentuchsofa heraus – eines dieser lächerlichen Ziergegenstände, das in Wahrheit eine Schachtel, angezogen als kleine Couch ist. Sie öffnet den Überzug an einem Klettverschluss und schält ihn von der Schachtel. Aus der Oberseite ragen wirklich etliche Papiertaschentücher, aber im Inneren findet sich etwas, das wie Fotoabzüge, Rechnungen und elektronische Speichermedien aussieht – vornehmlich CDs, die gerade so in der Schachtel Platz haben. Ino stößt einen Pfiff aus. „Nicht schlecht. Da versteckst du sie? Das ist genial.“ „Naja, das Behältnis soll offensichtlich in meiner Wohnung rumstehen, aber es hat niemand gesagt, dass es offensichtlich sein muss, dass auch was Interessantes drin ist“, meint Tenten schief lächelnd. „Würdest du …?“ Ino sperrt die Zimmertür von innen ab. Tenten nimmt eine der CDs und fährt ihren Laptop hoch. „Aber ich warne euch, ich sehe furchtbar darauf aus“, erklärt sie. Kurz darauf sehen wir uns ein Beweisvideo von Tenten an, wie sie mit flatternden Kleidern am Dach eines fahrenden Waggons klebt. „Und du hast nur diesen einen Chip erfüllt?“, fragte ich dann. „Leider. Sonst hätte ich kein Minus gemacht.“ „Darf ich mal?“, frage ich und strecke die Hand nach der Schachtel aus. Sie macht keine Anstalten, sie mir zu geben. „Sasuke, das reicht jetzt wirklich“, sagt Sakura scharf. „Sie könnte noch eine zweite CD haben, die sie uns nicht zeigt. Etwas über den anderen Chip oder über die Zusatzkarte. Hast du die CDs mit Datum beschriftet?“ Tenten presst die Beweiseschachtel an sich wie ein kleines Kind. „Ich kann dir die nicht geben. Da sind auch … privatere Fotos drin, weißt du?“ „Was denn?“, höhne ich. „Hast du dich für dieses Gremium etwa auch ausgezogen, so wie unsere Sakura hier?“ Besagte Person schnappt empört nach Luft, ist aber klug genug, den Mund zu halten. Tenten reagiert anders, als ich erwartet habe. „Vielleicht sollte ich dich doch einen Blick riskieren lassen“, sagt sie mit einer Stimme, süß und zäh wie flüssiger Zucker. „Dann würdest du erkennen, dass du dich besser nicht mit mir anlegen solltest. Aber tritt nur unserer netten Runde bei. Nach ein paar Wochen wirst du schon verstehen, was ich meine.“ „Lass es gut sein, Sasuke“, zischt Sakura. „Du machst dich hier bei allen unbeliebt.“ „Dass er nicht der freundlichste Zeitgenosse ist, wissen wir ja“, sagt Ino bissig. „Und was waren deine Chips?“, frage ich sie kühl. „Frag doch deinen Busenfreund. Er kann bezeugen, was ich gemacht habe. Wenn du nicht betrunken in einer Bar nach ein paar Röcken gegrapscht hast und dir dafür ein Türsteher namens Dandy in den Hintern getreten hat, hab ich dir garantiert nichts getan.“ Ich habe keine Ahnung, wovon sie redet. „Etwas weniger kryptisch, bitte.“ Sie rollt mit den Augen. „Ich hab in einem Punk-Club am Stadtrand gekellnert, die ganze Woche lang. Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht.“ „Und dein zweiter Chip?“ „Den hab ich mit dem ersten kombiniert. Das kann ich dir unmöglich beweisen, also kann es dir auch egal sein. Aber es war bestimmt kein Schlag-den-kleinen-Sasuke-Chip.“ Ich sehe, wie Sakura kaum merklich zusammenzuckt. Offenbar hat sie sich an die unsanfte Behandlung erinnert, die man mir tatsächlich hat angedeihen lassen. Na schön. Auch wenn ich die beiden noch nicht ganz abgehakt habe, wahrscheinlich ist es zu früh anzunehmen, dass sie etwas mit der Sache zu tun haben. Immerhin, für Tenten wäre es doppelt riskant gewesen, weil sie die Beweise sammeln muss. Vielleicht sollte ich mit Sakura noch mal die Uhrzeiten durchgehen, zu denen jemand bei ihr hätte einbrechen können, und dann weitere Leute mit Alibis ausschließen … Ich beschließe, später darüber nachzudenken. Immerhin bin ich mir auch nicht sicher, ob Sakura nicht trotzdem ihre Finger mit im Spiel hatte. Vielleicht sollte ich erst mal die Runde heute Abend abwarten. Und sehen, wie sich das Auslosen entwickelt – und was die anderen dazu sagen, dass ich plötzlich mit von der Partie bin. „Da ist übrigens etwas, was ich nicht verstehe“, sage ich. „Ihr begeht seit drei Jahren Straftaten. Gegen alle möglichen Leute und gegen euch selbst. Und ihr bekommt Geld dafür. Warum? Wer hat etwas davon, dass ihr Passanten Streiche spielt oder ausraubt? Eigentlich sollten sie euch mit euren Beweismitteln erpressen. Wenn sie das nicht sowieso irgendwann tun.“ „Vielleicht sind sie nicht wie du?“ meint Ino, die mir meine Drohung wohl noch nicht vergeben hat. „Das hoffe ich“, sage ich trocken. „Aber wirklich, wozu das Ganze?“ „Naja …“, meint Tenten ratlos und wirkt, als hätte sie noch nicht mal darüber nachgedacht. „Sie bekommen Videos und Fotos … Sie können sich sicher sein, dass in ihrem Namen so einiges abgegangen ist.“ „Und das rechtfertigt es, so hohe Summen auszugeben?“ „Sakura hat mal gemeint, die Leute im Gremium sind allesamt alte, perverse Säcke“, sagt Ino und wieder zuckt Sakura zusammen, als ich ihr einen langen Blick zuwerfe, „und denen gefällt es einfach, jungen Leuten dabei zuzusehen, wie sie in ihrem Auftrag versuchen, etwas Ungesetzliches, möglichst Abgefahrenes zu tun. Und wer in so einem Gremium hockt, hat vermutlich Geld wie Heu und weiß sowieso nicht, wohin damit.“ Ich sage nichts dazu. Ich bin mir fast sicher, dass mehr dahinter steckt – so viel von den Schattenseiten der Welt kenne ich immerhin. Vielleicht trete ich ja auch in einen richtig schmutzigen, bodenlosen Verbrechersumpf, wenn ich einsteige. Aber ehrlich gesagt schreckt mich das nicht ab. Ich bin ja auch kein Engel, und das weiß ich. Wenn man erst mal tief genug in einen Sumpf eingetaucht ist, dann weiß man, dass kein Sumpf wirklich bodenlos ist.   Nachdem wir uns vor Tentens Wohnung getrennt haben, habe ich nur kurz Ruhe vor Sasuke gehabt. Schon am Nachmittag steht er wieder vor meiner Tür – wie um mich daran zu hindern, ohne ihn zum Casino aufzubrechen. „Kannst du mir mal verraten, was ich mit dir an der Backe den ganzen Abend machen soll?“, frage ich ihn. „Du könntest mir was zu trinken anbieten“, sagt er. Mürrisch knalle ich ihm ein einfaches Soda hin. Immerhin ist der Satz gerade eben etwas Typisches von ihm gewesen und nicht durchtränkt von Hass. Ich muss gestehen, darüber bin ich erleichtert. Wan immer ich die kalte Wut in seinen Augen sehe, glaube ich zu spüren, wie mir jemand ein unsichtbares Messer an die Kehle setzt. Allerdings fühle ich mich mittlerweile gestalkt. Meine Wohnung ist so klein, dass ich mich nicht mal in Ruhe umziehen kann – ich muss mich wirklich dringend nach einer neuen Bleibe umsehen! Ich versuche, Sasuke rauszuwerfen, aber er scheint mich verarschen zu wollen. „Hast du was zu verbergen, was ich noch nicht gesehen habe?“, fragt er überheblich. Erst als ich richtig wütend werde, wartet er in der Kälte vor der Tür. Ich lasse mir extra lange Zeit, um mich herzurichten, aber er gibt diesbezüglich keinen Mucks von sich, als ich erkläre, dass wir nun aufbrechen können.   Wir sind die Letzten an der Haltestelle, was mich etwas nervt. Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich die Reaktionen über mein plötzliches Erscheinen einzeln mitbekommen hätte. Aber da lässt sich wohl nichts mehr machen. Wie erwartet fallen jene Reaktionen ausnahmslos erstaunt aus. Ino und Tenten wussten davon, aber offenbar haben sie niemandem etwas gesagt. „Sasuke, du bist auch mit von der Partie?“, fragt Naruto mit großen Augen. „Gehst du ganz normal ins Casino?“, fragt Lee mit noch größeren Augen, und allein die Fragestellung hätte jeden normalen Casinobesucher misstrauisch werden lassen. Also erkläre ich ihnen, was ich vorhabe – sage aber nicht weiter, warum. Ich habe das Gefühl, dass es mir ohnehin nichts bringt. Vielleicht erzählen Ino und Tenten ja den anderen später davon – wie auch immer. Wenn nicht, bringt mir das vielleicht sogar irgendwann mal einen Vorteil ein. Einige der Vernünftigeren aus Sakuras Freundeskreis versuchen natürlich, mich von der Sache abzubringen, aber ich bleibe eisern. Das Gespräch dreht sich eine Weile hin und her, ehe wir uns langsam auf dem Weg ins Casino machen. Spätestens bei den Eingangstüren scheinen alle zu dem Schluss gekommen zu sein, dass man mir wohl einfach meinen Willen lassen sollte. Gut. Ich bin schon gespannt, was mich erwartet. Ehrlich gesagt glaube ich nicht mehr, dass Sakura mir was vorgemacht hat, aber ich bin zu weit vorgedrungen, um jetzt noch auf mein Bauchgefühl zu hören und umzukehren. Also betrete ich mit ihnen den VIP-Bereich des Casinos, der vor Sicherheitspersonal nur so strotzt. Die anderen haben kleine ID-Karten, die ein verkabelter Typ scannt. Als ich an der Reihe wäre, liefere ich mir mit ihm nur ein grimmiges Starrduell. „Das ist Sasuke“, beeilt sich Sakura zu sagen. „Sasuke Uchiha. Er möchte bei dem Spiel einsteigen.“ Der Kerl bedeutet mir zu warten und brabbelt irgendetwas in ein kleines, knopfgroßes Funkgerät. Schließlich geht die Tür vor uns auf und eine großgewachsene Blondine mittleren Alters kommt heraus. Die Locken hat sie zu einem vollkommen lächerlichen Look geformt. Sie klatscht in die Hände, als sie mich sieht. „Sieh an, ein so hübscher junger Mann will mitspielen. Wie schön. Ich bin Olga.“ Ich ignoriere ihr Strahlen ebenso wie ihre ausgestreckte Hand und mustere sie nur finster. Sie räuspert sich und fängt neu an. „Ihre Freunde haben Ihnen wohl schon über das Schicksalslos bescheidgesagt. Ich werde mit Ihnen die Formalitäten abklären, es dauert nur einen Moment.“ Sie wendet sich an die anderen. „Sie können einstweilen hinunterfahren und in der Runde Platz nehmen. Wir kommen gleich nach.“ Ich will Sakura und ihre Freunde eigentlich nicht aus den Augen verlieren – irgendwie fühlt es sich an, als könnten sie türmen und ich würde wieder mit leeren Händen dastehen. Oder ausgeknockt in verschneiten Büschen aufwachen. Sakura zögert tatsächlich ein wenig, aber als die Ersten sich in Bewegung setzen, geht sie mit. Ich folge dieser Olga, die genauso überdreht wirkt wie ihre Haare, in einen schicken Seitenraum, der wie ein Besprechungszimmer aussieht.   Ehe wir nach den letzten Securitys und dem Metalldetektor in den Aufzug einsteigen, nimmt mich Kiba unauffällig zur Seite. „Sag mal“, beginnt er, „die Frau, die mit Sasuke in diesem Video rummacht – das bist doch sicher du, oder?“ Ich fahre heftig zusammen. Scheiße, ich habe doch tatsächlich vergessen, dass Kiba von dieser Sache weiß! Verflucht! Wie soll ich reagieren? „Was … was redest du?“, stammle ich. Zu spät fällt mir ein zu fragen: „Was für ein Video?“ Ich sehe in sein Grinsen und weiß Bescheid, dass er nun auch endgültig Bescheid weiß. Und er besitzt wie üblich keinen Funken Anstand oder Taktgefühl. „Holla-holla“, macht er. „Wie ist denn das zustandegekommen? Jetzt weiß ich endlich, warum du so seltsam drauf warst, als Sasuke mich plötzlich angerufen hat.“ Ich schlucke und merke, wie mir das Blut in den Kopf schießt. „Wenn du irgendetwas sagt, egal zu wem, dann bist du tot!“, schwöre ich ihm. „Hab ich mir gedacht“, lacht er. „Keine Angst, euer kleines, schmutziges Geheimnis ist bei mir sicher.“ Da bin ich nicht überzeugt … wenn es um Kiba geht und um ein so brisantes Thema, dann weiß man nie. Schlimm genug, dass gerade er mich nackt gesehen hat – wenn auch nur auszugsweise. Aber allein die Tatsache, dass ich weiß, dass er weiß, dass ich es bin, stößt mir heiß und sauer auf, als hätte ich mich mit Pflaumenpunsch betrunken. „Was tuschelt ihr da?“, fragt Chouji. Ich bemerkte, dass der Aufzug längst da ist und die anderen eigenstiegen sind. „Nichts“, flötet Kiba und geht beschwingten Schrittes durch die offenen Lifttüren. Ich starre ihm hinterher, ehe ich ihm folge, die Fäuste geballt und die Zähne zusammengebissen. Ich hoffe, dass man mir nicht anmerkt, was ich fühle und denke, und außerdem hoffe ich, dass er gleich irgendwelche heftigen Chips zieht, die ihm das Grinsen aus dem Gesicht wischen.   Olga summt ein lustiges Liedchen vor sich hin, während sie aus einem Aktenschrank ein Klemmbrett mit ein paar Zetteln holt. „Ihr Vertrag“, verkündet sie fröhlich und legt ihn vor mir auf die Tischplatte. Es fühlt sich seltsam an, in einem so vornehmen Konferenzraum zu sitzen – ganz allein auf dem Chefsessel. Vielleicht soll es die Wichtigkeit dieses Augenblicks unterstreichen. Ich soll also einen Vertrag unterschreiben, damit ich bei dem Spiel mitmachen kann … Na gut, mit so etwas habe ich gerechnet. Irgendwie müssen sie die anderen ja auch an ihre komischen Spielregeln gebunden haben. Als ich die ersten Zeilen lese, kommt mir mein Gedanke von gerade eben schon wieder falsch vor. Oder soll das ein Scherz sein? Dieses Dokument ist ein Vertrag zwischen dem Gremium des Schicksalsloses, im Folgenden Gremium genannt, und einer teilnehmenden Person, im Folgenden Teilnehmer genannt. Dieser Vertrag dient ausschließlich internen Dokumentationszwecken und ist nicht rechtskräftig. Nach Unterzeichnung verbleibt dieses Dokument ohne Aushändigung einer Kopie oder eines Durchschlags beim Gremium und darf ohne Genehmigung des Gremiums von keiner Person, die nicht Mitglied im Gremium ist, eingesehen werden. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Das Gremium rät dem Teilnehmer ausdrücklich davor ab, sich in Belangen des Schicksalsloses an ein Gericht, gleich welcher Natur, zu wenden. „Wozu soll ich das unterschreiben, wenn es rechtlich nicht anerkannt wird?“, frage ich. „Mein Lieber, das ist nur eine Formalität“, erklärt Olga so freundlich, als hätte man ihre Zunge über Nacht in ein Honigglas eingelegt und obendrein Zuckerguss drauf geträufelt. „Betrachten Sie es als ihren Eintrittsschein in das wohl aufregendste Glücksspielerlebnis des Jahrtausends.“ „Und wozu braucht ihr es? Sammelt ihr die?“, frage ich kalt. „Lassen Sie Ihre Freunde nicht warten“, drängt Olga, „und unterzeichnen Sie, wenn Sie mitspielen wollen. Wir benötigen das Dokument vorrangig, um Ihre Daten festzuhalten. Es dient quasi Ihrer Registrierung“ Ich blättere zur letzten Seite und finde nicht nur ein Feld für meine Unterschrift vor, sondern ein ganzes Formular für allerlei persönliche Daten – Adresse, Geschlecht, Versicherungsnummer, Telefonnummer. „Interessant“, sage ich nur. „Sie sind doch nicht etwa überrascht? Natürlich brauchen wir Ihre Adressdaten, für den Fall, dass wir Ihnen Hilfsmittel zuschicken sollen“, sagt Olga, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. „Und damit ihr mich ordentlich beschatten könnt. Und mich betrafen, wenn ich meine Aufgaben nicht ordentlich ausführe“, stelle ich trocken fest. „So etwas tut das Gremium nicht. Wo denken Sie hin?“ Olga klingt schockiert. Ihre geschminkten Augenlider falten sich fast völlig zusammen, um ihren hervorquellenden Augen Platz zu machen. „Genau wie Ihre erfolgreichen Ziehungen werden auch Ihre Verfehlungen rein durch Geldbewegungen quittiert.“ „Ich sehe aber nirgendwo ein Feld, wo ich meine Kontonummer hinschreiben soll.“ Was mich ehrlich verwundert. „Sie bekommen ein eigenes Konto von uns, auf dem wir alle Geschäfte abwickeln“, erklärt Olga. „Bitte beeilen Sie sich. Die anderen warten.“ „Sie haben drei Jahre auf mich gewartet“, sage ich lahm und betrachte nochmal den zweifelhaften Vertrag vor mir. Auch wenn er offenbar keinerlei Gültigkeit vor Gericht hat, möchte ich doch wissen, was sie mir damit mitteilen wollen. Ein großer Absatz mit der Überschrift Warnung macht mich natürlich misstrauisch. Sämtlicher personeller oder finanzieller Schaden, der dem Teilnehmer durch das Schicksalslos zuteilwird, obliegt einzig und allein der Verantwortung des Teilnehmers. Das Gremium haftet in keiner Weise für Verluste, gleich welcher Art. Ziemlich weit gefasst. „Das heißt dann wohl, selbst wenn ich sterbe, kann das Gremium nichts dafür?“ Olga weicht der Frage nicht mal aus. „Wir hoffen, dass dieser Fall nicht eintritt, aber mit Ihrer Unterschrift bestätigen Sie genau das, unter anderem.“ „Hm.“ Da steht auch etwas von einem gewissen Rahmen, bis zu dem ich mein vom Gremium zur Verfügung gestelltes Konto überziehen darf. Wenn ich mehr als hundertfünfzigtausend im Minus bin, warten schwerwiegende Konsequenzen, deren Gesamtausmaß im Ermessen des Gremiums liegt, auf mich. Hundertfünfzigtausend – geht es hier wirklich um solche Beträge, oder ist das eine utopische Summe, die man ohnehin kaum erreichen kann? Ich glaube, Sakura sagen gehört zu haben, dass Tenten Probleme mit ihrem Kontostatus hat – ob sie wohl nah an diese Grenze vorgestoßen ist? Olga spitzt schon ungeduldig die Lippen. Allgemein wirkt die Frau, als hätte sie Hummeln im Hintern. „Hier steht nirgendwo, wie ich wieder aus dem Spiel aussteigen kann“, stelle ich fest. „Das fällt unter diesen Absatz“, erklärt Olga. Ihr langer, lackierter Fingernagel zeigt auf eine Stelle im Vertrag, in dem ebenfalls davon die Rede ist, dass allfällige Anfragen des Teilnehmers vom Gremium nach dessen Ermessen beantwortet werden. „Ich finde nicht, dass es im Ermessen des Gremiums liegt, wann ich aussteigen will.“ „Ob Sie aussteigen, entscheidet das Gremium“, sagt Olga, nun bereits merklich kühler, „aber ob Sie einsteigen, liegt ganz an Ihnen. Wollen Sie einsteigen, oder nicht? Dann bitte ich Sie, das Formular auszufüllen und zu unterschreiben.“ Ich schnaube und betrachte das wertlose Stück Papier finster. Wenn es keine rechtliche Relevanz hat, umso besser. Ich mag Dinge, die durch den Staat geregelt sind, nicht. Das heißt also im Umkehrschluss, dass ich mich auch an keine Regeln halten muss. Kurz erwäge ich, einfach Itachis Adresse anzugeben, aber im Kleingedruckten steht, dass auch Falschinformationen mit schwerwiegenden Konsequenzen geahndet werden, und wer sich nicht die Mühe macht, sich an Gesetze zu halten, schickt sicher keine Mahnung oder einen freundlichen Anwaltsschrieb. Ich nehme Olgas Füller und trage meine Daten ein.   Wir warten brav im Sitzkreis, auch die beiden Männer, die wir nicht kennen. Schließlich kommen Olga und ein ziemlich mürrisch wirkender Sasuke herein. „Endlich“, strahlt Olga uns entgegen und klatscht in die Hände. „Lassen Sie uns die Beweise schnell ablegen, damit wir zum aufregenden Teil kommen.“ Nun darf Sasuke allein auf einem Stuhl Platz nehmen. Er mustert uns genau – vor allem mich –, während wir nacheinander zu Olga in die Kabine treten und unsere Beweismittel und die alten Chips in die Schließfächer legen. Ich weiß, dass Sasuke ziemlich scharf drauf ist, die Schließfächer hier und jetzt zu plündern – auch wenn ich ihm gesagt habe, dass sie nach jedem Treffen entleert werden. Schließlich sitzen wir wieder alle in der Runde und die Ziehungen beginnen. Tenten ist wie immer die Erste, dann kommen nach und nach die anderen, bis ich als Nummer sieben dran bin. Sasuke wird als neuer Mitspieler als Letztes drankommen. Ich merke an den Gesichtern der anderen, dass wieder ein Haufen unangenehme Chips im Umlauf sind. Vielleicht ist es gut, dass ich vor allem zu Sasuke schiele – wenn ich ihre Gesichter zu genau anblicke, sehe ich vielleicht, dass sie viel verstörter sind, als ich mir vorstelle. Schließlich bin ich dran. Sasuke Blick klebt wieder aufmerksam an mir, und irgendwie ist es genau dieser Blick, brennend wie ein glimmendes Holzscheit zwischen meinen Schulterblättern, der mich von meinem flauen, leicht üblen Gefühl in meiner Magengegend ablenkt. Meine letzte Ziehung war ein ziemlicher Griff ins Klo. Möglicherweise steht in der Mail, die sie mir heute schicken werden, auch, dass es der falsche Chip war, den ich abgearbeitet habe. Dann habe ich Hinata umsonst erschreckt – und mein Konto wird sich ziemlich schnell leeren. Aber ich beschließe, dass es nun nur besser werden kann. Irgendeine Chipkombination wie jene, aufgrund derer nun Sasuke in unserer Runde sitzt … Irgendetwas, wovon ich ohne Probleme beide Aufgaben erledigen kann … Und als Erstes wird eine neue Wohnung gekauft. Ich ziehe meine beiden Chips wieder auf einmal. Klingelstreich eines Geistes und Das Diebische Rockstar-Groupie. Na bitte. Kein Problem diesmal. Etwas Ähnliches habe ich schon mal gemacht. Jetzt nur noch die Regelkarte für diese Woche ziehen. Ich nehme gleich die oberste; Olga mischt den Stapel nach jedem Ziehen durch. Ich starre geschlagene fünf Sekunden auf die Karte, während ich versuche zu verstehen, was darauf steht. Es will einfach nicht in meinen Verstand hinein. Obwohl es nur einzelnes Wort ist. Töte. Kapitel 7: „Alles bricht zusammen.“ ----------------------------------- Ich bin erledigt. Ich weiß, dass ich erledigt bin. Kurz überlege ich, ob ich nicht doch weinen möchte. Ich habe mir immer geschworen, nie jemanden zu töten. Das ist die eine Linie, die ich mir bewahrt habe, die ich einfach nicht überqueren will. Ich bin solche Dinge umgangen, so gut es ging. Als ich einmal die Gottesanbeterin gezogen und erkannt habe, was das bedeutet, habe ich stattdessen den zweiten Chip gewählt. Andere Chips habe ich so interpretiert, dass niemand gestorben ist, selbst wenn mir das weniger Gewinn eingebracht hat. Als ich letztens gleichzeitig die Gottesanbeterin und die Schwarze Witwe erwischt habe, hat mir die Regelkarte aus dem Schlamassel geholfen, und ich habe mich sogar glücklich geschätzt. Aber nun? Nun sagt mir die Karte, die ich auf jeden Fall befolgen muss, unmissverständlich, dass jemand sterben soll. Durch meine Hand. Das muss ich erst einmal verdauen. Es ist nicht so, dass ich es mir nicht zutrauen würde. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, mir eine ganze Menge zuzutrauen. Aber genau das beunruhigt mich. Ich will einfach keine Mörderin werden, nicht für ein Spiel und nicht für Geld! Das Einzige, was ich tun kann, ist diese Runde auszusetzen. Mein Kontostand wird es überleben … hoffe ich. Mit steifen Gelenken kehre ich auf meinen Platz zurück.   Ich mustere Sakura genau. Als sie die Karte gezogen hat, hat es ausgesehen, als hätte ihr jemand einen Vorschlaghammer in den Magen geknallt. Irgendetwas dürfte darauf stehen, mit dem sie nicht klarkommt. Ich beobachte sie verstohlen weiter, während die anderen ihre Aufgaben ziehen. Sie sitzt auf ihrem Stuhl und scheint mit den Gedanken irgendwo anders zu sein. „Sasuke Uchiha? Sie sind dran“, sagt Olga und reißt mich aus meinen eigenen. Sie sieht mich bereits an, als wäre ich in ihren Augen ein hoffnungsloser Trödler. Also begebe ich mich ebenfalls zu der scheppernden Lostrommel und versuche mein Glück. Mein erster Chip trägt den Namen Einem Freund gestohlene Ware vorsetzen. Wie nett. Muss ich also erst jemanden finden, den ich als Freund bezeichnen kann? Der zweite Chip. Einem Freund gestohlene Ware vorsetzen. Ich stutze und sehe zu Olga, aber sie lächelt nur. Ich habe zweimal denselben Chip gezogen. Andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, dass bei der Menge an Chips nicht ein paar doppelt oder dreifach sind. Das schlägt mir meine Chance kaputt, den besseren der beiden auszuwählen – auf der anderen Seite kann ich bei dieser Runde wohl nichts falsch machen. Ich überlege mir, dass es wahrscheinlich sogar vorteilhaft ist, zwei gleiche zu ziehen. Zu guter Letzt trete ich zu Olga mit ihrem Kartenstapel. Mal sehen, was er für mich bereithält. Ich ziehe. So mehrdeutig die Chips auch sind, die Karten scheinen eine ganz eindeutige Sprache zu sprechen. Löse Aufgaben für beide Chips. Das nenne ich wohl Einsteigerglück. Für meine gegenwärtige Chipkonstellation kann ich mir nichts Besseres vorstellen. „Das ist alles?“, frage ich überheblich. „Wenn ich diese drei Dinge tue, bekomme ich einen Haufen Geld? Ich durchschaue euch Leute wirklich nicht.“ Dabei bohrt sich mein Blick in Olgas lächelndes Kosmetikfeld, das unmöglich ihr wirkliches Gesicht sein kann. „So ist es. Eine Sache fehlt allerdings noch“, erklärt sie und hält mir einen zweiten, wesentlich kleineren Stapel Karten hin, deren Rückseiten ein edles gold-schwarzes Muster ziert. „Ihre Rollenkarte. Diese müssen Sie das ganze Spiel über befolgen, und es ist auch nicht möglich, sie später umzutauschen. Ein kleines Extra, das das Spiel interessanter macht, wenn Sie so wollen.“ Ich zögere kurz und ziehe dann, einem Bauchgefühl folgend, die dritte oder vierte Karte des Stapels unter ihren Fingern hervor. Sie sagt nichts dagegen. Der Geheimniskrämer: Lüge über deine Chips und Karten. Darüber ist ein düster gekleideter Mann mit einer weißen Maske abgebildet. Verstehe. Dass es derartige Regelkarten gibt, hat Sakura ja gesagt. Offenbar gibt es auch eine entsprechende Rollenkarte, und ich darf mich während des ganzen Spiels niemandem anvertrauen. Ach, wie fies dieses Gremium doch ist. „In Ordnung, das war’s“, verkündet Olga schließlich und entlässt uns damit aus dem unterirdischen VIP-Bereich. Zurück in der Nachtluft, deren Kälte an der Haut kratzt, rufe ich eines der Taxis für mich. Naruto und Kiba müssen natürlich lästig sein und wollen wissen, welche Chips ich denn an meinem ersten Tag gezogen habe. Ich müsste darüber also lügen, ja? Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass dieses Gremium dahinterkommen würde, wenn ich jetzt die Wahrheit sage … Aber gut. Allerdings, wenn ich lügen soll, müsste ich ja erst mal ein paar Chips kennen. Welche zu erfinden kommt mir doch ziemlich blöd vor. Also sage ich einfach gar nichts, schweige die ganze Zeit stoisch vor mich hin und steige schließlich in mein Taxi ein, während Naruto mich langsam zu verfluchen beginnt. Ich öffne die Tür und drehe mich noch einmal zu Sakura um. „Kommst du auch? Ich fahre in deine Richtung.“ Sie sieht auf, immer noch ziemlich apathisch, zuckt mit den Schultern und steigt ebenfalls wortlos ein. „Alles klar, Sakura?“, ruft Ino ihr verblüfft nach. „Klar.“ Sie lächelte gezwungen. „Hab mich wohl erkältet oder so.“ Ino wirkt nicht überzeugt, aber da fahren wir auch schon los. „Schlechte Karte?“, frage ich irgendwann. Ich weiß nicht, warum es mich überhaupt interessiert. Nur wegen Sakura habe ich eigentlich meine ganzen Scherereien gehabt. Von mir aus soll sie in ihrem eigenen Probleme-Sumpf herumstrampeln und sich über Wasser halten mit ihren Lügen und Verbrechen und allem. Aber irgendwie habe ich sie lieber selbstbewusst und rebellisch als so … zerbrochen. „Und wie“, seufzt sie. Dann folgt wieder Stille. „Darfst du drüber reden?“, frage ich und beobachte, wie die Stadt am Fenster vorbeizieht. Lichtpunkte werden zu bunten Schlieren. „Willst du es denn hören?“, fragt sie verwundert. „Wenn’s nicht zu lange dauert“, brumme ich widerwillig. Sakura schnaubt. „Lange dauert es sicher nicht. Auf meiner Karte stand ja auch nur ein Wort. Töte. Ich soll jemanden umbringen, Sasuke.“ „Aha. Und?“ „Was heißt hier und?“, fährt sie auf. „Seh ich für dich wie eine Mörderin aus?“ „Ich habe gedacht, du hättest deine Skrupel irgendwann in den letzten drei Jahren sechs Fuß tief vergraben? Und du hast selbst gesagt, dass das Spiel brutaler wird, also wundert es dich?“ Sie stöhnt genervt und wirft sich in die Rückenlehne, als hoffe sie, darin zu versinken. „Ich will aber niemanden umbringen“, sagt sie trotzig. „Von mir aus nenn mich schwach oder einen Feigling, aber ich will den letzten Rest von meinem Gewissen nicht auch noch vergraben, wie du so schönst sagst.“ „Dann tu es doch einfach nicht.“ „Sehr witzig“, grummelt sie. „Und das Spiel?“ „Du hast doch genug Geld beiseite geschafft, oder? Wenn’s dir so wichtig ist, verschieb doch die Sache mit der Wohnungssuche und opfere was, um dich aus der Runde quasi freizukaufen.“ Ich weiß gar nicht, warum ich ihr überhaupt Ratschläge gebe. Die Erwähnung ihrer Wohnung erinnert mich erst wieder daran, dass jemand bei ihr eingebrochen ist und dass ich auf einem Sextape im Internet gelandet bin. Sie atmet tief durch. „Du hast ja recht. Sorry, dass ich mich bei dir ausheule. Ich muss einfach darauf vertrauen, dass der Chip vom letzten Mal derjenige wird, den ich benutzt habe.“ „Hm. Wann erfahrt ihr das für gewöhnlich?“ „Meistens noch am selben Abend nach der neuen Ziehung“, sagt sie. „Manchmal ist es auch erst der nächste Tag.“ „Aha. Das heißt, das Gremium wählt zufällig einen deiner beiden Chips aus, und der zählt dann, ja? Habt ihr überhaupt eine Garantie, dass das wirklich zufällig geschieht?“ „Nein“, brummt sie. „Aber es hatte bisher schon immer den Anschein. Außerdem ist das Ganze doch ein Casino, oder?“ „Auch in einem Casino können die Betreiber betrügen. Geld regiert die Welt“, sage ich. Daraufhin schweigen wir beide und es kommt mir selbst komisch vor, dass ich der Letzte bin, der etwas gesagt hat. Wir sind nicht mehr allzu weit von Sakuras Wohnung entfernt, als ihr Handy einen Piep von sich gibt. Sofort wirft sie einen Blick darauf. Offenbar ist eine SMS oder Mail gekommen – nämlich die, die sie erwartet hat. Die, in der steht, ob ihre Wahl die richtige war. Ob sie etwas dafür kriegt, Hinata einen Streich gespielt zu haben, und wie viel Geld sie bekommen oder verloren hat. Ich kann nicht auf ihr Display sehen, aber sie lässt stöhnend das Handy sinken, als wären plötzlich alle Muskeln in ihrem Arm abgestorben. Mit einem tiefen Stoßseufzer sinkt sie gegen die Lehne, die Augen geschlossen. „Scheiße …“, haucht sie nur. „Ich wusste es.“ „Was?“ „Ich bin erledigt.“ „Aha.“ Nicht mal mein abfälliger Kommentar dringt zu ihr durch. Ich merke, dass sie schneller atmet und stark schwitzt. Sie wirkt plötzlich, als wäre sie irgendwo weit weg. „Sakura?“ Es kommt keine Antwort. Schließlich seufze ich auch. „Komm schon. Sei mal keine Drama-Queen, ja?“ „Halt den Mund“, kommt es gebrochen über ihre Lippen. „Ich bin erledigt. So richtig am Arsch.“ „Das heißt, du hättest den anderen Chip wählen sollen?“, vermute ich das Offensichtliche. „Der Homerun-vor-dem-Gesetz-Chip ist gezogen worden. Ich habe den Verräter-Chip abgearbeitet. Und Hinata zu erschrecken war dem Gremium nicht krass genug im Vergleich zu dem, was sonst möglich gewesen wäre – und was der Gewinnerchip eigentlich von mir verlangt hätte.“ „Wie viel?“, frage ich tonlos. „Zweihunderttausend. Sie haben mir ganze zweihunderttausend abgezogen! Ich bin fünfzigtausend im Minus!“ „Hm“, brumme ich. Sie hatte also echt so einiges zusammengespart – mit Betonung auf hatte. „Das klingt übel.“ „Wenn ich zweihunderttausend verliere, weil ich den Verräter statt dem Homerun gemacht habe, was werden die mir dann erst abziehen, wenn ich gar nichts mache? Die Regelkarte gilt für beide Chips. Wenn ich sie nicht berücksichtige, brauch ich gleich keinen Finger zu rühren. Die haben mich, Sasuke! Ich komme so weit ins Minus, dass ich ausscheide! Die bringen mich um!“ Ihre Stimme wird immer höher und gepresster. Sie ist völlig mit den Nerven fertig. „Ganz ruhig“, sage ich, um überhaupt etwas zu sagen. Wenn Leute austicken, lasse ich sie für gewöhnlich einfach selbst damit fertig werden. Bei ihr fällt es mir gerade irgendwie schwer. „Was ist mit Naruto? Schuldet er dir nicht auch noch einen Batzen Geld, weil du ihm neulich aus der Klemme geholfen hast?“ Sie setzt sich kerzengerade hin. „Natürlich“, haucht sie und tippt mit zittrigen Fingern auf ihrem Handy rum. Dann verharrt sie. „Ich kann es nicht“, erklärt sie. „Kannst du … ihn für mich anrufen? Ich will nicht, dass er mitkriegt, wie … wie fertig ich bin.“ Bloß nicht. „Ich dachte, du bist ein taffes Mädel“, schnaube ich. „Das ist deine Sache, nicht meine.“ „Schon gut, vergiss, dass ich gefragt habe“, zischt sie und ruft an. Die Hand, die das Mobiltelefon an ihr Ohr presst, zittert merklich. „Naruto? Ja, ich … Nein, es geht mir gut. Hör mal, wie sieht es aus mit der Kohle? Du hast mir ja einen ordentlichen Zins versprochen, es wäre schön, wenn ich das Geld so bald wie möglich wieder auf meinem Konto hätte.“ Der blonde Idiot spricht laut genug, dass sogar ich ihn noch als leises Stimmchen höre. „Wegen dem, also … naja, die Sache ist die …“ Ich merke, wie Sakuras Kiefermuskulatur hervortritt. „Ich hab Pech gehabt. Sie haben nicht den Dealer-Chip gewählt, sondern den anderen. Ich bin momentan sogar ein wenig im Minus …“ „Okay, das ist …“ Sakura verstummt. Innerlich scheint sie zu kochen, aber ich schätze, das ist, was man hilflose Wut nennt. Nicht übel, dass sie es nicht an ihm auslässt – ich hätt‘s wohl getan. „Hast du auch Schulden gemacht?“, trifft er voll ins Schwarze. Aber Sakura legt einfach auf und schaltet ihr Handy aus. Dann sinkt sie erneut in die verschlissene Rückenlehne des Taxis. „Aus“, flüstert sie. „Alles bricht zusammen.“ Ich schweige. Mein Vorrat an aufmunternden Worten für einen ganzen Monat ist aufgebraucht. Das Taxi hält vor ihrer Wohnung, und als sie keine Anstalten macht auszusteigen, seufze ich, öffne meinerseits die Tür, stapfe um das Auto herum durch frischen Schnee und ziehe sie auf den Bürgersteig. Der Taxifahrer schüttelt über uns den Kopf und ist sichtlich missmutig, dass ich ihm nicht mal Trinkgeld gebe, während ich verkünde, dass ich von hier aus zu Fuß nachhause käme. Das gelbe Gefährt braust davon und zieht zwei Spuren aus Matsch durch die unberührte Schneefahrbahn. Es schneit wieder stärker. „Komm schon“, murmele ich, als Sakura nur auf ihre Schuhspitzen starrt, die im Schnee versinken. Ich werde den Teufel tun und sie zu ihrer Wohnungstür schleppen. Dumme Zicke. Sie führt sich auf, als wäre sie plötzlich invalid oder geisteskrank. Geistesabwesend trifft‘s wohl eher. Ihr roboterhafter Gang hält mich davon ab, einfach nachhause zu gehen. So folge ich ihr in ihre Wohnung. Sie sagt kein Wort, tritt sich nicht mal die Schuhe ab und zieht eine nasse Spur durch das hässliche Zimmer, wo sie sich auf einen Couchsessel wirft. Seufzend beschließe ich, dass wir einen Whiskey vertragen können. In ihrem Zimmer ist es zugig, und das Taxi hat auch mit der Heizung gegeizt, also ist das vielleicht genau das Richtige. Ich finde eine Minibar in einem der Schränke. Whiskey hat Sakura nicht da, aber ich finde einen billigen Brandy und gieße uns zwei Gläser ein. Wortlos reiche ich ihr eines, und ebenso wortlos nippt sie daran. „Du musst nicht hierbleiben“, murmelt sie nach Minuten. „Du siehst im Moment aus, als würdest du Selbstmord begehen, wenn’s nicht so viel Mühe wäre“, knurre ich. „Ich gehe erst, wenn ich sicher sein kann, dass ich dich noch für die Sache mit dem Video zur Rechenschaft ziehen kann.“ Sie kräuselt leicht die Mundwinkel, sieht aber nicht auf. Ihr Blick ist starr auf die Bodendielen geheftet, als könnte sie sie durchbohren und den verborgenen Schatz ihrer Vormieter finden. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ein Mangel an Geld Sakura mal so fertig machen könnte, egal unter welchen Umständen. „Ist es überhaupt sicher, dass das Gremium die Leute umbringt, die nicht bezahlen können?“, frage ich irgendwann. War vielleicht nicht die taktvollste Bemerkung. Sie versteift sich kurz, aber dann sagt sie: „Sicher wissen wir es nicht. Ein Mitspieler ist jedenfalls von einem Moment auf den anderen nicht mehr aufgetaucht. Und sie haben mit schweren Strafen gedroht.“ Oh ja, das habe ich in meinem Vertrag gelesen. Diesem Vertrag, der so viel wert ist, dass er gerade mal zum Hinternauswischen taugt. Sakura hält mir ihr Glas hin, ohne mich anzusehen. Ich schenke ihr nach. „Es hat alles so harmlos angefangen“, flüstert sie, nachdem sie ihren zweiten Brandy geext hat. „Das waren Dummejungenstreiche. Kinkerlitzchen. Manches war nicht mal wirklich illegal oder besonders aufregend. Das Gremium hätte Werbung als Komfortzonen-Crusher machen können. Und jetzt …“ Ich schenke ihr wieder nach, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. „Weißt du“, beginne ich irgendwann, „ich hab eines gelernt in der Zeit, in der ich weg war. Du kannst noch so beschissene Sachen ausfassen, noch so schlechte Neuigkeiten hören und noch so hart auf die Schnauze fallen. Wenn du eine Nacht darüber schläfst, ist es nicht mehr so schlimm.“ Zwar nicht der schlaueste Rat, aber dafür, dass ich in so was keine Übung habe, nicht zu verachten. Sakura schnaubt bitter. „Und das soll mich jetzt aufheitern?“ „Wenn du morgen dein Handy anmachst, wirst du tausend Anrufe und SMS von den anderen haben“, höre ich mich sagen. „Die werden alle besorgt sein und dir mit Freuden aus deinem Schlamassel helfen.“ „Die haben doch alle die gleichen Probleme wie ich“, murmelt sie. „Ich dachte, ihr geht miteinander durch dick und dünn? Ist doch viel besser, wenn ihr diesen Scheiß gemeinsam durchsteht.“ „Du verstehst das nicht, Sasuke. Es hat sich verändert, seit du weg bist. Wir sind nicht mehr so eine verschworene Clique wie früher. Das Spiel … das hat uns auch entzweit, Stück für Stück.“ Ich erinnere mich an diese Sache mit Hinata, von der Sakura mir erzählt hat. Schließlich seufze ich. „Dann bleibt dir wohl nur, das Beweisvideo zu fälschen.“ Sie sieht mich mit großen Augen an – trocken, aber schimmernd wie Jadekristalle. Kann es sein, dass ihr der Gedanke noch gar nie gekommen ist? „Wenn du das Video mit irgendjemandem drehst, der einigermaßen gut schauspielern kann, kannst du sicher einen Mord vortäuschen. Verkleide den Typen noch ein wenig, und die finden nie raus, wer es war.“ „Das hilft mir auch nichts“, meint sie mutlos. „Ich muss entweder einen Rockstar beklauen oder jemanden in einem Geisterkostüm erschrecken. Und ich sollte beides tun, sonst krieg ich am Ende wieder den falschen Chip ab.“ „Und wer sagt, dass du genau diesen Rockstar töten musst? Beklau ihn und bring dann irgendjemanden zum Schein um. Fertig.“ Sie steht auf, ihre Arme baumeln an ihr herab, als hätte sie jemand zerschlagen. „Ich geh ins Bett“, verkündet sie und wirft sich mitsamt ihrer Klamotten auf die harte Matratze. Ich zucke mit den Schultern. „Mach nur keinen Blödsinn, bis du wieder klar denken kannst“, sage ich säuerlich, stelle die Flasche mit dem Brandy aufs Nachtkästchen und gehe.   „Ich hab mal gehört, dass ich ziemlich viel Wert auf Klamotten und so lege, aber so lange wie gerade eben war ich noch nie in einem Kleiderladen“, meckert Deidara. „Du musst ja nicht mitkommen“, gebe ich zurück. „Ich habe sowieso keine Lust, mit dir gesehen zu werden, weißt du das?“ „Hm.“ Wir schlendern durch das Shopping-Center in der Innenstadt und ich muss aufpassen, dass ich mit meinen vollbepackten Taschen die vielen schnatternden Kunden nicht anremple. Deidara habe ich zufällig in einem Café getroffen und ihm prompt aus der Patsche helfen müssen, weil der Gute sein Portemonnaie vergessen hat. Wie es aussieht, will er unbedingt noch in die Heimwerkerabteilung und sich Ton oder Lehm für seine Hobbyprojekte besorgen – auch dafür hat er mich um Geld gebeten. Ich bin ja kein Unmensch, aber ich werde meine prädestinierte Shopping-Route nicht wegen diesem Luftkopf abkürzen. So habe ich ihn in die letzten drei Geschäfte mitgeschleppt. „Du könntest mir beim Tragen helfen, wenn dir langweilig ist“, sage ich, halb im Ernst. Und eigentlich habe ich es freundlich ausgedrückt, kein Grund also für ihn, mich so finster anzusehen. Ich verzichte schließlich auf meinen Besuch in der Schokothek – sonst hätte ich nämlich unter Garantie eine dumme Bemerkung von ihm geerntet. Das nächste Ziel ist der Baumarkt, in den er will. Um dorthin zu kommen, drängeln wir uns durch die bunte Menge der sitzenden und stehenden Zuschauer einer kleinen Live-Veranstaltung im Shopping-Center. Eine Band spielt auf selbstgebastelten elektronischen Instrumenten ein irgendwie verstimmt klingendes Stück, aber es reicht, um die Gäste der Kaufhauses bei Laune zu halten und ihnen bei einem netten Kaffee die Zeit zu vertreiben. Um den Leuten nicht die Show zu stehlen, boxen wir uns zum Rand des Menschenauflaufs durch, wo ich prompt von einem Mann in Security-Uniform angesprochen werde. Im ersten Moment habe ich sofort ein schlechtes Gewissen – im zweiten wundert es mich, dass er meinen Namen kennt. „Tag, Ino.“ Das grinsende, breite Gesicht von Dandy strahlt mir entgegen. Ohne seinen Pferdeschwanz hätte ich ihn fast nicht erkannt. Was macht der Rausschmeißer eines zwielichtigen Lokals hier im renommiertesten Shopping-Center der Stadt? Ich gebe mir die Antwort gleich selbst. „Hey, Dandy. Hier arbeitest du also tagsüber?“ „Nee“, sagt er und zieht die Nase hoch. Sein Grinsen erlischt. „Ich arbeite nur hier. Seit heute.“ „Warum das denn? Bist du gegangen oder geflogen?“, scherze ich. Dandys Miene wird noch finsterer. „Sie haben den Laden dicht gemacht.“ „Was?“ Ich reiße die Augen auf. „Wieso?“ Dandy mustert Deidara argwöhnisch und ich beeile mich zu versichern: „Er ist okay.“ „Die Bullen“, sagt Dandy schließlich. „Gab ‘ne Razzia, vorgestern. War die Hölle los. Hab gehört, über ein Dutzend Festnahmen. Tja.“ „Oh.“ Meine Betroffenheit hält sich ehrlich in Grenzen, es tut mir nur leid um Verde. Aber wenn ich mich richtig erinnere, kellnert sie sowieso auch in anderen Lokalen. Sie wird es finanziell schon überstehen. Wahrscheinlich war es sowieso nur eine Frage der Zeit, bis diese Extremistenbude ausgeräuchert wird. „Naja, nichts währt ewig“, tut es auch Dandy mit einem Schulterzucken ab. Vermutlich ist er froh, selbst nicht belangt worden zu sein. Immerhin hat er keine Skrupel gehabt, Gäste des Etablissements zusammenzuschlagen, um dann ihre Geldbörsen zu plündern. „Und ihr zwei? Seid ihr ein Pärchen?“ „Wir? Himmel bewahre“, lache ich. „Was dann?“ „Flüchtige Bekannte“, sage ich, im selben Moment, in dem Deidara sagt: „Gute Freunde.“ Dandy glotzt uns dämlich an, dann lacht er. „Na gut, bis ihr euch einig seid, dreh ich mal weiter meine Runden. Man sieht sich vielleicht mal wieder.“ Kopfschüttelnd geht er davon. Soll er denken, was er will. Wichtiger ist, was ich zu denken habe. Für heute waren es mir auf jeden Fall schon zu viele Zufallsbegegnungen. Aber was mich wirklich nachdenklich stimmt, ist die Sache mit dem Lokal. Angeblich gibt es das schon seit Jahren, und die Polizei hat sich nie daran gestört. Vor wenigen Wochen bin ich noch dort gewesen und habe gekellnert, und außerdem Naruto – und neulich, habe ich gehört, erneut Naruto, in Begleitung von Lee. Und wir alle haben Fotos und Videos von der Spelunke gemacht. Ich frage mich, ob das wirklich alles Zufall ist. Wenn ich daheim bin, werde ich mal im Internet die Nachrichten diesbezüglich checken.   Sasuke hat recht gehabt. Als ich die Tage verstreichen lasse, fühlt sich mein Inneres nicht mehr ganz so an, als würde es von einer riesigen Müllpresse zermalmt werden. Am ersten Tag bringe ich zwar kaum was zu essen runter, aber nach einer weiteren Nacht Schlaf geht es mir wieder besser. Zumindest gut genug, um Pläne zu schmieden. „Und warum genau helfe ich dir eigentlich?“, fragt Sasuke leicht genervt und stellt das Glas Milch auf seinem Couchtisch ab. Milch, weil ich erkannt habe, dass kalte Milch mir beim Denken hilft und meinen Kopf klar hält. Und sein Tisch, weil wir bei ihm sind. Ich habe mich dazu durchgerungen, ihn nach seiner Adresse zu fragen. Irgendwie habe ich einen Tapetenwechsel gebraucht. Ich bin ja auch überrascht, dass er zugestimmt hat, aber nun sage ich: „Weil du es warst, der gemeint hat, es ist nicht so schlimm, wie es zunächst aussieht. Und da man viel behaupten kann, ohne eine Ahnung zu haben, stehst du das bis zum Ende mit mir durch.“ Er zuckt mit den Schultern, setzt sich neben mich und beugt sich über den Laptopbildschirm, dann über die Straßenkarte, die auf dem Tisch liegt. Ich finde es irgendwie tröstlich, ihn in der Nähe zu haben. Unwillkürlich frage ich mich, was er wohl wirklich über meine Anwesenheit denkt – unter all dem Hass und der aufgestauten Wut wegen einer gewissen Nacht, versteht sich. Will er mich am liebsten rauswerfen und zeigt es nur nicht, oder hätte er auch gern jemanden, der ihm Gesellschaft leistet? Und warum denke ich plötzlich über so was nach? Bestimmt, weil meine Welt zusammenzubrechen droht und mein Verstand sich auf die banalsten Dinge des Lebens zu konzentrieren beginnt: Schlafen, Essen, Fortpflanzung. Sichere das Überleben deiner Art und der ganze Mist. Aber hey, was auch immer in dieser Woche in meinem Kopf vorgeht, ich kann mich als nicht zurechnungsfähig verbuchen. Und da Töten, um nicht getötet zu werden, auch der Arterhaltung dient, bringe ich das vielleicht wirklich zustande. „Hier ist laut dem Satellitenfoto eine Art Feuerleiter“, sage ich und zeichne sie auf dem Plan ein. „Und über der Halle sind Zimmer, die man mieten kann.“ „Und du glaubst, dass er da absteigt?“ „Ich habe die Hotels in der Nähe überprüft. Es gibt nur ein paar kleine, und die schaffen es gerade mal auf zwei Sterne. Ich glaube, über der Konzerthalle ist da die bessere Wahl. Luxuriöser als im Tourbus ist es da sicher auch. Und als ich angerufen habe, haben sie gesagt, dass nur noch ein Zimmer frei sind – von neun. Es sind fünf Bandmitglieder, und die Crew schläft vielleicht auch dort.“ Wenn man als Geist verkleidet einen Rockstar beklauen soll – worauf meine Chipziehung in erster Linie hinausläuft – und obendrein nur eine Woche Zeit hat, gibt es nicht viele Möglichkeiten. Rockstars leben auch in einer großen Stadt wie unserer nicht unter ständiger Zurschaustellung ihres Ruhms, und die einfachste Methode, einen ausfindig zu machen, ist, ihn während oder nach einem Auftritt abzufangen. So habe ich begonnen, mich über alle Konzerte zu informieren, die für diese Woche anberaumt sind. Ein paar habe ich bereits verpasst, andere werben eher mit verschnörkelten Jazz-Kompositionen, Pop-Sternchen oder angesagten DJs. Eine ziemlich bekannte Hard-Rock-Band ist in der Stadt, aber die ist wiederum so bekannt, dass es verdammt schwierig sein wird, sich irgendwie an einen von ihnen ranzuschmeißen, ohne von den Sicherheitsleuten – oder den andere Groupies – filetiert zu werden. „Sag mir nochmal die Definition eines Groupies“, hat Sasuke dazu gesagt. „Reicht es vielleicht, wenn du in der Menge stehst und hysterisch schreist? Oder musst du dich über die Techniker und Assistenten bis zum Leadsänger hochschlafen? Könnte ziemlich auf die Lenden gehen, und du hast nur eine Woche Zeit.“ „Sehr witzig, Mister Uchiha“, habe ich giftig erwidert. „Ich hab so was nicht nötig. Ich reiß mir einen von ihnen während der Aftershow-Party auf, und wenn das nicht klappt, folge ich ihm einfach so in sein Apartment. Würde ein hysterisches Groupie doch auch machen, oder? Dort klaue ich ihm die Brieftasche, als Geist verkleidet, damit er sich schön erschreckt, und das war’s.“ „Und dann bringst du ihn um?“ So weit habe ich die Sache noch nicht durchgedacht. Aber immerhin ist mein Plan langsam dabei, zu reifen. Eine Rockgruppe gibt es noch, bei der ich mein Glück versuchen kann. Die ist letztlich das Ziel all meiner Überlegungen geworden. Der Leadsänger einer Alternative-Rock-Band, sein Künstlername El Riviera, hat vor kurzem ein Soloprojekt gestartet und macht damit nun seine erste Tour. In der Szene ist er recht berühmt, also zählt er definitiv als mögliches Opfer. Das einzige Problem ist, dass nur Aushilfsmusiker mit ihm auf der Bühne stehen, und somit ist Riviera der Einzige, den ich ins Visier nehmen kann. „Ich habe uns übrigens schon Karten besorgt“, sage ich. „Mir gefällt nicht, dass in deinem Satz das Wort uns steckt.“ Ich verdrehe die Augen. „Von mir aus frag ich Ino oder Naruto. Ich dachte nur, das mit dem Sich-auf-andere-verlassen-können hätte auch für dich gegolten, und ich könnte jemanden brauchen, der mir den Rücken freihält.“ „Ich werd noch ganz rührselig“, sagt Sasuke ironisch. „Woher hast du überhaupt das Geld? Ich dachte, du bist pleite?“ Immerhin weigert er sich nicht sofort, mitzugehen. „Ich hab noch einiges Bares und ein kleines Sparbuch.“ „Das heißt, du lädst mich auf das Konzert ein?“ „Von mir aus“, seufze ich. Innerlich bin ich froh, dass er tatsächlich mitkommen wird. Vielleicht ist er ja auch ein heimlicher Fan von El Riviera. Wobei ich mir gar nicht vorstellen kann, dass Sasuke überhaupt von irgendwas ein Fan sein könnte. „Was hörst du eigentlich so für Musik?“, frage ich unvermittelt. Mir fällt auf, dass ich, obwohl wir früher mal einen recht guten Draht zu ihm hatten, immer noch ziemlich wenig über ihn weiß. „Gar keine“, sagt er mürrisch. Na bitte.   Das Konzert findet am Samstag statt, also zu einer der letzten Gelegenheiten, die ich ergreifen kann. Wir sind den Plan mehrmals durchgegangen, aber es gibt so viele wackelige Stellen, dass mir bei dem Gedanken daran, was alles schiefgehen kann, übel wird. Wir haben besprochen, wo Sasuke mit dem Geisterkostüm auf mich warten wird, wohin wir jeweils nach getaner Arbeit fliehen und so weiter und so fort. Am schwierigsten lässt sich der Part mit der falschen Leiche umsetzen. Sasuke wird die Rolle eines Penners spielen, den ich bei meiner Flucht umbringe. Auch dafür planen wir genau Ort, Zeit und Verkleidung. Am zweitschwierigsten wird es vielleicht sein, El Riviera rumzukriegen – ein Star wie er ist sicher eine Menge weibliche Aufmerksamkeit gewöhnt. Ich bin zwar mittlerweile recht überzeugt von meinen Verführungskünsten, aber ein angeblich ziemlich verschrobener Rockstar mit einem Ego, auf das die Freiheitsstatue neidisch wäre, könnte eine harte Nuss sein. Außer Sasuke habe ich niemanden eingeweiht. Ich habe Ino und Naruto am Telefon erzählt, dass ich etwas ziemlich Gewagtes tun müsse, weil ich beim Gremium in der Kreide stehe. Wie Sasuke vorausgesagt hat – Himmel noch eins, obwohl er uns kaum noch kennt, haben die meisten seiner Prophezeiungen voll ins Schwarze getroffen –, haben gleich mehrere aus meinem Freundeskreis angeboten, mir finanziell unter die Arme zu greifen. Ich war einen Moment lang wirklich versucht, die Hilfe zu akzeptieren. Dann habe ich mir aber gesagt, dass auch die anderen sicher ihre lieben Geldnöte und Risiken haben, in der nächsten Runde so einiges zu verlieren, und bei einer derart krassen Aufgabe wäre meine Strafe fürs Nichtstun enorm. Ich würde ihr Geld verheizen wie Kohle in einer Dampflok. Da ist es mir lieber, ich zwinkere einem aufgestylten Mittdreißiger ein wenig zu und vermöble hinterher einen verkleideten Sasuke. Wir fahren mit dem Taxi zu der Veranstaltungshalle, in der der Gig stattfindet. Schon auf der Straße ist die Hölle los. Ich sehe ungefähr ebenso viele weibliche wie männliche Fans, die sich vor der Eingangstür drängeln, in Gruppen beisammenstehen oder eine letzte Zigarette rauchen. „Heute aber ohne Elektroschocks, ja?“, sagt Sasuke, als wir aussteigen. Ich kann kaum glauben, dass er einen Scherz macht, und lächle verlegen. Kapitel 8: „Hast du dich verlaufen, Kleine?“ -------------------------------------------- Vielleicht wäre es gar nicht nötig gewesen, dass wir das Konzert besuchen und uns dem Gedränge, der Hitze und der enormen Lautstärke aussetzen. Ich habe aber eine Ahnung bekommen wollen, was El Riviera für ein Mensch ist – oder eher, wie er sich gibt, denn das ist bei Promis erfahrungsgemäß fast wichtiger. Die Musik ist gar nicht so schlecht, und Riviera sieht auch gar nicht übel aus. Jünger jedenfalls, als er laut Wikipedia-Biographie ist. Sein Gesicht wirkt jedoch ausgezehrt, er hat eine lange, auftoupierte Haarmähne und ist eher schmächtig bis auf seine durchtrainierten Oberarme. Um seine Stirn schlingt sich ein breites Band, das ihn ein wenig wie ein Pirat wirken lässt. Seine Stimme ist angenehm, und er heizt die Menge gut gelaunt mit Scherzen an und feuert sie genauso viel an wie umgekehrt. Man merkt sofort, dass er der Star des Abends ist und die anderen Musiker ungefähr genauso viele Fans haben wie das Bühnenlicht. Die Texte handeln, soweit ich das sagen kann, von Herzschmerz, Drogen und verlorenen Zeiten, ein bisschen was Politisches scheint mir auch dabei zu sein. Ich wippe auf den Zehenspitzen vor und zurück, während die Menge rund um mich tobt, und brenne mir Rivieras Anblick in meine Netzhaut. Er soll der Mann sein, den ich beklaue. Und den ich, wenn es nach dem Gremium geht, umbringen soll. Sasuke steht dicht neben mir, da wir immer wieder aneinander gedrängt werden. Er hat die Arme verschränkt und steht da wie der Fels in der Brandung. Immerhin hat er an Ohropax gedacht. Mir hat das überbordende Schlagzeug längst etwas wie Watte in die Gehörgänge gestopft. „Ich gehe weiter nach vorne“, sage ich zwischen zwei Songs zu Sasuke. Der nickt nur. Wenn ich schon Rivieras Aufmerksamkeit bekommen muss, fange ich am besten gleich damit an. Die ersten zwei Reihen aus springenden Leibern, die sich vor die Bühne drängen, müsste man von dort aus erkennen. Der Rest versinkt wohl im Schatten hinter dem Scheinwerferlicht. Ich drängle mich an ausgeflippten Teenies und johlenden jungen Männern vorbei, ernte böse Blicke, und ein ziemlich betrunkenes Mädchen rempelt mich an und schimpft mich eine dumme Schlampe, aber dann schiebt sich noch jemand zwischen uns durch und ich verliere sie aus den Augen. Die Luft wird dicker, je näher ich der Bühne komme, oder bilde ich mir das ein? Ich rieche Schweiß und verschüttetes Bier; der Boden ist glitschig. Im Takt der Musik hüpft ein alter Mann mit einem Stapel Plastikbecher an mir vorbei, tänzelt mir kurz vor der Nase rum und trollt sich dann in Richtung Bar, um weitere Becher von den gebannten Fans einzusammeln und dann den Einsatz zu kassieren. Heute Nacht wird er reich werden, denke ich mir. Die letzten paar Meter sind fast unmöglich zu bewerkstelligen. Die Leute stehen dicht an dicht, als würden sie eine Mauer im American Football bilden – nein, selbst da gibt es mehr Lücken. Und keiner gibt freiwillig einen Zentimeter von dem Boden her, den er so eifrig erobert und so lange gehalten hat. Ich gerate bei dem Versuch, einen Durchlass zu finden, ziemlich an den Rand der Halle. Nicht gut. Immerhin, Riviera hastet auf der Bühne stets auf und ab, als hinge sein Leben davon ab. Schließlich finde ich einen einigermaßen guten Platz und positioniere mich in zweiter Reihe. Von da an tue ich alles, um seine Aufmerksamkeit zu erhaschen, so wie ich denke, dass es ein waschechtes Groupie tun würde. Meine Knopfkamera läuft bereits, damit das Gremium sieht, welche Mühe ich mir gegeben habe. Sobald Riviera hersieht, hüpfe und kreische ich, was das Zeug hält, bis meine Fußballen und mein Hals wund sind. Sein Blick gleitet über mich, aber ich glaube nicht, dass er mich wirklich wahrnimmt. Vielleicht fällt ihm ja irgendwann meine ungewöhnliche Haarfarbe auf. Was bin ich froh, dass das hier kein Punk-Konzert ist. Ein weiterer Song endet und ich bin sicher doppelt so erschöpft wie die Band. El Riviera zieht sich sein Stirnband vom Kopf, knüllt es zusammen und wirft das schweißfeuchte Ding in die Menge. Kreischend stürzen sich mehrere Mädchen darauf und zanken darum wie Hunde um ein Stück Fleisch. Ich könnte nie ein echtes Groupie sein. „Alles klar, Leute“, keucht Riviera ins Mikrofon. Er spricht mit einem spanischen Akzent, der auf mich übertrieben und falsch wirkt. „Danke! Ihr seid echt super! Den nächsten Song habe ich für jemand ganz Besonderen geschrieben. Ich weiß nur noch nicht, für wen.“ Sogar ein Scherz wie dieser reizt Gelächter aus hunderten von Kehlen hervor. Ich kann mir bildlich Sasuke vorstellen, wie er inmitten der kochenden Menge die Augen verdreht. „Es ist ein Song für euch alle, für meine treuen Fans, ohne die ich nicht hier stehen würde und ohne die ich keinen Grund hätte, überhaupt einen Fuß aus meinem Haus zu setzen“, fährt Riviera fort, umarmt seine Gitarre und ist offenbar beim rührseligen Part des heutigen Abends angekommen. „Dieser Song ist deswegen euch allen gewidmet!“, schreit er, und die Fans jubeln. „Und ganz besonders …“ Sein Blick gleitet durch die Menge. Jetzt!, schießt es durch meinen Kopf. Er will sich wirklich jemanden aus der Menge herauspicken? Wieder fangen die Fans zu zappeln an, die ersten beiden Reihen am stärksten. Rivieras sympathisches Gesicht wird von einem Lächeln geteilt, als er in meine Richtung … nein, er sieht nicht mich an, sondern das ziemlich kleine, pummelige Mädchen, das vor mir steht und ohne das ich vermutlich nicht geglaubt hätte, auf einem gut einsehbaren Platz zu stehen. „… der Glücklichen in der ersten Reihe! Alles Gute zur Hochzeit!“, ruft er und die Menge brüllt wieder, obwohl kaum einer sieht, was er überhaupt meint. Mir fällt auch erst jetzt auf, dass vor mir eine ganze Gruppe von jungen Frauen steht, die alle einheitliche Kleidung mit einer breiten Schärpe tragen, auf die ein Name gestickt ist, der im schwachen Licht unmöglich zu entziffern ist. Riviera hat sie wohl als eine Gruppe von Freundinnen identifiziert, die hier ihren Polterabend feiern – und das Mädel vor mir scheint die Braut zu sein. Zumindest hat sie als Einzige eine Plastikkrone auf dem Kopf, die mit Blumen verziert ist. Sie kreischt und springt glücklich auf und ab, wedelt mit den Armen, dreht sich einmal herum. Ich erkenne die Glückstränen in ihren Augenwinkeln, während El Riviera das alles mit einem wohlwollenden Lächeln quittiert. In meinem Kopf verschränken sich zwei Gehirnwindungen und spucken einen Plan aus. Kaum dass sie in meine Richtung sieht, schnappe ich ihr die Krone weg und setzte sie selbst auf. Das Mädchen starrt mich eine kleine Ewigkeit entgeistert an, während ich nur fies grinse. Mein Blick gleitet wieder zur Bühne. El Riviera ist meine Tat auch aufgefallen. Ich grinse ihn frech an, er grinst zurück. Ich gehe mein Repertoire an Aufreißtaktiken durch und will gerade Nummer eins, den koketten Wimpernaufschlag, umsetzen, als mir eine Freundin der Braut einen harten Stoß verpasst. Wortlos reißt sie mir die Krone vom Kopf und setzt sie der rechtmäßigen Besitzerin wieder auf, die mich so böse anfunkelt, als hätte ich eben den glücklichsten Tag ihres Lebens ruiniert. Ich frage mich unwillkürlich, ob der plötzliche Tod ihres Bräutigams sie so hart treffen könnte, wie sie sich nun getroffen gibt. Sie stößt mir ebenfalls mit erstaunlicher Kraft die Hände vor die Brust und schreit dabei irgendwas. Ich stolpere zwei Reihen zurück, wo ich gegen weitere Zuschauer pralle, die nicht mitbekommen haben, was los ist. El Riviera lacht gekünstelt in sein Mikrofon. „Ich sehe, dass ihr alle gut drauf seid. Los geht’s, Forever For Us!“ Meine plötzliche Abwesenheit in der zweiten Reihe hat ein Vakuum hinterlassen, das sich wie von selbst füllt. Da ich wohl keine Chance mehr habe, meine günstige Position zurückzuerobern, mache ich mich auf die Suche nach Sasuke. Riviera beachtet mich sicher gar nicht mehr, aber ich hoffe, dass zumindest das Gremium meine Aktion witzig findet. Als der letzte Song gespielt ist und der Drummer seine Sticks in die Menge schleudert, entdecke ich Sasuke an der Bar, einen Becher verwässertes Bier in der Hand. Wortlos nehme ich ihm den aus der Hand und trinke einen tiefen Schluck. Das Kreischen und Johlen hat meine Stimmbänder so sehr ausgetrocknet, dass sie mir wie verschrumpelte, scharfe Chilischoten im Hals brennen. Sasuke verzieht nicht mal den Mund, als ich ihm den halb leeren Becher wieder reiche. Ich merke erst jetzt, dass mir mein Top vom Schweiß am Rücken klebt und meine Haare auf meiner Stirn. „Erfolg gehabt?“, fragt Sasuke, als die Saalbeleuchtung angeht und man sich wieder einigermaßen unterhalten kann. Die Leute strömen den Ausgängen entgegen und verstopfen sie dabei erst mal. Ich erzähle ihm kurz, was ich in der zweiten Reihe so alles erlebt habe, und er schmunzelt sogar darüber. Als der Saal immer leerer wird – die Polterer sehe ich zum Glück nicht wieder –, deute ich auf die Tür hinter der Bühne, die in den Backstage-Raum führt. „Irgendwie müssen wir dort rein kommen.“ „Du meinst, du musst dort reinkommen.“ Ich seufze genervt. „Was hast du überhaupt für Chips?“ „Schon erledigt. Einer Freundin helfen und Leute verarschen.“ „Im Ernst?“, Ich hebe die Augenbrauen. Vielleicht stimmt das ja wirklich. Das würde erklären, warum er mir hilft … wobei mir der Gedanke irgendwie sauer aufstößt. Aus irgendeinem Grund wäre es mir lieber, seine Hilfe entspränge nicht seiner Verpflichtung dem Spiel gegenüber … Aber er würde mich dann immerhin als Freundin bezeichnen, nicht? Allein das gibt mir zu denken. Es sind mittlerweile fast keine Leute mehr da, aber da bereits Techniker auf der Bühne stehen, kommen wir auf diesem Weg unmöglich rauf. Also eilen wir nach draußen, dann durch einen Notausgang – gottlob geht keine Alarmanlage an –, und stehen irgendwann ohne unsere Winterklamotten, die noch brav in der Garderobe warten, in der frostigen Nachtluft. Laut meiner Karte ist der Backstage-Eingang gleich um die Ecke. Falls Riviera den nehmen wird, kommt er vielleicht hier vorbei … zumindest hat er nichts von einer Autogrammstunde gesagt. Aber wenn sie hinter der Bühne noch eine Aftershow-Party veranstalten, frieren wir uns hier alles ab. „Soll ich die Jacken holen?“, bietet Sasuke an. Ich nicke. Bereits jetzt zittere ich. Der Schweiß an meinem Körper scheint zu einer Eiskruste zu gefrieren. „Vergiss das Geisterkostüm nicht. Wenn ich nicht mehr hier bin, sehen wir uns am Treffpunkt.“ Der genau zwei Stockwerke über uns liegt, auf der Feuerleiter, die hoffentlich in Rivieras Zimmer oder zumindest zu dem Flur davor führt. Sasuke nickt. Der Notausgang lässt sich von außen nicht öffnen, also kämpft er sich zur Vorderseite der Location. Ich höre bereits das Geschnatter der Fans, die auf die Straße quellen, stehe mir die Beine in den Bauch und friere. Meine Knopfkamera nimmt das alles auf – wenn sie nicht in der Hitze da drin oder der Kälte hier draußen den Geist aufgegeben hat. Meine Gespräche mit Sasuke werde ich rausschneiden, aber soll das Gremium ruhig sehen, wie viel Mühe ich mir verdammt nochmal gebe, Rivieras Nummer eins zu werden! Ich versuche natürlich irgendwann, die Backstage-Tür aufzubekommen, aber ebenso naturgemäß ist sie abgeschlossen. Zitternd reibe ich meine nackten Arme. Die Gänsehaut darauf schmerzt bereits. Ich stelle mir vor, wie meine Lippen schon blau angelaufen sind. Und Sasuke kommt und kommt nicht! Ein erschreckender Gedanke macht sich in meine Kopf breit – was, wenn er mich verraten soll oder einfach keine Lust mehr hat, mir zu helfen? –, doch der gefriert sofort zu einem Eiskristall, dessen Ecken mich noch pieken, aber nicht wirklich schrecken. Mein Zittern nimmt irgendwann ab, wie ich erschrocken bemerke. Meine Finger und Zehen sind Eisklumpen, die ich kaum noch bewegen kann. Ich überlege ernsthaft, einfach zu gehen und meine Jacke selbst zu holen, auch auf die Gefahr hin, dass Riviera mir gerade dann entwischt. Eben, als ich den Entschluss fasse, es zu riskieren, knarzt die Tür des Backstage-Bereichs. Ich kann es kaum fassen. Sie kommen tatsächlich heraus! El Riviera ist natürlich der Erste. Seine ausgefranste Haarmähne mit den mehrfarbigen Strähnen ist unverkennbar. Er hat sich den Gurt seiner Gitarre um die Schulter geschlungen und trägt eine Lederjacke mit hochgekrempelten Ärmeln, was für diese Temperaturen eigentlich auch zu luftig ist. Er ist in ein Gespräch mit den anderen Bandmitgliedern vertieft und fuchtelt gut gelaunt mit den Händen. Hinter ihnen kommen noch zwei bullige Typen aus dem Backstage-Bereich – und dann sieht Riviera mich, wie ich mir die Seele aus dem Leib schlottere. Überrascht bleibt er stehen und starrt mich an wie ein Gespenst. Ich frage mich, ob damit ein Teil meiner Aufgaben schon erfüllt ist. „Holla“, sagt er. „Ist dir nicht kalt?“ Er ist so verblüfft, dass er ganz vergisst, den spanischen Akzent in seine Stimme zu packen. „Nein“, behaupte ich mit klappernden Zähnen. „Ich zittere vor Wut, weil es nicht noch kälter ist.“ Riviera glotzt mich immer noch an wie das achte Weltwunder, dann schnippt er mit den Fingern. „Laurie, gib der Frau mal deine Jacke. Die holt sich noch den Tod.“ Einer der Männer – der Drummer, glaube ich – schält sich missmutig aus seinem Pelzkragen und gibt ihn mir. Ich bin im ersten Moment noch zu verdattert, aber der Instinkt schreit mich an, das Ding sofort anzuziehen. Es riecht nach Zigarettenrauch, ist aber wirklich schön warm. „Hast du dich verlaufen, Kleine?“, fragt Riviera grinsend. Ich bemühe mich zwar um schlagfertige Antworten, aber was ich auch sage, die Tatsache, dass meine Zähne bei jedem Wort mindestens dreimal klackern und ich generell nur gepresste Worte rausbringe, lässt mich sicher ziemlich armselig erscheinen. „Ich bin hier schon richtig.“ „Die Show ist vorbei“, motzt mich einer der Typen im Hintergrund an. „Verschwinde, Mädchen.“ „Mit fremdem Eigentum?“ Ich deute lächelnd auf die Pelzjacke. Riviera lacht. „Hey, du warst bei dem Konzert, oder?“ Eine zugegebenermaßen nicht allzu schlaue Frage, bedenkt man, dass wir immer noch direkt vor der Halle stehen, aber er meint damit hoffentlich, dass er sich an mich erinnert. Ich nicke. „Nachdem ich dein Stirnband nicht erwischt habe, dachte ich, ich krieg vielleicht ein anderes Autogramm. Oder ein Abschiedsgeschenk.“ „Autogramme gibt’s heute keine“, erklärt er feixend. „Dann ein Abschiedsgeschenk.“ Innerlich bete ich, dass nicht plötzlich Sasuke auftaucht – wenn ich auf einmal einen besorgten Freund an der Seite hätte, würden mich die Typen sicher einfach links liegen lassen. Riviera schüttelt schmunzelnd den Kopf. Sein Akzent ist nicht wieder aufgetaucht – als wäre er in der Hitze während dem Konzert irgendwann einfach verdampft. „Weißt du, ich hab ja schon etliche durchgeknallte Mädels kennengelernt, aber du bist, glaube ich, die Erste, die sich als Eiszapfen für eine kleine Aufmerksamkeit bewerben will.“ „Ich dachte mir, ich müsste irgendwie so cool rüberkommen wie du“, plappere ich irgendeinen Unsinn, der mir durch den Kopf geht. Es scheint ihm zu gefallen. Vielleicht habe ich auch einfach seinen Beschützerinstinkt geweckt. „Na komm“, lacht er und legt mir den Arm um die Schultern. „Wir übernachten im dritten Stock, gleich über der Konzerthalle. Komm doch mit und wärm dich ein wenig auf.“ Ich kann es kaum glauben – er will mich wirklich mit auf sein Zimmer nehmen? Mir fällt auf, dass er mich nicht mal danach fragt, ob ich vielleicht irgendwo meine Jacke verloren habe, ob ich schon so gekommen bin oder ob mich jemand abholen wird oder ob ich ein Taxi will oder irgendwas, so als wäre es ihm im Grunde egal. Vielleicht gefalle ich ihm ja wirklich. Allzu hässlich bin ich ja nicht. „Coole Haarfarbe“, stellt Riviera fest, während wir um die Halle herumgehen. Seine Kollegen trotten schweigsam hinter uns her. „Danke“, bringe ich heraus. „Wie heißt du?“ „Sakura“, antworte ich – meine gerade erst wieder auftauenden Gehirnzellen haben sich auf die Schnelle keinen falschen Namen überlegen können. Ich frage mich, ob ich ihn auch nach seinem echten Namen fragen soll. Aber ein hysterisches Groupie würde das wohl nicht tun – für ein Groupie gäbe es nur El Riviera, und sein ganzes künstliches Image wäre alles, was ihm etwas bedeutet. „Gehen wir wirklich nach oben? Schmeißt ihr nicht noch irgendwo eine Party?“, frage ich. „Heute nicht. In zwei Tagen haben wir unseren letzten Auftritt. Danach lassen wir’s krachen, dass es für eine ganze Woche reicht.“ Ich habe wohl großes Glück, dass die Veranstaltungshalle so unmöglich unpraktisch gebaut wurde. Um zu den Apartments zu kommen, muss man einen Seiteneingang nehmen, den mit dem Backstage-Bereich zu verbinden wohl entweder zu kostspielig gewesen ist, oder es hat einfach niemand daran gedacht. Wir kommen an einem dicken Portier vorbei und nehmen den Lift in den dritten Stock. Während wir warten, bis die Türen wieder aufgleiten, steht Riviera ziemlich dicht an mich gedrängt. Falls ich noch einen Hinweis darauf gebraucht hätte, welcher Art sein Interesse an mir nun wirklich ist, wäre er das gewesen. Ich heiße das einen gelungenen Ablauf meiner Pläne – und gegen die Kälte hilft’s auch. Ein im Dunkeln liegender Flur nimmt uns auf. Der Boden ist mit Teppich ausgelegt, und auf der anderen Seite sehe ich ein Notausgang-Schild glimmen. Da muss die Feuerleiter sein. Riviera hat das Zimmer gleich neben dem Aufzug. Er verabschiedet sich von seinen Kameraden, von denen ihm einer mit einem anzüglichen Grinsen viel Spaß wünscht, und schließt die Tür auf. Das Zimmer ist erstaunlich groß und hell. Das einzige kleine Fenster sollen wohl die helle Tapete und die zahllosen Lampen ausgleichen – Deckenlampen, Wandlampen, Stehlampen; als hätte jemand seine Sammlung ausgedienter Lampen einfach hierher gebracht und Riviera hätte sie repariert. Nach der erbarmungslosen Kälte draußen werde ich nun schläfrig, aber ich registriere dennoch, dass Riviera die Tür hinter uns wieder absperrt. Kurz steigt Panik in mir hoch – aber es liegt wohl in der Natur der Sache, dass man nach Feierabend die Wohnungstür verschließt. Den Schlüssel legt er auf die Kommode. Ich sehe mich noch weiter in dem Zimmer um. Große Sitzecke, dunkle Lederbezüge. Ein Röhrenfernseher aus dem vorigen Jahrtausend. Ein Kühlschrank in der Ecke, aber keine Kochzeile oder etwas in der Art. Zwei Türen, die von hier abzweigen. Schlafzimmer und Bad, sage ich mir. „Also.“ Riviera reißt meine Aufmerksamkeit wieder an sich. Er hängt seine coole Lederjacke über einen nahen Stuhl, öffnet eine Schranktür und kramt darin herum. Ich stehe einen Moment verloren mit der fremden Jacke da, ehe ich sie zu seiner schmeiße und mich selbst auf die breite Ledercouch setze. Ich merke beiläufig, dass es auch in diesem Zimmer ziemlich kalt ist; so als würde nicht geheizt werden, wenn keine Gäste hier schlafen. Riviera tritt an mich heran und reicht mir ein Glas mit etwas bräunlich Schillerndem. „Hier. Zum Aufwärmen“, meint er grinsend. „Danke.“ Ich koste. Alkohol, höllisch scharf. Genau richtig. Er setzt sich auf den Sessel mir gegenüber, überschlägt die Beine und nippt an seinem eigenen Getränk. Sein Hemd zeigt massig Schweißflecken. Ich schätze, nach einem anstrengenden Auftritt und einer guten Stunde Herumgehopse im Rampenlicht steht ihm eher der Sinn nach einer ausgiebigen Dusche, bevor es mit uns zur Sache geht. Oder lässt sich ein Groupie bereitwillig den Auftrittsschweiß auf die Haut schmieren? Jedenfalls riecht er nicht gerade nach Shampoo, obwohl sie sicher auch im Backstage-Bereich Duschen haben, und auch jetzt lässt Riviera das Bad links liegen. Vielleicht will er mich nicht allein in seiner Wohnung lassen – was wird das dann also mit uns beiden? Soll ich mich nur aufwärmen und dann wieder gehen? „Tut mir leid, dass ich dir die Zeit stehle“, sage ich. Das ist wohl Sakuras Stimme in mir. Im nächsten Moment verbessere ich mich, und das Groupie sagt: „Aber das ist genau das, was ich schon immer tun wollte.“ „Glaub ich dir“, grient er. „Ist nicht das erste Mal.“ „Was? Dass eine leicht bekleidete Frau in der Kälte herumsteht oder dass du Damenbesuch hast?“, witzle ich. „Ich hatte schon leichter Bekleidete als dich.“ Er grinst immer noch. Aus der Nähe und bei guter Beleuchtung sieht er gar nicht mehr sooo gut aus. Seine Haut ist teigig und wirkt ungesund, und seine Haarmähne noch unechter. Und ich merke, wie sein Blick mich von oben bis unten taxiert. „Wie alt bist du?“, fragt er plötzlich. „Wieso?“, erwidere ich verblüfft. „Nur so.“ Er trinkt wieder einen Schluck Whiskey. Ich lächle unglücklich und tu es ihm gleich. Wenn wir nur hier sitzen, werden sich meine Chips nie erfüllen. Ich weiß, ich sollte als Groupie wohl die Initiative ergreifen, aber die Hauptsache wird sein, dass ich ihn beklaue. Und erschrecke. Ich spüre mein Handy in meiner Hosentasche vibrieren. Sasuke? Wie aufs Stichwort – nur dass ich jetzt unmöglich abheben kann. „Hättest du was dagegen, wenn ich deine Dusche benutze?“, frage ich. „Nur zu“, meint er. „Wärmt der Whiskey nicht genügend?“ „Geht so“, erwidere ich. „Aber ich bin momentan so verschwitzt, dass ich meinem Idol lieber nicht zu nahe kommen will. Und mich hat jemand mit Bier vollgeschüttet. Das fändest du sicher eklig.“ Ich schwafle einfach drauflos, aber die Nummer zieht. Riviera schmunzelt nur wohlwollend und deutet auf eine der beiden Türen. „Da drin. Aber pass auf – ich war erst ein paar Minuten in diesem Zimmer, heute Nachmittag. Keine Ahnung, wie oft hier jemand übernachtet, also kann es sein, dass nur kaltes Wasser kommt.“ „Schlimmer als die Kälte draußen kann’s nicht sein“, sage ich und zwinkere ihm zu. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen und versperrt habe, atme ich tief durch. Ich bin so schnell in sein Zimmer gelangt, dass ich noch keine Zeit gehabt habe, meinen eigentlichen Plan zu verfeinern. Für den Anfang muss ich Sasuke zurückrufen. Mit der Geisterverkleidung steht und fällt die Sache. Damit Riviera nichts davon mitbekommt, gehe ich so weit wie möglich von der Badezimmertür weg – was nichts anderes bedeutet, als dass ich in die Duschkabine schlüpfe. Diesmal schalte ich meine Kamera aus. „Sasuke“, zische ich in mein Handy, nachdem er abgehoben hat. „Wo steckst du?“ „Draußen auf der Feuerleiter. Bist du drin?“ „Ja, wie durch ein Wunder“, knurre ich. „Verdammt nochmal, wo warst du? Ich wäre halb erfroren!“ „Hat doch funktioniert, oder?“ „Schon, aber …“ Moment, was? Bedeutete das, es war Sasuke Plan, mich so lange in der Kälte zittern zu lassen, bis ein gut gelaunter Riviera des Weges kommt und Mitleid mit mir kriegt? „Deswegen rupfen wir zwei noch ein Hühnchen“, drohe ich ihm an. „Kann’s kaum erwarten. Ich hab dein Kostüm. Kommst du irgendwie zwischendurch raus, oder belassen wir es bei einem Diebstahl?“ „Ich geb mir Mühe. Warte noch ein bisschen.“ Vielleicht kriege ich Riviera ja doch noch dazu, sich schnell den Schweiß runterzuduschen. Das wäre die ideale Gelegenheit für, mich als Geist herzurichten und sein Portemonnaie – oder was auch immer er hier herumliegen hat – einzusacken. „Gut, wie du willst. Vergiss nicht, die Kamera einzuschalten, wenn ihr miteinander vögelt.“ „Ha-ha-ha, ich lach mich gerade tot“, knurre ich und lege auf. Damit mein Opfer nicht misstrauisch wird, entschließe ich mich wirklich zu einer kurzen Dusche – die tatsächlich sehr kurz ausfällt, da das Wasser, wie Riviera mich gewarnt hat, einfach nicht warm werden will. Hinterher ist mir wieder kalt, dafür ist mein Verstand wieder wach und klar. Ich schlüpfe wieder in meine verschwitzten Klamotten und föhne die Feuchtigkeit heraus, was die Sache etwas erträglicher macht. Dann schalte ich meine Knopfkamera wieder scharf und gehe ins Wohnzimmer zurück. El Riviera hat es sich in seinem Sessel gemütlich gemacht, wo er einen weiteren Drink schlürft. Und er trägt jetzt legere Jogginghosen. Ich denke mal, das heißt, dass er nicht gedenkt, sich den Schweiß vom Auftritt vom Leib zu waschen. Ich frage mich, ob er generell ein so unhygienischer Typ ist, oder ob er sich bei seinen zahllosen weiblichen Verehrern einfach nicht mehr die Mühe macht. „Da bist du ja. Noch ein Drink?“, fragt er. Ich gehe um ihn herum, damit ich ihm verführerisch die Arme um den Hals legen kann. „Ich hätte jetzt ganz gerne was anderes“, schnurre ich. „Ach ja?“ „Was zum Naschen.“ Ich knabbere an seinem Ohrläppchen. Innerlich verfluche ich ihn. Wie soll ich ihn verdammt nochmal außer Sichtweite kriegen, damit ich zu Sasuke und mir dieses dämliche Geisterkostüm holen kann? Noch dazu kann es sein, dass zumindest der Notausgang hier oben alarmgesichert ist … Vergiss es, sagt eine Stimme in meinem Inneren. Dieser zweite Chip bringt nur Ärger. Schlaf mit ihm und hau dann mit seiner Brieftasche ab. Es ist ganz einfach. Und es wäre nicht das erste Mal. Nur dass ich, wenn es sich vermeiden lässt, nicht mit ihm im Bett landen möchte. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich Hemmungen habe. Vielleicht wegen dem, was Sasuke zu mir gesagt hat? Ich weigere mich, mich so von ihm beeinflussen zu lassen! Aber es ist ein Faktum. Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, Riviera für Geld flachzulegen. Ich meine, er treibt es sicher ständig mit allen möglichen Mädchen aus allen möglichen Ländern, in denen er auf Tournee geht. Ganz zu schweigen davon, dass er gar nicht auf die Idee kommt, vorher unter die Dusche zu hüpfen, verdammt nochmal! Oder suche ich vielleicht einfach krampfhaft nach Ausreden? „Du riechst ein wenig streng“, stelle ich fest und lasse es wie einen Scherz klingen. „Möglich. Aufregend, nicht?“ „Was soll daran aufregend sein?“ Er legt den Kopf in den Nacken und schielt mich lasziv an. „Gib’s zu, ihr Mädels steht drauf. Ich hatte mal eine, die wollte, dass ich dabei noch meine Gitarre umgeschnallt habe. Ich konnte sie gerade noch überzeugen, dass wir’s nicht auf der Bühne hinter den Lautsprechern tun.“ „Und deswegen glaubst du, wir Mädels stehen alle auf so was?“ „Die Erfahrung gibt mir recht“, meint er hochnäsig. „Tja, vielleicht bin ich ja was Besonderes“, sage ich säuerlich. „Das glauben sie alle. Und tief drin wissen sie, dass das einzig Besondere ich bin.“ So, das war’s. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Zum Teufel mit diesem Kerl! Ich gebe zu, dass er auf der Bühne und auch auf dem Weg hierher sympathisch gewirkt hat. Ich frage mich, wie ich erst sein werde, wenn ich das Schicksalslos durchhalte und in ein paar Jahren auch eine Menge Geld gescheffelt habe. Falls es je dazu kommt. Denn schon beschleichen mich neue Zweifel. Wenn ich die Sache mit dem Geist sausen lasse, laufe ich Gefahr, zu verlieren. Je lahmer meine Aktion mit dem diebischen Rockstar-Groupie ist, desto höher mein Verlust. Wenn ich mit Riviera in die Kiste springe und dann doch den Geist hätte mimen sollen, werde ich es finanziell vielleicht trotzdem überleben, aber so … Ich schüttle den Kopf, als ich Sasukes abfälligen Gesichtsausdruck schon förmlich vor mir sehe. Keine Chance. Allein die Tatsache, dass ich so eiskalt kalkuliere, sagt mir, dass ich sowieso schon viel zu abgebrüht bin. Ich habe mir die Linie gezogen, nicht zu töten, und ich bin fest davon überzeugt, dass mein Plan aufgehen und mich davor bewahren wird. Dann setze ich mir eben gleich noch eine weitere Hürde: Ich schlafe nicht mit Riviera. Ich beklaue ihn, haue von hier ab und das war‘s mit dem Groupie-Chip. Ich kann ja immer noch jemanden in meiner Nachbarschaft erschrecken. „Ist was?“, fragt er. Offenbar war ich ziemlich lange in Gedanken versunken. „Nichts“, sage ich. „Ich hab nur wirklich gedacht, dass ich was Besonders wäre …“ Ich versuche zu klingen wie ein Schulmädchen, dessen großer Traum, endlich ein eigenes Pferd zu besitzen, gerade von der Realität zerschmettert wird, in der es kein Geld und eine Pferdehaarallergie hat. Während ich das sage, lasse ich meinen Blick durch den Raum gleiten. Wo ist seine Hose? Die, die er bei seinem Auftritt anhatte? Sicher im Schlafzimmer. Ob er da drin was Wertvolles hat? Oder in seiner Jacke? Würde er seine Brieftasche mit auf die Bühne nehmen? Kaum, oder? Mein Blick gleitet über die Deko auf der Kommode. Da steht eine hölzerne Schachtel, recht schlicht; daneben eine Buddha-Statue mit Blattgoldüberzug, und sie sieht ziemlich schwer aus. Gehört sicher zur Raumausstattung. „Denk nicht mal dran“, sagt Riviera mit zäher Stimme. „Hm?“ Mein Herz macht einen erschrockenen Hüpfer, als ich den veränderten Tonfall in seiner Stimme höre. „Was denn?“ „Du brauchst gar nicht darüber nachzudenken, ob du mich mit dem Ding von hinten niederschlagen und türmen kannst. So dumm bin ich nicht. Kalte-Füße-kriegen ist jetzt nicht mehr drin.“ Ehe ich protestieren oder mich auch nur fragen kann, was in ihn gefahren ist, packt er mich am Handgelenk und stößt mich zu seiner Schlafzimmertür, dass ich gegen das Holz taumle. „Genug gewartet“, sagt er. „Ich hab keine Lust auf ein langes Vorspiel. Rein da mit dir. Ich hole nur mal eben was zum Verhüten.“ Er grinst hämisch, zieht die oberste Schublade der Kommode auf und kramt darin herum. Meine Abneigung ihm gegenüber hat eindeutig ihr Maximum erreicht. Aber ich sehe meine Chance. Ich öffne die Schlafzimmertür und schlüpfe in den finsteren Raum. Meine Finger sind schweißnass, als sie den Lichtschalter finden. Zu wenig Zeit, ich habe garantiert zu wenig Zeit … Da! Als das Licht angeht, sehe ich seine Hose auf dem Bett liegen. Ich stürze mich regelrecht darauf, taste die Taschen nach Wertgegenständen ab und … ein Klicken lässt mich zusammenzucken. Erst denke ich, es ist das Schnappen eines Schlosses, weil er mich eingesperrt hat. Mein Herz pocht bis zum Hals. Aber als ich mich herumdrehe, sehe ich, dass ich mich geirrt habe – und mein Herz scheint plötzlich gar nicht mehr zu schlagen. Ich kauere da vor dem Bett wie schockgefrostet, die Hose immer noch in der Hand, und starre zur Tür. Riviera steht im Türrahmen. Sein Gesichtsausdruck ist abfällig. In der Hand hält er eine kleine Pistole, deren Hahn er eben wie ein Cowboy gespannt hat. Der Schalldämpfer darauf zeigt geradewegs auf mich. Scheiße! Das ist der einzige Gedanke, der sich durch meine Synapsen quetschen kann. „Warum so erschrocken? Ich hab doch gesagt, ich hol was zum Verhüten. Das hier ist das beste Verhütungsmittel gegen einen Hinterhalt von einer feigen Hure wie dir, findest du nicht? Gute Idee übrigens“, sagt El Riviera und deutete auf seine Hose. „Zieh den Gürtel raus. Mach schon.“ „Wa-was soll das?“, keuche ich. „Was hast du vor?“ „Hm? Ich fessle dich damit ans Bett, was hast du denn gedacht? So bist du weniger aufmüpfig.“ Ich starre in den Lauf der Pistole. Meine Finger wollen mir nicht gehorchen. Ich brauche ewig, ehe ich seinen Gürtel in der Hand halte, schwarz und aus Leder. „Braves Mädchen. Gib ihn mir.“ Er streckt die Hand aus. Ich bringe ein nervöses Lächeln zustande. „Eigentlich stehe ich nicht auf Fesselspielchen“, sage ich. „Wollen wir ausprobieren, ob ich auf Nekrophilie stehe? Her mit dem Ding!“ Er tritt auf mich zu. In dem Moment schlägt der Wahnsinn seine Krallen in mich. Ich tue so, als würde ich ihm den Gürtel in die Handfläche legen wollen. Stattdessen hole ich aus und schnalze ihm das Leder gegen die andere Hand, die mit der Waffe. Er zuckt zusammen, flucht und schreit, aber leider verliert er die Waffe nicht. Ich remple ihn so kräftig an, wie ich kann, und stürme an ihm vorbei ins Wohnzimmer. In meinem Kopf dreht sich alles – was zum Teufel ist plötzlich los? Wann ist aus dem diebischen Groupie ein Opfer in Todesangst geworden? Mit fliegenden Schritten durchquere ich das Zimmer, springe über die Ledersessel. Die Tür ist direkt vor mir – aber da rutsche ich in den Schneepfützen aus, die wir beim Hereingehen über den ersten Quadratmeter Boden gezogen haben. Ich schlage hart mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf, beiße mir heftig auf die Zunge und schmecke Blut. Meine Schuhsohlen knallen gegen das Holz des Türrahmens. Gleichzeitig höre ich ein seufzendes Geräusch und ein ausgefranstes Loch erscheint in der glatten Platte der Tür. Einen Moment lang bin ich wie erstarrt. Er hat auf mich geschossen! Der Kerl hat tatsächlich auf mich geschossen! Wäre ich nicht ausgerutscht, wäre ich jetzt tot! Ich werfe mich herum, springe mit einem Satz, der jedem Zirkusartisten zur Ehre gereicht hätte, auf die Beine und rüttle am Türknauf. Abgeschlossen. Natürlich, er hat ja den Schlüssel auf die … Ich unterdrücke einen Fluch, stürze zu der Kommode. Riviera poltert mit lauten Schritten ins Wohnzimmer, knurrend, die Pistole mit zwei Händen gepackt. Ich glaube, er drückt sogar noch einmal ab, ohne mich zu erwischen. Meine Finger schnappen sich nicht nur den Schlüssel, sondern auch den Goldbuddha. Mit aller Kraft werfe ich ihn auf Riviera und er prallte gegen seine Schulter, lässt ihn taumeln. Selbst schuld, denkt ein merkwürdig unbeteiligter Bereich meines Gehirns. Wenn er mich schon auf die Idee bringt … In den Sekunden, die er abgelenkt ist, stoße ich den Schlüssel ins Schlüsselloch und reiße die Tür auf. Der finstere Flur verschluckt mich, ich stürme nach rechts zum Notausgang mit der Feuerleiter. Das grüne Schild erscheint mir wie das Licht am Ende des Tunnels. Ich höre Riviera etwas schreien. Ohne Zweifel folgt er mir. Ich spucke Blut aus, beiße die Zähne zusammen und beschleunige meine Schritte. Ich habe Seitenstechen, als hätte ich schon die ganze Zeit über vergessen zu atmen. Die Glastür kommt in Sicht. Schneewehen lecken an ihrer Außenseite hoch und bedecken die Eisenplattform, von der die Feuerleiter hinabführt. Dort steht, wie die Figur aus einem Traum, Sasuke, den weißen Geisterfetzen in der Hand. Ich sehe ihn gut gegen den Schnee, in seinem Mundwinkel glimmt eine Zigarette. Er hält mir auffordernd das Kostüm entgegen – dann bin ich nah genug, um sein verwundertes Stirnrunzeln zu sehen. Ich pralle gegen die Tür, reiße sie auf. Irgendwo im Haus schrillt eine Alarmglocke, aber ich höre sie kaum. Ich stolpere, pralle gegen Sasuke und reiße ihn von den Füßen. Wir landen im aufstiebenden Schnee. Ich höre ein metallisches Pling – und vor meinem inneren Auge sehe ich die Pistolenkugel, die vom Metallgeländer gegenüber der Tür abprallt. Sasuke und ich verstricken uns in einem Knäuel aus Gliedmaßen, eisig kaltem Pulverschnee und dem weißen Laken. Ich versuche mich hochzukämpfen, meine Finger tasten über Sasukes Brust und sein Gesicht, ehe ich endlich das Geländer zu fassen bekomme, und ich trete ihm mehrmals auf den Oberschenkel und in den Bauch, dass er ächzt. „Scheiße, was ist los?“, höre ich ihn undeutlich. Er spuckt Schnee; sein Gesicht ist halb damit zugedeckt. Ich packe ihn am Arm und versuche ihn hochzuziehen, aber meine Muskeln scheinen plötzlich alle ganz schlaff zu sein. Wir müssen weg, will ich schreien, aber ich kann nur keuchen. El Riviera stolperte zu uns auf die Plattform, während das grelle Schrillen in dem Gebäude den Rest meiner Nerven freilegt. Seine Augen weiten sich überrascht, als er sieht, dass hier noch jemand ist, dann presst sich sein Mund zu einem grimmigen Strich zusammen. Er senkt die Hand mit der Pistole – und Sasukes Fuß trifft sein Schienbein und lässt ihn aufjaulen. Ich kann nicht sagen, ob es Zufall war oder ob Sasuke den Ernst der Lage so schnell erkannt hat. Jedenfalls nutze ich die Gunst der Sekunde, in der Riviera abgelenkt ist, und ramme ihn mit der Schulter, so fest ich kann. Diesmal habe ich ihn kalt erwischt. Noch kälter ist der Schnee, in dem er landet. Ich höre etwas scheppern; die Pistole, wie ich hoffe. Sie ist irgendwo in einer Schneewehe gelandet. „Komm“, keuche ich, schaffe es endlich, Sasuke in die Höhe zu ziehen, und will die Treppe hinunter fliehen. Ich habe Schnee in den Schuhen, meine Füße schmerzen von der Kälte – und ich merke kaum, wie Rivieras Hand sich um meinen Knöchel schließt und mich mit einem Ruck zu Fall bringt. Ich stürze vornüber auf die Metalltreppe, die eben noch mein Fluchtweg war. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht; ich fühle, wie heißes Blut aus meiner Nase läuft und dampfende Löcher in den Schnee frisst. Meine Zähne schmerzen, noch mehr Blut in meinem Mund, und für einen Moment verliere ich die Orientierung. Die Kampfgeräusche höre ich noch. Einen Tritt, ein Ächzen. Dann ist der Klammergriff um mein Bein wieder da, jemand versucht mich über die harten Stufen zu schleifen. Ich wehre mich, so gut es geht, drehe mich auf den Rücken und sehe Riviera, wie er sich über mich beugt. Sasuke krümmt sich eine Stufe weiter oben im Schnee. Riviera sieht furchterregend aus. Sein Gesicht ist gerötet von der Kälte, die Augen funkeln und seine Extensions stehen ihm wirr und schneebesprenkelt vom Kopf ab. Mit einem Knurren zieht er ein Schnappmesser aus der Brusttasche. Ein hartes, metallisches Geräusch ertönt, dann funkelt das Licht der Straßenlaternen auf der gebogenen Klinge. Ich reiße die Augen auf, versuche rückwärts wegzukriechen, aber mein Ellbogen rutscht dabei so abrupt auf die nächstuntere Stufe, dass meine Zähne wieder schmerzhaft gegeneinander schlagen. Automatisch greife ich nach dem Geländer, ziehe mich hoch … Riviera tritt auf mich zu, ich sehe die Mordlust in seinen Augen … Ein Geräusch, als hätte jemand eine Sektflasche geöffnet. Plötzlich spritzt etwas Rotes aus Rivieras Brust, klatscht gegen mein Gesicht und meinen Oberkörper. Ich schaffe es nicht einmal, zu schreien. Rivieras Körper taumelt schlaff gegen mich, das Messer landet irgendwo im Schnee. Sein schwerer Brustkorb fühlt sich irgendwie … schleimig an; er gleitet an mir herab und stürzt die Treppe hinunter, bis ihn das Geländer dort auffängt, wo die Feuerleiter eine Kehre macht. Die Eisenstäbe scheppern, und der Rockstar, den ich beklauen sollte, sackt leblos in sich zusammen. Ich sehe die Treppe hoch und erblicke Sasuke, Rivieras rauchende Pistole in der Hand. Kapitel 9: „Du hast ihn umgebracht!“ ------------------------------------ „Du … Du hast ihn umgebracht!“, haucht Sakura. Ich lasse die Waffe sinken, klettere die Treppe hinunter und vergewissere mich mit der Schuhspitze, dass dieser Möchtegernrockstar nicht wieder aufsteht. „Du hast ihn umgebracht!“, wiederholt sie. Ihre Augen sind riesig groß, die Pupillen füllen fast alles aus. Ich habe nicht erwartet, dass sie in Begeisterungsstürme ausbricht oder mir um den Hals fällt, aber dass sie so sehr zur Salzsäule erstarrt, überrascht mich trotzdem. Scheint wohl doch nicht solche Stahlnerven zu haben, wie sie gern behauptet, die Gute. Aber vielleicht bin ich einfach zu abgestumpft. Ich hab während meiner Auszeit von unserer Freundschaft so einiges angerichtet. Wahrscheinlich wäre ein normales Mädchen nach der Flucht vor einem wahnsinnigen, bewaffneten Kerl, einem anschließenden Gerangel im Schnee und dann dessen letztendlichem Abkratzen mit den Nerven dermaßen fertig, dass es sich von der Welt abgekapselt und in einen Kokon aus Ohnmacht oder Geisteskrankheit eingesponnen hätte. Immerhin ist Sakura wach und starrt mich an. „Hier, nimm.“ Ich will ihr die Pistole in die Hand drücken, doch sie weicht instinktiv zurück. „Jetzt nimm schon“, dränge ich gereizt. Das Schrillen der Alarmanlage ist sicher im ganzen Haus zu hören, und wenn ich die Betreiber der Halle richtig einschätze, blinkt jetzt auch irgendwo in einem Feuerwehrhaus zumindest ein Lämpchen auf. Zögerlich nimmt sie die Waffe an sich, sichtlich ratlos. Ihre Hand zittert. „Läuft deine Knopfkamera noch?“, frage ich. Es dauert, bis sie versteht, dass sie Riviera getötet haben müsste, und nicht ich. „Du … willst sie glauben machen, dass ich es war?“ „Was sonst? Du kannst ihn ja jetzt nicht mehr abknallen“, brumme ich unwillig. „Was ist jetzt mit der Kamera?“ Sie sieht an ihrem durchnässten Top hinab und zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht hat sie der Schnee auch kaputtgemacht.“ „Umso besser“, sage ich. „Hol dein Handy raus.“ „Warum …“ „Ist doch eine gute Ausrede, dass die Kamera den Geist aufgegeben hat“, falle ich ihr ins Wort. „Mach endlich, wir haben nicht viel Zeit!“ Ein wenig apathisch ist Sakura immer noch. Sie holt ihr Smartphone aus der Hosentasche – es funktioniert noch – und müht sich ab, mit ihren zittrigen Fingern den richtigen PIN einzugeben. Sie schaltet den Kameramodus ein und will es mir reichen, aber ich schüttle den Kopf. „Du bist allein hier, schon vergessen? Mach ein Selfie-Video mit der Leiche.“ Ich gebe mich äußerlich hart, aber etwas Nervöses beginnt in mir zu zappeln. Ich stecke mir eine Zigarette zur Beruhigung an und verbanne die Hände in meine Jackentaschen, damit Sakura nicht sieht, dass auch sie nicht ganz ruhig sind, um es mal so auszudrücken. Sie wiederum gibt sich wirklich tapfer, als sie sich breitbeinig vor Riviera aufpflanzt, in einer Hand die Pistole, die auf ihn gerichtet ist, in der anderen das Smartphone, das sie herumschwenkt, bis ich ihr mit einem Nicken zu verstehen gebe, dass sowohl sie selbst als auch die Leiche im Bild sind. Ob Letztere der Grund ist, dass sie nicht gleich die Selfie-Kamera benutzt? „S-So“, bringt sie heraus. Ihre Zähne klappern vor Kälte. Ich bin zufrieden mit diesem zittrigen Bild – es sieht wahnsinnig überzeugend aus, so als hätte sie echt gerade den ersten Mord in ihrem Leben begangen. „Seid ihr zufrieden?“, presst sie hervor. „Der Rockstar ist tot.“ Sie beendet die Aufnahme. Ich überlege, ob ich applaudieren soll, aber ich lasse es sein. Erstens steht mir nicht der Sinn nach Scherzen – ihr wahrscheinlich auch nicht –, und zweitens sind meine Hände so kalt, dass sie vermutlich zerspringen würden. Stattdessen nehme ich Riviera das rockertypische Lederarmband ab, das er am Handgelenk trägt. Sakura muss ihm etwas stehlen, damit sie ihre Aufgabe erfüllt. Womöglich lässt dieses Gremium sich nicht davon überzeugen, dass es auch zählt, sein Leben zu stehlen. Ich stecke das Band ein. „Was jetzt?“ Sakura steht etwas verloren auf der Feuerleiter rum und fixiert Riviera, als müsste sie ihn sich genau einprägen. Vermutlich hat sie genau das vor. Sie hat diese letzte Grenze überquert. Ihren persönlichen Rubikon überschritten. Oder wie immer man dazu sagen mag. Geschossen habe zwar ich, aber sie war dabei, und sie rechnet es sich selbst an. „Mach das nicht“, sage ich. „Was denn?“ Ihre Stimme klingt monoton, nun, da der erste Schock abflaut. „Ihn dir einprägen. Du willst unbedingt kaltblütig werden, oder?“ Sie nickt. „Das meine ich. Mach das nicht.“ „Wieso?“ Sie wirkt plötzlich wütend. „Das Spiel wird immer gnadenloser. Wenn ich meine Schwächen nicht überwinde …“ „Wenn es eine Schwäche ist, dass man nach einem Mord seelisch hinüber ist, dann ist der Großteil der Menschen schwach“, erkläre ich sachlich und nehme einen tiefen Zug von meinem Glimmstängel. Der Qualm füllt warm und beruhigend meine Lungen. „Ich weiß, wovon ich rede.“ Sie starrt mich an. „Was hast du getan, als du so lange weg warst?“, flüstert sie. „Spielt keine Rolle.“ Ich zucke mit den Achseln. „Komm, hauen wir ab. Wir haben eh schon viel zu viele Spuren hinterlassen. Fehlt nur noch, dass sie uns finden.“ Sie nickt. Ich gebe ihr ihre Jacke, die ich dabei habe. Dennoch schlottert sie, als würde gleich ihr Skelett auseinanderfallen. Wir klettern die Feuerleiter hinab und machen uns aus dem Staub. Sakura folgt mir ganz einfach. Ich übernehme die Führung, wechsle die Straßenseite, wann immer es möglich ist, damit sich unsere Spuren im Schnee verlieren. Sakura steuert einen Nachtbus an, der in einer Station vor uns hält, aber ich halte sie zurück. „Noch nicht. Wir sind noch nicht fertig, schon vergessen?“ Ich deute auf das Geisterkostüm, das ich mitgenommen habe. „Bitte nicht“, flüstert sie. „Ich kann nicht mehr.“ „Willst du das Spiel durchstehen oder nicht?“, frage ich. „Bringen wir es hinter uns. Oder willst du morgen vor dem Los noch schnell irgendwo reinspringen?“   Wir finden ein Apartmenthaus in der Nähe, das ziemlich vielversprechend aussieht. Mit dem Aufzug fahren wir in den ersten Stock – die Wohnungstüren drängen sich in einer Reihe wie aufgefädelt, und man braucht sonst keine Tür zu durchqueren. Sowohl im Aufzug als auch bei dem Klingelknopf der ersten Wohnungstür lasse ich meine Paranoia von mir Besitz ergreifen und drücke die Knöpfe mit einem Taschentuch in der Hand. Vorher haben wir Sakura noch in das Geisterkostüm gesteckt und ihr Handy schräg gegen das Geländer des offenen Flurs gelegt, sodass die Tür gefilmt wird. Ich verstecke mich hinter der Hausecke, als ein älterer Mann in Unterwäsche auf das Klingeln reagiert und die Tür öffnet. Sakuras „Buhuuu“ klingt abgehackt und zittrig, als wäre sie ein Geist mit Asthma. Aber für das Spiel wird es wohl reichen. „Witzbold“, knurrt der Mann, nachdem sie davongelaufen ist. Die Tür knallt ins Schloss. Ich gehe zurück, lese ihr Handy auf, überprüfe die Aufnahme, dann sind wir fertig. Auf den nächsten Nachtbus müssten wir eine viertel Stunde warten und Sakura bittet mich, das Risiko einzugehen, irgendwo was Warmes zu trinken. Wir finden in der Nähe eine Tankstelle mit 24-Stunden-Shop. Bevor wir sie betreten, vergewissere ich mich, dass ihr blutgetränktes Shirt vollständig durch die Jacke verdeckt wird. Mit Schnee wasche ich ihr auch die letzten Blutspuren aus dem Gesicht. Sie zuckt zusammen, scheint vergessen zu haben, dass sie überhaupt da sind. Ich lasse uns heißen Kakao aus einem Automaten runter und wir setzen uns damit nahe an die Auslage. Die einsame Bedienung hinter der Theke sieht mürrisch drein, weil wir sonst nichts kaufen, aber sie behelligt uns nicht weiter. „Danke“, seufzt sie irgendwann, als ihr das Heißgetränk wieder Leben eingehaucht hat. Ich zucke mit den Schultern. „Warum willst du nicht, dass ich kaltblütig werde?“, fragt sie leise. „Ich muss erbärmlich aussehen in deinen Augen. Erst spucke ich große Töne und dann …“ „Darum“, sage ich. „Weil ich mit kaltblütigen Frauen nichts anfangen kann.“ Es rutscht mir so heraus. Vielleicht, weil auch ich innerlich aufgewühlt bin. Da ich es nicht zeige, quillt es eben als unvorsichtiger Blödsinn bei meinen Lippen raus. „Und ich dachte immer, du magst generell nur Leute, die kaltblütig sind und emotional was aushalten“, brummt sie. „Tja, falsch gedacht. Die Sache ist nämlich die, dass niemand kaltblütige Leute mag. Wenn ich ehrlich bin, warst du mir ganz sympathisch, als ich gemerkt habe, dass eine durchtriebene Gaunerin aus dir geworden ist. Die eben noch nicht kaltblütig ist.“ Ich versuche sie mit einem fiesen Grinsen aufzuheitern. Das nächste emotionale Leck meinerseits. Was fasele ich da eigentlich? Warum sage ich ihr die Wahrheit? Sie lächelt unglücklich und nippt wieder an ihrem Kakao. Meiner ist noch so heiß, dass ich mir die Lippen verbrannt habe, aber ihr scheint es nichts auszumachen. „Ich will mich betrinken“, sagt sie plötzlich. „Später. Erst, wenn wir zuhause sind.“ Ich spezifiziere nicht, bei wem zuhause. Sie zuckt mit den Achseln. Wir werden nicht behelligt, als wir in den Nachtbus steigen. Ich erwarte jeden Moment, Einsatzkräfte mit Blaulicht durch die Gegend fahren zu sehen, aber nichts tut sich. Die Straßen sind wie immer. Selbst im Bus ist es scheußlich kalt.   Sasuke bringt mich nachhause und schenkt uns beiden einen Brandy aus meinem Vorrat ein. Das kommt mir schon vor wie ein kleines Ritual. Rivieras Pistole hat er immer noch in der Jackentasche – er hat versprochen, einen Ort für sie zu finden, wo niemand sie sucht. Bei ihm daheim wäre es fürs Erste am besten, meint er. Jetzt schweigen wir beide. Er hat an diesem Abend bereits so viel geredet wie sonst selten, und ich … ich versuche zu begreifen, was heute alles passiert ist. Mein vermeintliches Diebstahl-Opfer wollte mich umbringen. Sasuke hat den Kerl dann erschossen. Anschließend haben wir alles getan, um mir den Mord in die Schuhe zu schieben. Wir müssen verrückt sein. Er hat einen Menschen getötet. Und er hat es für mich getan. Oder? Vermutlich hätte er auch für jeden anderen von seinen Freunden den Abzug gedrückt. Dann wiederum bedeutet Sasuke Freundschaft nicht viel … Und wie viel bedeutet ihm ein Menschenleben? „Was hast du getan, als du drei Jahre lang weg warst?“, frage ich wieder, während die Zeit einfach so verrinnt und eine ewig lange Nacht ausklingt, mit einem düsteren Nachhall in meinem Verstand. „Dies und das“, sagt er. Ich erwidere nichts darauf. Sehe ihn nicht mal an. Ich höre ihn einen Mundvoll Brandy schlucken, dann beginnt er plötzlich zu erzählen. „Zuerst bin ich nur weggelaufen. Wie ein dummer, kleiner Junge. Ich hab es wohl nicht ausgehalten, dass Itachi so erfolgreich war in allem, was er anpackte. Das kannst du vielleicht nicht verstehen. Schon als wir klein waren, war immer er das Lieblingskind. Als unsere Eltern dann gestorben sind, hat er für uns beide gesorgt. Mir ist erst viel später klargeworden, wie unglaublich er ist – quasi als Alleinerzieher, der trotzdem Erfolg in seinem Job hat, dabei beliebt ist … Tja. Mein Bruder. Er ist ein Glückspilz und ein Genie.“ Er leert das Glas mit einem Schluck und schenkt sich nach. „Ich bin weggegangen, um es ihm so richtig zu zeigen.“ Ich erinnere mich an die Zeit, kurz bevor Sasuke uns verlassen hat. Er ist immer öfter mit Naruto aneinandergeraten, hat sich ziemlich von uns abgekapselt. Zu der Zeit hat er auch zu rauchen angefangen, und er hat begonnen, dem Werben seiner ganzen Verehrerinnen, die ihm seit der Schulzeit nachstellten, nachzugeben. Fast jedes Wochenende hat er eine andere gehabt. Ich weiß noch, wie Ino sich darüber ausgelassen hat. Und dann war es vorbei gewesen. Von einem Tag auf den anderen hat Sasuke uns die Freundschaft gekündigt. „Ich hab ein Angebot bekommen“, erzählt er mir nun. „Eine fixe Anstellung in einer erfolgreichen Firma. So ein Kerl hat mich angeschrieben und an seine Bosse vermittelt. Ich glaube, selbst die haben in mir den kleinen Bruder des erfolgreichen Itachi Uchiha gesehen. Keine Ahnung. Jedenfalls bin ich dorthin gegangen. Tja, und die Geschäfte von denen waren alles andere als sauber.“ Wieder trinkt er einen großen Schluck, ohne mich anzusehen. „Du hast gesagt, dieses Gremium wäre eine Art Mafia. Nach allem, was ich weiß, waren die Kerle, bei denen ich war, das, was am nächsten an eine Mafia rankommt. Ich hab mir selbst nicht die Hände schmutzig machen müssen, zuerst jedenfalls nicht. Hab nur ein paar ihrer Geschäfte betreut. Die haben mit allerlei illegalem Zeug gehandelt, und ich habe dafür gesorgt, dass die richtigen Leute die Transporte überwachen, dass unsere Bezahlung fristgerecht eintrudelt, dass die Kunden mit Nachdruck dran erinnert werden, wenn sie damit im Verzug sind … Ich hatte mit einem ganzen Haufen schmieriger Leute zu tun. Naja, und in so einer Position kannst du dich natürlich nicht auf die Polizei verlassen. Da musst du dein eigenes Recht durchsetzten. Es ist öfter vorgekommen, dass uns Kunden oder Verkäufer anschmieren wollten. Einmal hat eine andere Organisation unsere Bude gestürmt und angefangen, herumzuschießen. Wir hatten einen, zwei Verräter, die die oberen Bosse umlegen wollten, und mindestens einen Maulwurf, der Informationen nach draußen verkauft hat. Obwohl ich für die eher sauberen Arbeiten eingestellt war, hab ich mich wehren müssen. Ich hab’s nicht gern getan, aber wenn es nicht anders ging, hab ich die Leute abgeknallt, ehe sie mir zu nahe kommen konnten. Tja, das ist in etwa die Geschichte. Mal dir noch ein paar schmutzige Details aus, und du triffst wahrscheinlich ziemlich ins Schwarze.“ Ich lasse mein Glas in der Hand kreisen und sehe zu, wie die braune Flüssigkeit herumschwappt und Schlieren bildet. „Was ist aus der Organisation geworden?“, frage ich. „Nichts Besonderes. Sie hat sich irgendwann aufgelöst. Ein paar der Oberen haben sich mit ihrem Geld ins Ausland abgesetzt. Ganz plötzlich, von einem Tag auf den anderen. Ungefähr so, wie ich euch versetzt habe.“ Er grinst einseitig, aber es sieht fast wehmütig aus. „Tja, plötzlich gab es keinen mehr, der das Sagen hatte. Ein paar von meinen Mitarbeitern sind sich noch gegenseitig an die Gurgel gegangen, ein paar andere haben ihre Sachen gepackt und sind bei anderen Banden eingestiegen. Ich hab mir gedacht, es wäre eine schöne Ironie des Schicksals, dass ich jetzt dasselbe schmecke wie ihr damals – obwohl der Gedanke völliger Blödsinn war. Jedenfalls bin ich hierher zurückgezogen. Wollte sehen, was mein werter Bruder mittlerweile getan hat. Ich wollte nie dauerhaft wegbleiben. Schließlich wollte ich Itachi beweisen, was ich draufhabe. Ich weiß nur noch nicht, ob ich das geschafft habe oder ob ich kolossal versagt habe.“ Du wolltest es Itachi beweisen – und vor allem dir selbst, denke ich. „Hm“, mache ich und trinke aus. Wir schenken uns nach und die Flasche ist endgültig leer. „Ich muss schon ziemlich betrunken sein“, brummt er. „Nach der Kälte fährt der Alkohol ein wie in die Vene gespritzt. Vergiss, was ich gesagt habe. Du bist ja nicht mein Beichtvater.“ „Nein – ich hab ja gefragt“, sage ich. „Danke, dass du dich mir anvertraut hast.“ Er schnaubt hochmütig. „Das hat nichts mit Anvertrauen zu tun. Ich will dir nur klarmachen, dass du keinen Grund hast, so depressiv zu sein.“ Da hat er eigentlich recht. Ich bin erschrocken, fühle mich betäubt … Aber im Grunde ist mir nichts passiert. Ja, ich habe einen Mord aus nächster Nähe erlebt, Rivieras verdammtes Blut ist auf mich gespritzt, und es war Sasuke, der ihn umgebracht hat. Aber es hätte alles viel schlimmer kommen können. Letzten Endes habe ich mein Video zusammenbekommen, das mich als seinen Mörder ausweist. Und wir haben Rivieras Armband erbeutet, mit dem man ihn ebenfalls auf dem Video sieht. Ich habe alle meine Aufgaben erfüllt. Ich werde nicht aus dem Spiel ausscheiden. Ich werde weiterleben. „Danke“, sage ich. „Du hast dich schon bedankt. Vergiss es endlich, das hätte jeder getan.“ Das ist himmelschreiender Unsinn, aber ich sage nur: „Ohne dich wäre ich jetzt tot.“ Er zuckt mit den Achseln und sieht auf die Uhr. Es ist fast vier. Schweigend räumt er die Gläser zur Spüle, während ich mich unter die Dusche stelle. Jetzt, nachdem ich wieder einigermaßen bei Sinnen bin – wenn auch wohltuend berauscht vom Alkohol –, fühle ich mich verschwitzt und blutig und dreckig. Als ich im Pyjama wieder ins Zimmer zurückgehe, bin ich schläfrig. Verwundert sehe ich, dass sich Sasuke eine Art Deckenlager vor meinem Bett gebastelt hat – aus überschüssigen Kissen, Leintüchern und Decken. „Was wird das?“, frage ich. „Keine Lust, den ganzen Weg zu mir zu fahren. Ich hab morgen noch was vor.“ Ich klettere in mein Bett, während er seinerseits die Dusche benutzt. Ich höre dem Wasserbrausen zu und bin noch wach, als er in Boxershorts zurückkommt. Ich sehe zu, wie er es sich auf dem harten Boden gemütlich macht. „Das ist nicht der wahre Grund“, mutmaße ich. „Dass du morgen noch was vor hast.“ „Nein.“ Er schnaubt. „Ich bin ziemlich sicher, dass du heute Nacht Albträume kriegst. Würde zu einem Schwächling wie dir passen. Oder du kannst gar nicht einschlafen und kommst auf dumme Gedanken. Dann wirst du wahrscheinlich Naruto oder Ino anrufen und dich bei ihnen ausheulen. Und die spucken beide gern große Töne, haben aber in Wahrheit keine Ahnung. Deswegen bleibe ich hier, und wenn irgendwas ist, kannst du dich bei mir ausheulen.“ Das ist erstaunlich rücksichtsvoll von ihm … Auch wenn er es klingen lässt, als wäre es ein notwendiges Übel, dass er hierbleibt. „Danke“, nuschele ich in meine Decke.   Ich schlafe tatsächlich nicht gut. Zwar träume ich nicht von Riviera und seinem Tod, was ein wahrer Segen ist. Aber ich sehe vor meinem inneren Auge immer wieder Bilder aufblitzen, die ich nicht einordnen kann. Oft kommt Sasuke darin vor. Ich wache mehrmals auf, bin orientierungslos, und einmal erschrecke ich, weil ich Sasukes Atemzüge vor meinem Bett höre. Als die Sonne schon eine ganze Weile übers Firmament klettert, gebe ich auf. Es ist hell in meiner Wohnung. Die Uhr verkündet kurz vor zehn. Ich rede mir ein, dass ein paar Stunden Halbschlaf besser sind als gar keiner, und stelle mich an den Herd. Es tut gut, mich auf etwas Alltägliches zu konzentrieren. Bis Sasuke aufwacht, habe ich ein paar unförmige Pancakes gezaubert. Wir essen beide ohne großen Appetit und schweigen uns an. Draußen scheint es heute ein paar Grad wärmer zu sein als in den letzten Wochen; oder vielleicht haben sich einfach die höheren Schichten der Atmosphäre gedacht, dass die Eintönigkeit durchbrochen werden sollte. Jedenfalls höre ich leises Rauschen, als es nieselt, und dann und wann klingt das Geräusch härter, wenn sich der Regen in Schneeregen oder Graupelschauer verwandelt. Während wir essen, läuft der Fernseher, weil ich finde, dass ein wenig Berieselung nicht schaden kann. Dann kommen die Nachrichten, und der zweite Beitrag lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. „Die Rock-Ikone El Riviera wurde heute Nacht tot vor ihrer Wohnung aufgefunden. Der Musiker hatte am Vorabend ein Konzert gegeben und wurde in den späten Abendstunden im Obergeschoss der Konzerthalle, wo er die Nacht verbringen wollte, erschossen. Die Polizei geht von mehreren Tätern aus. Die Tatwaffe wurde noch nicht gefunden. Es wird vermutet, dass Riviera von einem Fan ermordet wurde. Diese Annahme wird von Aussagen seiner Bandkollegen bestätigt, die angeben, das Opfer hätte die Nacht mit einer jungen Frau verbracht. Die Polizei hat ein Phantombild der Verdächtigen anfertigen lassen und fahndet im Moment nach ihr.“ „Scheiße“, entfährt es mir. Die anderen Musiker hatte ich doch komplett vergessen! Ich werfe einen Seitenblick zu Sasuke. Äußerlich ist er ruhig, aber er hat zu essen aufgehört und fixiert mit verschränkten Armen den Bildschirm. „War man in den ersten Stunden von Mord ausgegangen, so könnte allerdings auch Notwehr der Handlungsgrund gewesen sein, so die leitenden Kommissare. Untersuchungen von El Rivieras Appartement haben belastende Beweise gefunden, anhand derer das Mitwirken des Rockstars an mehreren kleinen bis mittelgroßen Delikten nachgewiesen werden konnte. Mehrere Fotos und Videos, in denen Riviera beim Ausüben diverser Verbrechen zu sehen ist, wurden in einem Schmuckkästchen aufbewahrt.“ „Das ist doch …“, hauche ich. Ich kann es nicht fassen: Da kommt tatsächlich eine kurze Kameraaufnahme seiner gestrigen Absteige, und man sieht die Box, die auf seiner Kommode steht – diesmal geöffnet. USB-Sticks, CDs und Speicherkarten liegen davor ausgebreitet und – mir stockt das Blut in den Adern, noch mehr als vorhin, sodass ich meine, es würde plötzlich rückwärts fließen. Ich sehe ganz deutlich zwei Chips auf der Platte liegen – so wie wir sie immer im Schicksalslos erhalten! Die Szene wechselt zu schnell, als dass ich Einzelheiten erkennen könnte, aber ich bin plötzlich ganz hibbelig. In meinen Blutkreislauf mischen sich nun offenbar Ameisen, denn alle meine Poren beginnen scheußlich zu brennen, ehe sich der Schweiß durch sie presst. Im Fernseher erklärt die Nachrichtenmoderatorin eben, was für eine Art von Beweismitteln sie gefunden haben, und ein kurzes Video wird eingeblendet – schlechte Qualität, Rotstich, kein Ton, wohl mit einem alten Handy gefilmt; aber man sieht Riviera, eingehüllt in etwas wie Eskimo-Kleidung, auf einer abendlichen Straße. Er übergießt einen Passanten mit verpixeltem Gesicht mit einem Eimer voll rotem Zeug, das gut und gerne Blut sein kann. „Auch Fotos von Drogenpartys und Tierquälerei waren zu finden. Die Polizei versucht gegenwärtig einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Beweisstücken und Rivieras Tod herzustellen. Man vermutet eine Mitgliedschaft bei einer Sekte als Hintergrund. Politik. Das neue Mautgesetz sorgt für …“ Sasuke schaltete den Fernseher aus. Es ist, als würde ich aus einer Art Trance erwachen. Ich schwitze nun so stark, dass es mich regelrecht fröstelt. „Kann man …“, murmle ich mit trockener Zunge, „kann man die Sendung auch im Internet ansehen?“ Sasuke weiß sofort, was ich meine. Ohne ein Wort ruft er auf seinem Smartphone das Online-Portal des Nachrichtensenders auf, findet das Video mit Rivieras Beweisstücken und spielt es ab, bis wir die Chips sehen können. Dann pausiert er den Clip. „Der brutale Macho“, erkenne ich. Die Schrift des zweiten Chips kann ich nicht lesen, aber ich kenne das Motiv. „Jemandem die Pistole an die Brust setzen“, sage ich. Ein Sprichwort, das man auch wörtlich nehmen kann. „Verdammt, ich verstehe das nicht …“ In meinem Kopf dreht sich alles. Ich sinke in meinem Sessel zusammen. „Dasselbe wie bei Tenten! Sasuke, das ist kein Zufall!“ Sasuke schweigt grimmig und sieht mich forschend an. „El Riviera hat beim Schicksalslos mitgespielt – er war auf Tournee, also hat er die Chips sicher in einer anderen Stadt gezogen. Und er wollte mich … er wollte mich …“ Der brutale Macho und die Pistole. Er wollte mich mit vorgehaltener Waffe zum Sex zwingen. Es war ihm egal, ob sein Groupie in dieser Nacht freiwillig zu ihm in die Kiste gesprungen wäre – die Pistole hat einen essenziellen Part in dieser Farce gespielt. Darum hat er mich also plötzlich bedroht … Nicht, weil ich mich verraten habe. Sondern weil er selbst etwas Besonderes mit mir vorhatte. „Groupie eines Rockstars“, sagt Sasuke schließlich bedeutungsschwer. „Etwas, das innerhalb einer Woche zu erledigen ist. Und es sind diese Woche nicht viele Rockstars in der Stadt. Riviera hat sich geradezu angeboten. Du hast recht, das war kein Zufall.“ „Er muss die gleiche Rollenkarte gezogen haben wie Tenten, ganz am Anfang“, plappere ich das Offensichtliche vor mich hin. Ich bin dazu übergegangen, erregt im Zimmer auf und ab zu wandern. „Er muss seine Beweisstücke an einem gut sichtbaren Ort aufbewahren. Und die Chips von der letzten Runde hatte er auch noch. Ich hätte nur einen Blick in dieses Kästchen werfen müssen … Ich weiß nicht, was ich dann getan hätte.“ „Vielleicht ist diese Enthüllung ganz gut.“ Ohne zu fragen zündet Sasuke sich eine Zigarette in meiner Wohnung an. „Wenn die glauben, er hätte nicht alle Tassen im Schrank, erkennen sie vielleicht wirklich auf Notwehr.“ Abermals durchzuckt es meinen Körper wie ein Stromstoß – ich hatte es schon wieder fast vergessen. Rivieras Kumpel haben mich gesehen. Die Polizei sucht mit einem Phantombild nach mir. Ich habe Fingerabdrücke und wer weiß was noch alles überall in seiner Wohnung hinterlassen. Wenn sie mich finden, bin ich dran! „Was soll ich tun?“, hauche ich. „Die kriegen uns garantiert, Sasuke.“ „Werden sie nicht. Nicht so einfach.“ „Doch, werden sie! Ich hätte mich besser verkleiden müssen! Ich hätte den ganzen Abend mit Gummihandschuhen herumlaufen müssen, ich hätte meine Schuhe … Ich hätte gar nie dort aufkreuzen sollen! Warum hast du ihn erschossen, Sasuke? Es hätte gereicht, wenn wir einfach abgehauen wären, wenn wir …“ „Ich hatte keine Wahl“, knurrt er betont. „Hast du vergessen, dass er dich fast abgestochen hätte? Ich dachte, du hättest die hysterische Phase endlich hinter dir.“ „Du hast leicht reden, dich sucht ja niemand!“ „Sie gehen von mehreren Tätern aus, haben sie gesagt. Die haben sicher auch meine Fußspuren entdeckt. Außerdem war ich es, der ihn erschossen hat, also bist du sowieso aus dem Schneider.“ „Aber genau das darf niemals rauskommen! Das Gremium bringt mich um, wenn es rausfindet, dass ich ihn nicht eigenhändig umgebracht habe …“ „Es war immer noch Notwehr“, sagt er stoisch. „Die Bullen werden darauf kommen. Die rekonstruieren den ganzen Tatablauf, verlass dich drauf. Und Riviera hatte ein Messer dabei. Die werden bald feststellen, wie es abgelaufen ist, und selbst wenn du dich ihnen stellen würdest, würden sie dir kein Haar krümmen.“ Ich höre seine aufmunternden Worte kaum – falls sie überhaupt aufmunternd gemeint sind. Alle Kraft ist plötzlich aus meinen Gliedern gewichen. Seit Tagen stehe ich unter Hochspannung. Ich kann nicht mehr. Ich fühle mich ausgelaugt, wie eine leergesaugte Hülle. Als ich wankend vor ihm zum Stehen komme und durch ihn hindurch sehe, schnalzt Sasuke ärgerlich mit der Zunge, stößt seine Zigarette auf meinem Tisch aus und packt mich an den Schultern. „Hör mir zu, ja?“, knurrt er kehlig. „Dir wird nichts geschehen. Selbst wenn, werden wir damit fertig. Wir kommen da wieder heraus, also hör auf, dich hier schon wieder in was reinzusteigern, du dreimal verdammte Drama-Queen.“ „Ich“, murmele ich schwach. „Was?“ „Ich komme da heraus“, sage ich. „Du hast keinen Grund, mir zu helfen, schon vergessen? Ich muss das allein schaffen.“ „Von mir aus“, meint er gereizt. „Dann tust du es eben allein. Ich hab sowieso keinen Bock mehr, Psychiater für dich zu spielen. Also wirklich, und du sagst, du hättest dich verändert. Du bist genauso verweichlicht wie früher.“ „Ich bin nicht verweichlicht!“, bringe ich trotzig hervor. Ja, ich bin total mit den Nerven fertig, aber weiß er überhaupt, wie verletzend das ist, was er sagt? „Wie war das?“, fragt er. „Wenn du mir was zu sagen hast, dann nuschle gefälligst nicht wie ein Kind, das Süßigkeiten gestohlen hat.“ „Ich sagte, ich bin nicht verweichlicht!“, rufe ich und stoße ihm die Hände vor die Brust. Er zuckt kaum zurück. „Da ist die Tür! Verschwinde und lass mich in Ruhe!“ „Jetzt auf einmal wieder stark, ja?“, höhnt er. „Weiter so. So gefällst du mir besser. Nur schade, dass es kein bisschen überzeugend wirkt.“ Ich stoße ihn fester. „Ist das alles?“, spottet er. „Verdammt, hau endlich ab!“ Mein Verstand besteht aus lauter kleinen Glitzersternchen. Sie funkeln in gähnender, teilnahmsloser Leere, und ein Funken springt von einem zum nächsten wie ein Kugelblitz, lässt mich von einer Emotion in die nächste schlittern. Ich empfinde im Moment so ziemlich jedes Gefühl, das ich kenne: Angst, Trauer um mein baldiges Ableben, Reue, Hass und Zorn auf dieses verdammte Los und auf Sasuke und auf Riviera, Rachedurst auf das Gremium, dann wieder Panik, weil ich nicht weiß, was ich tun soll, Selbstmitleid, weil ich so armselig bin und am Ende meiner Kräfte, Selbsthass, eben weil ich nicht so armselig sein will und weil ich nicht glauben kann, dass das die Grenze sein soll von dem, was ich aushalte, und dann bin ich sogar dankbar; ich bin Sasuke dankbar, irgendwo ganz am Rande, weil er mir geholfen hat und mit seinen Worten diese Gefühle aus dem Kokon des Schwermuts und der panischen Schwerelosigkeit prügelt. Und ich bin wütend, unfassbar wütend, weil er mir eine Schwäche andichtet, die ich glaubte längst hinter mir gelassen zu haben; weil er einerseits nicht will, dass ich abstumpfe, und es mir andererseits zum Vorwurf macht, dass ich noch einen Funken mehr Menschlichkeit in mir trage als er. Die Wut ist das letzte, stärkste Gefühl. Ich schlage ihn mit der Faust. „Selbst vor drei Jahren hast du härter zugeschlagen“, sagt er. Mit einem Schrei werfe ich mich auf ihn. Ich höre, wie seine Zähne gegeneinanderschlagen, als er mit dem Hinterkopf gegen die Wand stößt. Ineinander verkrallt rutschen wir zu Boden, ich schaffe es irgendwie, auf ihn zu kriechen. Sasuke stemmt sich wütend in die Höhe, ich packe seine Schultern und presse ihn mit meinem ganzen Gewicht wieder zu Boden. Ich weiß nicht, was ich tue. Irgendwo in mir beschwört mich eine Stimme, es gut sein zu lassen. Meine Nerven fahren im Moment Achterbahn, und wenn ich mich nicht zusammenreiße, fliegen sie aus der Kurve und stürzen in einen bodenlosen Abgrund. Aber es hilft nichts. Alle Vernunft ist ausgeknipst. All meine Gefühle, all die Glitzersternchen fokussieren sich auf Sasuke. „Sag noch einmal, dass ich schwach bin“, keuche ich, als er sich erneut aufbäumt. „Jederzeit“, gibt er zurück. Ich lasse ihn ein paar Zentimeter in die Höhe kommen, nur um ihn dann wieder zu Boden zu werfen. Diesmal knallt sein Kopf gegen die Bodendielen. Er lässt ein schmerzerfülltes Grunzen hören. Ich bin selbst überrascht, dass ich noch die Kraft aufbringe, ihn festzunageln. „Runter von mir“, knurrt er schließlich durch zusammengebissene Zähne. „Sonst was?“, gebe ich hochmütig zurück. „Sonst kannst du was erleben.“ Erneut bäumt er sich auf. Ich knie mittlerweile auf seiner Brust, fixiere seine Oberarme mit den Händen, sodass er sich nicht mit den Armen abstützen kann. Meine Fingernägel drücken dabei so in seine Haut, dass es wehtun muss. „Ich warte auf eine Entschuldigung“, presse ich angestrengt hervor. „Ich warne dich ein letztes Mal. Geh runter, oder ich mache Ernst.“ „Entschuldige dich!“ Ich höre ihm gar nicht zu. „Du hast es so gewollt“, grollt er. Mit einem Ruck bekommt er die Arme frei, und ehe ich seine Hände abfangen kann, sind sie zu meinem Nacken geschnellt. Er zieht mich zu sich herunter und küsst mich auf den Mund. Erst sträube ich mich dagegen, dann lösen sich meine Finger von seinen Unterarmen, umfassen stattdessen seinen Kiefer, als müsste ich ihn festhalten. Es muss aussehen, als liege er tot am Boden und ich würde versuchen, ihn wiederzubeleben – nur dass ich immer noch auf ihm knie. Als ich mich grob von ihm löse, keucht er schwer. Meine Knie auf seinem Brustkorb lassen ihn nicht richtig atmen. „Das nennst du Ernst?“, grummele ich. Mit gewaltiger Kraftanstrengung stemmt er sich wieder in die Höhe – wobei man sagen muss, dass ich es diesmal verabsäume, ihn zurückzudrücken. Er schiebt mich von sich runter, sodass nun ich leicht gegen die Wand stoße, schlingt einen Arm um mich und küsst mich erneut. Wir sitzen nun beide auf dem Boden, sind auf derselben Höhe. Ich stehe auf, ziehe ihn mit mir hoch. „Wie gefällt dir das?“, keuche ich in den Kuss hinein. „Immer noch schwach?“ „Immer noch“, sagt er mit rauer Stimme. Ich drücke ihn gegen die Wand, und er lässt es geschehen. Wie ein Raubvogel stürzen sich meine Lippen erneut auf seine, während meine Hände so sehr an seinen Hemdknöpfen zerren, dass es mich nicht wundern würde, sollte einer abreißen. Ich weiß immer noch nicht, was ich tue. Mein Kopf ist noch so leergefegt wie gerade eben, als ich nichts lieber getan hätte, als ihn zu verletzen. Seine Hände schieben mein Top hoch. „Ich hab mich wohl geirrt“, meint er, als wir uns kurz voneinander lösen, um es mir über den Kopf zu streifen. „Du hast dich verändert. Du bist ein richtiges Miststück geworden, Sakura.“ „Und du bist noch derselbe Arsch wie früher. Ich hab dich also bald eingeholt.“ Wie in einem skurrilen Tanz torkeln wir auf mein Bett zu. Ich ziehe ihm das Hemd über die Schultern, es bleibt an seinem Handgelenk hängen, sodass ich fester daran reißen muss. Ich kichere aufgekratzt, finde das urkomisch. Ich war lange nicht mehr so … frei. Frei von allen Gedanken, frei von allen Sorgen. Wir lassen uns ins Bett fallen. Sasukes Lippen decken meinen Hals mit Küssen ein. „Ich habe keine Ahnung, was in mich gefahren ist“, seufze ich leise. „Dann finden wir am besten jemanden, der es uns erklären kann“, sagt er heiser. „Mir geht’s nämlich genauso.“ Ich beschließe, dass ich nie wieder zu denken beginnen will. Dass ich nie wieder jemandem beweisen muss, wie taff ich doch geworden bin. Dass ich nicht um mein Leben bangen muss. Ich will nichts mehr wissen vom Schicksalslos und von Riviera und der Polizei und von Olga und von Geld und von Karten und von Chips, nichts mehr von alledem, und mein Hirn gibt sich große Mühe, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Denn alles, was ich im Moment weiß, ist, dass es sich anders anfühlt als damals in der maroden Hütte, in der Nacht, in der ich Sasuke wiedergesehen habe. Ansonsten ist mein Kopf völlig leer.   Mein Kopf ist völlig leer. Sakura und ich wälzen uns in ihrem Bett herum, als gäbe es kein Morgen. Ich weiß nicht, was mein Denken auf Energiesparmodus umgeschaltet hat. Sakura, die so aufgelöst war, dass ich es nicht ertragen konnte? Die kleine, zerbrechliche Sakura von früher, die ihre Tapferkeit in der letzten Woche so sehr unter Beweis gestellt hat, dass es mich innerlich zerrieben hat vor Unglauben und Bewunderung, die ich mir nicht habe eingestehen wollen? Oder liegt es an ihren Versuchen, mir etwas zu bewiesen? Mir, gerade mir, obwohl ich doch angeblich der Eisblock bin, dem etwas beweisen zu wollen von Vornherein sinnlos ist? Vielleicht spielt das alles zusammen. Sicher ist nur, dass ich momentan verrückt bin nach dieser Frau. Und dass ich sie will, jetzt, und wenn wir mitten in einem verdammten Einkaufszentrum begonnen hätten, miteinander zu rangeln, wäre es zu demselben Ergebnis gekommen. Sakura hält sich nicht zurück, also kann ich gar nicht anders, als es ihr gleichzutun. Irgendwann liegen wir schwer atmend nebeneinander. Das Bett war unser Ring, und nur wir sind übrig geblieben. Das Kissen, die Decken, unsere restlichen Kleider, all das ist irgendwann auf dem Boden gelandet. Nur Sakura und ich liegen noch auf der Matratze, die für uns viel zu klein ist. Wenn das ein Kampf war, dann haben wir wohl jetzt ein Unentschieden.   „Ich …“, beginne ich irgendwann, verstumme aber. Ich will die schöne Ruhe nicht mit Worten durchbrechen. Es ist gerade so friedlich, der Schneeregen trommelt kalt gegen das Fenster, aber mir ist so warm wie lange nicht mehr. Sasuke löst sich aus meinen Armen, steigt aus dem Bett und sucht etwas in seiner Hosentasche. Seine Packung Zigaretten. Sie ist seit gestern so oft in Gebrauch, dass sie ganz verschlissen sein muss. „Auch eine?“, fragt er. Ich schüttle den Kopf. Schmunzelnd stellt er fest: „Dabei hast du selbst gesagt, dass eine Zigarette hinterher himmlisch ist.“ „Hab ich das?“ Ich will nicht daran denken. Ich will gar nichts denken, immer noch nicht. Es ist seltsam: Ich weiß nicht, was ich sagen soll, plötzlich habe ich nichts mehr mit ihm zu bereden. Habe ihm nichts zu beweisen, brauche ihn nicht für irgendwelche halsbrecherischen Aktionen oder als seelische Stütze. Es ist einfach trotzdem schön, ihn hier zu haben. Ich merke, dass ich mich an ihn gewöhnt habe. Ich lange nach meiner Bettdecke, die auf dem Boden liegt. „Weißt du, ich bereue es nicht, dass ich dich von diesen Typen habe zusammenschlagen lassen“, sage ich in einem plötzlichen Anfall von makaberer Sentimentalität. Er schnaubt und setzt sich neben mich auf die Bettkante, die Kippe noch unangezündet im Mundwinkel. „Du bist echt verrückt“, murmelt er. Ich lächle. „Unsere zweite Runde hat mir übrigens besser gefallen als die erste. Noch ein paar Mal, und du wirst ein anständiger Liebhaber“, necke ich ihn. Er schnaubt, dann starrt er in die Leere, als erinnerten ihn meine Worte an irgendwas. Irgendwo weit, weit weg klingelt mein Handy. Ich brauche einen Moment, um es zu orten. Es liegt auf der Kommode neben der Tür. In meine Decke gewickelt, hüpfe ich aus dem Bett und steige über die Kleider auf dem Boden hinweg. Ich fühle mich so leicht, es ist unglaublich. Nie hätte ich gedacht, dass eine atemlose Runde Sex derart meine tauben Lebensgeister wiedererwecken könnte. Schon gar nicht mit Sasuke. Mein Handy dödelt immer noch fröhlich vor sich hin. Inos Nummer. Gut gelaunt hebe ich ab. „Hallo?“ „Sakura?“ Allein an ihrem Tonfall erkenne ich, dass etwas nicht stimmt. „Es … Kannst du … kannst du zu Chouji kommen?“ „Was ist los?“, frage ich alarmiert. Etwas Kaltes breitet sich in meinen Eingeweiden aus und erstickt die angenehme Wärme von gerade eben. Sasuke sieht aufmerksam zu mir herüber. „Ich weiß nicht, wie … Es ist … Shikamaru, er …“ Inos Stimme bricht immer wieder ab, erstickt durch … Schluchzer? Es raschelt, als ihr jemand das Handy wegnimmt, und Choujis Stimme erklingt. „Sa-Sakura? Ich … Komm bitte her … Ihr solltet alle herkommen …“ Seine Stimme ist zittrig und hoch. So habe ich ihn noch nie reden gehört. „Chouji? Was ist denn los, um Himmels willen?“ „Shikamaru … Ich habe … Shikamaru ist tot!“ Seine Stimme wird lauter. „Ich habe … ihn umgebracht!“ Kapitel 10: „Ich war’s. Das mit deinem Video.“ ---------------------------------------------- Als wir mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bei Shikamarus und Choujis WG ankommen, ist es bereits Nachmittag, und von Shikamaru sehen wir nicht mehr viel. Jemand hat die Polizei gerufen – beim Anblick des Streifenwagens zieht sich alles in mir zusammen, doch natürlich haben die keine Ahnung, dass Sasuke und ich in der vergangenen Nacht ebenfalls einen Mord begangen haben. Aber dass Ino oder Chouji die Polizei alarmiert haben sollen … Sie müssen ordentlich mit den Nerven fertig sein. Was ich ihnen nicht verdenken kann. Selbst in meinem Hals steckt ein schmerzender Kloß. Ich betrachte mich nicht als Shikamarus beste Freundin, aber er hat trotzdem irgendwie zu uns gehört. Und auch wenn er nicht am Schicksalslos teilgenommen und damit seine Bande zu uns gefestigt hat – mitgefangen, mitgehangen und so –, ist er trotzdem immer ein Teil unserer Clique gewesen. Als wir die letzten Meter zu dem Miethaus am Stadtrand zurücklegen, das er und Chouji sich haben leisten können, überlege ich mir, was ich sagen kann. Mir fällt nichts ein. Die Schneedecke auf dem Dach ist dick und nass. Der Regen hat aufgehört, die Sonne strahlt von einem blauen Himmel, und es taut. Als wir näherkommen, sehe ich auch den Rettungswagen an der Hausecke parken. So war das also: Sie haben vermutlich nur Sanitäter bestellt, und die haben dann die Polizei nachalarmiert. Tod unter ungeklärten Umständen, wahrscheinlich … Ach, es zerreißt mich innerlich fast, so nüchtern darüber nachzudenken. Langsam weiß ich, warum Sasuke mir geraten hat, nicht abzustumpfen. Es fühlt sich eklig an. Ich überlege, ob ich nach seiner Hand greifen soll, lasse es aber bleiben. Die Tür ist nur angelehnt, und als wir eintreten, erwartet uns dank der hohen Fenster eine geradezu höhnisch helle Wohnung, und in der Wohnung erwarten uns unsere Freunde. Ino läuft uns entgegen, obwohl sie gerade mit einer Polizistin spricht. Sie hat sich etwas eingekriegt, aber ich habe sie trotzdem noch nie so aufgelöst gesehen. Ihre Augen sind gerötet, ihr Make-up verschmiert. Chouji sitzt auf der Couch, so in sich zusammengesunken, dass er fast unter der Lehne verschwindet. Außer den beiden ist noch Naruto hier. Auch er hat verweinte Augen und sieht ernst in unsere Richtung. Ino bleibt zögerlich vor mir stehen. Ich drücke sie fest an mich. Sasuke stellt sich ungefragt neben Naruto, aber keiner der beiden sagt etwas. Die Polizistin klappt schließlich ihr Notizbuch zu und meint, dass sie vorerst keine weiteren Fragen mehr habe. Ino und Chouji sollen sich aber zu ihrer Verfügung halten. Dann lassen sie und ihr Kollege die Trauernden allein. Shikamaru kann ich nirgends entdecken. Ich vermute, man hat ihn bereits abtransportiert. Einige Sanitäter, deren weite Overalls sie wie mittelalterliche Rüstungen einmummeln und die KIT auf dem Rücken stehen haben, wechseln noch ein paar Worte mit Chouji, der nur nickt und mit der Hand wedelt. „Ihr könnt gehen“, sagt auch Ino nun, an sie gewandt. „Jetzt sind unsere Freunde ja da.“ Als die Männer zögern, ruft sie: „Bitte, haut ab!“ Schließlich verlässt uns also auch das Kriseninterventionsteam. Man hört die Motoren draußen starten. Sasuke, Naruto, Chouji, Ino und ich verharren wie Statuen in der Wohnung, ebenso reglos und ebenso stumm. „Was …“ Mein Mund ist völlig trocken, und ich brauche einen neuen Versuch. „Was ist passiert?“ „Es ist alles meine Schuld.“ Inos Finger gleiten fahrig durch ihre Haare. Sie sieht adrett aus, wenn auch ein bisschen zerrupft. „Nein, meine“, jammert Chouji. Er schafft es nicht, uns anzusehen. „Wir hätten alle nie bei diesem verdammten Schicksalslos mitmachen dürfen“, murmelt Naruto durch zusammengebissene Zähne. Die Fäuste hat er geballt. Also hat es mit dem Los zu tun. Natürlich. „Was waren eure Chips?“, fragt Sasuke schlicht. Es dauert eine ganze Weile, bis wir mehr aus den beiden herausbekommen. Während sie noch herumdrucksen, klingelt es. Neji, Lee, Tenten und Hinata sind angekommen, kurz darauf trifft auch Kiba ein. Es vergeht wieder einige Zeit des gemeinsamen Trauerns und Schockiertseins. Tenten drückt Ino so fest, dass sie ihr erneut einige Tränen herauspresst, dann Chouji, der es reglos wie ein Teddybär über sich ergehen lässt. „Ich … meine Chips“, beginnt Ino schließlich mit verschnupfter Stimme zu erzählen. „Ich wollte das nicht … Ich hätte nie gedacht, dass das so ausartet! Der Narr vergiftet das eigene Feld war der eine. Und Deine Farbe ist Schwarz. Ich hab mich noch gefreut, weil ich mir dachte, das wäre was Leichtes, was relativ Ungefährliches …“ Ino presst die Hand vor den Mund und schluchzt: „Ich wusste ja nicht, dass … dass“ „Dass ich ihren Kaffee stehlen würde“, sagte Chouji tonlos. „Wie jetzt, eins nach dem anderen“, sagt Sasuke. „Ino hat ihren Kaffee vergiftet?“ Sie nickt und putzt sich geräuschvoll die Nase. Ihr Taschentuch ist von ihren Tränen schon ganz durchweicht. „Ich hab mir gedacht, ich vergifte eben irgendetwas Schwarzes, das mir gehört. Bei mir trinkt niemand Kaffee, und ich hatte noch eine halbe Packung Kaffeepulver herumstehen, die mein Vater mir mal geschenkt hat … Ich bin ins Chemielager auf der Uni eingebrochen, damit ich meine Beweismittel etwas aufpeppen kann. Das hab ich schon ein paarmal gemacht, aber es sieht auf Video halt spannend aus … Dann hab ich das erstbeste Zeug mit einem Totenkopf drauf genommen. Ich dachte mir, das bringt mir mehr Geld ein, als wenn ich Rattengift …“ Sie schluchzt und kneift die Augen zusammen, presst neue Tränen hervor. „Meine Karte war: Halte durch von Tag zwei bis Tag sieben. Ich dachte mir, ich lasse den Kaffee bis Sonntag stehen und knipse alle paar Stunden ein Foto davon, damit sie sehen, dass das Zeug noch im Regal steht … Am Montag hätte ich es dann weggeschüttet.“ „Und Chouji hat das vergiftete Kaffeepulver geklaut und Shikamaru damit Kaffee gekocht?“, fragt Neji zweifelnd. „Das klingt ziemlich abenteuerlich …“ „So war es aber“, zischt Ino aufgebracht. „O Gott, ich wünschte, es wäre nicht so …“ „Und deine Chips?“, fragt Tenten Chouji mit belegter Stimme. Er sitzt auf der Couch wie ein Sack Kartoffeln. „Einem Freund gestohlene Ware vorsetzen. Und Deine Farbe ist Schwarz, genau wie bei Ino. Und die Karte war: Das Gremium bestimmt dein Opfer. Und sie haben mir per Mail geschrieben, dass mit dem Freund mein Mitbewohner gemeint sei und mit dem Diebstahlopfer Ino.“ „Ganz schön konkrete Anweisungen“, meint Neji. „Die haben sich sicher ins Fäustchen gelacht, als sie unsere Chipkonstellation erfahren haben“, schluchzt Ino. „Das war verdammt nochmal Absicht! Die wollten, dass wir Shikamaru … dass wir ihn …“ „Und du hast also Ino besucht und in ihrer Wohnung nach etwas Schwarzem gesucht, das du Shikamaru vorsetzen konntest?“, hakt Sasuke nach. „Und hast den Kaffee genommen, den sie in ihrem Regal stehen hatte, und damit Shikamaru vergiftet?“ Also Chouji nickt, schnaubt Sasuke abfällig. „Ihr tut echt alles, was das Gremium verlangt, ohne es zu hinterfragen.“ „Hör schon auf“, knurrt Naruto. „Davon geht es jetzt keinem besser. Wir haben ewig lang getan, was die wollten, und nie ist … so etwas passiert.“ „Ihr hättet es euch aber denken können, dass es irgendwann um Leben und Tod geht“, beharrt Sasuke kalt. „Sakura ist gestern Nacht auch fast …“ „Hör auf“, murmle ich gerade rechtzeitig, und er verstummt. Die anderen sehen mich überrascht an, aber niemand hakt nach. Wir sind alle noch zu sehr geschockt. „Warum?“, ruft Ino aus. Ihre Stimme ist hoch und dünn wie dein Lufthauch. „Shikamaru hatte mit diesem verdammten Spiel doch gar nichts zu tun!“ „Da wäre ich mir nicht so sicher“, meint Sasuke plötzlich. Wir starren ihn an wie einen Geist. Er scheint auf irgendeinen Gedanken gekommen zu sein. Anstatt sich zu erklären, zündet er sich ohne zu fragen eine Zigarette an. Ich gehe neben Ino in die Hocke und streichle ihr den Rücken. Der Kloß in meinem Hals hindert mich daran, etwas zu sagen. Sie wirft sich mir um den Hals und weint weiter. Die arme Ino, immer so selbstbewusst, immer Herr der Lage – und nun gibt sie sich die Schuld für den Tod ihres besten Freundes. Auch Chouji schient zu zerfließen. Seine breiten Schultern beben und er starrt ins Leere. Er sieht so mitleidserregend aus, dass ich auch ihm einen Arm um die Schulter lege und sie beide an mich ziehe. „Es tut mir so leid“, flüstere ich. Wir verharren einige Minuten so. Niemand in dem Raum sagt ein Wort. Ich weiß genau, dass Naruto vor Wut zittert und die Fäuste geballt hat, dass Hinata seine Hand umklammert, dass Lee stumm weint, dass Kiba lautlos flucht und Tenten fassungslos vor sich hin starrt. Ich selbst habe keine Ahnung, wo mir der Kopf steht. Ich fühle mich ruhiger – im Vergleich zu meinen Freunden. Vielleicht, weil ich gestern schon Todesangst durchgestanden habe. Weil sich in den letzten vierundzwanzig Stunden so viel Haarsträubendes ereignet hat, dass ich nicht mehr die Kraft aufbringe, angemessen entsetzt zu reagieren. Vielleicht stumpfe ich ja wirklich ab, obwohl ich das gar nicht mehr will. „Hört zu“, murmle ich Ino und Chouji ins Ohr. „Egal, was ihr glaubt, egal, was andere sagen. Ihr habt keine Schuld, ja? Das Gremium war es. Die haben es so verteufelt eingefädelt, dass es so kommen musste. Die haben Shikamaru auf dem Gewissen, nicht ihr.“ „Nein“, haucht Ino. Sie klingt so kraftlos, so elend, als läge sie selbst im Sterben. „Wenn ich nicht …“ „Es war eine Verkettung der Umstände“, beharre ich. „Zum Teufel mit den Umständen, wir …“ Ino will sich losmachen, aber ich halte sie eisern fest, drücke ihren Kopf an meine Schulter, wo ihre Tränen meine Jacke getränkt haben. „Das ist nicht fair“, murmelt Chouji. „Ich verdiene keinen Trost von dir, Sakura …“ „Ich tröste euch nicht, ich sage nur die Wahrheit“, behaupte ich. Genau genommen sage ich einfach, was mir gerade einfällt, und hoffe, dass es ihnen hilft – zu mehr bin ich gerade nicht imstande. Chouji schweigt eine Weile. Dann sagt er leise: „Ich … hab dich und Kiba belauscht und erfahren, dass du schon davon weißt … Also …“ Er atmet tief durch. „Ich war’s. Das mit deinem Video. Ich hab es von deinem Computer kopiert, als du nicht daheim warst. Ich hab es auf acht Minuten gekürzt, wegen meiner Rollenkarte, und es auf diese Website geladen.“ Ich verkrampfe mich und fühle, wie mein Gesicht heiß wird, aber nur für einen Moment. Sofort werden der Zorn und das Schamgefühl wieder von der Trauer überschwemmt. Nun weiß ich also, wer das Sextape geleakt hat. Und es war mir noch nie so egal wie in diesem Moment. Wir bleiben alle noch eine Weile bei den beiden, aber es wird kaum noch geredet. Vermutlich kommt eine harte Zeit auf sie zu. Sie werden definitiv von der Polizei verhört werden, und man wird wissen wollen, wie es zu diesem Unfall kam. Die Geschichte wird die abgebrühtesten Kriminalisten ins Schwitzen bringen, da bin ich mir sicher. Aber wir sprechen nicht darüber. Wir wollen nicht mal darüber nachdenken. Wir haben einen unserer Freunde verloren, einen, der noch nicht mal in unser Dilemma involviert war. Das ist schlimm genug.   Auf der Heimfahrt in der Straßenbahn kommt es mir so vor, als wären die Kurven, die das Gefährt macht, heute ruckartiger, und als müsste ich mich fest in die Halteschlaufen krallen, um mich gegen die Fliehkräfte zu stemmen. Vielleicht entsteht die Illusion dadurch, dass ich ständig Sakura beobachte: Auch sie hat die Hand in einer Schlaufe, lässt sich aber durchbeuteln wie ein Tuch, an dem der Wind zerrt. Ihr Körper schlenkert herum, als wäre sie eine Marionette. „Du hast angedeutet, Shikamaru wäre vielleicht doch in das Schicksalslos verwickelt“, sagt sie plötzlich. „Was hast du damit gemeint?“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch, was sie mich ihrerseits fragend ansehen lässt. „Was?“ „Nichts. Ich bin beeindruckt. Unser Freund ist gerade gestorben und du schaffst es trotzdem, mir schon so eine Frage zu stellen.“ Sie mustert mich eine Weile stirnrunzelnd, als versuche sie festzustellen, ob das nun ein Kompliment oder eine Beleidigung ist. Dann zuckt sie die Achseln. „Vielleicht geschieht einfach, was du nicht willst, und ich stumpfe schon wieder ab.“ Als ich nichts darauf erwidere, fängt sie wieder an: „Also, was hast du gemeint?“ Ich sehe mich in der überfüllten Straßenbahn um. „Nicht hier. Wenn wir zuhause sind.“ Vielleicht werde ich allmählich auch paranoid – obwohl ich erst eine Runde in diesem dämlichen Spiel stecke. Aber den, der mir das verübeln kann, will ich mal sehen. Ich würde ihm ins Gesicht schlagen. Irgendwie haben wir uns stumm darauf geeinigt, dass mit zuhause Sakuras Zuhause gemeint ist. So schäbig ihre Behausung auch ist, gegen meine Bruchbude ist sie immer noch luxuriös, und irgendwie bin ich in letzter Zeit öfter bei ihr als bei mir daheim. Wir gehen die letzten Schritte zu dem Häuserblock zu Fuß. Der Schnee auf dem Bürgersteig ist zum größten Teil geschmolzen und hat sich in unansehnlichen Matsch verwandelt, durch den wir unsere Fußspuren ziehen. In der letzten Nebengasse zu dem Haus mit Sakuras Wohnung ändere ich meinen Plan. Ich nehme sie an der Hand und drücke sie an die Hauswand. Ich ziehe ihren Kragen ein wenig auf und beginne, ihren Hals zu küssen. „Nicht jetzt“, sagt sie und versucht mich wegzudrücken, aber sie tut es viel zu kraftlos, noch immer paralysiert von dem Schock, und ich weiche nicht zurück. Stattdessen flüstere ich in ihr Ohr. „Ich traue diesen Kerlen zu, dass sie deine Wohnung verwanzt haben. Hör mir genau zu.“ Sie erstarrt, gibt ihren Widerstand aber auf. Nahe an ihrem Ohr, während ich sie fest in den Arm nehme, murmele ich: „Shikamaru war ein heller Kopf. Er hat sicher geahnt, was ihr treibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sein WG-Kollege jahrelang so einen Scheiß abzieht und er nichts davon merkt.“ „Und weiter?“, flüstert sie zurück und schlingt die Arme um meinen Nacken. Für einen Passanten – oder eine Überwachungskamera des Gremiums, die vielleicht Sakuras Haustür samt der angrenzenden Straße filmt, man weiß ja nie – sieht es hoffentlich so aus, als würde ein schwerverliebtes Pärchen es gerade nicht lassen können, am helllichten Tag auf offener Straße übereinander herzufallen. Mir kommt sogar der Gedanke, dass auch unsere Kleidung verwanzt sein könnte, aber hier kappe ich meine Paranoia. Übervorsichtig zu sein ist nicht mein Ding. „Nehmen wir an, Shikamaru hat Wind von dem Schicksalslos bekommen und herumgeschnüffelt. Nehmen wir an, er hat herausgefunden, was ihr tut und wie das alles mit dem Casino zusammenhängt. Und nehmen wir an, das Gremium hat mitgekriegt, dass er ihnen auf die Schliche kommt. Vielleicht war er eine Gefahr für sie und musste aus dem Weg geräumt werden. Und wie geht das am besten, wenn nicht durch das Los selbst, durch die Leute, die ihm am nächsten sind?“ Ich sauge mich wieder an Sakuras Hals fest, damit sie Zeit bekommt, das Gesagte zu verarbeiten. Ein Schauer durchläuft ihren Körper, und die Härchen an ihrem Nacken richten sich auf. Ob von dieser Erkenntnis oder von meinen Liebkosungen, kann ich nicht sagen. Für sie muss es merkwürdig sein, dass sie über den Tod eines Freundes nachgrübeln soll, während ich sie küsse. Ich hingegen … Gut, ein wenig ungewohnt ist es für mich auch, diese Situation auszunutzen. Es kommt mir so vor, als würde ich hier nur schauspielern. Aber irgendwie tut es nach allem, was wir eben erfahren haben, verdammt gut, eine Ausrede zu haben, um ihr nahe zu sein – ich mieser Kerl, der ich bin. „Das wäre ein viel zu großer Zufall“, flüstert sie schließlich. „Wir ziehen die Chips aus der Lostrommel. Du hast es gesehen. Unmöglich, dass die getürkt ist.“ „Das muss sie gar nicht sein“, widerspreche ich. „Wenn die nur genügend Gift-Chips und Diebstahl-Chips reinwerfen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie von jemandem gezogen werden. Selbst wenn niemand die richtige Kombination zieht, macht es nichts. Es wäre ja niemandem aufgefallen. Ich habe zum Beispiel auch den Diebstahl-Chip gezogen – zweimal. Das darf ich dir eigentlich nicht verraten, weil ich der Geheimniskrämer bin, aber scheiß drauf.“ Sie zuckt zusammen und sieht mich entgeistert an, als hätte ich ihr eben mein brisantestes Geheimnis verraten. Dann drückt sie sich noch fester an mich. Sie sieht es wohl als Vertrauensbeweis, dass ich ihr von meinen Chips erzähle, obwohl ich das nicht darf. Und sie glaubt mir sofort. „Ich bin durch die Sache mit Riviera darauf gekommen“, fahre ich fort, während wir uns fest umarmen und leicht auf hin und her wippen wie beim Schunkeln auf der Tanzfläche. „Ich bin mir sicher, das Gremium wollte auch Riviera loswerden. Vielleicht, weil er eine zu bekannte Persönlichkeit ist, und wenn er irgendwann erwischt worden wäre, hätte die Sache viel größere Wellen geschlagen. Außerdem muss er sämtliche Beweise aufbewahren, und mit der Zeit werden das gefährlich viele. Also haben sie während seiner Ziehung dafür gesorgt, dass er sich demnächst auf ein Groupie einlassen soll – wenn das überhaupt von ihnen manipuliert war. Aber ganz sicher haben sie etliche Chips wie deine bei unserer Ziehung bereitgelegt, und dazu einige Töte-Karten, damit irgendjemand von uns den nächstbesten Rockstar umbringt, der ihm vor die Nase springt. Und die Chance, in dieser Woche Riviera als Opfer zu wählen, war hoch.“ „Du meinst, das Gremium manipuliert die Ziehung doch?“ Ich nicke kaum merklich. „Auf eine Art, die man nicht nachweisen kann. Sicher, es ist immer noch ein reines Glücksspiel. Aber diese Leute stehen auf Glücksspiele. Und wenn Riviera und Shikamaru nicht dieses Mal getötet worden wären, hätte auch niemand etwas gemerkt, und sie hätten einfach auf eine neue Gelegenheit warten können. Außerdem, wer weiß, wie lange sie es schon auf Shikamaru abgesehen hatten, bis es diesmal endlich geklappt hat?“ Als Sakura keine Erwiderung gibt, löse ich mich von ihr und wir gehen den Rest des Weges einträchtig nebenbeinander her. Ich sehe, wie sehr es in ihrem hübschen Köpfchen arbeitet, aber sie scheint sich den Rest selbst zusammenreimen zu können Es überrascht mich, dass ich erst auf der Treppe zu ihrer Wohnung merke, dass wir immer noch die Finger ineinander verschränkt haben. Als sie aufschließt, überlege ich, ob sie wohl auch auf den nächsten Schritt in diesem Gedankengang kommt. Dass es nämlich gar nicht sein muss, dass Riviera dem Gremium per definitionem gefährlich geworden ist. Denn die gefährlichsten Leute für das Gremium sind die Spieler selbst – alle Spieler. Sie könnten irgendwann zur Polizei gehen, wenn ihr schlechtes Gewissen zu groß wird. Sie könnten einen Patzer machen und sich verraten. Oder sie könnten so weit ins Minus kommen, dass das Gremium sie sowieso ausschalten will. Für alle diese Fälle wäre es denkbar, dass das Gremium so eine Sache abzieht wie mit Shikamaru oder Riviera. Neue Anwärter auf das Spiel finden sich sicher überall. Und wenn man annimmt, dass die Veteranen eine Gefahr für das Gremium bedeuten, kommt man schnell zu einem logischen Schluss. Dass diese Leute nämlich irgendwann versuchen werden, die aktuellen Spieler aus dem Weg zu räumen. Mit anderen Worten, meine Freunde.   Die Ziehung an diesem Abend bestätigt mir meinen Verdacht. Streng genommen kann es sich immer noch um einen Zufall handeln. Aber ich glaube nicht an Zufälle, und ich habe auch keinen Bock, meine Theorie zu verwerfen. Sakura und ich haben den Rest des Nachmittags in stummer Zweisamkeit verbracht. Ich glaube, das Einzige, was einer von uns über die Lippen gebracht hat, war die Pizzabestellung am Telefon. Wir haben zwei fetttriefende Salamipizzen verdrückt, dann sind wir zu mir gefahren. Sakura hat gemeint, sie wolle sich für das Schicksalslos nicht schickmachen. In einer Art stiller Rebellion gegen das Spiel wolle sie in schlabbriger Freizeitkleidung gehen. Und wenn man sie nicht ins Casino ließe, dann sei es drum. Ich hingegen habe immer noch die Kleider vom Vortag getragen, und seit dem Beginn von Rivieras Konzert hatte ich ausreichend Gelegenheit, sie gründlich durchzuschwitzen. So sind wir dann des Abends – ich frisch gekleidet und gestylt, Sakura in Jogginghosen und Schmuddelpulli und mit denselben zerzausten Haaren wie heute Morgen – zusammen beim Treffpunkt aufgekreuzt. Natürlich war die Stimmung gedrückt. Jeder weiß, dass das Schicksalslos für Shikamarus Tod verantwortlich ist. Und dennoch hat sich wieder jeder hier eingefunden. Keiner hat den Mut aufgebracht, das Los zu boykottieren. Ich vermute, das wäre die sinnvollste Reaktion gewesen – einfach nicht mehr aufzukreuzen, alles zu verfluchen, was damit zu tun hat, und auf die Rache des Gremiums zu warten, weil man den Pflichttermin versäumt hat. Ihm vielleicht die eigene Rache entgegen schmeißen. Das hätte wohl jeder normale Mensch getan, der nicht schon jahrelang bei diesem verrückten Spiel mitgemacht hat. Für den es nicht schon so zur Gewohnheit geworden ist, Dinge zu tun, die ihm zutiefst widerstreben. Nach dem Motto: Schlimme Dinge passieren, weiter geht’s. Alle meine Freunde sind da. Meine Freunde, die Veteranen. Und ich. Ich bin kein hundertprozentiger Eisklotz, den Shikamarus Tod nicht berührt – immerhin. Aber ich stecke solche Dinge vermutlich einfach besser weg. Außerdem kannte ich Shikamaru gar nicht sonderlich gut und habe ihn, seit ich wieder hier bin, auch noch nicht gesehen, weswegen er in meiner Vorstellung noch aussieht wie der Junge vor drei Jahren. Das ist also meine Rechtfertigung, warum ich hier bin. Und ich will Sakura nicht allein lassen. Ich will nicht behaupten, dass sie es ohne mich nicht durchgestanden hätte. Mittlerweile habe ich mitgekriegt, dass sie ein verdammt taffes Mädel geworden ist, egal was sie selbst oder ich in den letzten zwei Tagen behauptet habe. Aber irgendwie denke ich, dass ich es ihr schuldig bin. Das ist die eine Veränderung in meiner Geisteshaltung, die mich selbst überrascht. Die zweite ist, dass ich die subtile Solidarität bemerke, die sich in der Gruppe ausgebreitet hat. Abgesehen davon, dass niemand streitet, scheinen die Blicke, die sich die anderen zuwerfen, geradezu vor Empathie zu sprühen. Eine tiefe Verbundenheit hat sie alle erfüllt, die Überlebenden des Freundeskreises, die ein dunkles Geheimnis verbindet. Ein starkes Band, hätte Naruto gesagt. Dass ich das spüre, ist wohl der zweite Beweis, dass diese verdammte Schwarmintelligenz, die ich immer so sehr verabscheut habe, langsam auf mich übergreift. Sakura stumpft ab, und ich kann mich plötzlich in andere hineinversetzen. Bei dem Gedanken muss ich schmunzeln. Die Welt ist verrückt geworden. Niemand hat Ino und Chouji gefragt, wie es bei ihnen weitergegangen ist. Ob Shikamarus Angehörige bereits informiert wurden, ob sie noch irgendeine Aussage bei der Polizei gemacht haben. Sie sehen beide schick aus heute Abend. Vor allem Ino hat sich aufgebretzelt, als hinge ihr Leben davon ab. Vermutlich – die nächste Empathiewelle meinerseits – hat sie ihrer Trauer damit entgegenwirken wollen, dass sie sich beschäftigt, und diese Beschäftigung hat daraus bestanden, sich tonnenweise Make-up ins Gesicht zu klatschen und sich mit penibler Emsigkeit das perfekte Outfit für eine höllische Glücksspielrunde aus ihrem Schrank zu suchen. Chouji sieht adrett aus, sein Blick ist so ernst, wie ich es noch nie bei ihm gesehen habe. Die Gesichter der beiden sind trocken und sie wirken … entschlossen. Änderung in Sasuke Uchihas Geisteshaltung, Nummer drei: Ich nehme mir ihre Entschlossenheit zum Vorbild. Und ich warte mit grimmiger Erregung darauf, dass ich an der Reihe bin, meine Chips zu ziehen. Denn irgendwann zwischen dem Mord an Riviera und jetzt habe ich den einen Entschluss gefasst, der nur noch einen kleinen Schubser braucht. Einen passenden Chip. Einen einwandfreien Grund, damit ich … Olgas Strahlemiene verfolgt jede meiner Bewegungen, als ich meine Chips ziehe. Der Dreizehn-Tage-Kidnapper. Mir fällt auf, dass dieser Chip wie frisch lackiert aussieht, nicht abgegriffen, nicht zerkratzt. Sofort stelle ich mir vor, dass er erst kürzlich hergestellt wurde. Der zweite Chip. Der Drahtseilmörder. Ziemlich eindeutig. Ziemlich düster. Olga trippelt vor mir her zum Kartenstapel und mischt noch einmal. „Nun Ihre Regelkarte. Vergessen Sie nicht, dass Sie sie auf jeden Fall einhalten müssen, egal welchen ihrer Chips sie bearbeiten und wie Sie es tun.“ Schweigend ziehe ich eine Karte und meißle meine Miene in Stein. Ich wusste es. Das Ganze ist eine Farce. Wie Sakura mal sagte, die Chips und Karten werden immer krasser. Immer gefährlicher. Und wie ich selbst vermutet habe, letzten Endes versucht das Gremium, die Spielerrunde zu dezimieren. Auf der Karte steht klar und deutlich: Dein Ziel ist die Person, die dir am nächsten steht. Ich bin wie erstarrt, nur mein Verstand arbeitet, während mein Blick über die Chips, dann zu der Karte und wieder zu den Chips und schließlich zu meinen Freunden schweift. Die Person, die mir am nächsten steht. Als hätten diese dreckigen Kerle genau gewusst, dass uns Shikamarus Tod noch enger zusammenschweißen würde. Wer würde einem Schicksalslos-Spieler wohl am nächsten sehen? Als Erstes fällt mir die Familie ein. In meinem Fall Itachi. Aber wir sind alle unabhängige Erwachsene, die ihr eigenes Leben leben. Die meisten aus unserer Clique sehen ihre Verwandten selten, wenn man von Hinata und Neji mal absieht. Dann gibt es noch Freunde und Lebensgefährten. Es ist wohl ziemlich unwahrscheinlich, als Schicksalslos-Spieler jahrelang seine gefährlichen Tätigkeiten vor dem besten Freund oder der festen Freundin zu verheimlichen. Das Los ist so gestrickt, dass man eher als Gruppe – oder als Paar – in seinem Netz gefangen wird. Man sieht es schön an unserer Runde: Alles gute Freunde, und bei Naruto und Hinata und bei Neji und Tenten war ich mir noch nie sicher, ob sie nicht vielleicht etwas miteinander am Laufen haben oder sich zumindest näher stehen als den anderen. Es hat mich bis dato zwar nicht sonderlich interessiert, aber ich glaube, dass die anderen auch keine ernsten Liebschaften außerhalb dieser Gruppe pflegen. Bei all den finsteren Machenschaften muss sowas ja zu kurz kommen. Die Personen, die uns also am nächsten stehen, befinden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in diesem Raum. Das ist jedenfalls der Schluss, zu dem ich komme, und ich gehe jede Wette ein, dass das Gremium sich dasselbe gedacht hat, als es diese Karte entworfen hat. Ich werfe erneut einen Blick auf meine Chips, nachdem Olga mich ungeduldig auf meinen Platz scheucht. Sie sind beide ziemlich heftig, was mich praktisch dazu zwingt, zumindest einen davon zu erledigen. Das mit dem Mord ist ja wohl eindeutig. Und wenn ich einen der Leute hier für dreizehn Tage entführe, kann er nicht am nächsten Schicksalslos teilnehmen, was gleichbedeutend mit einem Rauswurf ist – und, Sakura zufolge, mit einem Todesurteil. Sie wollen mich in eine Zwickmühle manövrieren. Sie haben ja keine Ahnung, dass ich nun nur noch umso entschlossener bin. Ich, der neue Spieler, habe einen Entschluss gefasst, regelrecht gepackt habe ich ihn, mit Adlerklauen habe ich ihn umklammert und werde nicht mehr davon ablassen. Aus den blassen Mienen der anderen schließe ich, dass auch sie tödliche Chips oder Karten gezogen haben. Jeder Einzelne scheint Übelkeit zu verspüren, als wir das Casino verlassen. Sakura und ich fahren ein Stück gemeinsam heim. Wir reden nicht über die Ziehung. Wir reden gar nichts, starren nur unsere Spiegelbilder in den Scheiben des Busses an. Als ich mich in der Nähe meiner Wohnung verabschiede, sieht sie mich verletzt an, aber sie macht keine Anstalten, mich zurückzuhalten. Ich atme tief die kühle Nachtluft ein, die wieder nach Schnee schmeckt. Schnee, wie damals, als Sakura mich verprügeln und dann im Park aussetzen hat lassen. Dieser Tag scheint ewig lange her zu sein. Ich sehe dem Bus nach und überlege, wie sehr ich mich mittlerweile an sie gewöhnt habe. Und zum ersten Mal halte ich so etwas nicht für Schwäche, denn es nährt meine Entschlossenheit. Zwei Tage grüble ich darüber nach, was ich tun kann. Die Nächte liege ich größtenteils auch wach. Nebenbei hoffe ich, dass meine Freunde sich möglichst viel Zeit lassen, um ihre tödlichen Chips abzuarbeiten. Mittwochmorgen habe ich endlich einen Plan. Die ganze Zeit über habe ich mit niemandem gesprochen. Sakuras Anrufe habe ich ignoriert. Ich habe mich nur auf mich selbst konzentriert. Jetzt wähle ich zum ersten Mal wieder eine Nummer auf meinem Handy. „Bruderherz“, begrüßt mich Itachi. „Deine Anrufe sind fast so selten wie deine Besuche.“ „Ich brauche nochmal deine Hilfe“, sage ich. „Danach komme ich dich besuchen, sooft du möchtest.“ „Ach ja? Soll ich dir wieder mal mit einer Telefonnummer aushelfen?“ „Nein“, sage ich grimmig. „Diesmal brauche ich eine Maschinenpistole. Mit ausreichend Munition.“ „Tatsächlich?“ Er ist nur halb so überrascht, wie er tut, der alte Halunke. Ich gehe stark davon aus, dass er seine Unterweltkontakte noch aufrecht erhält. „Erzähl mir nicht, dass du einen Amoklauf planst, kleiner Bruder.“ „Unsinn“, brumme ich. „Ich muss nur ein wenig Kidnapper spielen.“ Kapitel 11: „Ich befolge nur die Spielregeln.“ ---------------------------------------------- Inos Handy klingelt zum wiederholten Male. Sie sieht nun doch auf das Display. „Der schon wieder“, zischt sie mit brüchiger Stimme. „Kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen?“ Sie schleudert das Handy zu Boden, wo die Abdeckung aufgeht und der Akku herausspringt. Das Klingeln verstummt. Ino kuschelt sich wieder an ihr Kissen. Sie sitzt auf ihrem Bett und versucht, mit sich selbst und der Welt fertig zu werden, und ich versuche, ihr so gut es geht zu helfen. Seit Shikamarus Tod habe ich sie täglich besucht, aber es scheint ihr immer noch nicht besser zu gehen. Ihre Hände zittern bei allem, was sie anpackt, und während sie anfangs noch versucht hat, sie mit allen Mitteln in Bewegung zu halten und sich zu beschäftigen, starrt sie nun nur noch vor sich hin. Ich kann sie auch nicht aufheitern. Kann sie höchstens in den Arm nehmen, wie schon in Choujis und Shikamarus Wohnung, aber das hat längst seine Wirkung verloren – falls es je eine besessen hat. Es ist furchtbar, aber mir fällt einfach nichts mehr ein, was ich zu ihr sagen könnte. Alles, was ich anspreche, scheint irgendwie wieder zu der Sache mit Shikamaru zu führen, und alles, was total gegenteilig ist, wirkt plötzlich so banal, dass es keine Erwähnung wert ist. So sitze ich nur bei ihr, halte dann und wann ihre Hand und schlürfte dann und wann den Tee, den sie uns gemacht hat. Es ist auch nicht gerade hilfreich, dass mein Kopf ebenfalls voller tosender Gedanken ist. Dinge, die ich gerne angesprochen hätte, mit denen ich Ino aber unbedingt verschonen muss. Meine neuen Chips zum Beispiel, die wieder mal ziemlich krass ausgefallen sind, wenn auch nicht ganz so mörderisch wie beim letzten Mal. Und die Sache mit Sasuke. Er hat sich immer noch nicht bei mir gemeldet. Ich kann nur ahnen, dass es mit seinen Chips zusammenhängt. Eigentlich habe ich gedacht, wir könnten einander mittlerweile vertrauen. Oder hat man am Ende herausgefunden, dass er seine Rollenkarte nicht befolgt hat? Dass er mir seine Chips verraten hat? Höre ich deshalb nichts mehr von ihm? Das ist doch unmöglich, oder? Oder ist das Gremium einfach noch viel, viel mächtiger, als ich immer geglaubt habe? Ich frage mich, wo er steckt. Ich bete, dass es ihm gut geht. Und ich hoffe, dass er sich bei seinen Chips nicht überschätzt.   „Also, Herr Uchiha, was gibt es, dass Sie es mich nicht am Telefon fragen konnten? Ich bin eine vielbeschäftigte Frau, wissen Sie? Ich habe auch noch andere Aufgaben als Spielerbetreuung.“ Während Olga das sagt, schüttelt sie ihren Kopf, dass ihre Korkenzieherlocken wackeln. Die übertriebenen Klunker, die von ihren Ohren baumeln, klingeln leise. „Sie waren auf dem Anmeldeformular als Kontaktperson angeführt, wenn ich mich nicht irre“, sage ich. Wenn ich mich recht erinnere, stand daneben auch ihre Telefonnummer – nur daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich habe ihre Nummer von Tenten, die schon öfter Material vom Gremium angefordert hat. „Für Telefonate“, belehrt sie mich. „Ich habe keine Zeit, um meine Schützlinge alle persönlich zu treffen.“ Sie sieht sich naserümpfend in dem Lokal um. Offenbar gefällt ihr auch das Etablissement nicht, in das ich sie gebeten habe. Dabei habe ich ein überdurchschnittliches Café gewählt, aber selbst das ist ihr vermutlich zu gewöhnlich. „Dann komme ich wohl besser gleich zur Sache“, schlage ich einen geschäftsmännischen Ton an. „Sie werden merken, dass ich eben nicht alles am Telefon mit Ihnen abklären kann.“ Sie bedeutet mir mit einem Wink, fortzufahren, während ein Kellner im Frack zwei Cappuccinos bringt, um deren Preis man sich vermutlich auch ein Kinoticket kaufen könnte. „Meine erste Frage betrifft meine Rollenkarte. Wie Sie sicher wissen, bin ich der Geheimniskrämer. Das heißt, ich muss über meine Ziehungen lügen. Bevor Sie mir also irgendetwas erklären können, muss ich wissen, ob ich meine Chips und Karten auch vor Ihnen gemeinhalten muss, Olga.“ Sie winkt ab. „Ich fungiere als Stellvertreterin des Gremiums. Selbstverständlich bin ich von dieser Regel ausgenommen.“ Eingebildete Zicke. Sie klingt, als wäre das ihr Geburtsrecht. „Sehr schön. Dann zum Zweiten. Ich möchte mir Gewissheit über einen bestimmten Sachverhalt des Spiels verschaffen.“ Ich hole tief Luft und sehe Olga lauernd in die Augen. Und ich hoffe, dass ich auch eine ausreichende Menge an naiver Hoffnung in meinen Blick legen kann. Ihr eigener Blick, den sie mir unter ihren vollgepinselten Lidern zuwirft, ist allerhöchstens gelangweilt. „Wenn ich eine Regelkarte ziehe“, beginne ich, „gilt diese Regelkarte dann, sobald ich sie in der Hand halte?“ „Natürlich“, sagt sie sofort. „Sie können Ihre Karten nicht mehr umtauschen, wenn Sie das damit meinen.“ „Dann danke ich Ihnen vielmals für Ihre Zeit.“ Ich stehe auf und werfe das Geld für meinen Cappuccino, den ich nicht mal angerührt habe, auf den Tisch. Olgas verdutzter Blick verfolgt mich, während ich zur Garderobe schlurfe und meinen Mantel vom Haken nehme, bereit, zu gehen. „Was meinen Sie damit? Dafür haben Sie mich hierher gebeten?“, fragt sie. „Wir sehen uns spätestens am Sonntag“, rufe ich ihr kühl zu und verlasse das noble Café, um auf die nicht ganz so noble, matschige Straße zu treten. Das Lokal hat nur einen Eingang, und der führt in diese Quergasse, in der Fahrverbot herrscht. Ich habe eine halbe Stunde vor der Tür auf Olga gewartet, um zu sehen, aus welcher Richtung sie kommt. Ich habe nämlich vermutet, dass sie sich von einem Chauffeur bis vor die Haustür kutschieren lässt – in diesem Fall hat sie aber vor der Gasse aussteigen müssen. Nun warte ich neben dem Café und behalte die Tür im Auge. Dreißig Meter weiter brausen die Autos auf der Hauptstraße vorbei. Es dauert nicht lange, und Olga kommt mit ihrer daunengefütterten Jacke und dem dicken Schal aus diesem Abzockerladen. Ihre Schritte verraten ihre miesepetrige Stimmung. Sie sieht sich nicht mal um, sondern stöckelt eilig die Gasse entlang, um sich entweder an der Straße abholen zu lassen oder die nächste Straßenbahn zu nehmen. Genau, sie stöckelt – selbst ihre hochgeschlossenen Stiefel haben Absätze, deren Anblick allein jeder noch so hartgesottenen Tussi Schwindelgefühle beschert hätte. Gut für mich, denn die bremsen sie zusätzlich. So schnell und gleichzeitig so leise es geht, husche ich ihr hinterher. Ich habe extra meine alten, gut eingelaufenen Sneakers angezogen, obwohl mir die Kälte auf der Herfahrt in die Zehen gebissen hat. Olga dreht sich zu mir um, als ich sie schon fast erreicht habe, und prallt erschrocken zurück – aber es nützt nichts. Ich packe die Schlaufe hinten an ihrer Jacke mit der Linken, reiße sie zurück und drücke ihr mit der Rechten den Lauf meiner Maschinenpistole ins Kreuz, die ich mit großer Kunstfertigkeit in meinem Mantel versteckt gehalten habe. Die Gasse ist menschenleer, aber selbst einem Beobachter wären aus einiger Entfernung nur zwei Menschen aufgefallen, die ein bisschen nahe beieinander stehen. „Was ich noch sagen wollte: Spätestens am Sonntag, aber frühestens jetzt“, flüstere ich ihr verwegen ins Ohr. „Ich … Was … Hören Sie …“, stammelt Olga und windet sich in meinem Griff, sodass ich ihr die Waffe fester gegen den Rücken presse. „Das ist eine MP7 mit Schalldämpfer“, drohe ich leise. „Neunhundertfünfzig Schuss pro Minute. Sollten Sie schreien oder irgendwie unartig sein, sehen Sie in null Komma nichts wie ein Nudelsieb aus.“ „Sie … Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass Sie damit durchkommen?“, sagt sie mit Fistelstimme. „Mein erster Befehl: Sprechen Sie leiser“, knurre ich. Sie schrumpft sichtlich vor mir zusammen. „Das wird man Ihnen nicht durchgehen lassen! Ich bin eine wichtige …“ „Eine wichtige Figur im Spiel? Allerdings. Aber tot bringen Sie mir genauso viel“, behaupte ich. „Haben Sie den Verstand verloren? Das Gremium wird Sie zur Rechenschaft ziehen!“ „Das denke ich nicht“, entgegne ich und klinge fast fröhlich. „Sie werden mich mit Geld überschütten. Ich befolge nur die Spielregeln.“ „Machen Sie keine Witze! Ich …“ „Sie kennen meine Regelkarte, oder? Sie haben bestimmt einen flüchtigen Blick darauf erhaschen können. Aber falls Sie so diskret waren, nicht hin zu schielen, die Regel lautete: Dein Opfer ist die Person, die dir am nächsten steht. Zum Zeitpunkt, als ich die Karte gezogen habe, waren Sie das. Wortwörtlich.“ „So … So war das aber nicht gemeint“, japst sie. Ich zucke mit den Schultern. „Auslegungssache. Wie immer. Ich bin ein einsamer Wolf, wussten Sie das nicht? Bis vor kurzem hatte ich zu keinem der Menschen in dieser Stadt hier Kontakt. Es macht für mich wesentlich mehr Sinn, wenn ich die Person nehme, die mir physisch am nächsten ist. Und dass die Karte in dem Moment gilt, in dem ich sie ziehe, haben Sie mir vorhin bestätigt.“ „Sie sind verrückt“, haucht Olga. Sie sieht aus, als ob sie entweder gleich die Fassung oder das Bewusstsein verlieren würde. Keins von beiden kann ich mir leisten. Aber ich muss weitermachen. „Ich verrate Ihnen auch gleich mal, was meine Chips waren“, sage ich. „Zum einen soll ich mein Opfer für dreizehn Tage entführen. Und falls Sie es noch nicht gemerkt haben, ich bin gerade dabei, das zu tun.“ „Damit kommen Sie nicht durch“, sagt sie erneut, aber ihre Stimme klingt schon kraftloser. Ein Passant eilt mit gesenktem Hut an uns vorbei. Olga versteift sich. Ich lasse ihre Jacke los, nehme den Lauf aber nicht weg, sondern decke ihn nur mit dem Ärmel ab. Ihr Blickt folgt flehentlich dem Mann, der uns gar nicht zu bemerken scheint. „Keine Chance“, sage ich, ehe ich ein wenig auf Abstand gehe. „Der zweite Chip wäre nämlich, Sie zu töten. Mit Drahtseil, aber ich kann Sie ja hinterher immer noch irgendwo aufhängen.“ Olga zittert merklich. Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, endlich mal die andere Seite der Medaille zu sehen. Endlich mal mit dem Dreck beworfen zu werden, durch den man seine Spieler kriechen lässt. Der Passant erreicht die Hauptstraße, ohne etwas bemerkt zu haben. „Drehen Sie sich um. Wir gehen in die andere Richtung“, sage ich. Ich gebe mich äußerlich ruhig, im Inneren bin ich jedoch aufs Äußerste gespannt. Meine Handflächen sind schweißnass, sodass ich fürchte, im nächsten Moment könnte mir meine MP aus den Fingern rutschen. Trotz aller Schandtaten, die ich in den letzten drei Jahren koordiniert oder selbst begangen habe, habe ich noch nie einen Menschen entführt. Bedroht, ja – aber für einen längeren Zeitraum? Das ist ein ordentlicher Brocken, der da noch vor mir liegt. Für den Moment wäre ich jedenfalls schon mal froh, wenn wir endlich aus der Gasse fortkommen. Quälend langsam setzt Olga sich in Bewegung, dorthin, wo sie eigentlich nicht hinwollte. „Beeilung“, sage ich leise. „Und ich schieße bei der ersten auffälligen Bewegung. Ihr Gremium ist sicher neugierig auf ein Video, in dem ich vor der Polizei flüchte. Wir beide könnten ihnen gerade keine bessere Show bieten, oder was meinen Sie?“ „Bitte, überlegen Sie es sich noch mal“, flüstert sie zerknirscht. „Sie … Sie brauchen mich! Für das Spiel! Ich kann verstehen, wenn die Chips Sie schockieren, aber …“ „Ach, können Sie?“, höhne ich und denke an Sakura, an Ino und Chouji. „Gehen Sie schneller.“ Am Ende der Gasse liegt eine weitere belebte Straße. Im Halteverbot wartet Deidara, kaugummikauend und mit Sonnenbrille für das Bad-Boy-Image. Ich hätte jeden anderen von Itachis zwielichtigen Bekannten bevorzugt, aber scheinbar war der Blondschopf im Moment der einzig Verfügbare. „Steigen Sie in diesen Wagen“, sage ich zu Olga. „Ich komme zu Ihnen auf den Rücksitz.“ Sie öffnet folgsam die Wagentür und rutscht so weit auf die andere Seite wie möglich. „Wird aber auch Zeit“, sagt Deidara, als ich mich ebenfalls in das Auto setze und ohne hinzusehen die Tür hinter mir zumache. „Fahr los.“ Er lässt eine Kaugummiblase platzen, startet den Motor und reiht sich in den Nachmittagsverkehr ein. „Da-damit kommen Sie nicht durch“, versucht Olga es erneut mit ihrer Leier. Ihr Blick hat was von einem verschreckten Kaninchen. Es tut gut, ihre Arroganz nicht mehr sehen zu müssen. „Das Gremium wird mich suchen! Ich bin für sie kein Niemand!“ „Dann ersparen wir ihnen die Suche“, sage ich. Ich halte meine Maschinenpistole nun gut sichtbar in den Händen, damit sie weiß, wie ernst es mir ist. „Sagen Sie unserem Fahrer den Weg an. Wir fahren direkt zu Ihrem Gremium.“ Olga erbleicht – sofern das überhaupt noch möglich hist. Sie reißt Augen und Mund weit auf wie ein Fisch. „Das … kann nicht Ihr Ernst sein.“ „Sie glauben immer noch, dass ich hier Scherze mache?“, frage ich drohend. Olga schüttelt sofort den Kopf, als ich die Waffe nur ein wenig anhebe. „Meine Knopfkamera nimmt alles auf. Es ist nicht ungewöhnlich, dass der Kidnapper das Opfer zu etwas zwingt, während er es bedroht, und ich will, dass Sie mich zu Ihren Arbeitgebern führen. Und wenn Sie sich fragen, wozu: Es ist alles immer noch regelkonform, keine Sorge. Ein Kidnapper wird natürlich Geld haben wollen, und es steht nirgendwo, was ich nach den dreizehn Tagen mit Ihnen anstellen soll. Das Gremium soll mir einen Batzen Geld zahlen – nämlich mindestens so viel, dass ich immer noch im Plus bin, selbst wenn der Töte-Chip gewählt wird. Wenn ich das Geld kriege, lasse ich Sie in dreizehn Tagen frei. Mehr noch – Sie dürfen als meine persönliche Gefangene zur nächsten Ziehung, falls das Gremium das gestattet.“ Was sie zweifellos tun werden – weil es sich um Olga handelt. Bei jedem anderen würden sie es wohl als Regelverstoß erachten, wenn ich mein Opfer nicht die ganze Zeit über irgendwo einsperren würde, da bin ich mir sicher. Olga scheint nach dieser Erklärung etwas ruhiger. Vielleicht glaubt sie wirklich, es ginge mir nur darum, mein Konto zu retten. Sie lotst Deidara durch die Stadt bis in den innersten Bezirk. Wir halten vor einem mehrstöckigen Haus mit Glasfront. Genau so stelle ich mir den Firmensitz eines mächtigen, multinationalen Konzerns vor. „Und da drin finden wir das Gremium? Vollzählig um einen runden Tisch versammelt oder was? Antworten Sie“, verlange ich, als Olga betreten schweigt. Sie kann nicht gut lügen, die Ärmste. „Ich will das ganze Gremium sprechen. Wenn Sie mich verarschen wollen, sterben Sie“, sagte ich finster. „Am Abend“, murmelt Olga geschlagen und knetet ihre Hände. Sie sieht nicht in meine Richtung und wirkt wie ein Schulmädchen, das der Lehrer beim Schummeln erwischt hat. „Um neun Uhr versammeln sich die Herrschaften für ein Video-Screening.“ „Mittwochs?“, frage ich misstrauisch. Die Videos haben sie ja schon am Sonntag erhalten. „Jede Zweigstelle hat andere Tage, an denen das Los abgehalten wird“, erklärt sie. „Ich sollte heute Abend eigentlich in einer Nachbarstadt sein …“ Also noch vier Stunden …. Die Rolle des Entführers zerrt jetzt schon an meinen Nerven. Ich nicke Deidara zu. „Fahr ein wenig herum.“ „Mit dir macht man was mit“, murrt er und fährt wieder los. Es ist wirklich verdammt gut, einen Komplizen zu haben. Deidara hält irgendwann an einer Tankstelle und holt uns was zu essen. Dann kommen wir gefühlt die halbe Stadt ab, ehe wir kurz nach neun wieder vor dem Firmengebäude sind. Mittlerweile ist es Nacht, aber hinter vielen Fenstern des Komplexes brennt noch Licht. Der Matsch reflektiert die knallbunten Reklameschilder, die uns umgeben. Ich wappne mich für den schwierigsten Teil. Wird schon schiefgehen, sage ich mir. Schlimmstenfalls bist du morgen tot. Ich frage mich zum ersten Mal, für wen ich das hier eigentlich tue. Wenn ich es richtig angestellt hätte, hätte ich das Schicksalslos sicher noch eine Weile durchgehalten. Natürlich kenne ich die Antwort, aber es fällt mir immer noch schwer, mir einzugestehen, dass ich es für diese eine Frau tue. „Los“, sage ich rau. „Aussteigen. Und nicht vergessen, dass ich eine Waffe habe und Sie bei der ersten falschen Bewegung tot sind.“ Irgendwie habe ich erwartet, dass wir einen Lieferanteneingang oder eine Geheimtür nehmen, doch Olga geht mir voraus direkt durch die riesige Glasschiebetür in den Empfangsbereich des Gebäudes. Ich sehe hinter einer Glaswand einen bulligen Portier in der Uniform einer Sicherheitsfirma sitzen, der von seinem Kreuzwortheftchen aufblickt. Das gefällt mir nicht. Ich unterdrücke den Impuls, mir meinen Hut tiefer ins Gesicht zu schieben, und flüsterte Olga zu: „Wenn er fragt, wer ich bin, erfinden Sie irgendwas.“ Die MP halte ich eng am Körper, gegen den Bauch gepresst, aber da ich hinter Olga gehe, bemerkt sie nicht, dass der Lauf gar nicht mehr auf sie zeigt. Der Portier fragt nicht. Er nickt Olga nur grimmig zu, dann sieht er mich kurz an, ich nicke ebenfalls und er lässt uns ohne ein Wort vorbei. Als Nächstes umrunden wir einen riesigen Empfangstisch in der Mitte der Lobby, an dem ich mir tagsüber eine elegant-flotte Rezeptionistin vorstelle. Auch hier ist fast alles aus Glas, nur der Boden besteht aus dunklem Marmor. Wer immer das Gebäude hochgezogen hat, hat genug Geld zum Schweinefüttern. Oder eben auch zum Bezahlen von Chip-Auslosungen. Im hinteren Bereich des Empfangssaales, unter einer der beiden Treppen, die sich geländerlos in die Höhe schrauben, ist eine schmale Tür eingelassen. Hier sind die Wände plötzlich mit Hartholz vertäfelt. Olga zieht einen Schlüssel aus der Tasche. Ihre Hände zittern ein wenig, aber nüchtern betrachtet hält sie sich echt gut. Ich überlege, ob ihre ständige Begeisterung für das Schicksalslos einfach nur genial geschauspielert ist und sie in Wahrheit weiß, was für einen kaltblütigen Scheiß sie mit uns inszenieren. Wir folgen einer Treppe nach unten, die so eng ist und deren Decke so niedrig ist, dass ich mich an eine schmuddelige Alternative-Bar erinnere, die ich mal besucht habe. Nur dass keine Bandplakate und halb abgerissene Poster die Betonwände zieren, sondern dass alles sauber und aus edlem Holz gezimmert ist. Am Ende der Treppe wenden wir uns nach rechts, Olga öffnet eine Schwungtür mit Sichtluke. Jedes Mal, wenn wir einen neuen Raum betreten, spanne ich mich unbewusst an. Streng genommen könnte überall eine Falle zuschnappen … Vielleicht hätte Olga sich schon früher melden müssen und sie wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist … Als am Ende des Flurs eine massive Sicherheitstür auftaucht, verkrampft sich mein ganzer Körper. Darüber schwebt nämlich das Glubschauge einer Überwachungskamera. Ich gebe mir Mühe, so unauffällig wie möglich zu wirken und rechne insgeheim damit, dass im nächsten Moment irgendwo eine Alarmsirene zu heulen beginnt. Aber Olga trottet seelenruhig auf die Tür zu. Sie scheint sich mit ihrem Schicksal immerhin so weit abgefunden zu haben, dass sie mich nicht absichtlich boykottiert. Ich an ihrer Stelle wäre mit bezeichnenden Grimassen auf die Kamera zumarschiert – sofern sich so was Entwürdigendes nicht irgendwie hätte vermeiden lassen, versteht sich. Sie senkt den Kopf und sieht in einen Iris-Scanner, dann erst gleitet die Tür mit einem pneumatischen Säuseln vor uns auf. Dahinter ist es … anders. Als würden wir eine andere Welt betreten. Zum einen ist es dunkler. Leuchtstoffröhren an den Decken sind mit orangegelbem Papier umwickelt, sodass dem neuen Flur eine düstere, aber behaglich-warme Atmosphäre anhaftet. Die Wände sind mit schwarzem Stoff verkleidet wie mit Samt, der Boden mit einem dunklen Läufer ausgelegt. Die Türen, die ich sehe, könnten auch aus einem Science-Fiction-Film stammen. Sie scheinen stabil genug, um einer Granatenexplosion standzuhalten. Wobei ich noch nicht weiß, ob das nun gut oder schlecht für meinen Plan ist. „Sind wir bald da?“, frage ich leise, als die Tür hinter uns zugleitet. Keine Zeit mehr für allzu viel Vorsicht. Ich bin auf mindestens einem Überwachungsschirm zu sehen gewesen. „Es ist die die vorletzte Tür rechts“, sagt Olga. „Sie gehen vor. Flott.“ Sie nickt und stöckelt gehorsam los, sodass selbst der Teppich das Klacken ihrer Absätze nicht ganz schlucken kann. Das bringt mich auf die Idee, genau zu lauschen, ob ich hinter einer der Türen ein Geräusch höre. Vielleicht wird sich bald ein Sicherheitsbeamter auf mich stürzen, und das möchte ich dann doch lieber im Vorhinein wissen. Aber die Räume scheinen entweder schalldicht zu sein, oder sie sind ganz einfach leer. Vor der entsprechenden Tür bleiben wir stehen. „Sehen Sie zu, dass man uns rein lässt“, befehle ich. Olga klopft zaghaft und ich rolle die Augen. „Wollen Sie so knapp vor dem Ziel doch noch Blei schmecken?“ Ich richte wieder meine Waffe auf sie. Alles oder nichts. Sie schluckt und klopft energischer. Ich frage mich gerade, wie wir das Herein hören sollen, wenn die Tür wirklich gut isoliert ist – als jemand sie so ruckartig aufreißt, dass ich fast zu spät reagiere. „Zurück ins Zimmer“, sage ich und schwenke meine Waffe zu dem bulligen Mann. Er trägt einen Smoking und ist an einem Ohr verkabelt – genau so, wie ich mir einen bezahlten Leibwächter vorstelle. Ich positioniere mich so, dass ich ihn und Olga beide im Visier habe. „Zurück, na los!“ Der Mann starrt mich nur unverwandt an, hebt dann die Arme und geht rückwärts. Olga und ich folgen ihm. Ich bekomme den Eindruck von einem tiefen, aber niedrigen Raum, der wie für eine Videovorführung abgedunkelt ist, und von einem runden Konferenztisch in seiner Mitte. Mit einer Hand schließe ich die Tür hinter mir, mit der Schulter stoße ich Olga tiefer in das Zimmer hinein, da sie wie angewurzelt stehen geblieben ist. Ich spüre eine Bewegung in den Schatten in der Ecke des Raumes und fuchtle mit der Waffe in die Richtung. „Hände nach oben. Alle zum Tisch, wo ich euch sehen kann.“ Ein kurzer Blick über die Schulter sagt mir, dass die zweite Ecke unbewacht ist. Nur zwei Sicherheitsmänner sind hier. Sie gesellen sich zu dem ringförmigen Tisch. Mir läuft ein Schweißtropfen über die Wange. Verflucht, ich bin so weit gekommen … jetzt nur keinen Fehler machen! Am besten, ich erledige das schnell und gründlich, ehe sie Verstärkung kriegen. Würde mich nicht wundern, wenn die reichen Pinkel unter der Tischplatte Knöpfe für einen stillen Alarm haben. Und ein eigenes Armee-Bataillon, das zu ihrer Rettung eilen wird. Die reichen Pinkel – das sind sechs Männer mittleren bis grauen Alters, die in kostbaren Anzügen um den Tisch herumsitzen, und eine abschreckend aufgedonnerte Frau Ende vierzig in einem teuren Kostüm. Ein Glatzkopf mit goldenem Brillengestell scheint den Vorsitz zu haben – zumindest sieht er von seiner Warte aus am besten auf die Leinwand. Soweit mein erster Eindruck. Der zweite lässt mich die Sache ein wenig revidieren: Einer der Männer ist deutlich jünger, vielleicht um die dreißig. Erfolgreicher Jungunternehmer oder Millionärserbe, wahrscheinlich. „Es tut mir leid“, platzt Olga heraus. „Ich wurde entführt! Er hat mich einfach …“ „Nun, das ist nicht zu übersehen.“ Der Anzugträger mit der Goldbrille faltet die Hände. Er sieht nicht gerade eingeschüchtert aus. Das gefällt mir überhaupt nicht. Immerhin führt mein Eindringen bei ein paar anderen zu überraschten Reaktionen. „Wer ich bin, wissen Sie vermutlich“, sage ich anstelle einer Begrüßung. „Und wenn Sie nicht wissen, was ich will, dann fangen wir am besten mit einer kurzen Fragerunde an.“ Kapitel 12: „Wieso?“ -------------------- „Halten Sie es wirklich für eine gute Idee, eine Waffe auf uns zu richten?“, fragt der Vorsitzende ungerührt. „Natürlich. Ich befolge meine Chips. Ich habe die Frau entführt, die mir bei der Ziehung am nächsten stand. Und jetzt verhandle ich mit ihren Arbeitgebern.“ Der Jungspund an dem Tisch hat tatsächlich den Nerv, leise aufzulachen. Ungerührt fahre ich fort: „Und wenn als Nächstes die Guter-Junge-Masche kommt: Ja, das Ding ist geladen, und ja, ich habe schon einmal eines benutzt, um jemanden zu töten. Ich hoffe, das beantwortet dann auch gleich die Fragen, ob ich weiß was ich tue, und ob ich es ernst meine. Olga, gehen Sie hinter den Tisch. Die beiden Kraftprotze auch. Ihr braucht hier nicht Schild zu spielen.“ Die aufgetakelte Spielleiterin und die Sicherheitsmänner umrunden folgsam den Konferenztisch und erschließen mir damit eine freie Schusslinie zu jedem der sieben Sitzenden. „Also schön, was wollen Sie?“, fragt einer der Männer. Er klingt auch nicht ängstlich, sondern eher ungehalten. Aber so was habe ich schon kennen gelernt: Menschen mit zu viel Geld meinen oft, sie müssten vor nichts Angst haben. Wahrscheinlich, weil sie jede nicht allzu unmittelbare Gefahr einfach aufkaufen oder per Auftragsmörder beseitigen könnten. Dabei kann sie ein Sturz von einer Brücke genauso töten wie so etwas Winziges wie eine Pistolenkugel. „Ich habe überlegt, jemanden umzubringen, wie es mir mein anderer Chip vorschreibt“, lüge ich und gebe mich so lässig, wie man es von Sasuke Uchiha gewohnt sein kann. „Nur weiß ich aus Erfahrung, dass es eine Heidenarbeit ist, so etwas geheim zu halten, und dass die Polizei richtig lästig sein kann, wenn es um so was Großes wie Mord geht. Ich habe Besseres zu tun, als mich ewig lang mit denen herumzuschlagen und nebenbei Zauberer zu spielen, um eine Leiche verschwinden zu lassen. Noch dazu werde ich wohl keinen Heller mehr von euch dafür sehen, wenn ich nach der nächsten Ziehung noch wochenlang Stress deswegen habe. Ich würde es also bevorzugen, nur den Entführungs-Chip zu erledigen. Allerdings fürchte ich, dass ihr Kerle mir eine saftige Strafe aufbrummt, wenn ich den Töten-Chip nicht nehme und der dann gezogen wird. Darum will ich mich … absichern.“ „Inwiefern?“, fragt der jüngere Typ. Geschäftsmann, eindeutig. Das erkenne ich an seinem Tonfall. „Ich will Lösegeld für Olga. Und wenn euch die zu wenig wert ist, auch gleich für jeden anderen hier. Mein Chip verbietet mir nicht, wie ein ganz normaler Entführer Lösegeld zu verlangen. Und es sollte besser so viel sein, dass ich im Falle einer unglücklichen Ziehung immer noch ein Plus mache.“ Ich setze ein fieses Grinsen auf, was mir nicht schwer fällt. „Ein schlauer Zug, nicht?“ „Ein gewagter Zug“, korrigiert mich der Vorsitzende. „Wir haben hier allerdings kein Bargeld, wie Sie sich vielleicht denken können.“ „Dann überweist Sie mir was.“ Ich deute auf einen der Laptops, die auf dem Tisch stehen. „Das sollte doch wohl kein Problem sein. Sonst habt ihr das Problem, nicht ich.“ Sie beratschlagen sich mit Blicken. Selbst jetzt sind sie noch geizig. Ich hoffe, dass meine Scharade nicht allzu bald auffliegt, schließlich habe ich noch ein paar Fragen an sie. Aber ich finde, dass ich die Rolle des Kleingeists, der es nur auf Geld abgesehen hat, überzeugend spiele. Mit solchen Leuten können diese Typen besser umgehen als mit radikalen Spielverweigerern, denke ich. Es wird in ihrem Interesse sein, meine Geschichte zu glauben. Schließlich gibt der Glatzkopf dem Jungspund ein Zeichen, und der hantiert auf dem Notebook herum. „Schließen Sie es an den Beamer an“, verlange ich. „Ich will sehen, was er tut.“ Momentan ist dort ein Standbild aus irgendeinem Beweisvideo zu sehen, aber außer verwaschenen Farben und einem verwackelten Rücken kann ich nichts erkennen. „Und schneller“, sage ich. „Sobald nämlich die Tür hinter mir aufgeht, schieße ich, und ich fürchte, um Olga zu erwischen, muss ich euch erst alle durchlöchern.“ Ich werfe immer wieder rasche Blicke auf die Leinwand, um zu sehen, was das Geschäftsmännchen tut. Ansonsten versuche ich den Konferenztisch im Fokus zu behalten. Jeden, der sich über Gebühr bewegt, lasse ich in den Lauf meiner Bleischleuder sehen. Selbst Unterweltbosse benutzen gewöhnliche Online-Überweisungstools, wie es aussieht. Ich habe die Benutzeroberfläche schon einmal gesehen. Der Kerl loggt sich mit einem elendslangen PIN-Code ein und sieht mich dann fragend an, als er die Kontonummer für die Überweisung angeben soll. Ich nenne ihm gleich diejenige, die das Gremium mir zugewiesen hat. Mit einem grimmigen Lächeln sehe ich zu, wie er den Überweisungsauftrag abschickt. Im Grunde ist es mir sogar egal, ob sie den später wieder stornieren oder ob sein eigenes Konto vielleicht gar nicht gedeckt ist oder sonst was – und ich hoffe, sie glauben, dass ich einfach nicht so weit denke. „Gut“, sage ich und mime den Erleichterten, der eben eine Menge Geld gescheffelt hat. „Dann kommt Olga jetzt wieder mit mir. Ich nehme sie zur nächsten Ziehung mit, aber ich behalte sie darüber hinaus, ja? Also gebt am besten im Casino Anweisung, dass ich bewaffnet hinein darf, wenn ihr eure Mitarbeiterin nicht verlieren wollt.“ „Sie lehnen sich ziemlich weit aus dem Fenster“, stellt die Frau in der Runde fest. „Eben darum will ich nicht, dass ihr mich während der nächsten Ziehung abknallt. Alles, was danach kommt, werde ich auch schaukeln. Ich habe richtig viel Selbstvertrauen, wisst ihr?“ Ich bedeute Olga, näher zu kommen, ehe ich wieder sage: „Warte. Stopp.“ Das Gremium spannt sich kollektiv an, und ich tue es ihm gleich. Das eben war nur die Aufwärmphase. Das freundliche Guten-Tag-Sagen. Zeit für das Gespräch und dann den Abschied. „Da ist etwas, was ich schon immer wissen wollte“, sage ich. „Wieso zieht ihr Leute das eigentlich ab? Wo liegt für euch der Gewinn in der ganzen Sache? Ihr verpulvert Unmengen an Geld für Leute, die Hinweise darauf sammeln, dass ihr ungesetzliche Dinge von ihnen verlangt. Wieso?“ Ein versonnenes Lächeln huscht über das Gesicht des Glatzkopfes. Er stößt sich vom Tisch ab und rollt auf seinem Drehsessel ein wenig davon weg. Ich lasse ihn gewähren. Wenn er seine Erklärung so einleitet, ist er sicher wahnsinnig stolz auf das, was er mir gleich erzählen wird. „Es ist ein Jammer, dass wir das so selten einem Außenstehenden gegenüber erwähnen können“, bestätigt er meine Vermutung. „Das Gremium profitiert tatsächlich vom Schicksalslos. Zum einen geht es natürlich um den Nervenkitzel. Und finden Sie nicht auch, dass die Macht, die wir über die Teilnehmer ausüben, etwas … Berauschendes hat?“ „Kann ich mir gut vorstellen“, sage ich diplomatisch. „Ich fühle mich gerade auch ziemlich mächtig, und das tut gut.“ „Wir geben Aufgaben vor – nein, Hinweise auf die Aufgaben. Und wir sehen, welche Mühe sich die Teilnehmer geben, sie für uns zu erfüllen. Wir sehen das Herzblut, das in die Beweisvideos fließt, wir sehen, wie sehr sie uns zufriedenzustellen versuchen. Manchmal ist es so offensichtlich, dass wir hier laut darüber lachen müssen.“ „Du hättest mal das Video sehen sollen, das wir uns angeschaut haben, kurz bevor du hereingeplatzt bist“, erklärt der Jungspund leger. „Es gibt keine bessere Unterhaltung, als diese Beweismittel anzusehen und zu wissen, dass sie echt sind und voller Angst und Hoffnung aufgenommen.“ Der Glatzkopf leckt sich auf eine ekelerregende Art über die wulstigen Lippen. „Aber ich schätze, das versteht nur jemand, dem ähnliche Ausschweifungen vergönnt sind wie uns.“ „Ich gebe mein Bestes. Das ist nicht der ganze Grund, oder?“ „Durchaus nicht.“ Ich meine, eine Spur seines Speichels nun auf seinen breit lächelnden Lippen glänzen zu sehen, aber das wegen dem gedimmten Licht muss das meine Einbildung sein. „Wir lassen die Chips und Karten natürlich nicht einfach so herstellen. Jede davon dient einem gewissen Zweck – oder könnte ihm dienen, wenn sie das Glück hat, gezogen zu werden.“ „Ein bisschen weniger kryptisch, bitte – und wenn wir schon dabei sind, ohne viel Gerede. Ich habe heute noch was vor.“ Der Vorsitzende lacht. „Wie Sie wünschen. Sie haben hier die Waffe in der Hand. Darf ich bitten?“ Er nickt dem jungen Mann zu, der immer noch seinen Laptop in Betrieb hat. Der zuckte mit den Achseln und man sieht ihn in einem Cloud-Speicher-Ordner wühlen. Sicher irgendeine Gremium-interne Cloud, andernfalls wäre das ziemlich leichtsinnig. Der Mann folgt einem Link zu einer Online-Zeitschrift. „Hier. Einer unserer neuesten Glückstreffer.“ „Die Kurzfassung. Ich bin nicht hier, um Zeitung zu lesen.“ Der Jüngling verzieht das Gesicht. „Ein Punk-Lokal am Stadtrand. Ein Sammelpunkt für Drogendealer und Rechtsradikale. Es hat vor einiger Zeit unser Interesse geweckt. Einige unserer Unternehmungen überschneiden sich mit den Geschäften, die in dieser Bar abgewickelt werden. Sponsoren aus Drogenschmugglerringen wollten diese Bar geschlossen sehen. Und dann gibt es noch andere, großzügige Sponsoren, deren Ideale es entweder beinhalten, Rechtsextremismus so gut es geht zu bekämpfen, oder die sich im Gegenteil erhoffen, die rechte Szene durch einige Verhaftungen aufstacheln und, wie sie es ausdrücken, aus ihrer momentanen Trägheit wecken zu können. Auch sie wollten, dass die Bar geschlossen wird. Also haben wir sie geschlossen. Wir haben unsere Spieler sozusagen undercover eingeschleust, um Beweise zu sammeln. Handfeste Beweise, die wir gerade so weit bearbeitet haben, damit die Spieler selbst unkenntlich bleiben.“ „Ihr habt die Spieler eingeschleust? Direkt in dieses Lokal?“ Ich erinnere mich, dass Ino etwas von einem Club am Stadtrand erwähnt hat. War das vielleicht sogar derselbe? „Natürlich nicht offensichtlich. Wo bliebe da der Spaß? Außerdem wäre es nicht gut, wenn unsere wahren Absichten durchsickern, meinst du nicht? Aber sagen wir es so, wenn jemand etwas gegen Rechtsextremismus tun will und wir etliche Chips herstellen, mit denen die Spieler den rechten Flügel als Kellner oder DJs infiltrieren sollen, dann finden unsere Spieler diese Clubs für uns. Und bringen auch gleich die Beweise mit. Das Geld, das es als Belohnung gibt, deckt sich ungefähr mit den Gewinnen, die wir uns von der Schließung des Etablissements erwarten. Zusätzlich besteht die fünfzigprozentige Chance, dass die Spieler dafür gar nichts bekommen. Bei der Auslosung des Gewinnerchips gehen wir tatsächlich grundehrlich vor.“ Der Typ grinst breit. „Und zu guter Letzt darf man natürlich auch den Unterhaltungsfaktor nicht außer Acht lassen.“ „So läuft es bei den meisten unserer Aufgaben ab“, erklärt der Vorsitzende. „Wir wollen, dass eine bestimmte Aktion getan wird, und hoffen, dass die Spieler sie in unserem Sinne umsetzen. Die meisten Chips sind natürlich, sozusagen, Blindgänger. Aber das macht ein Los doch erst spannend, nicht?“ Der Junge grinst. „Wenn eine Partei der Opposition Wählerstimmen braucht, schüren wir ein wenig Furcht und lassen die Spieler in Geisterkostümen auf die Öffentlichkeit los, damit sie auf ihre nächsten Wahlplakate schreiben können: Stoppt die Geisterüberfälle. Wenn ein einfacher Hausbesitzer am Stadtrand die Pläne eines Wohnbaukonzerns stört, werfen wir Erschrecke-deinen-Nachbarn-Chips in denen Pot und hoffen, dass er zumindest davon hört und am liebsten fortziehen möchte. Wenn wir konkreter sein müssen, haben wir die Regel-Karten. Du siehst, es ist ein wunderbares Spiel.“ „Ein Spiel mit dem Feuer, während wir selbst feuerfeste Kleidung tragen“, versucht einer der anderen Kerle den Philosophen raushängen zu lassen. „Eine …“, fast hätte ich Freundin gesagt, „Spielerin aus meiner Runde hatte die Töte-Karte und sollte sich an einen Rockstar heranmachen.“ „Du meinst diesen El Riviera?“ Der Jungspund grinste, als hätte er schon lange vor jemandem mit diesem genialen Schachzug prahlen wollen. „Ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche Ziehung! Du musst wissen, er war ein Schicksalslos-Spieler wie du, den wir bedauerlicherweise loswerden mussten. Natürlich hätten wir ihn auch bei anderen Gelegenheiten töten können. Die Kollegen seiner Runde zum Beispiel hätten eines Tages eine Karte erhalten, wonach wir ihr Opfer bestimmen. Oder sie müssten generell einen aus ihrer Spielrunde als Opfer wählen. Am saubersten ist die Sache jedoch, wenn sie so gut wie möglich verschleiert wird.“ „Riviera war so ziemlich der einzige Rockstar, der diese Woche hier gastiert hat und irgendwie populär genug war“, sage ich. „Darum ist es uns gelungen, ihn auszuschalten“, bestätigt der Vorsitzende zufrieden. Falsch, denke ich. Ich habe ihn ausgeschaltet. „Dieser Mann war mit seinem Konto arg im Minus“, erklärt ein anderer Anzugträger. „Natürlich musste er bestraft werden – und am besten nicht direkt von uns.“ „Verstehe“, sage ich. „Er hat euch immer noch brav gedient, ja? Er hat nur immer wieder den falschen Chip abgearbeitet, aber eure Pläne hat er trotzdem gefördert.“ Schließlich hat seine Beweise-Box einen beachtlichen Inhalt gehabt. „Und das, ohne dass wir ihn bezahlen mussten“, gluckst der Vorsitzende vergnügt. Ich habe ja schon eine Menge kranker Schweine gesehen, aber diese Leute hier … Nun, sie sind in etwa so, wie Sakura sie mir immer beschrieben hat. „Letztens haben meine Mitspieler auch einen ihrer Freund umgebracht“, sage ich, weil sie es sicher sowieso schon bei ihrem Screening gesehen haben. „Shikamaru Nara. War das auch ein Blindgänger, oder ein Volltreffer?“ „Denkt dieser Bursche, dass wir uns noch an alles erinnern, was bei den letzten Runden geschehen ist?“, fragt die Frau sofort naserümpfend, ehe sonst einer der Anwesenden auch nur den Mund aufmachen kann. Sie lässt es klingen, als könnte sie mich nicht direkt ansprechen. Ich lasse den Lauf der Waffe in ihre Richtung schauen, bis sie mich ansieht und dann den Blick senkt. „Ich denke mal, dass er euch auf der Spur war. Bringt ihr solche Leute auch mit euren Chips um die Ecke?“, frage ich. „Aber natürlich“, gibt der Vorsitzende freimütig zu. Ich werfe einen Blick zu Olga. Sie schaut immer noch äußerst unglücklich drein, aber es sieht so aus, als wolle sie mit den ihr am nächsten Sitzenden Kontakt aufnehmen, denn sie bewegt sich mit kaum wahrnehmbaren Schritten näher an die Stühlen heran. Auch die Security-Männer stehen nun weiter auseinander als zuvor, als hätten sie eine Art Zangenbewegung im Sinn. Ich muss mich beeilen. Aber ich bin sowieso fertig. „Dann noch eine letzte Frage“, entscheide ich mich für eine spontane Lüge zum Abschluss. „Wenn ich erst genug Kohle habe, kann ich dann dem Gremium beitreten und auch selbst mal die Regeln bestimmen, statt sie befolgen zu müssen?“ Der Vorsitzende lässt eine Augenbraue hochwandern, der Jüngling grinst, aber irgendein anderer sagt sofort empört: „Das ist eine exklusive Runde!“ Ich verkneife mir das „Auch, wenn ein Platz frei wird?“ und eröffne stattdessen sofort das Feuer.   Die angespannte Atmosphäre in dem Raum zerspringt in tausend Scherben, zerschmettert von meinen Kugeln, den erschrockenen Rufen des Gremiums und dem flackernden Mündungsfeuer meiner MP. Ich ziele zunächst auf die Securitys. Den einen erwische ich kalt und mähe ihn regelrecht um. Der andere duckt sich unter die Tafelrunde der reichen Säcke und eilt gebückt um den Tisch herum, sodass ich ihn kaum erwischen kann. Mein Kugelhagel folgt seinem Rücken, der wie eine Römische Galeere durch die Dunkelheit pflügt … Wobei, für mich ist es wohl eher die Flosse eines Haifischs, wenn wir schon bei Meerestieren sind. Der Sprühregen aus tödlichen Projektilen trifft die Tischplatte, reißt Holzspäne heraus und lässt Gläser zerspringen. Ein Fettklops von Gremium-Mitglied sitzt in der Schussbahn. Er zuckt zusammen wie ein Sandsack, als ich quasi als Kollateralschaden drei blutige Löcher in seinen Wanst schieße. Die anderen sind entweder aufgesprungen – die dämlichen – oder haben sich zu Boden geworfen – die geistesgegenwärtigeren. Der Sicherheitsmann hat das Ende des Tisches erreicht. Eine Pistole hat er schon mal nicht, sonst hätte er längst aus der Deckung heraus gefeuert. Stattdessen schleudert er mir einen Gummiknüppel entgegen. Und er zielt so gut, dass ich tatsächlich ausweichen muss. Diese eine Sekunde, die ich abgelenkt bin, nützt er eiskalt aus. Er wuchtet seinen massigen Körper mit unerwarteter Behändigkeit auf die Tischplatte, stößt sich ab und springt mich an wie ein Raubtier. Ich reiße den Lauf wieder in seine Richtung, betätige den Abzug und lasse die Automatik den Rest erledigen. Die Kugeln fordern tödlichen Tribut. Ich treffe ihn mehrmals kritisch, aber er prallt dennoch gegen mich und reißt mich zu Boden. Es fühlt sich an, als wäre ein ganzer Müllcontainer auf mich gefallen. Stöhnend wälze ich mich unter dem Mann hervor, der keine Regung mehr zeigt. Ich taste nach meiner Waffe, die gerade außerhalb meiner Reichweite liegt. Die Gremium-Mitglieder rennen zur Tür, versuchen, rechts und links von mir vorbeizukommen. Mit zusammengebissenen Zähnen setze ich all meine Kräfte frei und stoße den Sicherheitsmann von mir. Ich habe erst einen von denen erwischt … Ich werde sie nicht entkommen lassen! Es hängt viel zu viel davon ab! Diese Kerle haben meine Freunde in ein krankes Spiel voller Selbstmordfantasien, Drogen und gefährlicher Sexspielchen getrieben. Ich werde sicherstellen, dass das ein für alle Mal ein Ende hat! Ich bekomme fast den Lauf der MP zu fassen – doch der junge Typ aus dem Gremium ist schneller. Er schnappt sich das Ding, richtet mein eigenes Gewehr auf mich, noch ehe ich mich ganz aufgerichtet habe. Sein überhebliches Grinsen kann er sich wohl nicht verkneifen. Und genau das ist es, was ihn den Kragen kostet. Kerle wie er können es natürlich nicht lassen, zu jeder Gelegenheit ihre Überlegenheit zu demonstrieren. So bedroht er mich einfach nur mit der MP, drückt aber nicht ab. Dumm, wenn man nur eine Armeslänge davon entfernt ist, seine Überlegenheit wieder einzubüßen. Ich schmettere ihm die Faust ins Gesicht. Eine paar Schüsse lösen sich und ich fühle einen brennenden Schmerz in der Schulter, aber ich achte kaum darauf. Ich entwinde seinen ungeübten Fingern die Waffe, schlage ihn mit dem Lauf endgültig zu Boden und schieße erst auf ihn, dann auf die anderen Gremium-Mitglieder. Die ersten erreichen jetzt erst die Tür – sie haben sich in ihrer Panik wohl gegenseitig behindert. Diese Kerle sind es nicht gewohnt, selbst ins Kreuzfeuer zu kommen. Gangsterbosse mit weißen Westen, die sich plötzlich selbst mal die Hände schmutzig machen müssten, um zu überleben. Meine Kugeln strecken einen oder zwei von hinten nieder. Die anderen greifen nach der Klinke – und rennen prompt gegen die Tür, als diese von außen aufgestoßen wird. In dem Gerangel fällt noch jemand meinen Kugeln zum Opfer und krümmt sich. Drei weitere Sicherheitsmänner, diesmal schwerer bewaffnete, stürmen in den Raum. Den einen erwische ich mitsamt den Gremium-Mitgliedern, einen zweiten nur knapp später, da er es nicht wagt, an seinen Arbeitgebern vorbeizuschießen. Der dritte schließlich trifft mich. Ich brülle auf, als seine Pistolenkugeln meine Linke und meinen Unterarm zerfetzen. Meine Waffe sackt hinunter, als ich sie plötzlich nur mehr mit einer Hand halten kann. Ich werfe mich zur Seite, ehe der Kerl erneut abdrücken kann. Es ist ein Glücksspiel bis zum Schluss. Der Sicherheitsmann stolpert über eine am Boden liegende Leiche. Ich beiße die Zähne zusammen, bringe die Waffe einhändig wieder auf Kurs. Meine linke Hand ist nur mehr ein zerrissenes Wrack. Mein Ziel ist derart schlecht, dass ich den Typen nur am Oberschenkel treffe. Er geht in die Knie. Ich sehe, wie das letzte Gremium-Mitglied – ausgerechnet der Glatzkopf mit der Goldbrille! – es durch die Tür schafft. Mit einem wütenden Knurren stürme ich los. Der Sicherheitsmann vor mir schießt sein verbleibendes Magazin auf mich, und er ist gut ausgebildet. Ich fühle eine Kugel durch meine Kniescheibe schlagen, eine weitere dringt ohne Widerstand in meinen Bauchraum ein. Mein Bein knickt unter mir ein. Ich werde von meinem eigenen Schwung auf den Boden geschleudert und überschlage mich. Im nächsten Moment ist der Sicherheitsmann genau vor mir, er beugt sich über mich, bringt die Pistole beidhändig in Position, um es zu beenden – ich schmettere ihm den Lauf meiner Waffe gegen die Schläfe. Er taumelt rückwärts, stolpert erneut über irgendetwas und stürzt ebenfalls. Dann setzt der Schmerz in meinem Bauch ein. Ich habe noch nie so geschrien wie in diesem Moment. Bilder blitzen vor meinem inneren Auge auf, Bilder von früher, Bilder aus der Zeit, als ich mich noch nicht in einer Gangster-Vereinigung zu behaupten versucht habe. Und Sakuras Gesicht. Das sehe ich sogar am öftesten. Oh nein, nicht mit mir! Einen Sasuke Uchiha kriegt man nicht klein, nur weil man ihm in den Bauch schießt! Das ist kein unmittelbar lebensnotwendiges Organ, sage ich mir, ich kann es noch schaffen, und überhaupt würde ich selbst als halbe Leiche nicht aufgeben! Ich robbe mich durch den Spalt, den die Tür noch offen steht, strecke mich … Der Schmerz in meinem Bauchraum ist so grausam, dass ich meine, gleich das Bewusstsein verlieren zu müssen. Da läuft der Kerl, rennt durch den Flur auf die Spezialtür zu, dass seine Fettreifen schwabbeln … Ich ziehe die MP über den Boden, bis sie auf ihn zeigt. Meine linke Hand hat mittlerweile kein Gefühl mehr, aber die Richtung stimmt nun … Ich überlege mir, das ich sicher nicht mehr viele Kugeln habe, und drücke ab. Der Rückstoß ist minimal, aber mein Schmerzensschrei ist so laut, dass er das Echo der Schüsse zu übertönten scheint. Der Gremium-Vorsitzende stolpert mitten im Schritt, als eine meiner Kugeln sein Bein erwischt. Ich schreie weiter und verballere mein ganzes Magazin auf den Fleischberg vor der Sicherheitstür. Dann engleitet mir die Waffe aus der kraftlosen Hand. Ich wälze mich auf den Rücken. In meinem Mund ist mittlerweile so viel Blut, dass ich darin zu ertrinken glaube. Mein Lachen kommt als nasses Blubbern über meine Lippen. Ich habe es geschafft. Sasuke Uchiha hat eine letzte Wahnsinnstat begangen – die größte in seinem Leben, und zum ersten Mal ist sie nicht von seinen eigenen Instinkten geleitet gewesen, sondern von der ehrlichen Absicht, jemand anderen aus der Scheiße zu ziehen. Die Flecken der Ohnmacht, die vor meinen Augen tanzen, erschweren den Blick auf die Gestalt, die sich vor mir aufbaut. Der Sicherheitsmann, dem ich eins über den Schädel gezogen habe. Ein Klicken verrät mir, dass eben ein neues Magazin in seiner Waffe eingerastet ist. Ich habe schon relativ früh festgestellt, dass es auch oder gerade in der Unterwelt relativ einfach ist, jemanden auf radikalste Art und Weise aus dem Weg zu räumen. Das Problem ist, dass sich das meistens zu einem reinen Himmelfahrtskommando entwickelt. Wie auch in diesem Fall. Das war es dann also. Ich hoffe in diesem Moment nur, dass Sakura mich versteht. Ich lache, würgend und hustend, und breite einladend die Arme aus. Epilog: „Ich weiß mittlerweile, dass Tränen keine Schwäche sind.“ ----------------------------------------------------------------- Man kennt es aus Filmen und dergleichen, dass es bei einer Beerdigung immer regnet. Alles ist so traurig, dass sogar der Himmel weint. Heute ist das anders. Das heißt – vielleicht wäre es Regen gewesen, aber eine neue Kaltfront hat unsere Stadt erwischt, und darum fallen dicke, weiche Flocken vom Himmel. Der Friedhof ist in eine beruhigende Schneedecke gehüllt, der Schneefall schluckt all die Störgeräusche, derer man sich erst bewusst wird, wenn sie fehlen: das Brummen der Autos auf den nahen Straßen, die Schritte von Passanten auf den Bürgersteigen, ihre Stimmen und die leise Musik, die dann und wann aus dem Fenster eines Wohnhauses ertönt. Hier und heute hören wir nur den Priester die letzten Worte sagen, als der Sarg in die Grube hinabgelassen wird und wir alle jeder eine Schaufel voll Erde darauf streuen dürfen. Nachdem ich dran war, stelle ich mich neben Ino, schlage mir meinen Kragen hoch und zittere. Ich spähe hinüber zu den anderen. Sie alle tragen ernste Mienen zur Schau. Hinatas Mütze ist voller Schneeflocken – fast ist es, als wollte der Himmel uns nicht erlauben, heute in Trauer Abschied zu nehmen. Unsere schwarze Kleidung wird zunehmend weißer, freundlicher. Die von Ino allerdings nicht. Sie wird von einem Regenschirm beschützt, den Deidara hält – noch eine Geste, die eher zu einem Regentag gepasst hätte. In welcher Beziehung die beiden zueinander stehen, habe ich immer noch nicht durchschaut. Sie hat mir gegenüber mal fallen gelassen, dass sie einen Freund für besondere Stunden habe, wie sie sich ausgedrückt hat. Als uns Sasukes Aktion zu Ohren gekommen ist und sie herausgefunden hat, dass Deidara es war, der ihm dabei geholfen hat, ist mir klar geworden, wer dieser Freund für besondere Stunden ist. Ino war nämlich fuchsteufelswild, hat ihn direkt angerufen und ihm Vorwürfe gemacht. Dass er Sasuke bei dieser selbstmörderischen Tat unterstützt hat, schien nicht in ihren Kopf zu wollen, und sie hat ihn angeherrscht, sich nie wieder bei ihr zu melden; es sei aus, ein für alle Mal – das volle Programm. Umso erstaunlicher ist es, dass er heute hier ist und ihr offenbar doch Trost spendet. Vielleicht hat sich zwischen ihnen noch einmal etwas geändert. Deidara hätte ja gar keinen Grund, hier aufzukreuzen. Schließlich kennt er denjenigen, der heute beerdigt wird, gar nicht. Die Gerichtsmedizin wollte uns Shikamaru nicht eher zurückgeben. Es hat sich immerhin um einen eher rätselhaften Todesfall gehandelt, und natürlich hat man das Gift in seinem Körper nachgewiesen. Erst heute ist es möglich gewesen, ihn zu beerdigen. Die engen Angehörigen treffen sich jetzt noch zum Leichenschmaus. Ich stehe eine Weile mit meinen Freunden auf dem Friedhof herum. Die Kälte beißt uns in die Glieder, aber ich glaube, wir finden alle, dass wir es nicht anders verdient haben.  „Was habt ihr … heute noch vor?“, fragt Kiba, wohl nur, damit überhaupt irgendjemand etwas sagt. Deidara hält sich diskret im Hintergrund. Er geht nicht so weit, sich halb den Arm auszurenken, um Ino weiterhin vor dem Schneefall zu schützen, die auch in unserem Kreis steht. Generell wirkt er eher gelangweilt. Aber über ihn und seine Gründe möchte ich nicht länger nachdenken. „Ich werde nach Sasuke sehen“, erkläre ich. „Schon wieder?“, fragt Tenten. Ich nicke. „Ich weiß nicht, wie oft wir noch Gelegenheit dazu haben, also …“, murmele ich kleinlaut. „Du hat recht. Ich komm mit“, sagt Naruto. Er war auch die letzten beiden Male mit von der Partie. „Naruto“, ermahnt ihn Neji. „Lass den beiden auch mal Zeit für sich.“ Naruto mustert mich lange, ehe er nickt. „Okay. Ich meine, ich verstehe das. Ich meine …“ „Danke, Naruto“, sage ich. Es ist merkwürdig, plötzlich wieder ein Leben ohne das Schicksalslos zu führen. Auch wenn es noch nicht lange her ist, dass das Gremium ausgelöscht wurde. Ich kann immer noch nicht sagen, ob wir uns nun freier fühlen als vorher. Sollten wir vielleicht, zumindest einstweilen noch. Vielleicht brauchen wir einfach noch mehr Zeit, um all die Geschehnisse zu realisieren. Kleine Änderungen in unserem Freundeskreis hat es jedenfalls schon gegeben – aber nach allem, was in den letzten Tagen geballt auf uns zugekommen ist, wäre das vielleicht so oder so geschehen. Chouji ist zwar immer noch ziemlich am Boden zerstört, und über Ino habe ich lange erfolglos nachgegrübelt. Man bekommt nicht aus ihr heraus, was sie nun mit sich anfangen will. Vielleicht weiß sie es selbst nicht. Aber Neji, Tenten und Lee haben sich angeblich in der letzten Zeit öfters getroffen. Nicht so oft wie früher, vor dem Spiel, aber auf jeden Fall öfter als währenddessen. Es freut mich irgendwie, dass sie wieder zusammenwachsen. Auch wenn sie vielleicht nichts anderes tun, als sich gegenseitig anzuschweigen. Naruto ist ebenfalls ziemlich geknickt. Er bemüht sich, froh durchs Leben zu gehen, das weiß ich. Und ich weiß, dass es auch Hinata mitnimmt, ihn so sehr leiden zu sehen. Wären wir nicht alle relativ abgehärtet gewesen, wären wir nach den jüngsten Vorkommnissen vielleicht wahnsinnig geworden vor Kummer. So gesehen ist es gut, dass unser Blut so kalt geworden ist, selbst das von Naruto. Trotzdem war er vielleicht immer der ehrlichste Spieler unter uns. Derjenige, den das, was er getan hat, am meisten bedrückt hat. Ich schäme mich, dass ich das erst jetzt bemerke, und bin umso froher, dass das Spiel nun ein Ende hat. Kiba gibt sich alle Mühe, das Geschehene zu verdrängen, das merkt man. Wir alle haben noch nie so viele Einladungen zu diversen Events, Kinobesuchen, Bowlingbahnen und anderen Freizeitaktivitäten von ihm bekommen wie in den letzten Tagen; auch zu Sachen, die er eigentlich nicht mag oder noch nie ausprobiert hat. Er versucht sich abzulenken und uns ebenfalls zu beschäftigen, damit wir nicht gänzlich in unserem Tief versinken. Ich glaube, er schämt sich dafür, dass er anfangs so begeistert von dem Schicksalslos war. Er ist es vor drei Jahren auch gewesen, der bei einem Spezial-Event im Casino den Joker gezogen hat – kein Hauptgewinn, aber ein stummes Angebot in einer Ecke, beim Schicksalslos mitzumachen und ein paar Freunde mitzubringen. Ich glaube aber, dass ihm niemand deswegen böse ist oder es je war. Es hätte jeden von uns treffen können. Und nun hat der ganze Spuk ein Ende. Dank Sasuke. Der dafür wahrscheinlich mehr geopfert hat als wir in all den Jahren. Diese Gedanken kreisen mal wieder in meinem Kopf, während ich allein zum Krankenhaus fahre. Sasuke hat ein Einzelzimmer. In dem Flur, in dem er liegt, hält eine Polizistin Wache. Ihr Kollege behält den Aufenthaltsraum im Auge. Ich nicke der Frau zu, die mich mittlerweile kennt. Dann betrete ich das Zimmer. Das Fenster steht offen, kalte Winterluft erfüllt den Raum. In einem billigen Film hätte die Besucherin das Bett jetzt sicher leer vorgefunden, der bewachte Kranke geflohen, auf Nimmerwiedersehen im Untergrund abgetaucht. Aber abgesehen davon, dass das hier der sechzehnte Stock ist, ist Sasuke zu einer Flucht gar nicht in der Lage. Die beiden Polizisten sind auch eher pro forma hier, und jeder weiß das. Schließlich ist Sasuke nur um ein Haar am Jenseits vorbeigekratzt. Er hat eine üble Bauchwunde und eine Serie kleiner Verletzungen davongetragen. Man hat ihn zusammengeflickt und er ist hinterher nicht mal lange auf der Intensivstation gewesen, war auch recht bald wieder ansprechbar, aber trotzdem täuscht das nicht darüber hinweg, wie schlimm man ihn zugerichtet hat. Es wird noch eine ganze Weile dauern, ehe er das Krankenhaus verlassen kann. Er hat uns bereits erzählt, was sich alles dort im Konferenzraum des Gremiums zugetragen hat. Er hat auch berichtet, dass es ironischerweise Olga gewesen ist, die ihm das Leben gerettet hat. Sasuke hat uns gestanden, dass er sie völlig vergessen hat, als er die Gremium-Mitglieder niedergeschossen hat. Sie dürfte sich hinter dem Tisch zusammengekauert haben, bis fast alles vorbei war. Dann hat sie sich die Waffe eines toten Sicherheitsmannes geschnappt und den Mann erschossen, der eben Sasuke hat töten wollen. Wir haben Olga wohl immer unterschätzt. Sie hat auf mich stets wie eine aufgetakelte Tusse gewirkt, die keinen Schimmer davon hat, was das Gremium tut und wie ungesetzlich das alles ist. Aber dort unten in dem Kellerraum scheint sie einen Entschluss gefasst zu haben. Sie hat Sasuke verschont und ihm stattdessen gedroht, sie habe noch andere mächtige Freunde und würde sich an ihm rächen, wenn er irgendetwas über ihre Person erwähnte. Das hat er natürlich trotzdem getan, erst uns und dann den Kommissaren gegenüber, die ihn verhört haben. Olga hat es geschafft, einige Konten des Gremiums zu plündern und sich ins Ausland abzusetzen. Die Summe, die sie erbeutet hat, ermöglicht ihr wahrscheinlich einen Urlaub auf Lebenszeit auf Hawaii. Vielleicht hat sie sogar Beweise von den Computern des Gremiums gelöscht – die Kommissare haben sich auffallend bedeckt gehalten, was unser aller Straftaten angeht. Ganz gewiss ist es ebenfalls Olga gewesen, die als anonyme Anruferin die Polizei verständigt hat. Man vermutet, sie hat Sasuke am Leben gelassen, weil er als Sündenbock herhalten sollte. Er hat das Gremium getötet, und als einziger Überlebender des Massakers kommt das viel deutlicher heraus, als wenn er ebenfalls gestorben wäre. Außerdem hätte ein überlebender Sicherheitsmann möglicherweise weitere Untermänner des Gremiums verständigt. Die Sache wäre vielleicht gar nie aufgeflogen, andere Gangster hätten die Plätze im Gremium übernommen, ohne dass die Polizei eingeschaltet worden wäre. Sasuke hat so etwas Ähnliches bei der Bande erlebt, der er sich damals selbst angeschlossen hat. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte man Olga vielleicht für ihre erzwungene Mittäterschaft bei Sasukes Coup belobigt. Oder man hätte sie im Gegenteil als Verräterin abgestempelt oder als Mitarbeiterin des alten Gremiums gelyncht. Dieses Risiko hat sie nicht eingehen wollen. Sasuke hat dann auch gemeint, er habe den Verdacht, dass das Gremium Olga ebenso erpresst hat wie uns alle. Dass man sie quasi zwangsverpflichtet hat, die Spielrunden zu leiten. Das ist nur eine Vermutung, aber vielleicht ist etwas Wahres dran. Ihr ist es jedenfalls zu verdanken, dass Sasuke jetzt hier vor mir liegt. Unter polizeilicher Bewachung, mit so vielen Bandagen um den Leib, dass er wie eine halbe Mumie wirkt, und sichtlich erschöpft – aber am Leben. „Hi“, sagte ich. „Hallo.“ Seine Stimme klingt immer ein wenig gepresst, wenn er spricht. Die Schmerzmittel können die Wunde in seinem Bauchraum nicht völlig betäuben. Ich setze mich auf den Stuhl neben seinem Bett. „Ich komme gerade von Shikamarus Begräbnis“, erzähle ich. „Verstehe. Waren alle da?“ „Ja. Ich hab auch in deinem Namen Beileid gewünscht.“ Er schnaubt. So sehr er äußerlich verwundet worden ist, so sehr ist er im Inneren noch derselbe. „Weißt du schon, wann du … rausgelassen wirst?“ „Du meinst, wann sie mich aufstehen lassen und mich stattdessen in den Knast stecken?“ Das habe ich nicht sagen wollen, aber ich habe es gedacht. Der Knoten in meinem Hals schmerzt furchtbar. „Keine Ahnung. Sie wollen sich nicht festlegen. Können sie wahrscheinlich auch nicht.“ „Aber sie behandeln dich gut, oder?“ Die Ärzte und Schwestern, die die Wahrheit hinter alledem nicht kennen, halten ihn vielleicht für einen gewissenlosen Massenmörder. Er zuckt mit den Schultern, was ihm ebenfalls Schmerzen zu bereiten scheint. „Keine Ahnung“, erklärt er mit einem schiefen Grinsen. „Ich war selten in einem Krankenhaus, also kenne ich den Unterschied nicht.“ „Wenn du irgendwie schlecht behandelt wirst, dann …“ „Stopp. Du bist nicht meine Aufpasserin, Sakura.“ „Leider.“ Plötzlich treten mir Tränen in die Augen. „Sonst hätte ich dich das nie tun lassen.“ Wieder ein Achselzucken. „Tränen stehen dir nicht, Sakura“, meint er und wendet den Blick zum Fenster. Ich wische mir hastig über die Augen. „Ich weiß mittlerweile, dass Tränen keine Schwäche sind, mein lieber Sasuke. Vielleicht lernst du das auch irgendwann.“ Generell habe ich in den letzten Tagen – seit Shikamarus Tod und Sasukes Beinahe-Ableben – ausreichend Gelegenheit gehabt, über solche Dinge nachzudenken. Dass nämlich das, was ich immer für Schwäche gehalten habe, gar nicht unbedingt Schwäche sein muss. Dass meine Einstellung sich im Laufe der Jahre irgendwie in eine Richtung entwickelt hat, die nicht unbedingt viel mit der Wahrheit zu tun hat – beeinflusst wahrscheinlich von dem Sasuke von früher, den unnahbaren, coolen, unerreichbaren Mädchenschwarm. Vielleicht denke ich mir aber auch nur, was für eine schöne Ironie es doch wäre, wenn derselbe Sasuke mich jetzt abermals zum Umdenken gebracht hätte. Jedenfalls bin ich mir momentan gar nicht mehr sicher, ob stark zu sein wirklich bedeutet, einfach ohne mit der Wimper zu zucken alles zu ertragen und Verbrechen zu begehen. Ob nicht eher jene Leute die Starken sind, die genau unterscheiden zwischen Dingen, die sie mit gutem Gewissen tun können, und solchen, die einfach zu gefährlich sind. Ob es nicht mutiger gewesen wäre, sich dem Spiel zu enthalten, statt sich vom Geld und der Angst vor einem Vergeltungsschlag des Gremiums zu beugen. „Ich habe mich entschieden, Sasuke“, sage ich. „Ich gehe mit der Sache zur Polizei. Spätestens, wenn du ins Gefängnis gehst, stelle ich mich auch.“ „Bist du sicher, dass das klug ist?“ „Nichts, was ich noch machen kann, ist klug oder dumm“, sage ich. „Es sind einfach Entscheidungen, die ich treffen muss. Die ich treffen will. Es ist nicht gerecht, dass du jetzt alles ausbaden musst, was wir verbrochen haben.“ „Du hast niemanden umgebracht, Sakura. Ich schon. Einen Haufen Leute. Das ist eine Tatsache. Riviera kannst du getrost auch dazu zählen.“ Ich verrate ihm nicht, dass ich nur noch darauf warte, bis die Ermittler mich darauf ansprechen. Ich habe vor, diesen einen Mord auf mich zu nehmen, um Sasukes Last zu vermindern – auch wenn er wahrscheinlich sagen würde, dass das dämlich sei und ohnehin keinen Unterschied mache. Aber ich habe das Gefühl, dass ich es tun muss. Das ist auch eine Art von Stärke, glaube ich. Sasuke wird bestimmt für sehr lange Zeit ins Gefängnis wandern. Er hat zugegeben, verschiedene Größen aus der Geschäftswelt erschossen zu haben. Einen Grund hat er nicht genannt. Ich bin mir sicher, dass er dafür mindestens lebenslänglich bekommt. Falls nicht irgendwelche mildernden Umstände zum Tragen kommen. Das ist der Hauptgrund, warum ich mich entschlossen habe, die enorme Schuld, die bereits auf mir lastet, loszuwerden. Ich werde zur Polizei gehen und meine Verbrechen gestehen. Ich helfe, die ganze Sache aufzuklären. Was das Schicksalslos ist. Was dort im Keller des Norns-Casinos abgelaufen ist und was in mehreren Städten im ganzen Land zu geschehen scheint. Ich werde meine Taten aufzählen. Damit bei Sasukes Verhandlung nachvollzogen werden kann, warum er das getan hat. Was er uns allen damit Gutes getan hat. Dass er eigentlich ein Retter ist, kein Mörder. Und es wird vielleicht dazu führen, dass man weitere Zweigstellen des Gremiums ausheben und andere Mitarbeiter festnehmen kann. Ich will nicht, dass noch irgendjemand leidet, nur weil er oder sie bestimmte Chips und Karten zieht. „Schade“, sagt Sasuke nach einer Weile. „Was?“ „Wenn ich im Gefängnis bin, kannst du mich immerhin besuchen. Wenn wir beide einsitzen, sehen wir uns eine halbe Ewigkeit nicht.“ Ich weiß, dass Sasuke kein Romantiker ist und auch sonst kaum zugibt, wenn ihm jemand am Herzen liegt – also freue ich mich, dass er davon spricht, mich sehen zu wollen. „Im Gegensatz zu dir hätte ich die Aussicht, wegen guter Führung schneller wieder rauszukommen“, behaupte ich in dem lahmen Versuch, einen Scherz zu machen. Ich weiß, dass meine Entscheidung eine schwerwiegende ist, eine einsame und eine verdammt traurige. Aber ich glaube kaum, dass ich andernfalls all das gut machen könnte, was ich gutmachen muss. Und es ist nicht so, als hätte ich es mir nicht durchgerechnet. Ich habe tatsächlich niemanden getötet. Ich bin zu diesem Spiel gezwungen worden. Ja, ich habe Geld bekommen, aber wenn die Regeln des Schicksalsloses rauskommen, wird man sicher darauf plädieren, dass ich keine allzu große Wahl gehabt habe. Außerdem laufen die Ermittlungen zu der Sache noch. Sasuke hat gewaltsam eine Gangsterrunde aufgelöst, und nun wird natürlich in deren Unterlagen gegraben. Wenn Olga sie nicht gelöscht hat, findet man sicher sowieso unsere Beweisvideos und unsere Unterschriften auf den Eintrittsformularen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei mit unangenehmen Fragen auf uns zukommt. Da stelle ich mich lieber vorher freiwillig. Ich werde den anderen von dieser Entscheidung erzählen, vielleicht schließt sich mir jemand an. Ich wünsche ihnen allen, dass sie ungeschoren davonkommen, aber vorschlagen werde ich es ihnen. Wir schweigen wieder beide eine Weile. Ich gehe ans Fenster, und wir sehen zu, wie der Schneefall dichter wird und die Häuserdächer einkleidet. Ich weiß noch genau, wie ich nach meiner und Sasukes ersten Nacht ebenfalls auf eine schneebedeckte Stadt hinaus gestarrt habe. Damals war es dunkel. Jetzt dämmert es erst, aber irgendwie fühle ich mich an den Moment zurückversetzt. Kaum zu glauben, was seither alles geschehen ist. Welche Aspekte in meinem Leben sich um hundertachtzig Grad gedreht haben. „Weißt du was?“, fragt er irgendwann. „Du bist wirklich verrückt.“ Ich lache leise. „Ach so?“ „Ja. Eindeutig. Geradezu irrwitzig verrückt. Du gehörst in die Klapse, nicht ins Gefängnis.“ „Dasselbe gilt für dich.“ Ich lächle ihn an. „Wäre das eine Option?“ Er starrt mich an und schnaubt dann kopfschüttelnd. Ich werde wieder ernst. Wir blicken erneut stumm aus dem Fenster. Es ist nicht so, als hätten wir uns nichts zu sagen – gerade jetzt sollten die Worte nur so aus uns heraussprudeln. Aber irgendwie fühlt es sich an, als wäre das nicht notwendig. Nur eines scheint er noch loswerden zu wollen. „Du hast dich echt verändert“, stellt er fest. „Das hast du schon öfter gesagt, und im nächsten Moment hast du deine Meinung gleich wieder geändert. Außerdem weiß ich nicht, ob das noch als Kompliment gilt.“ „Ich bin niemand, der Komplimente macht. Ich stelle nur Dinge fest. Aber man kann dich nicht mehr mit der Sakura von früher vergleichen, das ist nun mal eine Tatsache.“ „Vielleicht hast du mich seit damals einfach nur chronisch unterschätzt?“ Er schweigt kurz. „Vielleicht“, gibt er zu. „Außerdem glaube ich, dass sich jeder Mensch ständig ändert, Sasuke. Nur so als Denkanstoß, wenn du deine zwischenmenschlichen Fähigkeiten mal wieder ein wenig aufpolieren willst.“ „Hab ich nicht nötig“, meint er hochmütig. „Ach nein? Naja, manches ändert sich halt doch nie. Aber weißt du, was wirklich ein Kompliment wäre? Dass du mich so magst, wie ich momentan bin. Wenn das auch eine Tatsache ist, kannst du sie ja feststellen.“ Er rollt die Augen. „So ein Gesülze bringe ich nicht über die Lippen.“ „Schade. Dabei ist das die neutralste Formulierung, die mir eingefallen ist.“ „Hm.“ Er scheint mit sich zu ringen. „Vergiss es“, erlöse ich ihn. „Du hast uns allen den Hintern gerettet. Das allein beweist, dass du uns zumindest nicht hasst.“ Er seufzt. „Du bist heute echt nicht zum Aushalten. Wenn’s dir so viel bedeutet – ja, es stimmt.“ Ich nicke grinsend. „Na also, ging doch.“ „Du hast es sowieso gewusst.“ „Stimmt.“ Ich gebe zu, es ist eine merkwürdige Konversation, die wir hier führen. Aber irgendwie ist alles an uns merkwürdig. Die Umstände, unter denen wir uns wiedergesehen haben. Die Umstände, unter denen wir uns wieder nähergekommen sind. Die Umstände, die uns jetzt vermutlich – für eine Weile nur, hoffentlich – auseinander bringen werden, zumindest physisch gesehen. Dennoch tut dieser kurze Wortwechsel unglaublich gut. Es ist seltsam, dass ich, anders als früher, nicht mehr darauf angewiesen bin, dass Sasuke mich akzeptiert. Und dass er es trotzdem gerade jetzt tut. Und irgendwie freue ich mich nun doch darüber. Ich weiß nicht, wie es mit uns weitergehen wird. Wie oft wir uns noch sehen können. Was dann passieren wird. Aber irgendwie schaffe ich es, darauf zu hoffen, dass sich schon alles fügen wird. Und dass wir das Beste aus dem machen werden, was Sasuke uns erkämpft hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)