Du kannst weglaufen... von Maginisha (...aber du kannst dich nicht verstecken) ================================================================================ Prolog: -------- „Woran denkst du gerade?“ Schuldig kräuselte die Lippen. „Wird der Witz nicht langsam alt, Crawford?“ Der Schwarz-Anführer zuckte mit den Achseln. „Ich möchte nur wissen, ob es deine Arbeit behindern wird.“ „Kannst du das nicht sehen?“, stichelte der Telepath weiter. „Aber nein, wird es nicht. Ich bin Profi, das weißt du.“ „Aber du spielst gerne mit dem Feuer, egal ob es dich dabei verbrennt oder nicht. Ich brauche dich.“ Schuldig lachte nun offen. „Keine Angst. Kein Feuer. Nur ein paar kleine, weiße Ritter.“ Crawford horchte auf. „Du meinst Weiß? Sie sind die Mühe nicht wert. Sie werden ohnehin sterben. Früher oder später.“ Schuldig streckte sich auf der Couch aus und betrachtete ihn aus halb geschlossenen Lidern wie ein Krokodil, das am Flussrand lauert. „Aber das reicht mir nicht. Vorher möchte ich sie brennen sehen. Ich will ihr Innerstes nach außen stülpen, will sie dazu bringen, dass sie sich selbst das Gesicht runter reißen, weil sie es nicht mehr ertragen können. Ich will sie auseinander nehmen und neu zusammen setzen. Ich will sie zu etwas wie uns machen.“ „Hegst du Vatergefühle für die Jungen?“, spottete Crawford. „Wie niedlich.“ Schuldig machte einen unwirschen Laut. „Du glaubst nicht, dass ich es kann.“ „Hast du meine Gedanken gelesen?“ „Nein, das brauche ich nicht. Es steht mitten in dein arrogantes Gesicht geschrieben.“ Der dunkelhaarige Mann beugte sich zu seinem Teamkollegen herunter und sah ihm fest in die Augen. „Einen. Einen schenke ich dir. Du kannst wählen.“ Schuldig überlegte. Dann grinste er. „Den Jüngsten. Er wird die größte Herausforderung werden. Bei den anderen braucht es teilweise nur einen Windstoß, bis ihr Kartenhaus zusammenbricht. Oder sie hängen sowieso schon am Rande des Abgrunds, das habe ich gespürt. Aber er...“ Schuldigs Grinsen wurde noch breiter. „Er wird eine echte Herausforderung. Ich will das weiße Licht in seinen Augen erlöschen sehen.“ Crawford rückte seine Brille zurecht. „Wie du meinst. Aber wenn es sich auf deine Arbeit auswirkt, werde ich durchgreifen.“ Schuldig deutete im Liegen eine Verbeugung an. „Wie du befiehlst, großer Meister.“ Kapitel 1: Mörder! ------------------ Zum besseren Verständnis erzähle ich zunächst den Anfang der Folge 12 nach, wenn auch mit leichten Veränderungen. Daher an dieser Stelle nochmal der Disclaimer, dass hier nichts mir gehört und ich natürlich auch kein Geld dafür bekomme. Eine Meute Schulmädchen hing am Fenster des Blumenladens. Sie drängelten und schubsten sich. Jede wollte den besten Blick auf die vier Jungs im Inneren haben, von denen zumindest einer gerade sehr beschäftigt war, ein Orchideengesteck zu arrangieren. „Omi? Kann ich dir eine Frage stellen?“ Ouka blieb nichts anderes übrig, als Omis Rücken zu betrachten. Er wich ihr schon aus, seit sie den Blumenladen betreten hatte, aber sie musste es einfach wissen. „Omi-kun, sag, bist du in irgendetwas verwickelt? Etwas...gefährliches?“ Sie sah, wie sein Rücken zusammenzuckte. „Nein, gar nicht. Wie kommst du darauf?“ „Na all diese schlimmen Dinge, die sich um dich herum ereignen. Es ist...seltsam. Zu seltsam, um nur Zufall zu sein.“ Omi drehte sich nicht um und antwortete auch nicht. Ouka trat näher und redete leise weiter auf ihn ein. „Oh, junge Liebe“, seufzte Yoji dramatisch, während er Omi und Ouka betrachtete. „Ist es nicht toll? Sie sind so ein süßes Pärchen, aber...“ Ken unterbrach ihn mit einem breiten Grinsen. „Was denn, was denn. Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“ „Ich?“, Yoji tat schwer beleidigt. „Natürlich nicht. Ich denke nur, dass sie sich vielleicht besser ein Zimmer nehmen sollten, anstatt hier im Laden rumzumachen. Aya, sag ihnen, dass das nicht geht.“ Aya warf Yoji einen finsteren Blick zu. „Lass die beiden in Ruhe.“ Omi trat hinzu. „Ich bringe die Blumen und...äh und Ouka mit dem Roller zu ihr nach Hause. Ist das in Ordnung.“ Yoji stieß Ken in die Seite. „Natürlich ist es das, Chibi. Aber sei vorsichtig.“ Omi sah ihn irritiert an und machte sich auf den Weg. „Weißt du, Omi, was mein Vater mir gebracht hat, als ich klein war und im Krankenhaus lag?“, plapperte Ouka munter vor sich hin, während sie auf dem Roller durch die Straßen rollten. Omi war froh, dass sie das Thema gewechselt hatte und stieg begeistert darauf ein. „Nein, was denn?“, fragte er nach. „Es waren Papierkraniche. Er hat sie selber gefaltet. Oh Omi, du hättest sie sehen sollen. Jedes Kind hätte sie besser gemacht. Aber ich wusste, dass er sich große Mühe gegeben hatte. Weil sie für mich waren.“ Omi musste lächeln. „Du magst deinen Vater sehr, nicht wahr?“ „Ja, er ist toll. Ich liebe ihn“, rief Ouka begeistert. „Aber nicht so toll wie du, Omi!“ Ouka schlang die Arme fester um Omi und er musste aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Berührung war warm und anheimelnd. Ungefähr so musste es sich anfühlen, eine liebende Familie zu haben wie Ouka. Er hingegen...nun seine Mutter kannte er nicht und sein Vater war ein machtgieriger, skrupelloser Politiker, der... „Omi, du hast die Ausfahrt verpasst!“ Oukas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er bremste und fuhr langsam zurück. An Oukas Wohnungs angekommen, trug er vorsichtig die Blumen die Treppe hoch. Das Gesteck hatte ein Vermögen gekostet und die Wohnung, in die er sie jetzt stellte, war riesig und geschmackvoll eingerichtet. Oukas Familie war ziemlich offensichtlich nicht nur glücklich, sondern auch noch reich. „Oh, die sind wundervoll, Omi. Du bist sogar geschickter mit den Blumen als meine Mutter.“ Ouka klatschte in die Hände und trat einen Schritt näher, um die Blumen zu betrachten. Omi wich zurück. „Ich...ich muss los“, stotterte er. „Was? Oh nein, bleib doch noch. Wenigstens auf eine Tasse Tee. Oh, Omi, bitte.“ Omi wurde sich plötzlich bewusst, dass er mit Ouka ganz allein in der Wohnung war. Das war eigenartig, denn normalerweise trafen sie sich ja nur im Laden. Oder im Museum. Oder in dieser Diskothek. Dass sie allein durch den Wald gerannt waren auf der Flucht vor blutrünstigen Hobbyjägern, konnte man auch nicht unbedingt als Verabredung betrachten. Immer war jemand in der Nähe gewesen, aber jetzt war niemand in der Nähe. Sie waren ganz allein. Omis Wangen begannen zu glühen. „D-das geht nicht“, stieß er hervor. „Wovor hast du Angst?“, lachte Ouka und kam noch einen Schritt näher „Etwa vor mir? Ich beiße doch nicht. Oh bitte, Omi.“ Omi wand sich unter der intensiven Annäherung. „Ich kann wirklich nicht. Ich muss noch arbeiten.“ „Oh, ich verstehe“, seufzte Ouka. „Aber dann heute Abend. Zum Essen. Pünktlich um sieben im Restaurant. Ich will, dass du meine Familie kennenlernst.“ Omi konnte sich nicht erinnern, wann Ouka etwas von einer Verabredung zum Essen gesagt hatte. Und eigentlich hatte er auch nicht die geringste Lust, sich den inquisitiven Augen ihrer Eltern zu stellen. Erst recht nicht, nachdem seine Familienwelt gerade so in sich zusammengebrochen war. Immerhin hatte er gerade...er verbot sich weitere Gedanken daran. „Um sieben kann ich noch nicht“, schwindelte Omi. „Ich hab Yoji versprochen, ihm bei der Buchhaltung zu helfen.“ „Ich sehe schon, wir werden ohne dich essen. Aber hierzu wirst du kommen“, strahlte Ouka und hielt zwei Kinokarten hoch. „Ich hab sie schon gekauft und du wirst mich doch nicht alleine dort sitzen lassen? Das wäre sehr unhöflich, Omi.“ „Oh, ja, ähm, ich denke, das kann ich einrichten“, stammelte Omi überrascht. Ihm fiel einfach keine Ausrede ein, warum er nicht mit Ouka ins Kino gehen sollte. „Ich...ich muss jetzt gehen.“ Er flüchtete mehr aus der Wohnung, als dass er sie verließ. Statt auf den Aufzug zu warten, rannte er die Stufen hinunter und kam keuchend an seinem Roller an. Er lehnte sich stöhnend dagegen und hielt sich die schmerzenden Seiten. „Man, Ouka weiß wirklich, was sie will“, seufzte er gegen die Ladekiste des Rollers gelehnt. „Die Frage ist, ob sie es bei dir auch bekommen wird, oder ob in der hübschen Verpackung nicht eine böse Überraschung steckt.“ Omi schrak hoch und sah sich um. Er konnte niemanden erkennen. „Wer ist da?“, rief er. „Oh, ich glaube, wir wurden uns noch nicht vorgestellt, auch wenn wir bereits das Vergnügen hatten“, erklang die Stimme wieder und dann trat ein Mann hinter einem Baum auf der anderen Straßenseite hervor. Ein Mann, den Omi kannte. „Du?“ Omi konnte es nicht glauben. „Du hast meinem Bruder Hirofumi geholfen zu entkommen.“ Der Mann mit der auffälligen, orangeroten Haarmähne lehnte sich lässig gegen den Baum. „Ja, aber wie es aussieht, war ich nicht sehr erfolgreich. Du hast ihn umgelegt Kleiner. Genauso wie deinen anderen Bruder, Masafumi. Du bist ein recht erfolgreicher Bruder-Mörder, wie mir scheint.“ Omi erstarrte. 'Das ist nicht wahr', dachte er. 'Ich ...sie hatten es verdient. Sie haben Menschen getötet, gefoltert. Sie hatten es doch verdient.' Der Mann auf der andere Seite lächelte nachsichtig. „Du denkst jetzt, dass sie es verdient hatten. Dass sie schlechte Menschen waren, die anderen viel Leid zugefügt haben. Aber was ist mit dir? Bist du so viel besser als sie? Du bist ein Mitglied von Weiß. Ihr jagt Menschen und tötet sie wie eine Meute gut abgerichteter Bluthunde.“ „Das...“, stammelte Omi, „so ist das nicht. Wir...“ Der Mann winkte ab. „Erspare mir dein Gejammer. Mich interessiert es nicht, wen oder warum du tötest. Du tust es und das macht dich zu einem Mörder. Aber was ist mit dem Mädchen? Was ist mit der kleinen Ouka. Stell dir doch mal vor, sie würde es herausbekommen. Sie würde herausfinden, wie du wirklich bist.“ 'Das darf niemals geschehen', dachte Omi. „Und wenn doch?“, setzte der Mann nach. „Was, wenn sie es herausfindet? Wenn sie dein kleines, dreckiges Geheimnis aufdeckt? Was wenn sie die Sicherheit von Weiß bedroht? Wenn es dein Auftrag wäre, sie aus dem Weg zu räumen? Glaubst du, einer deiner Teamkollegen würde zögern, den Auftrag auszuführen? Würdest du ihn ausführen?“ Omi schüttelte stumm den Kopf. Er hätte Ouka niemals etwas antun können. Sie war ein nettes, anständiges Mädchen. Sie war...eine gute Freundin. Der Mann lachte plötzlich. „Du hast deine eigenen Brüder getötet. Würde dich eine Freundschaft wirklich aufhalten?“ Omi fühlte plötzlich Wut in sich aufsteigen. Was erlaubte sich dieser Kerl eigentlich, über ihn zu urteilen? Wie von selbst griff seine Hand nach einem Dart. „Siehst du, du tust es schon wieder“, grinste der Mann. „Um dich herum ist eine Mauer aus Blut und Gewalt. Willst du Ouka wirklich da mit hineinziehen? Siehst du denn nicht, dass sie auf der Suche ist nach jemandem, mit dem sie ihr Leben teilen kann? Könntest du wirklich dieser jemand sein?“ Wie aus dem Boden gewachsen stand der Mann plötzlich vor Omi und sah ihm direkt ins Gesicht. „Was würde sie denken, wenn jetzt auf einmal schon wieder eine Leiche ganz in deiner Nähe auftaucht? Sie ist ohnehin schon misstrauisch. Es braucht nicht mehr viel und du wirst auch sie beseitigen müssen.“ Langsam ließ Omi den Dart sinken. Es war wirklich zu gefährlich, hier auf offener Straße einen Kampf anzuzetteln. Noch dazu direkt vor Oukas Wohnung. Ob sie ihn jetzt beobachtete? Sein Blick irrte nach oben zur Fensterfront ihres Hauses. Was, wenn sie ihn bereits gesehen hatte? „So ist es brav, mein Hübscher“, flüsterte der Mann direkt in Omis Ohr. „Und denk über das nach, was ich dir gesagt habe. Du bist gefährlich für sie. Lass sie gehen, solange du noch kannst.“ Irritiert über so viel Nähe fuhr Omi herum, aber die Straße neben ihm war leer. Der seltsame Mann war verschwunden. Omi fluchte leise. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Wo zur Hölle war der Kerl hin? Die Fahrt zum Koneko erschien ihm ewig zu dauern. Er konnte sich kaum auf die Straße konzentrieren und nahm mehr als einmal einem Auto die Vorfahrt. Wütendes Hupen begleitete ihn, aber er bemerkte es gar nicht. Kaum am Blumenladen angekommen, lief Omi grußlos an den anderen vorbei die Treppe hoch und schloss sich in seinem Zimmer ein. „Was war denn das?“ Ken sah von seiner Zeitschrift auf, als Omis Tür ins Schloss fiel. „Der sah aber gar nicht gut aus.“ Yoji wedelte mit der Blumenspitze. „Oh, wahrscheinlich haben er und Ouka sich gestritten. Die Liebe kann manchmal so grausam sein.“ „Meinst du wirklich?“ Ken war nicht überzeugt. „Soll ich mal nachsehen, ob ich ihm irgendwie helfen kann?“ „Nein, nein, lass ihn nur ein wenig schmoren. Der kommt schon wieder zur Besinnung“, lachte Yoji. „Du wirst sehen, in ein paar Tagen sind die beiden wieder ein Herz und eine Seele. Aya sagte gar nichts. Er schnaubte nur kurz durch die Nase und widmete sich dann wieder den Büchern des Blumenladens. Kapitel 2: Vater, Mutter, Kind ------------------------------ “Nein, Hilfe!” Oukas Schrei gellte durch die finstere Nacht. Schatten sprangen über die Wände der schmutzigen Seitenstraße wie hungrige Hunde. Sie stolperte, fiel hin, schrammte sich das Knie auf. Mühsam und mit Tränen in den Augen rappelte sie sich hoch und humpelte weiter, als die Straße plötzlich zu Ende war. Vor ihr ragte eine lückenlose Wand auf. Ängstlich presste sie sich dagegen und starrte mit weit aufgerissenen Augen ihren Verfolgern entgegen. Die vier Männer ragten wie dunkle Riesen vor ihr auf. Einer von ihnen, der kleinste, trat vor, und legte mit einer Armbrust auf sie an. Er zielt kurz und schoss ihr mitten ins Herz. Ouka brach zusammen. Mit Tränen in den Augen streckte sie die Hand nach ihrem Mörder aus. “Omi, warum hast du das getan?”, hauchte sie und starb. Mit einem Aufschrei fuhr Omi aus seinem Alptraum hoch. Sein Herz pochte wie wild und sein Bett war klitschnass geschwitzt. In seinem Kopf dröhnte es wie in einem Bienenschwarm. Ihm war übel. Mit vor den Mund gepresster Hand stürzte er ins Bad. 'Lass sie gehen, solange du noch kannst', höhnte die Stimme des Fremden in seinem Kopf, während er würgend vor der Toilette kniete. Omi wünschte, das wäre so einfach gewesen. Nachdenklich betrachtete Ken Omi, der sich schon seit einer halben Stunde damit aufhielt, ein paar Gerbera zurechtzustutzen und in Form zu bringen. Inzwischen waren nur noch wenige Zentimeter der Stängel übrig und das ehemals hübsche Blumengesteck ähnelte eher einem Blumenfriedhof. “Bist du dir sicher, dass mit ihm alles in Ordnung ist?”, fragte er Yoji, der gerade eine Kundin bedient hatte. “Er wirkt irgendwie abgelenkt.” “Er ist sicherlich nur nervös, weil er heute Abend ein Date hat”, informierte ihn Yoji. “Er und Ouka gehen ins Kino.” Der älteste Weiß wackelte bedeutungsvoll mit den Augenbrauen. “Ja und, warum sollte er da nervös sein?”, wollte Ken wissen. Yoji seufzte und verdrehte die Augen zur Decke. Er war wirklich nur von Amateuren umgeben. “Weil man im Kino eng nebeneinander sitzt. Es ist dunkel, keiner guckt zu, man kommt sich näher und dann...” “Du meinst die wollen rumknutschen?”, fragte Ken und wurde erst weiß um die Nase, dann rot. Aya trat zu ihnen. “Hört auf zu schwätzen”, knurrte er. “Zurück an die Arbeit.” “Alter Sklaventreiber”, hustete Yoji, machte sich aber gehorsam daran, den nächsten Auftrag am Telefon anzunehmen, das in diesem Augenblick klingelte. Omi kam mit gemischten Gefühlen am Kino an. Die Leuchtreklame des Streifens war schon von Weitem zu sehen gewesen. “Jurassic Love” und auf dem Plakat zwei turtelnde Dinosaurier. Oh man, Ouka hatte auch noch vor, ihn in einen Liebesfilm zu schleifen. Wie konnte er ihr nur begreiflich machen, dass er sie nicht mehr treffen konnte, ohne ihre Gefühle zu verletzten? 'Gar nicht', höhnte eine kleine Stimme in seinem Kopf. Omi musste zugeben, er hatte wirklich Angst, was sie sagen würde. Vermutlich würde sie ihm eine Szene machen und ihm vor allen Leuten sprichwörtlich den Kopf abreißen. Vielleicht war es besser, wenn er erst einmal den Film mit ihr sah und es ihr dann auf dem Nachhauseweg eingestand. Ja, das war ein guter Plan. Mit neuem Mut ging er die Treppe zum Kinoeingang hinunter. Grelles Licht leuchtete alles bis in den letzten Winkel aus und es duftete nach Popcorn. Ouka stand bereits am Eingang und sah sich suchend um. Omi sah auf die Uhr und merkte, dass er sich verspätet hatte. Kein guter Anfang für seinen Plan. Er zerstrubbelte sich noch schnell das Haar und rannte dann auf Ouka zu. “Hey, Ouka, da bin ich. Tut mir leid, es hat heute länger gedauert. Yoji ist eine Katastrophe mit den Büchern.” Oukas eben noch mürrisch verzogenes Gesicht hellte sich binnen Sekunden auf. “Oki-kun, wie schön, dass du endlich kommst. Lass uns schnell reingehen, der Film hat schon angefangen.” Im Kino war es dunkel und roch noch intensiver nach Popcorn als auf der Straße. Kein Wunder, denn unter Omis Turnschuhen knirschte eine Menge davon. Sie mussten sich an den anderen Gästen vorbeidrängen und Omi murmelte unentwegt Entschuldigungen, während ihn Ouka durch die Reihe schleifte. Endlich hatten sie ihre Plätze in der Mitte der Reihe erreicht und Omi ließ sich neben Ouka auf seinen Sitz sinken. Mit Schrecken stellte er fest, dass sie eine Pärchenbank erwischt hatten. Zwei durchgehende Sitze, die es Ouka erlaubten, sich bei der ersten Gelegenheit an ihn zu kuscheln, als ein brüllender Dinosaurier auf der Leinwand aus dem Dschungel stürzte. “Omi, du musst mich beschützen. Halt mich ganz fest, ja?” “Mhm-mh”, machte Omi und rückte noch ein Stück weiter in Richtung Sitzecke. Worauf hatte er sich nur eingelassen? Was, wenn sie versuchen würde...er mochte den Gedanken nicht zu Ende führen. Das hier war so gar nicht hilfreich, aber es gab kein Entkommen. Ouka rutschte unbarmherzig an ihn heran und krallte sich an ihm fest. Wenn wenigstens der Film gut gewesen wäre, aber nach der Szene, wo der eine Dinosaurier seinem Konkurrenten den Kopf abgebissen hatte, ging es nur noch darum, wie lieb sich die beiden Überlebenden hatte, wie sie Eier legte und unglaublich niedliche Babydinosaurier hüteten. Omi unterdrückte ein Gähnen. Konnte nicht vielleicht an dieser Stelle der Film reißen oder das Kino einstürzen oder etwas in der Art. Auf dem Nebensitz hörte er ein amüsiertes Schnauben. Zum Glück hatte das Schicksal ein Einsehen mit ihm. “Omi-kun, es ist mir sehr unangenehm, aber würdest du mich mal kurz vorbei lassen?” Ouka hatte endlich seinen Arm losgelassen und saß jetzt leicht verkrampft neben ihm. “Ich habe vorhin so lange auf dich gewartet und als du dann kamst...naja ich muss nochmal kurz raus. Bitte entschuldige mich.” Omi unterdrückte ein Aufseufzen, als Ouka gegangen war und versuchte wieder Gefühl in seinen eingeschlafenen Arm zu bekommen. Aus Angst, sie zu ermutigen, hatte er sich seit einer halbe Stunde nicht getraut, ihn zu bewegen. “Du bist nicht sehr erfolgreich darin, sie loszuwerden”, sagte mit einem Mal sein Sitznachbar. Omi erschauerte. Diese Stimme...das war der Mann von gestern Nachmittag. “Was machst du hier?”, zischte Omi böse. “Dir auf die Sprünge helfen”, war die lapidare Antwort. “Sieht aus, als könntest du Hilfe gebrauchen.” “Kann ich nicht”, fauchte Omi laut und wütend und wurde sogleich von einigen Sitzen um sie herum böse angefahren, er soll gefälligst die Klappe halten. Missmutig lehnte er sich über die Sitzlehne und flüsterte: “Warum genau interessiert dich das eigentlich so?” “Nun, weil ich meinen Job sehr ernst nehme”, gab der Mann zurück. “Weißt du, ich arbeite für Oukas Vater. Als Leibwächter. Das schließt den Schutz seiner gesamten Familie ein. Würde ich zulassen, dass seinem geliebten Augenstern etwas zustößt, würde er mich vermutlich mit dem Golfschläger durch die halbe Stadt prügeln. Reiji Takatori ist kein geduldiger Mann.” Omis Augen wurden groß. “Reiji Takatori?”, hauchte er tonlos. “Oukas Vater ist Reiji Takatori? Aber das würde ja heißen...” Omis Gedanken überschlugen sich. Natürlich. Sie hatte gesagt, ihr Vater sei ein einflussreicher Politiker. Omis Bruder Hirofumi Takatori war ebenfalls bei dem Empfang gewesen, zu dem Ouka ihn geschleift hatte. Es passte zusammen. Und das wiederum hieße... “Dass Ouka meine Schwester ist”, murmelte Omi. “Ist das so, ja?”, gab der Mann zurück. “Nun, dann hast du also deine Brüder getötet, hast eine inzestuöse Liebschaft mit deiner Schwester. Ich frage mich, warum du immer noch die Nase so hoch trägst, Weiß?” 'Ich musss hier weg, ich muss hier weg', hämmerten Omis Gedanken in einem fort. Aber wie sollte er das anstellen? “Ich könnte dir helfen”, bot der Fremde noch einmal an. “Schleich dich einfach raus, ich erledige den Rest.” “Aber Ouka...sie wird wahnsinnig enttäuscht sein.” Das Licht des Films wurde in diesem Moment heller und er konnte das Gesicht des Mannes sehen, der sich genüsslich in seinem Sitz ausgestreckt hatte. Ein schmales Grinsen teilte seine Lippen und er zwinkerte Omi zu. “Lass das nur meine Sorge sein, Bishounen.” Omi ließ sich auf die Knie herab und krabbelte zwischen den Sitzen hindurch zum Mittelgang. Unter ihm knirschte wieder das Popcorn. 'Warum kaufen die Leute es eigentlich, wenn sie es dann doch nicht essen', fragte er sich im Stillen. In der Lücke zwischen den Sitzreihen erhob er sich und hastete Richtung Ausgang. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich der Mann im langen Mantel gemächlich aus seinem Sitz erhob und ohne Eile hoch aufgerichtet hinter ihm herkam. Allerdings schien sich keiner der anderen Kinobesucher daran zu stören und er kam, ohne in einem Regen von geworfenem Popcorn unterzugehen, zum Ausgang. “Was ist, gehen wir?”, fragte er Omi, der immer noch mit offenem Mund an der Tür stand. Draußen auf dem Gang war es merklich kälter als im Kinosaal. Ein Wolkenbruch hatte den Gehsteig unter Wasser gesetzt und der erhitzte Stein dampfte jetzt vor sich hin. Omi wollt gerade in Richtung des rettenden Pflasters traben, als sie die Tür zur Damentoilette am Ende des Ganges öffnete. „Oh nein, Ouka kommt zurück. Wenn sie mich sieht, ist alles aus.“ „Lass mich dir noch einmal helfen.“ Bevor Omi wusste, was geschah, hatte ihn der Mann gepackt und gegen die Wand gedrückt. Der grüne Stoff seines Mantels hüllte Omi ein, als er sich gegen ihn presste und seinen Kopf auf Omis legte. Die plötzliche Nähe und Wärme, die Omi umfing, war atemberaubend. Er spürte den Stoff des Hemdes an seinem Gesicht, fühlte den Herzschlag darunter ruhig und gleichmäßig, roch eine leichte Note von After Shave, das schon vor Stunden aufgetragen worden war und sich inzwischen mit dem Geruch der Haut vermischte hatte. Omi hielt unbewusst den Atem an. Draußen liefen klappernd Schritte vorbei, die Tür zum Kinosaal wurde geöffnet und fiel wieder ins Schloss. Im selben Moment gab ihn der Fremde wieder frei und trat einen Schritt zurück. “Sie ist weg”, sagte er mit schief gelegtem Kopf. “Aber du solltest dich beeilen, wenn du ihr nicht noch in die Arme laufen willst, nachdem sie gemerkt hat, dass du weg bist.” “Aber...” Omi zögerte. Der Fremde verdrehte merklich genervt die Augen. “Nun lauf schon. Ich werde sie abfangen und nach Hause bringen. Ihr wird nichts passieren.” Omi drehte sich um und lief los, dann drehte er sich am oberen Treppenabsatz noch einmal herum. “Danke!”, rief er die Treppen herunter und der Fremde deutete eine Verbeugung an. Auf dem Weg nach Hause lief Omi an einem Schreibwarenladen vorbei. Er blieb stehen und betrachtete die Auslage. “Das ist es”, sagte er zu sich selbst. “Ich werde ihr einen Brief schreiben. Einen Brief, in dem ich ihr schreibe, dass wir nicht zusammen sein können.” 'Weil sie meine Schwester ist.' Jetzt hatte er binnen weniger Tage nicht nur zwei Brüder und einen Vater bekommen, sondern auch noch eine Schwester. Wie viele Mitglieder die Familie Takatori wohl noch so hatte? Bisher hatte er immer nur mit dem Umstand gehadert, dass er ein Teil davon war. Jetzt aber wollte er wissen, was ihn erwartete. Als er die Haustür aufschloss, drang flimmerndes Licht in den schummerigen Flur. Jemand saß im Wohnzimmer und sah fern. Und er hatte die Tür aufgelassen. Vermutlich um zu sehen, wann Omi heimkam. Omi wollte sich kurz darüber ärgern, doch dann war er froh, dass er jetz nicht allein war. Er schob die Tür zum Wohnzimmer vollständig auf und erblickte Yoji, der auf dem Sofa lümmelte und durch die Kanäle zappte. „Omi“, rief er und setzte sich auf. „Da ist ja unser Romeo. Na, wie war es? Hattest du Spaß?“ Yojis Mundwinkel sanken nach unten, als er Omis Gesicht sah. „Oh so schlimm? Bist du wirklich so ein mieser Küsser?“ „Was?“ Omi schüttelte den Kopf. Was sich Yoji nur immer dachte. „Nein, das ist es nicht. Ich...ach vergiss es.“ Er wollte sich umdrehen, blieb dann aber doch stehen und schabte mit dem Daumen am abgewetzten Stoff des Sofas herum. Vielleicht konnte ihm Yoji ja doch helfen. „Yoji, ich muss dich mal was fragen.“ „Ich bin ganz Ohr.“ Omi holte tief Luft und fragte dann gerade heraus: „Wie sagt man einem Mädchen, dass man nicht mit ihr zusammen sein will? Also nett irgendwie. Ich will nicht, dass Ouka traurig ist. Aber ich...ich bin einfach nicht so an ihr interessiert.“ 'Weil sie meine Schwester ist.' „Oh, ich verstehe.“ Yoji ließ sich im Sitz zurücksinken. Er schien nachzudenken. „Weißt du, das ist immer eine schwierige Situation. Du solltest sie auf keinen Fall kritisieren. Nimm die Schuld auf dich, sag ihr, dass es dir leid tut, aber dass du denkst, dass sie mit jemand anderem glücklicher sein wird, weil du ihre Gefühle einfach nicht auf die richtige Art und Weise erwidern kannst. Im Endeffekt wird es sowieso egal sein und sie wird dich hassen.“ „Was?“ Omi starrte seinen Freund entsetzt an. Der zuckte die Schultern. „Das ist normal. Aber es wird sich geben. Sie wird es irgendwann verstehen.“ Omi sackte noch ein Stück weit in sich zusammen. „Ich wollte ihr einen Brief schreiben. Meinst du, das ist ok?“ „Das ist eine gute Idee“, beruhigte ihn Yoji und wuschelte ihm durch das Haar. „Nimm´s nicht so schwer, Chibi. Dir wird schon das Richtige einfallen.“ Omi bedankte sich und schlurfte die Treppe hinauf. Er wollte den Brief gleich jetzt noch schreiben, aber zuvor wollte er noch etwas nachsehen. Immerhin wusste er ja nichts über den Fremden. Was, wenn er ihn angelogen hatte? Er kannte ja nicht mal seinen Namen. Omi beschloss im Stillen, ihn beim nächsten Treffen zu fragen, und schaltete den Computer an. Der Bildschirm erwachte flackernd zum Leben und Omi rief eine Suchmaschine auf. Schon mit wenigen Klicks fand er, wonach er suchte. Es war ein Bericht über seinen Vater Reiji Takatori, den er vor ein paar Tagen schon gelesen hatte. Im unteren Teil befand sich ein Bild von Takatori und Ouka. Sie trug das Kleid, was sie auch beim Empfang getragen hatte. „Reiji Takatori mit seiner unehelichen Tochter Ouka Sasaki“, las Omi und ließ sich gegen die Stuhllehne sinken. Es stimmte also tatsächlich. Sie war zumindest seine Halbschwester, denn es hätte ihm auffallen müssen, dass sie etwa gleich alt waren und daher wohl kaum die gleiche Mutter gehabt haben konnten. Und natürlich konnte sich ein Politiker wie Takatori nicht öffentlich zu Ouka bekennen, egal wie sehr er sie zu lieben vorgab. Omi ließ den Computer Computer sein und zog das Briefpapier heraus, das er gekauft hatte. Er begann zu schreiben, zerknüllte das Papier aber schon nach den ersten fünf Worten. Der zweite Brief wurde nicht länger. Seufzend zog er einen Schreibblock aus seiner Schultasche und versuchte es erneut. So würde der Papierberg zwar nicht kleiner, aber immerhin weniger kostspielig werden. Den Gedanken daran, dass er noch keine Hausaufgaben gemacht hatte, schob er weit weg. Es war schon sehr spät, als Omi endlich mit seinem Text zufrieden war. Er übertrug die Zeilen noch auf eines der schönen Briefpapiere, steckte es in einen Umschlag und beschloss, den Brief gleich morgen auf dem Weg zur schule einzuwerfen. Mit Glück bekam ihn Ouka noch, bevor sie ihn im Blumenladen an die Wand nageln konnte. Er rollte mit dem Stuhl zum Bildschirm und wollte den Rechner schon runterfahren, als sein Blick auf den unteren Bildschirmrand wanderte. Was war das für ein Foto? Er scrollte und sah ein Bild von Takatori und... „Perser? Warum sind die beiden zusammen auf einem Foto?“ Omi las den Text unter dem Bild und seine Augen wurden rund wie Murmeln. Reiji Takatori mit seinem Bruder Shuichi Takatori. Omi blinzelte und überzeugte sich, dass er richtig gelesen hatte. Und war das wirklich Perser? Aber ja, es bestand kein Zweifel. Neben ihm stand sogar Manx, zum Anlass des Fotos statt in eines ihrer üblichen Kostüme in einen klassischen Kimono gekleidet. „Was hat das alles zu bedeuten?“, murmelte Omi vor sich hin. Er verstand die Welt nicht mehr. Jetzt war auch noch Perser mit ihm verwandt? Der Mann hatte ihn aufgezogen, hatte ihn zum Killer ausgebildet, hatte ihn seine eigenen Brüder, die somit Persers Neffen waren, ermorden lassen. Warum das alles? Wie konnte er es wagen, Omi so im Dunkeln zu lassen? Warum hatte er ihm das nicht erzählt? Omi hatte ihn oft genug nach seiner Familie gefragt und nur Schweigen zu hören bekommen. Omi hämmerte auf den Aus-Knopf des Computers und warf sich auf sein Bett. Seine Gedanken drehten sich im Kreise. Gleich morgen nach der Schule würde er zu Perser fahren und ihn zur Rede stellen. Und dieses Mal, das schwor er sich, würde er Antworten bekommen. Kapitel 3: Hungriges Herz ------------------------- Die Tür zum Büro des Polizeichefs hatte sich noch nicht ganz hinter ihm geschlossen, als Omi schon die kalte Wut in seinem Bauch spürte. Perser saß an seinem Schreibtisch, an seiner Seite Manx. Die beiden sahen ihm aufmerksam entgegen. „Bombay“, begrüßte ihn Perser. „Gut, dass du kommst.“ „Hallo Perser“, spuckte Omi dem Mann vor die Füße. „Oder sollte ich dich besser Onkel Shuichi nennen?“ Auf Persers Gesicht erschien für Sekunden echtes Erstaunen, doch er hatte sich schnell wieder im Griff. Er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Bitte nimm doch Platz, dann können wir reden.“ Omi blieb demonstrativ neben dem Stuhl stehen und funkelte Perser an. „Warum? Warum hast du mich auf diese Missionen geschickt? Warum hast du mir nie gesagt, dass wir verwandt sind? Was verschweigst du mir NOCH?“ Das letzte Wort hatte er Perser wie einen Dart entgegengeschleudert. Der Mann hatte nicht mal gezuckt. „Ich will endlich Antworten!“, schrie Omi und hieb mit den Fäusten auf den Tisch. Was auch immer für ein Spiel Perser trieb, er würde es sich nicht länger gefallen lassen. „Du schickst mich los und lässt mich meine Familie, unsere Familie umbringen, von der ich bis vor Kurzem nicht einmal wusste, dass ich sie habe. Aber du wusstest es. Du wusstest über alles Bescheid. Warum hast du deine Neffen nicht selbst umgebracht? Warum bist du kein Weiß geworden?“ „Ich ein Weiß?“, echote Perser. „Tut mir leid, Omi, ich bin nicht so stark wie ihr alle.“ Omi hörte ihm gar nicht zu. „Ich sage dir, warum du es nicht getan hast. Weil du dir nicht die Hände schmutzig machen wolltest. Stattdessen hast du mich geschickt um deine Drecksarbeit zu machen.“ „Omi, es reicht“, tadelte ihn Manx. „Denk daran, wo du bist.“ Omi schnitt eine angeekelte Grimasse. „Nicht einmal jetzt kannst du mir ins Gesicht sehen und mir die Wahrheit sagen. Du lässt andere für dich sprechen. Kannst du mir wenigstens erklären, warum mein Vater damals das Lösegeld für mich nicht zahlen wollte? Kannst du wenigstens das?“ Perser rührte keine Miene. Er blickte zu Manx und gab ihr ein Zeichen in Richtung Tür. „Geh, bitte. Ich will mit Omi allein reden.“ Als die Tür sich hinter Manx schloss, seufzte Perser und stütze das Gesicht in die Hände. Omi wartete. Eine Ewigkeit, wie es schien. Schließlich begann Perser zu sprechen. Seine Stimme war leise, so als wolle er das, was er Omi offenbarte, eigentlich nicht preisgeben. „Deine Mutter, Kikuno, sie war...eine schöne Frau. Eine gute Frau. Als sie Reiji heiratete, war sie ihm eine gute Ehefrau. Sie schenkte ihm zwei Söhne.“ „Hirofumi und Masafumi.“ Perser nickte. „Ja, alles schien gut. Ein perfekter Hintergrund für den Aufbau eines Imperiums, das sich mein Bruder so wünschte. Er arbeitete hart daran. Er war viel auf Reisen. Oft im Ausland. Kikuno, sie war...allein. Einsam. Saß fest in einer arrangierten Ehe. Aber sie war eine gute Frau. Sie hielt durch. Lange hielt sie durch. Bis sie sich einen Augenblick der Schwäche erlaubte. Ein kleines Glück hinter verschlossenen Türen. Ein Glück, das Folgen hatte.“ Perser blickte nun auf und sah Omi direkt ins Gesicht. Omis Gedanken rasten und stoppten je bei einer Erkenntnis. „Mich“, hauchte er. „Ich bin...nicht...Reiji Takatoris Sohn. Aber wer? Wer ist mein Vater? Kanntest du ihn?“ Persers Züge wurden weich. „Ja, ich kannte ihn. Er war ein junger Mann, nicht so erfolgreich wie Reiji und somit keine gute Partie. Er hat deine Mutter sehr geliebt. Schon bevor sie Reijis Frau wurde. Aber es durfte nicht sein und so hat er sich mit der Situation abgefunden. Hat Platz gemacht für ihr Glück. Aber als er erfuhr, wie unglücklich sie in Wirklichkeit war, konnte er sie nicht weiter damit allein lassen. Er wollte ihr helfen...und hat alles nur noch schlimmer gemacht.“ Omi nickte verstehend. „Reiji muss ausgerastet sein, als er es erfuhr. Was ist passiert?“ „Reiji ließ Kikuno ins Ausland bringen, um die Schande zu verheimlichen. Die Leute können rechnen, weißt du. Hirofumi und Masafumi gingen mit ihr. Man sprach von einem Aufenthalt, der ihrer Gesundheit guttun sollte. Tatsächlich war sie in der Zeit dort oft kränklich. Du wurdest zu früh geboren, brauchtest viel medizinische Aufwartung. All das kostete Geld, das Kikuno aus ihrer eigenen Tasche bezahlen musste. Sie verkaufte ihre Kleidung, ihren Schmuck, alles um an Geld zu kommen. Als schließlich nichts mehr da war, bat sie Reiji, zurückkommen zu dürfen. Auch wegen seiner anderen Söhne. Du warst inzwischen schon fast ein Jahr alt, als sie zurückkam. Man verschleierte das, du bekamst andere Papiere, einen andere Namen, einen anderen Geburtstag. Niemand fragte danach, es schien alles in Ordnung. Doch es war nur Fassade. Reiji ließ Kikuno leiden für ihren Verrat. Und als du schließlich entführt wurdest, weigerte er sich, das Lösegeld zu bezahlen. In ihrer Verzweiflung wandte sich deine Mutter an mich. Ich befreite dich und...naja den Rest der Geschichte kennst du.“ Omi ließ sich auf einen Stuhl fallen. Statt rasender Gedanken herrschte in seinem Kopf nun Stillstand. Minutenlang schwieg er, dann fiel ihm etwas ein. „Dann ist Ouka gar nicht meine Schwester?“, fragte er. „Denn wenn Reiji nicht mein Vater ist und ihre Mutter nicht meine Mutter, dann sind wir gar nicht verwandt?“ Die Sonne war inzwischen um das Gebäude herumgewandert. Persers Gesicht lag im Schatten. Omi konnte nur die Umrisse erkennen. „Doch“, sagte Perser mit leiser Stimme. „Doch, ihr beide seid verwandt, Omi. Ouka ist deine Cousine.“ „Cousine?“ Omi runzelte die Stirn. „Das heißt, unsere Eltern waren Geschwister? Aber das ist unmö...“ Omis Worte versiegten, als ihn die Erkenntnis wie ein Hammerschlag traf. Seine Hände begannen zu zittern. Er musste sich an der Tischkante festhalten, um nicht vom Stuhl zu rutschen. „Hat...“, begann er und musste schlucken. „Hat Reiji noch weitere Brüder außer dir?“ Perser schüttelte den Kopf. „Nein, nur mich. Es tut mir leid, Omi.“ Omi war völlig erstarrt. All das schienen seinen Kopf in tausend Stück sprengen zu wollen. Perser stand auf und schien um den Tisch herumgehen zu wollen, blieb aber stehen und verschränkte die Arme. „Ich wollte nicht, dass das alles passiert. Ich...deine Mutter...ich habe sie wirklich geliebt. Aber ich war machtlos. Mein Bruder, er hielt alle Fäden in der Hand. Deswegen will ich ihn nun endlich zu Fall bringen. Mit deiner Hilfe und der von Weiß. Er hat schon zu viele Menschen verletzt auf seinem Weg zur Macht. Seine Position als zukünftiger Premierminister erlaubt ihm, bald die Kontrolle über ganz Japan an sich zu reißen. Wir müssen das verhindern, Omi.“ Omis ließ die geballten Fäuste sinken. „Ich muss nachdenken“, sagte er und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb er noch einmal stehen. „Du hast gesagt, ich hatte einen anderen Namen? Welchen?“ Auf Persers Gesicht erschien ein leichtes Lächeln. „Deine Mutter hat dich Omi genannt. Als ich dich aufnahm, gab ich dir deinen richtigen Namen zurück. Omi nickte erneut. „Ich verstehe. Und mein Geburtstag?“ „Am 18. August.“ Omi brauste auf. „Das ist ja nächste Woche! Warum hast du das denn nicht auch geändert? Du wusstest doch alles!“, schrie er Perser an. Perser zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht. Ich habe es vergessen. Du warst so klein und...es erschien passend, das Datum beizubehalten.“ „Du...“, Omis Stimme zitterte. Ob vor Wut oder wegen etwas anderem, konnte er selbst nicht sagen. „Du hast mich klein halten wollen. Hast mich benutzt für deine Rache. Ich...“ Er fühlte einen dicken Kloß im Hals aufsteigen. Jetzt nur nicht in Tränen ausbrechen. Wütend sein. Ja, wütend sein war gut. Er musste kurz an Aya denken und verstand den schweigsamen Weißleader mit einem Mal. Wut machte stark. Mit einem Schnauben drehte er sich auf dem Absatz herum und verließ das Büro, jedoch nicht ohne die Tür hinter sich zuzuwerfen. Vor dem Polizeipräsidium begann Omi zu laufen. Er achtete nicht darauf, wohin ihn seine Füße trugen. Hauptsache weg von dem Ort, an dem er gerade gewesen war. Menschen liefen an ihm vorbei. Menschen mit normalen, alltäglichen Leben und er? Er war ein Fremdkörper. Ein Virus, den niemand erkannte. Bis es zu spät war. Bis sie ihm zu nahe kamen und den schrecklichen Preis bezahlten. Omi blickte irgendwann auf und sah vor sich eine Reihe von Straßencafés liegen, deren Tische und Stühle vor den Geschäften standen. Gelächter und muntere Gespräche erklangen von überall her. Omi blieb stehen und schluckte. Er wollte nicht zwischen all diesen Leuten hindurch. Doch als er sich gerade umdrehen und nach Hause zurückgehen wollte, lenkte etwas seinen Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort stand mitten auf dem Gehweg ein roter Sportwagen. Die Fußgänger musste sich förmlich an ihm vorbeiquetschen, um ihren Weg fortzusetzen. Aber niemand schien diesen Umstand wirklich zu bemerken. Eine Politesse, die gerade des Weges kam, lief ohne mit der Wimper zu zucken an dem Wagen vorbei und hielt dann an, um einem anderen Fahrer, dessen Parkuhr abgelaufen war, einen Strafzettel auszustellen. 'Das gibt es doch gar nicht.' Omis Neugier war geweckt. Er wechselte die Straßenseite und sah sich in der Nähe des Autos um. Nur einige Schritte weiter öffnete sich ein schmaler Seiteneingang in einen Park. Omi trat hindurch und sah sich suchend um. Seine Augen wurden groß, als er auf einer Parkbank in der Nähe eine bekannte Gestalt entdeckte. Deren orangerote Haarmähne leuchtete in dem grünen Park wie eine Signalleuchte. Daran änderte auch das gelbe Bandana nichts, dass diese Flut wohl irgendwie unter Kontrolle bringen sollte. Omi überlegte. Sollte er wirklich zu dem Fremden hingehen? Der hatte immerhin nicht nur gute Seiten an den Tag gelegt. Er hatte Omi verprügelt, entführt, seinen Freunden gedroht. Omi hatte sich die ganze Geschichte noch einmal von Ken erzählen lassen, da er selbst bei dem Kampf halb bewusstlos gewesen war. Aber er hatte Omi auch geholfen. Was sollte er tun? Während Omis Kopf noch überlegte, waren seine Füße schon längst in Richtung der Parkbank gelaufen, wo der Fremde entspannt in der Sonne saß. Es war heiß. Der Mann hatte seinen Mantel ausgezogen, das Gesicht der Sonne zugewendet, die Augen geschlossen. Auf seinem Gesicht lag ein träumerischer Ausdruck, als würde er einer unhörbaren Musik lauschen. Omi blieb wieder stehen. Wie sollte er ihn ansprechen? Was sollte er sagen? Seine Handflächen begannen zu schwitzen. Die ganze Situation war total lächerlich. Er sollte sich jetzt sofort umdrehen und gehen. In diesem Augenblick öffnete der Fremde die Augen. Ohne es zu wollen, wurde Omi rot, als ihn der Blick aus fragenden, blauen Augen traf. „Sieh an, der kleine Weiß“, sagte der Mann und kräuselte amüsiert die Lippen. „Was verschafft mir denn diese Ehre?“ „Ich..ich bin nur zufällig hier“, stotterte Omi und fügte dann mutig hinzu: „Und ich heiße Omi.“ 'Dämlich! Dämlich! Dämlich!', schrie er sich selbst in Gedanken an. Das Wichtigste an Weiß war die Geheimhaltung, das Agieren aus den Schatten heraus, und er präsentierte sich einem potenziellen Mörder auf einem Silbertablett. Er hätte ihm auch gleich ein Messer in die Hand drücken können. Sein Gegenüber schien irgendetwas unglaublich komisch zu finden. Er deutete auf die Parkbank neben sich. „Willst du dich nicht setzen?“ Omis Beine schienen immer noch ein Eigenleben zu führen und platzierten ihn gehorsam auf dem Sitz. Der Mann, dessen Namen Omi immer noch nicht kannte, lehnte sich zu ihm herüber. Er betrachtete Omi ganz genau und Omi spürte seine Wangen schon wieder unangenehm prickeln. „Ich glaube, ich weiß, was du jetzt brauchst“, verkündete der Mann, stand auf und ließ Omi alleine auf der Parkbank sitzen. Der schnaufte laut und ließ sich an die Rückenlehne sinken. Er überlegte gerade, ob er die Gelegenheit zur Flucht nutzen sollte, da kam der Mann schon wieder zurück. In seine Hand hielt er zwei lange Eis am Stiel. Er drückte Omi eine der bunt gestreiften Stangen in die Hand und kreuzte dann sein Eis mit Omis wie Schwerter bei einem Kampf. „Hajime!“, grinste er und steckte sich sein Eis in den Mund. Omi starrte ihn mit offenem Mund an. „Du solltest langsam anfangen, sonst gibt es eine ziemliche Schweinerei“, hörte Omi den Mann sagen, aber er konnte sich immer noch nicht rühren. Da nahm der andere plötzlich seine Hand, führte sie zu seinem eigenen Mund und schloss die Lippen um den Stiel und die Spitzen von Omis Fingern. Er saugte geräuschvoll den bunten Saft auf, der sich dort gesammelt hatte, und ließ Omis Hand dann langsam wieder sinken. In seinen Augen funkelte es. „Ich hab mir damit mal eine Hose wirklich versaut. Die Dinger färben wie verrückt.“ Zum Beweis streckte er Omi seine bunt gefärbte Zunge raus. In dem Moment konnte Omi nicht mehr. Er musste einfach lachen. Er lachte und lachte, bis ihm die Tränen in die Augen schossen und seine Seiten zu schmerzen begannen. Dann endlich machte er sich über die Reste seines Eises her und genoss den süßen, kühlenden Geschmack in seinem Mund. Da saß er nun, ein Weiß, ein Assassine, ein eiskalter Killer und aß Eis am Stiel mit...ja mit wem eigentlich? „Wie heißt du eigentlich?“, fragte er den Mann. „Schuldig“, stellte der sich vor. „Schu...wie?“ Omi versuchte das ungewohnte Wort auszusprechen und scheiterte grandios. Der andere sprach es ihm noch ein paar Mal vor, bis Omi es beherrschte. „Gar nicht übel“, bemerkte der Mann, der Schuldig hieß, anerkennend. „Andere haben länger gebraucht.“ „Woher kommst du?“, wollte Omi wissen. Der andere hob nur eine Augenbraue. Omi verstand. Er würde es kaputt machen, wenn er zu viel fragte. So saßen sie noch eine Weile schweigend auf der Bank, bis Schuldig schließlich aufstand. „Ich muss los. Die Arbeit ruft“, sagte er und Omi meinte fast so etwas wie Bedauern in seiner Stimme zu hören. Aber das konnte er sich auch eingebildet haben. „Wie sehen uns, Bishounen“, verabschiedete sich Schuldig, nahm seinen Mantel von der Bank, warf ihn über die Schulter und schlenderte langsam in Richtung Ausgang. Kurz darauf hörte Omi den Motor eines Sportwagens aufheulen. Nagis Telefon klingelte. Ohne hinzusehen, streckte er den Arm aus und das Gerät sprang vom Tisch in seine Hand. Er drückte die Annahmetaste. „Was willst du, Schuldig?“, fragte er, ohne vorher auf das Display zu sehen. „Woher weißt du...ach vergiss es“, dröhnte die Stimme aus dem Lautsprecher. Im Hintergrund waren Motorengeräusche zu hören. Offenbar war Schuldig im Auto unterwegs. „Hör mal, Nagi, hast du dir schon die Sachen angesehen, die ich dir hingelegt habe? Die, die du für mich ins Netz stellen sollst?“ Die Miene des jungen Japaners blieb ungerührt. „Crawford wird das nicht erlauben. Das weißt du.“ Er konnte förmlich sehen, wie Schuldig ein Gesicht zog. „Dann sag es ihm nicht“, giftete sein Teamkollege. „Er braucht doch nicht alles zu wissen. Und kriegst du das andere auch hin?“ Nagi konnte ein Augenrollen nicht verhindern. „Natürlich kriege ich das hin. Ich kriege alles hin. Aber ich kann gerade nicht. Crawford hat mir Daten zur Auswertung gegeben. Dein Projekt muss noch warten.“ Schuldig hingegen dachte nicht daran aufzugeben. „Bitte Nagi, wenigstens den ersten Punkt auf der Liste. Komm, das wird lustig. Spiel ein bisschen mit. Der Rest hat bis nächste Woche Zeit.“ Nagi schnaufte. „Also schön. Ich speise die Informationen ein. Aber jetzt lass mich endlich in Ruhe arbeiten.“ Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Manchmal war es wirklich nicht leicht, er selbst zu sein. Als Omi am Koneko ankam, wurde es schon langsam dunkel. Hatte er sich wirklich so lange draußen herumgetrieben? Die anderen machten sich bestimmt schon Sorgen. Es war früher Nachmittag gewesen, als er den Blumenladen in Richtung Perser verlassen hatte. Das schien ihm eine Ewigkeit her zu sein. Doch jetzt, da er sich erinnerte, fühlte er den Groll wieder in sich aufsteigen. Er hatte das Gefühl, dass Perser...dass sein Vater ihm etwas schuldete. Mindestens ein halbes Jahr seines Lebens. Das würde er sich jetzt zurückholen. Omi hatte die Wohnungstür kaum geschlossen, da fielen die andere schon über ihn her. „Wo warst du?“, grollte Aya. „Wir haben uns Sorgen gemacht“, fügte Ken hinzu. „Du bist nicht an dein Handy gegangen“, stellte Yoji fest. „Mein Handy?“ Omis Hand wanderte zu seiner Hosentasche. Er hatte gar nicht gehört, dass es geklingelt hatte. „Also?“ Die Falte auf Ayas Stirn war nie tiefer gewesen. Seit er wusste, dass Omi auch ein Takatori war, war ihr Verhältnis nicht unbedingt besser geworden. Was der Aya wohl dazu gesagt hätte, wenn er erfuhr, dass Perser ebenfalls ein Takatori war. Omi hatte große Lust es ihm zu sagen, behielt es aber für sich. „Ich war bei Perser“, blieb er so weit bei der Wahrheit, wie er konnte. „Er hat mir...er hat eine geheime Akte gefunden, die ich ihm helfen sollte zu entschlüsseln. Sie enthielt einige Informationen über meine Vergangenheit. Viel ist nicht dabei raus gekommen, aber wisst ihr was: Ich hab gar nicht im Februar Geburtstag. Mein richtiger Geburtstag ist der 18. August.“ Verblüfft starrten die drei anderen Weiß ihn an. Ken war der erste, der sich wieder fing. Er schlug Omi strahlend auf die Schulter „Mensch, Omi, das ist ja schon nächste Woche. Das müssen wir feiern!“ „Oh, endlich 18!“, rief Yoji und griff sich ans Herz. „Unser Chibi wird erwachsen.“ Er tat, als müsse er eine Träne verdrücken. Aya sagte gar nichts. Er starrte Omi nur mit ausdrucksloser Miene an und glaubte ihm offensichtlich kein Wort. Aber das war Omi egal. So was von egal. Sollten ihn alle Takatoris und Ayas dieser Welt in diesem Moment doch gerade mal ganz gepflegt gernhaben. Er freute sich auf die nächste Woche. Kapitel 4: Game over -------------------- „Tsukiyono!“ Die Stimme seines Biologielehrers peitschte in sein Ohr. Omi schrak zusammen und riss die Augen auf. Der Mann knallte ihm wutschnaubend ein Buch auf den Tisch. „Das ist dein Thema für das Referat am Montag. Thema sind Singvögel Europas. Du nimmst die Amsel.“ Omi senkte ergeben den Kopf. „Ja, Herr Lehrer.“ Während der Unterricht weiterging, blätterte Omi lustlos im Buch. Die Hausaufgaben würden ihn umbringen. Und dann auch noch ein Referat? Wie sollte er das alles schaffen? Er war an der Stelle angelangt, an der der Text über Amseln stand. Ein Bild eines schwarzen Vogels mit organgerot leuchtendem Schnabel prangte auf der Seite. Omi hatte ganz kurz eine interessante Assoziation, schob diese aber beiseite und las. „Die Amsel (Turdus merula) ist ein etwa 25 Zentimeter großer in ganz Europa heimischer Vogel der Unterart Drosseln (Turdiae) Er ernährt sich von Schnecken, Würmern, Beeren und...“ Die Buchstaben begannen vor seinen Augen zu verschwimmen. Das war ja sterbenslangweilig. Er klappte das Buch wieder zu und versuchte dem regulären Unterricht zu folgen. Das war nur gar nicht so einfach, wenn man die halbe Nacht nicht schlief. Seit Omis Auftritt bei Perser vor ein paar Tagen schmiss Kritiker sie mit Arbeit zu und zwar bevorzugt mit welcher, die Omi zu erledigen hatte. Sicherlich, Ken half ihm am Computer aus, wo er konnte, aber er hatte einfach nicht Omis Fachwissen. Jemand machte sich an Kritikers Datenbanken zu schaffen. Die Angriffe waren gezielt und nicht vorhersehbar. Bisher war kein nennenswerter Schaden entstanden, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie es schafften, an sensible Daten zu gelangen. Vielleicht sogar an Aufzeichnungen über Weiß. Omi wusste, es lag auch in seinem Interesse, den Hacker dingfest zu machen, aber es nervte ihn trotzdem. Immerhin hatten sie eine mögliche Quelle der Angriffe ausmachen können. Ein Bürokomplex etwas außerhalb der Stadt. Heute Nacht sollte der Zugriff stattfinden. Omi gähnte noch einmal. Wenn er während der Mission die Augen offen behalten wollte, musste er sich unbedingt noch einmal hinlegen. Vielleicht in Geschichte. Da saß er ganz hinten und bei dem langweiligen Stoff fielen oft nicht nur ihm die Augen zu. Aya ließ das Licht der Kellerlampe über sein Katana fließen und steckte es wieder zurück in die Scheide. Ken überprüfte den Sitz seiner Bugknucks. „Wisst ihr, wir sollten Omis Geburtstag wirklich feiern“, sagte er, als die Krallen richtig saßen. „Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, Siberian“, wies Aya ihn zurecht. „Ach, Abyssinian, wann wäre denn der richtige Zeitpunkt?“, giftete Ken zurück. Pissiges Arschloch konnte er auch. „Vielleicht, wenn Omi mit im Zimmer ist? Ich dachte, wir wollten unseren Freund überraschen?“ „Bombay ist nicht mein Freund“, erklärte der Weißanführer und verließ Raum. „Wäre mir nicht aufgefallen“, knurrte Ken. Er sah zu Yoji. „Ideen?“ „Ich hab dir gesagt, wir gehen eine Sauftour mit ihm machen. Mädchen, Schampus, Clubs. Alles was er sich endlich angucken darf, ohne rausgeworfen zu werden.“ Yoji grinste breit. „Auf jeden Fall wäre das mein perfekter Geburtstag.“ „Omi ist aber nicht wie du, Kudo!“, gab Ken augenrollend zurück. „Ich hab mir überlegt...wie wäre ein Ausflug zum Strand? Wir fahren mit dem Zug nach Kamakura und dann...“ „Kannst du vergessen.“ „Warum?“ Yoji seufzte. „Weil du Aya nie in einen Zug bekommst. Oder wenn doch, setzen die uns an der nächsten Station wieder aus. Ohne Rückfahrkarte.“ „Dann lassen wir ihn hier“, antwortete Ken ungerührt. „Ist sowieso lustiger ohne ihn. Oder kannst du dir Aya in Badehose vorstellen?“ Die beiden sahen sich an und prusteten unisono: „Näää!“ Als Omi den Keller betrat, lachten die beiden anderen Weiß immer noch, wurden jedoch schlagartig ernst, als sie ihn sahen. Hatten sie etwa über ihn geredet? Misstrauisch sah er von einem zum anderen. Von schlechter Stimmung konnte allerdings keine Rede sein. Kein Wunder, Aya war ja auch nicht im Raum. „Komm, Omitchi, wir müssen los. Böse Hacker fangen.“ Yoji wuschelte ihm durch die Haare und Ken schob ihn sanft aber bestimmt die Treppe rauf. Wenn er nur gewusst hätte, worüber die zwei geredet hatten. Schuldig war gerade im Begriff, die Wohnung zu verlassen, als Crawford sich ihm in den Weg stellte. „Wo willst du hin?“, wollte er wissen. „Ausgehen?“, gab Schuldig unbestimmt zurück. „Ich brauche ein bisschen frische Luft.“ „Nagi hat mir gesagt, dass du ihn gebeten hast, einige Sachen für ihn zu erledigen.“ Schuldig fletschte die Zähne. „Du bist eine miese, kleine Petze, Naoe“, fauchte er in Richtung des Jungen, der sich an einer Türöffnung herumdrückte. Offensichtlich wollte er sehen, wie Schuldig zusammen gestaucht wurde. „Es war richtig von ihm, mich zu informieren“, brachte Crawford das Gespräch wieder an sich. „Wenn du Nagis Arbeitskraft abziehst, will ich, dass etwas dabei raus springt. Du bist immer noch hinter dem Weiß her?“ Schuldig hatte sich schnell wieder im Griff. Er lächelte jovial. „Das Spiel der König, Crawford. Weiß gegen Schwarz. Wie beim Schach, verstehst du?“ Crawford Miene war ausdruckslos. „Ich will, dass du alles protokollierst. Namen, Daten, Adressen, alles.“ „Möchtest du auch noch Pommes und ne Coke dazu?“, fragte Schuldig explizit höflich. Er wusste, dass er es tun würde. Er tat immer, was Crawford sagte. Mehr oder weniger. „Also schön“, knurrte er schließlich. „Ich schreib´s auf. Aber nicht in Schönschrift. Lass dir das meinetwegen von Prodigy abtippen.“ Er verließ die Wohnung. In seinen Ohren klang süß das Protestgeheul des jüngsten Schwarz-Mitgliedes. Wenigstens das hatte er geschafft. Aber jetzt galt es, sich auf das vor ihm Liegende zu konzentrieren. Im Treppenhaus schälte sich eine Gestalt aus dem Halbdunkel. Ein einzelnes, bernsteinfarbendes Auge fixierte Schuldig. „Kann ich mitkommen?“, fragte Farfarello. In seiner Hand glitzerte ein Messer, an dessen Schneide Blut unbekannten Ursprungs klebte. Vermutlich würden sich die Nachbarn wieder beschweren, dass einer ihrer fetten Köter abgeschlachtet worden war. Er war nicht gut, wenn Farfarello sich langweilte. Schuldig überlegte. Er war gerne mit dem anderen Schwarz unterwegs. Dessen Gedanken bezüglich seiner Umwelt und seiner Mitmenschen, insbesondere das, was er ihnen anzutun gedachte, waren für Schuldig immer recht unterhaltsam. Und eigentlich hätte er eine Ablenkung gut gebrauchen können. Jemand der mit dem Rest von Weiß ein bisschen Katz und Maus spielte, während er sich deren Jüngsten vornahm. Aber irgendwie scheiterte er daran, sich Farfarello als Maus vorzustellen. In seiner Vorstellung wuchs der Ire schnell zu einer tollwütigen, einäugigen Ratte mit narbenbedecktem Fell heran, die sich mit gebleckten, gelben Reißzähnen auf einen Haufen verschreckter Kätzchen stürzte. So etwas konnte er jetzt nicht gebrauchen. „Heute nicht“, antwortete er deshalb. „Warum gehst du nicht alleine ein paar Kirchenmänner erschrecken. Aber denk daran: nur erschrecken, nicht umbringen. Crawford war sehr deutlich, was das anging.“ Farfarello schien zu überlegen. Dann teilte ein breites Lächeln sein Gesicht, das selbst Schuldig schauern ließ. „Das ist eine wundervolle Idee“, gurrte er und verschwand wieder in den Schatten. Der Bürokomplex lag in völliger Dunkelheit da. Die Sicherheitsvorkehrungen an der Tür waren ein Witz gewesen. Omi hatte kaum drei Minuten gebraucht, um sie reinzulassen. Unschlüssig standen sie in der dunklen Eingangshalle. Jeder der Gänge, die von dem gläsernen Konstrukt ausgingen, sah völlig gleich aus. „Wir trennen uns“, bestimmte Abyssinian. „Siberian rechts, Balinese links, Bombay, du kommst mit mir geradeaus.“ Omi wunderte sich zwar etwas über diese Aufteilung, folgte seinem Anführer aber widerspruchslos in den unbeleuchteten Gang. Sie öffneten eines der Büros nach dem anderen, aber nirgendwo war etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Schließlich wies Aya auf einen der Computer. „Sieh zu, ob du was findest. Ich suche oben weiter.“ Omi machte sich gehorsam an Werk und musste zugeben, dass ihm das erheblich mehr lag, als ausgerechnet mit Abyssinian durch die Gänge zu schleichen. In seiner Gegenwart fühlte er sich immer ein wenig beklommen. Diese Takatori-Sache stand zwischen ihnen, egal wie sehr sich Omi auch gewünscht hätte, dass es anders wäre. Und egal wie sehr Aya es auch versuchte zu leugnen. Insgeheim schwang es trotzdem immer mit. Er hoffte nur, dass sie bald Gelegenheit finden würden, darüber zu sprechen und das ein für alle Mal zu bereinigen. Auf dem Gang schepperte etwas. Omi war sofort in Alarmbereitschaft. Er verließ seinen Schreibtisch-Posten und schlich zur Tür. Vorsichtig spähte er in den dunklen Gang. Es war niemand zu sehen. Er schaltete das Headset ein. „Bombay hier, alles ok bei euch? Over.“ „Siberian hier, alles ruhig. Over.“ „Balinese hier. Es ist zum Gähnen langweilig. Over.“ „Abyssinian hier. Bin im dritten Stock. Alles ruhig. Over.“ Omi wollte sich gerade wieder in das Büro zurückziehen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung am Ende des Ganges sah. Ein Schatten, der sich nach links entfernte. Abyssinian hatte gesagt, er wäre im dritten Stock, die anderen ganz woanders. Es musste noch jemand im Gebäude sein. Omi wollte eine Meldung durchgeben, aber in seinem Headset knackte und rauscht es plötzlich. Entweder waren die anderen außer Reichweite oder das Ding war kaputt. 'Verfluchter Mist', dachte er und schlich kurzerhand hinter dem Schatten her. Als er um die Ecke kam, war niemand dort. Er stand vor einem kurzen Gang, der an einer Verbindungstür endete. Von dort kam man in einen anderen Gebäudekomplex. Zwei Glastüren hintereinander waren durch elektronische Systeme verriegelt. Omis Blick wanderte nach oben und blieb an einer grünen Lampe hängen. Die Türen waren offen. Plötzlich begann die Lampe zu flackern. Das Flackern wurde schneller. Vermutlich ein Warnsignal dafür, dass sich die Tür gleich wieder verriegeln würde. Kurzentschlossen drückte Omi die Tür auf und glitt hindurch. Auf der andere Seite angekommen klackte es. Das Licht über ihm leuchtete rot. 'Na das hast du ja super hingekriegt.' Er tippte gegen das Headset, doch das Ding weigerte sich, etwas anderes als atmosphärische Störungen von sich zu geben. Seufzend schaltete er es ab und folgte dann geduckt dem Gang, der ebenso wie der vorherige nur aus weißen Wänden und weißen Türen bestand. Der Innenarchitekt hatte sich nicht sehr viel Mühe gegeben. Über ihm erklang ein leises Türklappen. Wäre es nicht so totenstill gewesen, hätte man das Geräusch vermutlich nicht einmal wahrgenommen. So aber wusste Omi, wo er hin musste. Auf Zehenspitzen schlich er in den ersten Stock. Er linste um die Ecke, aber da war nichts. Doch. Am Ende des Ganges wurde der Schatten durch eine haarfeine Linie aus Licht unterbrochen. Sie drang aus einer nicht ganz geschlossenen Bürotür. Langsam und vorsichtig schob er sich an die verdächtige Tür heran. Er streckte die Hand aus und schob sie zentimeterweise auf. Der Raum im Inneren war ein Büro wie die anderen. Es wurde vom bläulichen Licht des Computerbildschirms erhellt. Davor stand eine Gestalt in einem langen Mantel. Omi atmete unwillkürlich scharf ein. Er kannte den Mann. „Nabend Bombay“, begrüßte ihn Schuldig. „Du erlaubst doch, dass ich dich setze?“ Bevor Omi etwas erwidern konnte, hatte der anderen ihn gepackt und auf den Bürostuhl befördert. Er nahm Omis Hände und führte sie hinter der Stuhllehne zusammen. Dabei lehnte er sich über ihn, sodass sich ihre Wangen berührten, der Atem des anderen in seinen Nacken blies. Es klickte, als die Handschellen einrasteten. „Gut so oder soll ich sie noch fester machen?“, fragte Schuldig in sein Ohr. „Ich hoffe, du entschuldigst die Unannehmlichkeiten, aber ich habe zu arbeiten.“ Damit wendete er sich wieder von Omi ab und ging zurück an den Bildschirm. Er tippte etwas ein und summte dabei ein Lied, das Omi nicht kannte. Seine Hand glitt zur Maus, klickte, ließ den Zeigefinger über der Taste schweben, klickte wieder. Er schien völlig versunken. Omi rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her, soweit es seine Fesseln zuließen. Er überlegte, was er sagen könnte, aber es fiel ihm einfach nichts ein. Schließlich konnte er sich zu einem lahmen „Ist das nicht unbequem, wenn du die ganze Zeit stehst?“ durchringen. Schuldig drehte sich halb zu ihm herum. „Du hast den einzigen Stuhl. Wo sollte ich mich denn hinsetzen? Auf deinen Schoß?“ Er zwinkerte Omi zu und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Omi blinzelte ein paar Mal, bevor das Gesagte wirklich in sein Gehirn vordrang. Ohne es verhindern zu können, wanderte sein Blick zu Schuldigs Hintern. Was wenn...Omi fühlte eine leichte Röte in sein Gesicht kriechen. Das war wirklich zu absurd. 'Warum?', wollte eine kleine Stimme in seinem Kopf wissen. 'Ist ja nicht so, dass du davon nicht schon mal gehört hättest, oder? Wobei es vielleicht eine gute Idee wäre, wenn du oben sitzen würdest. Ist sicherlich bequemer.' Das Bild, das in Omis Kopf entstand, ließ seine Wangen noch intensiver erröten. Er dankte innerlich dafür, dass es gerade dunkel und Schuldig beschäftigt war. Dann rief er sich selbst zur Ordnung. Er war hier auf einer Mission und Schuldig, soweit er das beurteilen konnte, sein Gegner. Da war kein Platz für solche Fantasien. 'Ich höre mich schon an wie Aya...nein, wie Abyssinian. Wenn wir auf Mission sind, hat er immer so einen Kommandoton drauf. Der schlägt seinen normalen Bosston um Längen.' Omi rüttelte vorsichtig an den Handschellen, aber Schuldig hatte die Dinger so eng gemacht, dass er nicht an den Verschluss herankam. Wenn er hier raus wollte, musste er auf die anderen warten, denn dass Schuldig ihn einfach so laufen lassen würde, bezweifelte er trotz allem stark. 'Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.', dachte er und wunderte sich, woher er solche Sprüche kannte. Er sah sich im Raum um und überlegte, ob er wohl irgendwie Krach schlagen konnte. Wenn er Glück hatte, würde Balinese, der in dem Flügel gleich nebenan unterwegs war, ihn hören. Wenn er nicht gerade eine rauchen war. Zuzutrauen wäre es ihm. Siberian war in jedem Fall zu weit weg. Sein Flügel ging zur anderen Seite ab. Am wahrscheinlichsten war es wohl, dass Abyssinian ihn suchen kam. Wenn er nur irgendeinen Hinweis hinterlassen hätte, in welche Richtung er gegangen war. Eine Markierung oder irgendwas. Aber er war einfach so losgelaufen, ohne zu überlegen. Abyssinian würde ihm nachher dafür den Kopf anreißen, so viel war sicher. Wenn er das hier denn überlebte. Aber weiter im Text. Womit könnte er auf sich aufmerksam machen? „Falls du gerade überlegst, wie du deine Kollegen auf dich aufmerksam machen kannst, vergiss es. Sie werden ohnehin zu spät kommen.“ Omi hatte nicht bemerkt, dass Schuldig ihn schon seit einer Weile beobachtete. Er lehnte am Schreibtisch und hatte die Arme locker vor der Brust verschränkt. Jetzt, da Omi ihn bemerkte, kniete er sich vor den Schreibtischstuhl, legte seine Hände auf Omis Oberschenkel und fixierte ihn mit den Augen. „Ich bin fertig“, sagte er sanft und griff nach dem Headset an Omis Ohr. Er betrachtete es und schaltete es wieder ein. Sofort drangen die Stimmen von Omis Teamkollegen daraus hervor. Sie waren bereits auf der Suche nach ihm. Omi wusste nicht, ob er darüber traurig oder erleichtert sein sollte. Er wollte den Mund öffnen und ihnen antworten, doch Schuldig legte seinen Zeigefinger über Omis Lippen. „Sch...“, machte er. „Wir wollen doch ein unangenehmes Zusammentreffen zwischen ihnen und mir verhindern, oder nicht?“ Omi konnte nicht anders, als zu nicken. „Sehr schön. Dann sage ich dir, was wir machen. Ich lasse dir das Ding hier und mache mich auf den Weg. Du zählst bis 50 und dann darfst du um Hilfe rufen. Aber erst dann.“ Omi nickte wieder und fühlte, wie die Finger von seinen Lippen gehoben wurden und stattdessen zu seinem Ohr wanderten. Schuldig legte ihm das Headset wieder an und stand auf. Er ging zum Fenster und öffnete es. Mit einem Sprung war er auf der Fensterbank und drehte sich noch einmal zu Omi herum. „Das nächste Mal vielleicht lieber wieder ein privates Treffen“, schlug er vor, zwinkerte Omi noch einmal zu und war verschwunden. Omi atmete hörbar aus. In seinem Ohr überschlugen sich die anderen. Er überlegte, wollte schon anfangen zu zählen, dann rief er sich zur Raison. Er war hier auf Mission. „Bombay hier. Over.“ Die Reaktion riss ihm fast das Trommelfell entzwei. „Wo bist du?“, fauchte Abyssinian. „Ist dir was passiert?“ Siberian. „Bleib wo du bist, wir kommen dich holen.“ Balinese. „Ich bin im zweiten Gebäudekomplex. Am Endes des Hauptganges geht links ein Korridor ab. Die Tür ist verriegelt, aber ich kann euch gerade nicht helfen. Ihr müsst sie so aufkriegen. Over.“ „Wir kommen. Over.“ Omi musste nicht lange warten, bis die Bürotür aufgerissen wurde und die anderen drei hereinstürmten. Siberian warf ihn in seiner Eile fast mit dem Stuhl um und Omi knallte mit der Stuhllehne gegen den Schreibtisch. „Omi, da bist du ja endlich“, fiel er aus dem Missionsmodus. „Wir suchen dich schon seit über einer halben Stunde. Wie bist du nur hierher gekommen?“ „Ich dachte, ich hätte etwas gehört und bin der Spur gefolgt“, antwortete Omi und wich Ayas Blick aus. „Ich weiß, ich hätte Bescheid sagen sollen, aber das Headset fiel auf einmal aus. Also bin ich alleine los, um den Hacker zu stellen.“ „Du hast ihn gefunden?“ Balinese sah sich suchend um. „Hier?“ „Ja, aber er hat mich überrumpelt und an den Stuhl gefesselt.“ Aya sagte nichts. Er trat zu Omi und packte dessen Arme. Dann zog er sie mit einem Ruck nach vorne. Er traf auf keinen Widerstand. Omi starrte auf seine leeren Handgelenke. Die Handschellen waren verschwunden. Und mehr noch: Sie hatten keinerlei Spuren hinterlassen. „Das verstehe ich nicht“, murmelte er. „Ich hab doch genau gehört...eigenartig.“ „Und was bedeutet das da?“, grollte Aya und wies auf den Bildschirm. Omi drehte den Stuhl herum und blickte minutenlang auf die Buchstaben, die dort standen. „Ist das...Mahjong?“, fragte Yoji schließlich. „Soll das heißen, du hast hier Mahjong gespielt, während wir uns den Arsch aufgerissen haben, um dich zu finden?“ „Sieht aber cool aus“, versuchte Ken die Situation aufzulockern. „Was für eine Version ist das? Wo kriegt man die? Ich mag die Fische.“ Yoji schien ernsthaft erstaunt. „Du spielst Mahjong, Ken?“ „Klar, ich liebe das. Aber meins ist nicht so schick wie das da. Ob man das kaufen muss?“ „Quatsch, so was kriegt man doch als Freeware im Netz. Du findest alles im Internet heutzutage. Glaub mir.“ „Schluss jetzt!“ Ayas Stimme war bereits mehrere Grade unterhalb des Gefrierpunkts. „Wir packen zusammen und brechen die Mission ab. Das wird ein Nachspiel haben, Bombay“ Omi nickte nur stumm. Er war immer noch von den zwei Sätzen auf dem Bildschirm gefangen. Keine weiteren Züge mehr möglich. Möchten Sie ein neues Spiel starten? Schuldig, der unter dem Fenster stehen geblieben war, hatte genug gehört und verließ seinen Posten. Das war besser gelaufen, als er gedacht hatte. Jemandem etwas einzuflüstern war nicht so leicht, wie Gedanken zu lesen. Derjenige musste schon auf Empfang sein oder sehr abgelenkt, damit das klappte. Oder eben einfach dämlich; davon gab es ebenfalls genug auf dieser Welt. Umso zufriedener war er mit dem Ergebnis. Zumal er noch die eine oder andere nützlich Information erhalten hatte. 'Mission erfüllt', dachte er bei sich und wanderte fröhlich pfeifend zurück zu seinem Auto. Er tänzelte im Takt der Melodie über das aufgesprungene Pflaster des schon lange verlassenen Parkplatzes, balancierte auf dem Randstein entlang und sprang schließlich mit einem gestreckten Sprung über die Absperrung, hinter der sein Auto stand. Er ließ sich auf den Sitz gleiten, angelte sein Telefon aus der Tasche und wählte. „Was?“ 'Oha, der Kleine ist immer noch angepisst.' „Hallo Nagi. Wo ist Crawford?“ „Weg. Farfarello hat hier in der Nähe eine Kirche auseinander genommen und den Geistlichen krankenhausreif geschlitzt. Crawford regelt das gerade.“ 'Ups.' „Ich rufe an wegen dieser Sache...“ „...“ „Komm schon, Nagi. Crawford hat gesagt, es ist in Ordnung. Und ich schreib die Ergebnisse auch selber auf. Du brauchst mich nur mal an den Computer zu lassen.“ „Vergiss es“, fauchte es aus dem Hörer. Manchmal war ihr sogenanntes Wunderkind echt berechenbarer, als er wahrhaben wollte. „Ich richte das heute noch ein. Aber du weißt schon, dass das krank, pervers und widerlich ist.“ Schuldig grinste. „Hast reingeguckt, eh?“ Ihm antwortete nur das Klickgeräusch, mit dem Nagi auflegte. Und Schuldig lächelte. Sehr, sehr, sehr breit. Kapitel 5: Das Geburtstagsgeschenk ---------------------------------- Omi erwachte mit dem Bewusstsein, dass er heute Geburtstag hatte. Das war ungewöhnlich. Normalerweise gab er diesem Tag keine besondere Bedeutung. Also nicht so. Aber heute war es irgendwie anders. Er sprang mit beiden Beinen gleichzeitig aus dem Bett und stürmte noch im Schlafanzug die Treppe hinunter. „Ken, Yoji, Aya? Seid ihr da?“ Er guckte in alle Räume, konnte aber niemanden finden. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. Sind deinen Geburtstag vorbereiten. Bis später. Omi ließ sich auf einen Küchenstuhl plumpsen. So hatte er sich das irgendwie nicht vorgestellt. Andererseits: Was die andere wohl vorbereiteten? Ob er was geschenkt bekam? Bestimmt. Er beschloss erst mal zu frühstücken und dann weiterzusehen. Immerhin mussten sie heute im Laden arbeiten. Nur weil schulfrei war, hieß das nicht, dass er keine Verpflichtungen hatte. Als er satt, sauber und fertig angezogen den Laden betrat, erwartete ihn die nächste Überraschung. Die Ladentür war abgeschlossen. An der Klinke hing schon wieder ein Zettel. „Wegen Krankheit geschlossen“ Was war hier los? Wo waren nur alle? Verwirrt ging er wieder zurück in die Wohnung. Er schmiss sich auf die Couch und schaltete lustlos den Fernseher an. Er war schon bei Kanal 134, als er endlich Geräusche an der Wohnungstür hörte. Begeistert sprang er auf und eilte seinen Freunden entgegen. „Das ist alles deine Schuld“, meckerte Yoji gerade Ken an. Der sah ziemlich geknickt aus. Allerdings nicht so geknickt wie die Schachtel, die er in der Hand hielt. Die war nicht geknickt, die war platt. „Omi!“ Ken wäre die plattgedrückte Schachtel beinahe aus der Hand gefallen. „Ähm hi wir äh...“ „Alles Gute zum Geburtstag, wollte unser Grobmotoriker eigentlich sagen“, fiel Yoji ein und zog Omi in eine Umarmung. „Und? Wie fühlt sich volljährig an?“ „Gut“, grinste Omi. Ken versuchte sich an dem Kunststück, ihn ebenfalls zu umarmen, ohne die Schachtel fallen zu lassen. Es misslang. „Ok, ich glaube, das war´s mit dem Kuchen“, sagte Yoji trocken. „Ich meine, nachdem sich Ken schon drauf gesetzt hat, ist es vielleicht sowieso besser, wenn wir ihn wegwerfen.“ „Nur ganz leicht“, verteidigte sich Ken. „Du hättest ihn eben nicht auf den Sitz stellen dürfen.“ Während die beiden sich weiter kabbelten, musste Omi lächeln. Seine Freunde. Seine wahre Familie. Es war schön, dass sie da waren. Was ihn zu einer entscheidenden Frage brachte. „Wo ist Aya?“ Yoji und Ken hörte auf sich zu streiten und machten betroffene Gesichter. „Wir...also...wir wollten dich überraschen“, antwortete Ken schließlich. „Wir haben einen Ausflug an den Strand geplant und naja...wir wollten Aya eigentlich nicht mitnehmen.“ „Was?“ Omi sprang auf. „Kommt gar nicht in Frage. Also Strand ja, aber nicht ohne Aya. Wenn er nicht mitkommt, komme ich auch nicht. So.“ „Das ist albern.“ Alle wendeten sich zur Tür, wo Aya im Gegenlicht stand. Das Licht funkelte auf dem goldenen Ohrring und die dunkelroten Haare leuchteten wie Feuer. Er trat ein und schloss die Tür. „Es wäre albern, wenn du nicht mitgehen würdest“, wiederholte Aya. „Es ist immerhin dein Geburtstag.“ Omi schnaufte. „Ich will aber, dass du mitkommst. Es wäre kein schöner Geburtstag ohne dich. Es würde sich nicht richtig anfühlen. Ich will, dass alle meine Freunde dabei sind.“ „Bin ich das? Dein Freund?“ Aya machte Anstalten, an ihm vorbei zu gehen, aber Omi schnappte sich seinen Arm und hielt ihn fest. Ken holte tief Luft, als erwartete er, dass Omi das Körperteil gleich verlieren würde. „Jetzt hör mir mal zu, Aya Fujimiya. Ich weiß, dass du wegen deiner Schwester einen Riesenhass auf die Takatoris hast. Aber nachdem du mich aus den Klauen meines Bruders befreit hattest, hast du gesagt, mein Name sei nicht Mamoru Takatori, sondern Omi Tsukiyono. Das war es, was mir die Kraft gegeben hat, meinen Bruder auszuschalten. Die Gewissheit, dass ich hierher gehöre. Dass ich hier eine Familie habe. Und zu der gehörst du auch dazu. Also hör endlich auf, mich so abzukanzeln und äh...“ Omi hatte den Faden verloren. Er sah Aya bittend an. Der schien zu überlegen. „Aber ich fahre“, antwortete er schließlich und Omi konnte nicht anders, als ihm um den Hals zu fallen. „Und ich habe kein Geschenk für dich“, fügte er noch hinzu, als er Omis Arme endlich wieder losgeworden war. „Macht nichts, aber wir“, versicherte Yoji und bugsierte Omi in die Küche. Dort entsorgte er als Erstes den ruinierten Kuchen und zog dann ein Päckchen aus einer Tüte. Es war flach und ungefähr so groß wie ein Buch. „Meins zuerst aufmachen!“, drängelte sich Ken vor und überreichte Omi eine Ausgabe einer Computer-Zeitschrift mit einem Gutschein für fünf weitere Ausgaben. „Mir ist nichts Besseres eingefallen, aber es gibt noch ein cooles T-Shirt dazu und ähm...“ „Danke, Ken“, sagte Omi und lächelte seinen Freund an. Dann beäugte er misstrauisch Yojis Geschenk. „Das ist aber nichts Unanständiges, oder?“ Yoji guckte empört. „Würde ich nie machen. Wenn du meinst, dass du Pornos gucken musst, kannst du die gefälligst selber kaufen.“ Omi wurde ein bisschen rot um die Nase. Nein, Pornos waren nicht sein Ding. Er fand die Vorstellung, nackten Menschen dabei zuzugucken, nicht reizvoll. Er hatte da etwas anderes für sich entdeckt. Schnell lenkte er seine Gedanken davon ab, indem er endlich das Papier zerfetzte. Ihm fiel eine neue, orange Badeshorts entgegen. „Damit du heute auch fesch bist am Strand“, grinste Yoji. „Wäre doch gelacht, wenn du nicht ein paar Mädels beeindrucken würdest. Immerhin hast du den besten Lehrmeister.“ Nachdem sie losgefahren waren, lehnte sich Omi an die Fensterscheibe und sah in den Himmel. Der strahlte ihm azurblau entgegen und versprach bestes Wetter. Er freute sich auf den Ausflug, auch wenn es auf dem Rücksitz von Ayas Porsche schon extrem eng war. Auf Bekanntschaft mit den von Yoji angedrohten Mädchen konnte er allerdings verzichten. Er hatte gemerkt, dass das nicht so sein Ding war. Omi bekam rote Ohren, wenn er daran dachte, womit er die letzten Nächte verbracht hatte. Es hatte alles damit angefangen, dass ihm Yojis Aussage nicht aus dem Kopf gehen wollte, dass man im Internet alles finden konnte. Warum dann nicht auch merkwürdige, ausländische Männer mit komischen Namen? Zwei Tage hatte er der Versuchung standhaft widerstanden. Dass Aya ihn hatte Strafarbeiten im Blumenladen machen lassen, hatte sein Übriges dazu getan und er hatte eigentlich beschlossen, sich nie wieder mit dem Thema zu befassen. Zumal ihm, während er Böden schrubbte und Blumenerde schleppte, klar geworden war, dass Schuldig ein gefährlicher Mann war. Er arbeitete für Takatori. Er hatte anscheinend was mit den Hackerangriffen auf Kritiker zu tun. Es war das Beste, wenn Omi ihn einfach vergaß. Zwei Tage. Dann hatte er es nicht mehr ausgehalten und den Computer angeschaltet. Tatsächlich war Omi fündig geworden. Er hatte ein wenig mit den Suchbegriffen herum experimentieren müssen, aber schließlich hatte er ein Bild von Schuldig gefunden. Auf dem Foto trug er einen weißen Anzug und lächelte gewinnend in die Kamera. Omis Finger war ganz automatisch auf die rechte Maustaste gekommen und hatte das Bild in den Tiefen des Rechners abgespeichert. Dem Text war leider nicht viel Information zu entnehmen gewesen, sodass Omi die Webseite schon hatte schließen wollen. Doch dann war er auf einen Link geraten und dann noch einen und dann war er auf einmal mitten in einer Welt voller erotischer Literatur gelandet. Teilweise sehr expliziter Literatur. Und die Hauptdarsteller waren allesamt männlich. Beim Gedanken daran, was er da alles zu lesen bekommen hatte, wurde Omi direkt ein bisschen warm. Das war ungünstig, wenn man gerade mit einem seiner besten Freunde zusammen auf einem engen Rücksitz saß. Also versuchte er krampfhaft, an etwas anderes zu denken. Seine Schulaufgaben zum Beispiel. Das Referat, dass er am Montag noch halten sollte. Ja, das war ein gutes Thema. Dieser dämliche Vogel nervte Omi so sehr, dass er nur an ihn denken musste, um wieder runterzukommen. „Hey Omi, du schaust so verkniffen. Ist alles in Ordnung?“ Ken sah ihn fragend an. Omi zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. „Nein, alles bestens. Der beste Geburtstag aller Zeiten!“ Als sie am Strand ankamen, hatten seine Freunde noch eine Überraschung für ihn. Ken und Yoji schleppten eine riesige Kiste an, die eigentlich unmöglich im winzigen Kofferraum hätte Platz finden können. Die beiden stöhnten und schwitzten, obwohl sie beide schon ihre Badehosen anhatten. Aya stand untätig daneben. Im Gegensatz zum Rest trug er immer noch seine normale Kleidung und weigerte sich auch standhaft, diese zu wechseln, obwohl Ken angeboten hatte, ihm etwas zu leihen. „Der arme Postbote muss sich ja einen Bruch gehoben haben“, stöhnte Yoji und ließ Omi das Paket vor die Füße fallen. „Ich schleppe das Ding nicht einen Meter mehr weiter. Mach´s auf oder lass es. Ich bin raus.“ Omi grinste wie ein Honigkuchenpferd und packte, so schnell er konnte, das Riesenpaket aus. Als er jedoch sah, was darin war, hätte er die Kiste am liebsten wieder zugemacht. „Das ist nicht euer Ernst“, stöhnte er. „Auf keinen Fall lege ich mich DA DRAUF!“ „Och, warum denn nicht?“, gluckste Yoji, der das Ding mit Sicherheit ausgesucht hatte. „Wenn du es erst mal aufgepustet hast, guckt es bestimmt nicht mehr so traurig. Omi bemühte sich, einen von Ayas berühmten Todesblicken zu imitieren. „Es ist ein verdammtes Einhorn, Yoji. Ich mache mich doch total lächerlich!“ „Ach was“, winkte der Womanizer ab. „Du wirst sehen, die Mädels stehen total auf so was. Du legst dich einfach rein und guckst, was so anbeißt. Oder hättest du lieber den pinken Flamingo gehabt?“ Omi gab es auf und raufte sich die Haare. Er würde wohl nicht drumherum kommen, mit diesem regenbogenfarbenden Monstrum zumindest einmal ins Wasser zu gehen. Missmutig warf er Ken, der sein Grinsen redlich zu verstecken versuchte, die mitgelieferte Pumpe zu. „Das machst du aber. Streng deine fußballgestärkten Muskeln mal an.“ „Wir gemacht, Chibi“, salutierte Ken und machte sich an die Arbeit. Kurz darauf starrte Omi ein grenzdebiles Gummi-Einhorn an. Die Badeinsel war so groß, dass bequem zwei Leute darauf Platz hatten. Selbst Aya schien sich ein Schmunzeln verkneifen zu müssen. Oh, wie er sie alle hasste. „Dafür hab ich was gut bei euch. Bei jedem einzelnen“, knurrte Omi und machte sich heldenmutig daran, mit dem bunten Gefährt das Wasser zu erobern. Er schob die Badeinsel ein Stück weit ins Wasser und ließ dann hinein gleiten. Zum Glück war der Rand so hoch, dass man sich einigermaßen dahinter verstecken konnte. Er warf noch einen bösen Blick an den Strand, wo ihm Ken zuwinkte und Yoji ermunternd den Daumen hob. „Viel Glück!“, formten seine Lippen und Omi ließ sich stöhnend auf das rutschige Plastik zurückgleiten. Ja, wenn er Glück hatte, sah ihn niemand hier drin. Vermutlich würde das gute Tier in einer halben Stunde leider, leider einen unglücklichen Unfall haben, der es ein für alle Mal im Meer versenkte. Mit einem großen Loch im Bauch. Die Sonne knallte heiß vom Himmel und Omi wurde langsam schläfrig. Die kurzen Nächte forderten endgültig ihren Tribut. Ganz kurz schoss ihm noch durch den Kopf, dass es gefährlich war, mit so einem Schwimmtier einfach auf dem Wasser zu treiben, da waren ihm auch schon die Augen zugefallen. Omi erwachte, als da Einhorn zu schaukeln begann. Es platschte neben ihm und kurz darauf landete ein nasser Körper im Bauch der Badeinsel. Lange, feuchte Beine streiften seine und er wusste sofort, dass es Yoji war, der sich zum ihm gesellt hatte. Aya wäre niemals ins Wasser gegangen und Ken hatte, wie er vorhin eindrucksvoll bewiesen hatte, weitaus muskulösere Waden. „Was willst du?“, knurrte er. Die Hitze hatte ihn schlapp gemacht und vermutlich würde er morgen mit dem Sonnenbrand seines Lebens aufwachen. Trotzdem konnte er sich nicht dazu durchringen seinen Teamkollegen anzusehen. Der feixte sich bestimmt gerade eins, weil Omi sich hier versteckte, statt die Damenwelt zu belustigen. Jeden Augenblick würde er wahrscheinlich versuchen, Omi ins Wasser zu werfen. Omi spannte sich. Er würde bestimmt nicht derjenige sein, der aus dem Boot flog. Ein gezielter Tritt und... „Ich wollte nur mal Hallo sagen“, unterbrach eine Stimme seine Überlegungen und Omi riss die Augen auf. Vor ihm im Boot lag nicht etwa Yoji, sondern Schuldig! Er trug nur eine knappe, schwarze Badehose und die sonst so auffälligen Haare lagen nass und glatt am Kopf an. Seine leicht gebräunte Haut glitzerte in der Sonne von tausenden Wassertropfen, die von seinem eingeölten Körper abperlten. Er hatte sich gemütlich gegen den Rand der Badeinsel gelehnt und betrachtete Omi mit leicht schief gelegten Kopf. Seine Beine streiften Omis, als er seine Position leicht verlagerte. Sofort zog Omi die Füße an, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihn zu bringen. „W-was machst du hier?“, stotterte er. Seine Gedanken überschlugen sich. Wie in aller Welt hatte Schuldig ihn gefunden? Waren sie dieses Mal Gegner oder...etwas anderes? Omi erlaubte sich einen kurzen Blick zur Seite und sah, dass der Strand gar nicht so weit weg war. Trotzdem würde vermutlich niemand mitbekommen, was hier draußen geschah. Er suchte hektisch den Strand nach seinen Freunden ab, aber er konnte sie auf die Schnelle in den Menschenmassen nicht finden. Vermutlich war die Insel ohnehin ein Stück weit abgetrieben. Nein, auf Hilfe brauchte er nicht zu hoffen. Unwillkürlich spannte er sich noch mehr an. „Nun mach dir mal nicht in die Badehose“, lachte Schuldig und ließ seinen Arm ins Wasser hängen. „Ich fress dich schon nicht.“ Omis Herz klopfte bis zum Hals. Er kam sich schutzlos vor, ausgeliefert, nackt. Naja nicht so nackt, aber nackt genug. Oder besser viel zu nackt. Unwillkürlich ließ er den Blick über den Körper des anderen Mannes gleiten und fühlte, wie er rot wurde. So ungeniert, wie sich Schuldig in dem Boot rekelte, hätte man meinen können, es wäre seines. „Los, verzieh dich!“, wagte Omi aufzubegehren. Er würde jetzt hier nicht den Schwanz einklemmen nur weil...weil...oh er musste aufhören, so was zu denken. Eine ganz schlechte Richtung. Schuldigs Lächeln wurde breiter. Er rappelte sich auf, lehnte sich über Omi und platzierte sein Knie nur wenige Zentimeter von Omis Schritt entfernt. Seine Hände stütze er rechts und links von Omi am Rand der Badeinsel ab. Wasser tropfte aus den langen Haaren auf Omis Bauch und er erschauerte. Die Tropfen sammelten sich zu kleinen Rinnsalen, die seinen erhitzten Oberkörper hinabliefen und den Rand seiner Badehose benetzten. Es war ein seltsam erregendes Gefühl. „Wenn du das wirklich möchtest“, holte Schuldig ihn aus einen Gedanken, „dann gehe ich natürlich.“ Er lehnte sich noch weiter vor und sein Mund streifte Omis Ohr. „Aber ich sage dir, du verpasst etwas. Ich hatte so ein schönes Geburtstagsgeschenk für dich.“ Hitze schoss in Omis Gesicht und andere Körperstellen. Das war schlecht. Ganz schlecht, denn es bedeutete, dass sich der Abstand zwischen ihnen an einer sehr prekären Stelle verringerte. Omi betete, dass das dem anderen Mann nicht auffiel. Zum Glück hatte Yoji bei den Badeshorts zu einem weiten Modell gegriffen Omi blickte nach oben und sah das amüsierte Glitzern in Schuldigs leuchtend blauen Augen. Ein Geruch von Meer, warmer Haut und Sonnenöl stieg Omi in die Nase. Eine interessante Mischung. Aber so schnell, wie sie gekommen war, entfernte sich Schuldigs Präsenz wieder von ihm. Omi atmete erleichtert auf. Schuldig klaubte etwas vom Boden der Badeinsel und warf es Omi zu. Der fing es reflexartig auf und starrte auf die Flasche After-Sun-Lotion in seinen Händen. „Die wirst du brauchen können“, sagte Schuldig. Er stand auf, zwinkerte Omi noch einmal zu und hechtete dann mit einem gestreckten Kopfsprung ins Wasser. Omi stürzte an den Rand der Badeinsel, um ihm nachzusehen. Mit langen Schwimmzügen machte sich der Mann auf den Rückweg zum Strand. Dann tauchte er mit einem Mal unter und Omi wartete vergeblich darauf, dass er wieder an die Wasseroberfläche kam. Schuldig war und blieb verschwunden. Mit einem lauten Schnaufen ließ sich Omi in das Plastikungetüm zurücksinken. In seiner Hand immer noch die Flasche. „Omiiii...Ooooomiiii!“, wehte der Wind eine Stimme heran. Omi krabbelte an den Rand und erkannte mit einem Blick Yoji und Ken, die wild winkend am Strand standen. Aya wanderte in einigem Abstand mit hochgekrempelten Hosenbeinen hinter ihnen her am Rand der Wasserlinie entlang. Dabei versuchte er erfolgreich die übrigens Badegäste mit gezielten Blicken auf Abstand zu halten. Omi konnte nicht anders, er musste grinsen. Es fühlte sich gut an, vertraut, sicher. Ganz anders als noch vor ein paar Augenblicken, als sich die Welt auf einen winzigen Punkt im Universum zu verdichten drohte. Mit einem wilden Winken stürzte sich auch Omi ins Wasser und vergaß dabei ganz, das Einhorn hinter sich her zum Strand zu ziehen. Als er dort ankam, hatte Yoji verstimmt die Hände in die Hüften gestemmt. „Also so gehst du mit unserem Geschenk um? Wirklich, Omitchi, ich bin enttäuscht.“ Er deutete auf das regenbogenfarbende Gummigefährt, das nun langsam aber zielsicher aufs Meer hinaustrieb. Omi verschränkte verlegen einen Arm hinter dem Kopf und grinste entschuldigend. „Tut mir leid. Hab nicht dran gedacht.“ „Und was ist das da?“, wollte Ken wissen und deutete auf die Flasche in Omis Hand. Omi starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. Wann genau hatte er die denn mitgenommen? Und warum überhaupt? Yoji schnappte sich die Lotion und warf einen Blick über den Rand seiner Sonnenbrille. „Gutes Zeug“, urteilte er. „Aber schon angebrochen. Hast du die aus dem Wasser gefischt?“ „So in der Art“, nuschelte Omi, griff sich die Flasche und stiefelte damit an Aya vorbei zu ihren Handtüchern. Die drei restlichen Weiß-Mitglieder sahen sich ratlos an. Ken war der erste, der seine gute Laune wiederfand. „Wer hat Hunger?“, fragte er in die Runde. Yoji hob die Hand und wedelte damit in der Luft herum. „Ich! Ich!“ Auch Aya nickt zustimmend. „Gehen wir etwas essen.“ Sie verbrachten noch den Rest des Nachmittags am Strand und blödelten in der Sonne herum. Yoji lud ein paar nette Mädchen zu ihnen ein und es war wirklich fast so etwas wie eine ausgelassene Geburtstagsparty, wie man sie sich schöner nicht wünschen konnte. Zum Glück bemerkte niemand, dass Omi ab und an den Blick über die Menge schweifen ließ, als suche er etwas, und dann wieder insgeheim erleichtert zu seinen Freunden zurückkehrte, als er es nicht fand. Als Omi am Abend aus der Dusche kam, spannte und juckte seine Haut fürchterlich. Er verfluchte noch einmal Yoji und dessen blöde Idee, nur eine leichte Sonnencreme mitzunehmen, weil man sonst angeblich nicht braun wurde. Nun Omi war nicht braun, er war rot. Sonnenbrand deluxe. Sein Blick wanderte zu der Flasche auf dem Nachttisch. Du wirst sie brauchen können, geisterte eine Stimme durch seinen Kopf. Er zögerte zunächst, doch dann gab er sich einen Ruck, nahm die Flasche und kippte sich eine gute Portion der After-Sun-Lotion auf die Hand. Die Flüssigkeit war kühl und roch angenehm. Vor allem aber nahm sie die glühende Hitze aus seinem Körper. Omi seufzte lautlos. Das Zeug war wirklich verdammt gut. Während er weiter cremte, fiel ihm plötzlich ein, was Yoji gesagt hatte. Die Flasche war schon angebrochen? Sollte das heißen, Schuldig hatte ihm seine Lotion vermacht? Mit der er sich selber schon eingecremt hatte? Omi musste zugeben, dass dieser Gedanke eigenartig war. Eigenartig und irgendwie anregend. Er cremte weiter und stellte fest, dass die zweite Portion etwas großzügig bemessen gewesen war. Seine Hand war immer noch glitschig. Was sollte er jetzt mit dem Rest anfangen? Er zögerte. Sollte er wirklich? Ganz langsam schob er die Hand weiter nach unten in Richtung Hosenbund und schließlich darunter. Er musste feststellen, dass dort unten schon mehr los war, als er bemerkt hatte. Er ließ sich aufs Bett fallen und bewegte die Hand vorsichtig hin und her. Es war jetzt nicht so, dass er das nicht schon mal gemacht hatte, aber noch nie so. Deine Gedanken kehrten zu dem Nachmittag am Strand zurück und vor allem zu einer gewissen Person in einer schwarzen Badehose. Omi hatte mal gehört, dass, wenn man die andere Hand nahm, es sich so anfühlte, als würde eine fremde Person...nun ja. Er nahm die Rechte aus seiner Hose und ließ dafür die linke Hand hineingleiten. Oh das war wirklich interessant. Er schloss die Augen und dachte an braune Haut, die Wassertropfen auf seinem Bauch, den Mund, der so nah an seinem eigenen gewesen war. Wie es wohl wäre, von ihm geküsst zu werden? Auf den Mund und...anderswo. Omis Bewegungen wurden schneller, während er sich vorstellte, dass sich vor ihm ein roter Haarschopf auf und ab bewegte. Wie er seine Hand in die Strähnen wickelte, den Rhythmus bestimmte. Sein Atem wurde schneller, abgehackt, bis er schließlich kam. Die klebrige Flüssigkeit schoss auf seinen Bauch und Omi blieb schwer atmend liegen. Irgendwann langte er nach den Taschentüchern auf seinem Nachtisch und säuberte sich. Erschöpft ließ er sich auf das Bett sinken, als ihn auf einmal eine Erkenntnis wie ein Blitzschlag traf. Verdammt! Er hatte sich gerade einen runtergeholt und dabei an Schuldig gedacht. Stöhnend vergrub er den Kopf in den Kissen. Was für ein echt beschissener Geburtstag. Kapitel 6: Ruhe vor dem Sturm ----------------------------- „Und? Schon irgendwelche Ergebnisse?“ Nagi schrak zusammen Schuldig hatte sich unbemerkt wie eine Katze an ihn herangeschoben und guckte ihm jetzt über die Schulter. Er konnte das nicht leiden. Weder das Ranschieben noch das Gucken. Schon gar nicht, seit...lieber nicht darüber nachdenken. „Ich sitze noch an den Statistiken, aber die Tendenz sieht gut aus. Ich denke, wir haben bald eine Strategie, die aufgehen wird.“ Nagi drehte schwungvoll den Stuhl herum, so das Schuldig auf Abstand gehen musste, wenn er nicht Bekanntschaft mit Nagis Füßen an seinem Schienbein machen wollte. Der Junge hatte eine dicke Falte mitten auf die Stirn. „Du bist doch aber nicht nur hier, um dich nach Crawfords Fortschritten zu erkundigen“, stellte er fest. „Kannst du Gedanken lesen oder ich?“, grinste Schuldig. „Nein, ich wollte mich auch nach dem Projekt Honiglöckchen erkundigen.“ „Honeypot“, schnarrte Nagi. „Es heißt Honeypot. Fachbegriffe werden nicht übersetzt. Und ja, ich habe da schon einiges.“ „Und?“ Schuldig hasste es, wenn er Nagi jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen musste. „234 Klicks, zweimal heruntergeladen. Eine Adresse in Oksaka, die andere hier in der Stadt. Das weitere Benutzermuster passt zu dem, was du suchst.“ Schuldig nickte zufrieden. „Gut, dann nimm das Ding vom Netz. Schick der ersten Adresse ein freundliches Paket von uns. Die- oder derjenige kann sich schon mal von seiner Festplatte verabschieden. Die andere Adresse will ich haben.“ „Du weißt, das Crawford dich die Woche über zum Dienst eingeteilt hat? Takatori steht kurz vor dem Abschluss des Wahlkampfes. Da ist Präsenz gefragt. Pressekonferenzen, Veranstaltungen, Abendgalas. Das volle Programm.“ „Ja, ja, weiß ich“, erwiderte Schuldig ungeduldig. „Das Honiglöckcen läuft mir ja nicht weg.“ Er duckte sich vor einem Buch, das von ganz alleine in seine Richtung geflogen kam. „Es. Heißt. Honeypot.“ Nagi schien kurz vor dem Explodieren. „Ich meinte doch nicht dein Computerdings, ich meinte den kleinen Weiß“, verteidigte sich Schuldig lachend und verließ dann lieber das Zimmer, bevor Nagi seine telekinetischen Kräfte noch einsetzte, um den Schreibtisch nach ihm zu werfen. Sicher war sicher. Auf dem Weg nach draußen stolperte er fast über Farfarello. Der Ire saß auf dem Boden. Seine Arme steckten in den Ärmeln einer Zwangsjacke, die fest auf seinem Rücken verschnürt waren. Sein einzelnes Auge ruhte auf Schuldig. Schuldig ging in die Knie und schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. „Du hättest wirklich etwas vorsichtiger sein sollen, Farf. Jetzt steckst du wieder in dem Ding.“ Farfarello deutete ein Schulterzucken an, soweit es der feste, weiße Stoff zuließ. „Es hat Gott weh getan. Sein Lämmchen hat geschrien.“ „Das kann ich mir vorstellen. Ich hab die Bilder gesehen. Hübsches Muster übrigens. Wie hast du die Wellenlinien hinbekommen? Bist ja ein richtiger Künstler.“ „Ich habe ein Bild aus Schmerz gemalt, damit es Gott es sehen kann“, sagte Farfarello. Ja, das Bild hatte Schuldig auch gesehen. Es grenzte an ein Wunder, dass der Mann, mit dessen Blut es gemalt worden war, überhaupt noch lebte. „Hör zu“, sagte er. „Ich muss jetzt arbeiten. Wenn du wieder aus der Zwangsjacke raus darfst, unternehmen wir beide mal wieder was. Vielleicht ein Abstecher zum Hafen? Dort finden wir doch immer was für dich.“ Das bernsteinfarbende Auge glitzerte interessiert. „Ich such dir auch jemanden aus, der laut genug schreit, damit Gott es hört.“ Bevor Farfarello antworten konnte, öffnete sich die Wohnzimmertür. Crawford trat in den Flur. „Du sollst ihn nicht immer noch ermuntern. Die Aktion hat mich einiges gekostet. Komm, ich muss dir noch den Zeitplan für nächste Woche geben.“ Schuldig nickte und stand auf. „Gut. Wie lange müssen wir Takatori noch den Rücken freihalten?“ „SZ hält viel von ihm. So lange er nützlich ist, steht er unter unserem Schutz. Gewinnt er die Wahl, wird das unsere Bewegungsfreiheit erheblich erhöhen. Aber ich will dir noch etwas anderes zeigen.“ Crawford ging zurück ins Wohnzimmer und Schuldig folgte ihm. Auf dem Tisch langen einige verstreute Papiere. Schuldig bedachte diesen Umstand mit einem leichten Stirnrunzeln. Das sah Crawford nicht ähnlich. Der Mann war normalerweise so ordentlich, dass es zwanghaft wirkte. Was es im Grunde genommen auch war. Irgendetwas ging hier vor. „Ist alles in Ordnung?“ Crawford verharrte in der Bewegung und schien nachzudenken. „Ja“, antwortete er dann langsam. „Die Zukunft verschiebt sich nur irgendwie. Es gab ziemlich viele Umbrüche in letzter Zeit. Aber nichts, was uns von unserem Ziel entfernt. Es gibt da allerdings etwas Wichtiges. Ein Mädchen. Kannst du mit dem Namen etwas anfangen?“ Er hielt Schuldig einen Zettel hin. Der betrachtete die Schriftzeichen, versuchte sie zuzuordnen. „Ein Mädchen sagst du? Was weißt du über sie?“ „So gut wie nichts. Aber ich dachte mir, vielleicht schnappst du ja etwas auf, dass uns weiterhilft. Du bist doch gut in so was.“ Schuldig setzte wieder ein Grinsen auf. „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Insgeheim wusste er schon, wo er suchen musste. Das würde bestimmt spaßig werden. „Hey, Tsukiono, du bist ja so rot. Hast du Sensai Yagisawa unter den Rock geguckt?“ Allgemeines Gelächter folgte dem Scherz von Omis Klassenkameraden. Der immer gleichen Rock ihrer uralten Japanischlehrerin, den diese auf einem Hintern spazieren trug, der dem einer überdimensionierten Ente glich, war ein beliebter Running Gag unter den Schülern. Es wurden Wetten darüber abgeschlossen, was sich alles darunter befand und von einem geheimen Klopapier-Vorrat bis zum Miniatur-Atomkraftwerk war wohl schon alles dabei gewesen. „Hab einen Sonnenbrand“, nuschelte Omi und versteckte sich hinter seinem Biologiebuch. Mit hektischen Bewegungen versuchte er noch, das Referat fertig vorzubereiten, das er gleich halten sollte. Irgendwie war ihm das am Wochenende dann doch wieder entfallen. Als sich die Klassentür öffnete, bekam er fast einen Herzanfall. Er war nicht ansatzweise fertig. Doch statt seines Biologielehrers trat eine neue, junge Lehrerin ein. „Es tut mir leid euch mitteilen zu müssen, dass euer Lehrer leider erkrankt ist. Ich werde für diese Woche seinen Unterricht übernehmen. Wer kann mir sagen, wo ihr mit dem Stoff steht?“ Der Junge, der vorhin den Witz über Omis Gesichtsfarbe gemacht hatte, schoss ihm einen fiesen Blick zu und meldete sich. 'Wenn der mich jetzt wegen des Referats verpetzt, verpasse ich ihm einen Dart mitten zwischen die Augen.', dachte Omi und versuchte, diese Botschaft mental an den anderen zu übertragen. Mit seinem Gesicht hätte man Eier abschrecken können. „Miss, wir wollten heute eigentlich einen Film schauen. Wenn Sie möchten, bin ich Ihnen mit dem Projektor behilflich.“ „Das ist sehr aufmerksam, vielen Dank. Welchen Film wolltet ihr denn sehen?“ „Warten Sie, ich zeige es Ihnen.“ Omi atmete auf und ließ sich wieder auf seinen Sitz sinken. Gerade noch geschafft. Dieser Ausfall kam ihm gerade recht. Er hatte noch so viel aufzuholen, dass er die ganze Woche brauchen würde, um den Stoff in den Griff zu bekommen. Ein Tag- und ein Nachtleben zu führen, war definitiv anstrengend. Ganz zu schweigen von einem Liebesleben. Omi wurde rot, wenn er an das Wochenende dachte. Zum Glück fiel das momentan nicht so auf, zumal die Lehrerin jetzt die Verdunkelung herunterließ, um den Film zu beginnen. Er hatte also versucht, sich Schuldig aus dem Kopf zu schlagen, und hatte versagt. Nun gut, das war jetzt so. Aber was sollte er jetzt tun? Er hatte keine Ahnung, wie er Kontakt aufnehmen sollte. Ouka zu fragen, fiel aus. Seit sie seinen Brief bekommen hatte, ging ihm seine Cousine aus dem Weg. Takatori fiel aus offensichtlichen Gründen ebenfalls als Kontaktmöglichkeit aus. Was also blieb ihm übrig, als zu warten, dass sich Schuldig wieder bei ihm meldete? Er starrte auf den Film, in dem es wohl irgendwie um Frösche ging und hing seine Gedanken nach. Wann würde er ihn wiedersehen? Die Ladenglocke des Koneko bimmelte und eine Frau betrat den Laden. Ihre auffällige Erscheinung ließ Leben in Yoji kommen, der gerade dabei gewesen war, neue Rosen in die bereits leer gekauften Vasen zu sortieren. Er drückte Ken die Rosen in den Arm und schlängelte sich zur Tür. „Manx“, schnurrte er und versuchte seinen Arm um sie zu legen. „Was verschafft uns die Ehre? Du warst viel zu lange nicht hier.“ Die rothaarige Frau schüttelte ihn ab wie eine lästige Fliege. „Keller“, sagte sie nur und ging bereits Richtung Treppe. Yoji seufzte gequält, legte seine Schürze ab und folgte ihr. Der Rest von Weiß kam nur wenig später in ihrer Einsatzzentrale an. „Was gibt es, Manx?“, fragte Ken. „Eine neue Mission?“ „Noch nicht“, erwiderte Manx. „Es gibt da einige beunruhigende Entwicklungen, aber nichts, was zu diesem Zeitpunkt schon einen Einsatz von Weiß rechtfertigen würde. Wir sagen euch dann Bescheid, wenn es soweit ist.“ „Takatori?“ Aya lehnte an der Wand und schaute finster. Manx schüttelte den Kopf. „Noch nicht.“ „Wann?“, schnappte er. „Ich habe Perser gesagt, dass...“ „Und ich soll dir ausrichten, dass du dich gedulden sollst“, unterbrach ihn Manx. „Es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt.“ „Ich werde nicht ewig warten“, sagte Aya und es klang fast wie eine Drohung. „Ich bin zunächst einmal hier, um euch zu eurem Erfolg in Bezug auf die Hacker zu danken. Nach eurer Mission haben die Angriffe aufgehört.“ „Aber...“, begann Ken, doch Yoji unterbrach ihn mit einem beiläufigen Tritt. „Immer gerne, Manx. Sonst noch etwas?“ „Ich habe noch einen Brief für Omi. Ich soll ihn dir persönlich geben und du sollst ihn lesen, wenn du alleine bist.“ Omi nahm den Umschlag und fühlte die Blicke seiner Freunde auf sich. Er dankte Manx und steckte das Schriftstück ein. Für Perser, seinen richtigen Vater, hatte er momentan einfach keine Reserven mehr übrig. Er würde sich damit beschäftigen, wenn...irgendwann. „Bis auf Weiteres hat Weiß also den Auftrag, sich bedeckt zu halten“, schloss Manx die Besprechung. Als sie gegangen war, blies Ken die Backen auf und ließ die Luft entweichen. „Also mir passt das gut. Die Kids haben am Freitag ein wichtiges Spiel. Da kann ich ein paar Extra-Trainingsrunden einbauen.“ „Ich wollte mir auch zwei Tage freinehmen“, verkündete Yoji. „Ich hab da jemanden, mit dem ich gerne mal einen Ausflug machen würde. Über Nacht.“ „Ich muss lernen“, sagte Omi. „Vielleicht könnten wir ja nach dem Spiel am Freitag noch einen DVD-Abend machen, Ken?“ „Klingt gut. Und du, Aya?“ Aya antwortete nicht und verließ den Raum in Richtung Blumenladen. „Ja, hat mich auch gefreut“, rief Ken ihm nach. „Also ehrlich Leute, ich komme momentan mit ihm nicht klar.“ „Aya hat irgendwelche Sorgen“, sagte Omi. „Er will Takatori erwischen. Aber wenn er ihm einfach so auflauert, ist er einfach nur ein Mörder und Perser wird ihn festnehmen müssen.“ „Vermutlich wäre ihm das sogar egal“, vermutete Yoji. „Ich wäre trotzdem froh, wenn es nicht soweit käme.“ „Ja“, nickte Omi, „das hoffe ich auch.“ Die Woche plätscherte dahin. Omi tat sein Bestes, um den verpassten Stoff aufzuarbeiten, setzte sich sogar an sein Referat, war freundlich zu den Kunden im Blumenladen und versuchte ansonsten nicht an gewisse, böse Männer zu denken. Tagsüber war er damit recht erfolgreich, aber nachts geisterte Schuldig durch seine Träume. Mehr als einmal wachte er morgens mit verklebter Hose auf und schämte sich dafür. Er kam sich vor wie eines der Schulmädchen, die Tag für Tag den Laden belagerten. Am Donnerstag war er soweit, dass er sogar schon den halben Weg zu dem Park zurückgelegt hatte, in dem sie sich getroffen hatten, als er ärgerlich den Roller herumriss und wieder nach Hause fuhr. Sich so zu verhalten war lächerlich. Er würde einfach abwarten müssen. Freitagabend hatte Omi alles vorbereitet. Er hatte zusammen mit Aya das Haus geputzt, hatte DVDs besorgt, Popcorn gemacht und saß pünktlich um halb neun auf dem Sofa, um auf Ken zu warten. Zur Feier des Tages trug er das T-Shirt, das Ken zu dem Zeitungs-Abo dazu bekommen hatte. Es war gestern in der Post gewesen. Knallblau mit einem kleinen, weißen Ritter darauf und der ebenfalls weißen Aufschrift „Professioneller Prinzessinnen-Retter“. Yoji war schwer neidisch gewesen. Er probierte das Popcorn und überlegte gerade, ob er schon mal was zu Trinken aus dem Kühlschrank holen sollte, da piepste sein Handy. Bin aufgehalten worden. Trainersitzung. Kann dauern. Sry. Omi sank in den Kissen zusammen. Jetzt saß er hier ganz alleine den Abend lang herum. Er überlegte, ob er Aya fragen wollte, ob der runterkommen wollte, aber er bezweifelte, dass dem der Sinn nach Gesellschaft stand. Yoji war mit seiner neuen Flamme unterwegs. Omi erwog den Gedanken, sich zum Lesen vor den Computer zu setzen, aber dazu hatte er eigentlich auch keine Lust. Er wollte hier auf dem Sofa liegen und nicht alleine sein. Missmutig griff er in die Popcornschüssel und schaltete den Fernseher an. Er zappte durch die Kanäle und blieb kurz an einem Bericht über Takatoris Wahlkampf hängen. Aber als er merkte, dass er statt des Politikers nur Augen für die Security-Leute hatte, schaltete er entschieden weiter. Irgendwann blieb er bei einem uralten Hollywood-Schinken hängen und amüsierte sich sogar alleine köstlich über die gestelzten Darstellungen und die übertriebene Dramatik. Irgendwann kurz vor dem Schluss fielen ihm schließlich die Augen zu und er schlief mit der Hand in der Popcornschüssel und dem Kopf auf der Sofalehne ein. Kapitel 7: Absturz ------------------ Der Park lag im Dunklen. Die Laternen waren abgeschaltet worden, es war bereits nach Mitternacht. Omi hastete durch die Nacht, die nur ein fahler Mond erhellte. Er blieb im Schatten der Bäume stehen und lauschte. Niemand zu hören. Und doch... Irgendjemand war hier. Er wollte weiterlaufen und trat dabei auf einen Ast. Mit einem lauten Knacken brach das morsche Holz entzwei. Omi schlug die Hand vor den Mund. Ob das jemand gehört hatte? Er wartete mehrere Minuten, aber der Park blieb weiter ruhig. Als er endlich weitergehen wollte, trat eine Gestalt aus den Schatten. „Wo willst du denn hin, Bishounen?“ Die Stimme jagte Omi einen Schauer über den Rücken. Mit zwei schnellen Schritten war Schuldig bei ihm und presste ihn gegen einen der Bäume. Noch bevor Omi schreien konnte, verschlossen die Lippen des Mannes die seinen. Die Hand von seiner Kehle wanderte tiefer, suchte ihren Weg zwischen den Schichten von Stoff, fanden seine empfindliche Seite und krallten sich darin fest. Omi stöhnte und fühlte eine Zunge zwischen seinen Lippen hindurch schießen. Er erwiderte den tiefen Kuss, bäumte sich dem Mann entgegen. Endlich. Die forschende Hand wanderte weiter und bekam auf der anderen Seite Gesellschaft von ihrer Schwester. Die beiden zogen Omi ein Stück vom Baum weg und schoben sich tiefer zu seinem Hintern vor. Gleichzeitig wurde er an der Vorderseite stärker gegen Schuldig gepresst, der eindeutig ebenfalls erregt war. Omi fühlte die pochende Härte durch den Stoff der Hose, wollte sie ebenfalls berühren, aber seine Hände wurden festgehalten. „Heute nicht“, keuchte Schuldig. „Heute bist du dran.“ Er hielt Omis Handgelenke weiterhin mit einer Hand über dessen Kopf fest, während er die andere in Omis Hose schob. Omi quietschte, als sich die fremden Finger fest um seine Erektion schlossen. Er wurde rot, doch Schuldig schien das peinliche Geräusch nicht bemerkt zu haben. Er hatte auch keine Zeit, sich weiter darüber Gedanken zu machen, als die Hand sich in einem erregenden Rhythmus zu bewegen begann. Wieder fanden sich ihre Lippen, auch wenn Omi zunehmend Mühe hatte, Küssen und Luft holen miteinander in Einklang zu bringen. Schließlich gab er es auf und warf den Kopf zurück. Sein Atem wurde schneller, Schuldigs pumpende Bewegung ebenfalls, bis der Punkt erreicht war, an dem alles zu spät war. Omi öffnete den Mund zu einem heiseren Schrei und kam. „Du hast ja interessante Träume.“ Omi blinzelte. Um ihn herum war es dunkel und roch nach Popcorn. Als er sich bewegte, knirschte es. Zwischen seinen Beinen lag eines der Sofakissen, seine Hose darunter war eindeutig feucht. „Wo...wo bin ich?“, murmelte er. Sein Nacken fühlte sich steif an. „Auf jeden Fall nicht im Park“, entgegnete jemand ruhig. Omi rieb sich die Augen, versuchte die Stimme einzuordnen und gefror in der Bewegung. Es war Schuldigs. „Ausgeschlafen?“, spottete der aus der Dunkelheit. „Obwohl mir das nicht nach Schlafen aussah. Eher nach Ringkampf. Muss ja ein heißer Traum gewesen sein, so wie du gestöhnt hast.“ Omi spürte, wie er rot wurde. Gleichzeitig fiel ihm etwas Wichtiges auf. „Was machst du in unserem Wohnzimmer?“ „Dich besuchen?“, lautete die Gegenfrage. „Aber wie? Woher? Woher weißt du, wo ich wohne?“ Omi rappelte sich auf, ließ jedoch das Kissen, wo es war. Er hatte Schuldig jetzt im Dunkeln auf der anderen Sofalehne ausgemacht. Der Mann saß dort und sah ihn an. „Sagen wir, ich habe da so meine Quellen“, lachte Schuldig. „Nett habt ihr´s hier. Bisschen klein vielleicht. Wohnt ihr alle hier?“ Omis innerer Alarm sprang an. „Warum willst du das wissen?“ „Oh, nur damit ich weiß, wie viele Männer wir mitbringen müssen, um euch hochzunehmen. Wobei, wenn ich Craword und Farfarello mitbringe, sollte das eigentlich genügen. Vielleicht noch ein bisschen Kanonenfutter. Man weiß ja nie, wozu man das brauchen kann. Notfalls um die Ausgänge zu blockieren. Ich habe bei meinem Rundgang drei gezählt, ist das richtig?“ Omi wurde eiskalt, obwohl der Raum gut temperiert war. „Hochnehmen?“, krächzte er. „Ja sicher. Weiß bedroht Takatoris Sicherheit. Du weißt doch. Mein Boss und so. Ich hab ein bisschen recherchiert und wie es aussieht, habt ihr Beziehungen zur örtlichen Polizei. Dort werden wir dann als Nächstes aufräumen. Takatori hat seinem Bruder noch nie so recht über den Weg getraut. Es wird Zeit, ihn auch aus dem Weg zu räumen. Wenn ich das geschickt anstelle, wird es so aussehen, hättet ihr ihn umgebracht. Das wäre doch mal was. Zwei Fliegen mit einer Klappe quasi.“ Omi hatte das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Er fiel und fiel in ein tiefes, schwarzes Loch. Oben am Rand stand Schuldig und lachte auf ihn herab. Auf den kleinen, dummen Schuljungen, dem er den Kopf verdreht hatte, bis dieser ihn zum Versteck seiner Freunde geführt hatte. Omi wurde übel. „Es sei denn...“ Omis Kopf ruckte nach oben. „Es sei denn, was?“, fragte er atemlos. „Es sei denn, du hast mir etwas anzubieten, das ich nicht ablehnen kann. Etwas, dass dein und das Leben deiner Freunde rettet. Wäre doch schade um so ein hübsches Gesicht.“ Schuldig stand auf und strich Omi über die Wange. Der schauderte innerlich, ließ es aber geschehen. Er wagte nicht zu atmen. Schuldigs Lippen streiften seine. So leicht, dass es kaum ein Kuss zu nennen war. „Ich gebe dir drei Tage“, flüsterte er. „Bis dahin will ich, dass du dir überlegst, wie viel dir Weiß wert ist. Wie viel du bereit bist, zu geben.“ Er richtete sich wieder auf und legte grüßend zwei Finger an die Stirn. „Wir sehen uns, Bishounen.“ Als er weg war, konnte Omi die Tränen nicht länger zurückhalten. Er schluchzte auf, krümmte sich auf dem Sofa zusammen und weinte. Weinte, bis seine Augen brannten und er nur noch von trockenen Krämpfen geschüttelt wurde. Irgendwie schaffte er es nach einer gefühlten Ewigkeit, sich zu erheben und ins Badezimmer zu wanken. Angeekelt zog er die verklebte Hose aus und stellte sich unter die Dusche. Er ließ das Wasser laufen und laufen, bis seine Haut vor Hitze prickelte. Er taumelte in sein Zimmer und rollte sich auf seinem Bett zusammen. Dort lauschte er ängstlich den Geräuschen der Nacht, bis er endlich in einen traumlosen Schlummer versank. „Es ist ein bisschen, als würde man mit einem Geist zusammen wohnen“, murmelte Ken in Yojis Richtung. Sie saßen am Esstisch und waren gerade fertig mit dem Mittagessen, das Yoji bei seiner Rückkehr mitgebracht hatte. Omi hatte seine Portion nicht angerührt. „Seit wann ist er so?“, flüsterte Yoji zurück. „Ich musste ihn Freitag versetzen. Als ich zurückkam, hat er auf dem Sofa geschlafen. Ich hab den Fernseher ausgemacht und ihn liegenlassen. Seit er dann Samstag aufgestanden ist, ist er so. Aya hat ihn aus dem Laden geworfen, als er zum dritten Mal viel zu viel Wechselgeld rausgegeben hat. Danach hat er sich in seinem Zimmer verkrochen und ist nur noch zu den Mahlzeiten rausgekommen. Also nicht, dass er viel gegessen hätte. Du siehst es ja.“ Yoji musterte ihren jüngsten Freund, der mit versteinerter Miene am Tisch saß. Er machte sich Sorgen. Große Sorgen. So hatte er Omi zuletzt erlebt, als der herausgefunden hatte, dass er ein Takatori war. Da hatte dieser Zustand vielleicht eine Stunde angehalten. Dass er jetzt schon fast zwei Tage so war, war nicht gut. Gar nicht gut. „Omi?“ Vorsichtig versuchte er die Aufmerksamkeit des Jungen zu erregen. „Omi, du siehst nicht gut aus. Fehlt dir was? Komm, erzähl es Onkel Yoji.“ Er setzte sich neben Omi und legte ihm den Arm um die Schulter. Omi schrak zusammen. Er schien Yoji erst jetzt zu bemerken. „Wann bist du wiedergekommen?“, fragte er erstaunt. „Vor zwei Stunden, du Blitzmerker“, lachte Yoji. „Also, was ist dir für eine Laus über die Leber gelaufen? Hast du deinen Computer gecrasht? Liebeskummer? Die Kasse mitgehen lassen?“ Omi sah ihn aus großen Augen an. Yoji merkte, dass er dabei war, sich wieder zurückzuziehen. Was immer es war, Omi würde es ihm nicht anvertrauen. Es musste ein verdammt großes Problem sein, aber wenn er meinte, musste er da eben alleine durch. „Jetzt hör mal, Chibi“, sagte er deswegen schnell. „Du kriegst das hin. Was immer es ist, Omi-Power wird es besiegen. Glaube mir.“ „Omi-Power?“ Omi musste trotz allem ein bisschen lächeln. „Klingt, als hätte ich Super-Kräfte.“ „Hast du ja auch“, erklärte Yoji im Brustton der Überzeugung. „Schau mal, unser Ken hier hat zum Beispiel ein großes Herz, aber mit seinem Grips ist es leider nicht so weit her.“ „Hey!“, protestierte Ken und drohte, Yoji seine leere Schüssel an den Kopf zu werfen. Der winkte ab und sprach weiter. „Aya hingegen hat vielleicht einen Verstand wie ein Katana, aber ob er überhaupt ein Herz hat, weiß ich nicht. Vermutlich hat er das in ein kleines Kästchen eingeschlossen und irgendwo im Meer versenkt, so wie er sich manchmal benimmt. Und was meine Wenigkeit angeht...“ Yoji grinste schief. „Ich hab´s geschafft mit jeder Menge Alkohol und Frauen alles beides kaputtzumachen. Aber du, Omi, du hast einen Verstand, den ich manchmal fast brillant nennen möchte. Auf jeden Fall über dem Durchschnitt. Und dein Herz ist so riesig, dass du eigentlich zwei Meter groß sein müsstest, damit es in deiner Brust Platz hat. Und wenn gerade eins von beiden auf Sparflamme läuft, dann benutze halt das andere, um das Problem zu lösen. Alles klar?“ Omis winziges Lächeln wurde breiter. „Alles klar, Meister Yotan. Danke für deine weisen Worte.“ Er umarmte Yoji kurz und stürmte hinauf in sein Zimmer. Yoji lies sich auf seinem Sitz zurücksinken und schnaufte. „Ich glaube, ich brauch erst mal eine Zigarette.“ Ken sah Yoji bewundernd an. „Das war ziemlich gut. Ich glaube, du hast es geschafft.“ Yoji winkte ab. „Gewöhnt euch nicht dran. Das ist definitiv anstrengender als Saufen und Sex. Wovon ich an diesem Wochenende übrigens jede Menge hatte. Hab ich das schon erwähnt?“ Ken stopfte sich die Finger in die Ohren. „Lalala. Ich will das nicht hören.“ „Nicht? Könntest ja vielleicht noch was lernen“, lachte Yoji und ging dann nach draußen, um sich eine anzustecken. Er blies die Rauchwölkchen in die Luft und sah ihnen nach, wie sie in der warmen Augustluft nach oben stiegen, bis sie sich endlich verflüchtigten. Sein Blick suchte und fand Omis Fenster. „Viel Glück, Omitchi. Mach was draus.“ Omi hatte eine Seite aus seinem Schreibblock gezerrt und machte sich eifrig Notizen. Yoji hatte Recht. Sein Herz mochte momentan bluten, aber sein Verstand konnte das Problem vielleicht lösen. Er schrieb: 1.Schuldig weiß, wo er wohnte. Wie war das möglich? Ein Sender? Hatte er ihn beschattet? Welche Möglichkeiten gab es noch? Omis Blick irrte durch das Zimmer und blieb an seinem Computer hängen. Seine Stirn legte sich in Falten. Ob er ihn darüber gefunden hatten? Er beschloss, diese Frage auf später zu verschieben, denn an der Tatsache an sich war jetzt ohnehin nichts mehr zu ändern. Er würde aber die nächsten Tage den Computer vorsichtshalber auf Eis legen. 2. Schuldig war hier bei ihm zu Hause gewesen. Es hätte zig andere Wege gegeben, Omi wissen zu lassen, dass er ihn gefunden hatte. Dieser Besuch hatte lediglich dazu dienen sollen, ihm Angst zu machen. Dass das gelungen war, stand außer Frage, aber Angst konnte man bekämpfen. 3. Schuldig hatte ihn und die anderen nicht getötet, obwohl er Gelegenheit dazu gehabt hatte. Sicherlich, er hätte dann eine andere Möglichkeit finden müssen, Perser aus dem Weg zu räumen, aber daran konnte es nicht liegen. Viel eher sprach es dafür, dass ihm weniger daran gelegen war, Weiß wirklich zu vernichten, sondern etwas von Omi zu bekommen. „Aber was?“, murmelte Omi und ließ den Stift fallen. Er hatte absolut keine Ahnung, was er ihm anbieten sollte. Geld konnte es nicht sein. Sonst etwas aus seinem Besitz? Omi sah sich um, konnte aber nichts entdecken, das wertvoll genug war, vier Leben aufzuwiegen. Sein Blick blieb an dem Blatt hängen, die er in der Eile mit aus dem Block gezerrt hatte. Es war sein Referat, das er morgen halten und danach abgeben sollte. Er zog die Seite komplett heraus und überflog den Text. Ihm war etwas eingefallen. Etwas Wichtiges. Da. „Bei Gefahr für Gelege oder Nachkommen kann man die Amsel bei einem ganz besonderen Schauspiel beobachten. Kommt ein Fressfeind, wie etwa eine Katze, in die Nähe des Nestes, wirft sich die Amsel ganz in der Nähe zu Boden und tut so, als ob sie verletzt sei. Dabei macht sie den Fressfeind auf sich aufmerksam. Kommt er näher, hüpft sie ein Stück fort, um dort von Neuem mit dem Spektakel zu beginnen. Hat sie den Räuber weit genug vom Nest weggelockt, erholt sich die Amsel scheinbar auf wundersame Weise und fliegt einfach davon.“ Omis Gedanken überschlugen sich förmlich. In ihm reifte ein Plan. Er würde es genauso machen, wie die Amsel. Er würde Schuldig sich anbieten.Er schluckte bei dem Gedanken, was das für Folgen haben würde, doch er glaubte, inzwischen eine vage Ahnung davon zu haben, was für ein Mann Schuldig war. Sein ganzes Gebaren sprach dafür, dass er gerne Spielchen spielte. Omi würde auf das Spiel einsteigen und dann hoffentlich ebenso wie die Amsel mit heiler Haut davon kommen. Er konnte nur beten, dass diese Idee funktionierte. Als Omi am Montag aus der Schule in den Blumenladen kam, waren die anderen bereits von einer kichernden Masse Schulmädchen umringt. Omi konnte genau sehen, dass Aya kurz davor war, sie rauszuschmeißen, während Yoji sich in der Aufmerksamkeit sonnte und Ken alle Hände voll zu tun hatte, die restliche Kundschaft zu bedienen. Als er Omi erblickte, ließ er einen Stoßseufzer los. „Omi, du musst mir helfen. Die reißen mir heute noch die Haare aus.“ „Bin gleich da“, versicherte Omi. „Ich bring nur noch meine Schultasche nach oben.“ „Dann nimm gleich den Brief mit, der heute für dich abgeben wurde.“ Omi horchte auf. „Ein Brief? Von wem?“ „Keine Ahnung. Es steht kein Absender drauf. War ein Junge, vielleicht 14 oder 15 in einer blauen Schuluniform, der ihn gebracht hat. Kennst du den?“ „Nein, sagt mir nichts“, antwortete Omi. „Mal sehen, was drin steht.“ Er nahm Ken den kleinen, weißen Umschlag ab und rannte die Treppe nach oben. Dabei schlitzte er den Brief auf und zog einen kleinen Zettel heraus. Darauf standen nur wenige Worte. „Imperial Hotel, Piano Bar, 23 Uhr“ Er wusste, was das bedeutete. Heute war der dritte Tag. Schuldig hatte ihm Ort und Uhrzeit für ihr Treffen genannt. Er wusste, wo das Hotel lag. Mitten in der Innenstadt wurde es gerade grundsaniert und stand deswegen leer. Highlight des Gebäudes war ein fast das halbe Stockwerk einnehmendes Konstrukt aus Stahl und Glas, das sich in einer Halbkuppel über einem der demnächst wohl angesagtesten Restaurants von ganz Tokio spannte. Man saß quasi wie unter freiem Himmel mit allen Annehmlichkeiten moderner Klimatechnik. Auf die würde Omi heute zwar wohl noch verzichten müssen, dafür aber auch auf jede Menge Zuschauer. Perfekt für seinen Plan. „Also schön“, knurrte er. „Spielen wir.“ Kapitel 8: Hotel Imperial ------------------------- Omi sah sich noch einmal nach allen Seiten um, bevor er das Gebäude betrat. Im Hotel war es dunkel, nur der Vollmond schien durch die zahlreichen Fenster herein. Unangenehmerweise brachte der fehlende Strom es mit sich, dass Omi die vielen Stockwerke wohl zu Fuß hinter sich bringen musste. Er wollte gerade die Tür zum Treppenhaus öffnen, als mit einem leisen Pling die Fahrstuhltüren aufgingen. Misstrauisch betrachtete Omi die kleine, beleuchtete Kabine. Dann zuckte er mit den Schultern. Es wäre töricht gewesen, das Angebot auszuschlagen. Schuldig hatte sicherlich nicht vor, ihn mit dem Fahrstuhl abstürzen zu lassen. Während die Kabine nach oben fuhr, ging Omi in Gedanken nochmal seinen Plan durch. Er war mit Absicht nicht in Missionskleidung erschienen, sondern hatte stattdessen wieder das T-Shirt angezogen, das Ken ihm geschenkt hatte. Er fand eine grimmige Befriedigung darin, das anzuhaben, was er beim letzten Mal trug, als Schuldig ihn so vernichtend geschlagen hatte. Das würde ihm heute nicht wieder passieren. Die Fahrstuhltüren öffneten sich und entließen ihn in einen unbeleuchteten Gang. Links von ihm befand sich unverkennbar der Eingang zum Restaurant. Die gläserne Flügeltür ließ bereits das edle Ambiente dahinter erkennen. Omi atmete noch einmal tief durch und betrat die Bar. Der Mond tauchte auch hier alles in helles, silbernes Licht. Zu Rechten lag die lange, elegant geschwungene Theke aus dunklem Holz, an der sich ein chromgestählter Barhocker an den anderen reihte. Im hinteren Teil standen normale Tische, an denen sicherlich auch Speisen serviert werden würden. Den linken Teil des Raums direkt unter der Kuppel nahm zusammen mit riesigen Topfpflanzen ein enormer Konzertflügel ein. Das Instrument glänzte im Mondlicht und Omi bereute einen Moment lang, dass er bisher nicht die Gelegenheit gehabt hatte, ein Instrument spielen zu lernen. Sollte er das hier überleben, würde er das definitiv nachholen. Er sah sich um, aber es war niemand da. Er lächelte kurz. Ein Teil des Spiels sicherlich, um ihn zu verunsichern. Aber so leicht ließ Omi sich nicht ins Bockshorn jagen. Er nahm auf einem der Barhocker Platz und wartete. „Hallo, Bishounen.“ Schuldigs Stimme war der reine Samt und schien aus keiner bestimmten Richtung zu kommen, aber Omi war auf der Hut. „Hallo Schuldig“, gab er möglichst lässig zurück. „Ich sehe, du hast meine Nachricht bekommen.“ „Wäre ja komisch, wenn es nicht so gewesen wäre. Immerhin hast du deinen Botenjungen ja zu mir nach Hause geschickt.“ Schuldig lachte leise auf. „Botenjunge. Ja genau. Also? Was hast du mir anzubieten?“ Omi hatte inzwischen herausgefunden, woher die Stimme kam. Er drehte sich um und sah Schuldig, der hinter der Bar stand, direkt in die Augen. „Mich“, sagte er ruhig. „Ich kann dir nicht anderes anbieten, als mich selbst. Mach mit mir, was du willst, aber lass die anderen in Ruhe.“ „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, rezitierte Schuldig. „Ein löbliches Angebot, du“, er warf ein Blick auf das T-Shirt, „Prinzessinnen-Retter. Ein kleiner, weißer Ritter, der sich heldenhaft für ein nobles Ziel in die Schlacht wirft. Wie überaus edel und amüsant.“ Omi fühlte, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte. Das lief nicht so, wie er erwartet hatte. Schuldig verspottete ihn eindeutig. Hatte er falsch gelegen mit seiner Annahme? Schuldig trat hinter der Bar hervor und neben Omis Barhocker. Er strich ihm eine Strähne aus der Stirn. „Weißt du, ich hatte eigentlich etwas anderes im Sinn. Euer Anführer, Abyssinian, Aya. Er hat doch eine Schwester, oder?“ Ohne zu überlegen, nickte Omi. „Ich will das Mädchen.“ „Was?“ Omi glaubte, sich verhört zu haben. „Du willst Aya Fujimiya haben?“ Schuldig wirkte unbeteiligt. „Ja, ist das ein Problem?“ Omi starrte ihn fassungslos an. „Ob das ein...natürlich ist das ein Problem. Das geht nicht. Ich kann dir doch nicht Ayas Schwester aushändigen. Er würde mich umbringen.“ „Würde mir etwas Arbeit ersparen.“ „Aber...“, Omi war vom Barhocker gerutscht und raufte sich die Haare. Sein Plan ging gerade den Bach hinunter. Jetzt sollte er auch noch über das Leben eines fremden Mädchens bestimmen? Das hielt er nicht aus. „Du kannst wählen. Ihr Leben gegen das eurer Freunde. Wobei ich ja gar nicht unbedingt vorhabe, sie zu töten. Vielleicht lasse ich sie auch am Leben, wenn ich in guter Stimmung bin.“ „Du bist ein Monster“, brüllte Omi. „Wie kann man nur so grausam sein?“ Schuldig lachte trocken. „Glaube mir, da gibt es viel Schlimmere als mich.“ „Ich kenne keinen.“ „Dann sei froh.“ Schuldig drehte sich um und ging zum Flügel. Er strich mit der Hand über das glatte, glänzende Holz. Es sah fast zärtlich aus. Er warf einen Blick zurück über seine Schulter. Omi musste unwillkürlich schlucken. Schuldig im Mondlicht am Flügel ließ ihn leider nicht so kalt, wie er es gerne gehabt hätte. 'Komm her zu mir.' Omi hatte das Gefühl, dass die Worte nicht den Umweg durch sein Ohr genommen hatten, sondern direkt in seinem Kopf erklungen waren. Da das unmöglich war, musste Schuldig sie wohl ausgesprochen haben. Wie es auch war, Omi fühlte sich wie von einem unsichtbaren Faden zum Flügel gezogen. Schuldig setzte sich auf die geschlossene Tastenklappe und zog Omi an sich. „Ich fand dein Angebot übrigens nicht lächerlich. Es ist nur nicht das, was ich brauche, auch wenn es das ist, was ich will.“ Omis Puls raste, sein Blick wanderte zwischen Schuldigs Augen und seinem Mund hin und her. „Heißt das...“, begann er eine Frage, die er nicht zu stellen wagte. Statt einer Antwort strich Schuldig mit der Hand über seine Wange, das Kinn hinab und weiter über seine Brust. Er stoppte auf dem Bild des kleinen, weißen Ritters. Er lächelte. „Du bietest dich mir also als williger Sexslave an?“ Omi schluckte erneut, bemerkte dann aber das Glitzern in Schuldigs Augen. Er spielte schon wieder. Das gab Omi neues Fahrwasser. „Wenn es das ist, was du willst“, antwortete er und schlug gespielt kokett die Augen nieder. „Biete ich gerne meine Dienste an.“ „Dann zeig mal, was du kannst“, flüsterte Schuldig in sein Ohr. „Ich bin gespannt.“ Omi wurde heiß und seine Finger zitterten etwas, aber er hatte sich bereits einen Plan zurechtgelegt und den würde er jetzt auch durchziehen. Er trat zu Schuldig, fasste ihn an beiden Seiten des Kopfes und zog ihn in einen Kuss. Dadurch, das Schuldig saß, waren sie etwa auf einer Höhe, was Omi die Sache erleichterte. Er tauchte in die Lippen des anderen ein und verlagerte sich, nachdem er genug gekostet hatte, langsam in Richtung Ohr. Während er das tat, öffnete er langsam die Knöpfe an Schuldigs Hemd und ließ seine Hände den Oberkörper erkunden. Er stoppte, als er an der Rückseite nicht weiterkam. „Du musst den Mantel ausziehen.“, brummte er. Ungeahnte Schwierigkeiten, die in seinen Träumen irgendwie nie vorgekommen waren. Schuldig schmunzelte ein bisschen, entledigte sich des gewünschten Kleidungsstücks und zog auch gleich noch sein Hemd mit aus. „Besser so?“ Omi zog es vor, nicht zu antworten. Stattdessen biss er Schuldig leicht ins Ohrläppchen und schickte seine Hände wieder auf Wanderschaft. Das fühlte sich so gut an. Es roch und schmeckte noch viel besser. Omi vergrub seine Nase in Schuldigs Halsbeuge und atmete tief ein. „Bisher bin ich nicht überzeugt“, neckte ihn Schuldig. „Da musst du schon mehr aufwarten.“ Omi kam hoch und sah ihm ins Gesicht. „Ich werde versuchen, mich zu bessern“, grinste er, stahl sich einen Kuss und ließ seinen Mund über Schuldigs Kinn nach unten wandern. Er küsste die Brust und hinterließ eine kleine, feuchte Spur auf dem Weg nach unten. Schließlich kniete er sich vor Schuldig und begann, dessen Hose zu öffnen. Wieder sah er sich vor technischen Problemen, da er Schuldig die Hose schlecht ausziehen konnte, während der darauf saß. Schuldig hatte seine Misere wohl bemerkt, denn er erbarmte sich, stand kurz auf und ließ die Beinkleider nach unten gleiten. Jetzt befand sich nur noch ein dünnes, schwarzes Stück Stoff zwischen Omi und einer, wie er erkennen konnte, nicht unerheblichen Erektion. Schuldig war definitiv besser gebaut als er. „Mitteleuropäisches Standardmodell“, erklärte Schuldig mit einem Zwinkern. „Kein Grund zur Panik. Funktioniert genau wie alle anderen.“ Omi lachte kurz und wurde dann wieder ernst. Er hatte hier eine Aufgabe zu erledigen. Mutig ließ er die Finger über die Länge gleiten und erntete ein zufriedenes Brummen. Er begann wieder, den Bauch zu küssen und arbeitete sich immer weiter nach unten vor. Dabei zog er langsam den Stoff des Slips nach unten, bis schließlich nichts mehr der Fantasie überlassen blieb. Omi fühlte, wie sein Gesicht anfing zu glühen. In seiner Hose pochte es ebenfalls ziemlich heftig und er hatte das Gefühl, gleich in Panik ausbrechen zu müssen. Da fasste Schuldig unter sein Kinn und zog ihn hoch. Er legte seinen Mund auf Omis und fuhr mit der Zunge zwischen seine Lippen. Omi entspannte sich. Er seufzte in den Kuss und fühlte, wie sich Schuldigs Länge gegen seinen Bauch presste. Ohne lange zu überlegen, griff er zu und begann die Hand vorsichtig zu bewegen. Als er Schuldigs Reaktion bemerkte, wurde er etwas schneller, griff etwas fester zu. Langsam ließ er sich wieder nach unten gleiten. Er hatte immer noch die Hand an Schuldigs Glied. Die Spitze glitzerte leicht. Omi verteilte den Tropfen mit dem Daumen und kostete zaghaft mit der Zunge. Dann ließ er die Spitze in den Mund gleiten. Es war ein eigenartiges Gefühl. Fest und samtig zugleich. Er arbeitete weiter mit der Hand, während er den Kopf vor und zurück bewegte. Schuldigs Atem wurde schneller. Er hatte die Arme auf dem Flügel abgestützt, den Kopf in den Nacken gelegt. Omi sah von unten an ihm hinauf und konnte sich des Gedankens nicht erwehren, wie schön der andere Mann doch war. Und wie unglaublich geil es war, seinen Schwanz im Mund zu haben. Schuldig keuchte auf. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Er faste mit einer Hand nach Omis Kopf. Aber statt, wie Omi kurz befürchtete, jetzt das Ruder an sich zu reißen, fuhr er ihm nur durchs Haar. Omi wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Mund zu. Er fand jetzt seinen eigenen Rhythmus, wurde manchmal schneller, manchmal langsamer. Er spielte mit den Reaktionen, die Zähne und Zunge an verschiedenen Stellen auslösten und beobachtete fasziniert, wie er Schuldig damit immer weiter in Richtung Klippe trieb. Schließlich wusste er, dass es soweit war. Schuldigs Atem ging nur noch stoßweise, er unterdrückte merklich ein Stöhnen, das dafür von irgendwo weiter innen zu kommen schien. Omi überlegt noch kurz, ob er das jetzt wirklich durchziehen wollte, da zuckte es schon in seiner Hand und Schuldig ergoss sich in seinem Mund. Es kratze ein wenig beim Schlucken, war aber nicht unbedingt unangenehm. Omi zog sich zurück und konnte nicht anders, als zu grinsen. Er hatte es tatsächlich geschafft. Sein erster Blowjob. War gar nicht so schwer gewesen. Schuldig sah ihn aus halb geöffneten Augen an. „Gar nicht mal übel, kleiner Ritter.“ Er zog die Hose hoch und begann, sein Hemd anzuziehen. Omi stand ein wenig ratlos in der Gegend herum, bis sich Schuldig wieder zu ihm herumdrehte und ihn in einen Kuss zog. „Wir sehen uns, Bishounen. Denk über mein Angebot nach. Und komme nicht auf den Gedanken, einen von den anderen davon zu erzählen. Du würdest es bereuen.“ Dann ging er. Schuldig lauschte noch den wirren Gedanken, die ihn verfolgten. Er fühlte sich gut. Eigenartig gut. Wie gebadet in Milch und Honig. Omis Gedanken waren erfrischend anders gewesen. Es hatte dem Ganzen etwas Besonderes gegeben. Schuldig blieb stehen, als er eine zweite Präsenz bemerkte. Eine bekannte Präsenz. Er sah sich um und entdeckte eine Gestalt an einem der Fenster. Das Mondlicht verwandelte die Gläser seiner Brille in silberne Spiegel. „Crawford“, begrüßte Schuldig seinen Teamkollegen. „Wie lange bist du schon hier? Hat dir die Show gefallen?“ „Ich habe genug gesehen“, antwortete Crawford. „Vor allem aber habe ich genug gehört. Du hast das Mädchen also gefunden? Das ging schnell.“ Schuldig verzog den Mund zu einem süffisanten Grinsen. „Ich bin eben gut.“ Crawfords Miene blieb ungerührt. „Du weißt aber, dass wir die Kleine auch ohne ihn bekommen können.“ Schuldigs Grinsen wurde breiter. „Ich weiß das und du weißt das, aber weißt du, was das Lustige daran ist?“ Crawford sah ihn abwartend an. „Er weiß das nicht.“ Kapitel 9: Im Regen ------------------- „Omi du ertränkst sie ja.“ „Mhm?“ „Omi, die Anturien. Du ertränkst sie.“ Ken nahm Omi den Wasserschlauch aus der Hand und drehte den Strahl ab. Er sah Omi an. „Wo bist du nur heute mit deinen Gedanken? Immer noch das Problem von neulich?“ „Ja, nein...es ist schwierig zu erklären.“ Omi betrachtete die Wasserpfütze am Boden und ging seufzend einen Mob holen. Während er wischte, überlegte er, wie er mit Ken über das Thema, das ihn beschäftigte, sprechen konnte, ohne ihm zu viel zu verraten. Er stützte sich auf den Mobstiel und starrte aus dem Fenster. Draußen schüttete es wie aus Eimern, den ganzen Nachmittag hatten gerade mal drei Kunden den Laden betreten. Er und Ken waren alleine, was Omi durchaus begrüßte. Aya wollte er im Moment nicht um sich haben und Yoji machte seinem ehemaligen Beruf als Privatdetektiv alle Ehre und versuchte Omi unauffällig auszuquetschen, wann immer er eine Gelegenheit dazu fand. „Ken?“, fragte Omi leise. „Meinst du, man kann Leben gegeneinander aufrechnen?“ „Huh, wie meinst du das?“ Kens Gesichtsausdruck wirkte irritiert. „Naja, wenn du die Wahl hättest beispielsweise ein Kind zu retten. Oder sagen wir einen jungen Mann. Als Alternative eine alte Frau, die krank in ihrem Bett liegt. Wen würdest du retten?“ Ken schien ernsthaft über die Frage nachzudenken. „Kann ich nicht beide retten?“ „Nein.“ „Mhm, ich würde vermutlich den jungen Mann wählen. Einfach weil er sein Leben noch vor sich hat. Aber ehrlich gesagt hoffe ich, dass ich nie in eine solche Lage komme.“ „Ja, das hoffe ich auch“, sagte Omi und lachte so laut, das es selbst in seinen Ohren unecht klang. Ken schien es zum Glück nicht bemerkt zu haben. Omi beobachtete die Regentropfen, die die Scheibe hinabliefen und wünschte sich weit, weit weg. Irgendwo hin, wo er diese Entscheidung nicht treffen musste. Als Omi abends in seinem Bett lag, fiel sein Blick auf den Schreibtisch. Hinter der kleinen Lampe klemmte immer noch der Brief von Perser. Er hatte ihn nicht geöffnet. 'Schlimmer kann es ja nicht mehr werden.', dachte er und öffnete den Umschlag. Omi, ich möchte dich in diesem Brief um Vergebung bitte. Oder um Verständnis. Was ich damals tat, tat ich in der Überzeugung, das Richtige zu tun. Manche Entscheidungen scheinen uns grausam, doch sie müssen getroffen werden. Um zu überleben. Um das Leben an sich zu schützen. Ich hoffe, dass du eines Tages verstehen wirst, dass wir manchmal ein Stück vom Glück opfern müssen für das große Ganze.Weil es manchmal einfach nicht die Möglichkeit gibt, das Richtige zu tun, sondern nur das weniger Falsche. S.T. Omi ließ den Brief sinken. Er verstand. Er verstand nur zu gut. Er hatte sich, als Aya im Bad gewesen war, in sein Zimmer geschlichen. Er hatte den Schrank aufgebrochen, in dem Aya seine persönlichen Sachen aufbewahrte, und hatte ihn durchsucht. Er hatte den Unfall-Bericht gefunden, die Prognosen der Ärzte, die davon sprachen, dass Aya Fujimiya nie wieder aufwachen würde. Die ihr ein langsames Dahinsiechen voraussagten, auch wenn sie bisher keine Ausfallerscheinungen zeigte. Dann hatten Tränen seinen Blick verschleiert. Er hatte die Papiere wieder zurück gestopft, hatte den Schrank wieder verschlossen und sich in seinem Zimmer verbarrikadiert. Es war so, wie Ken gesagt hatte. Sie hatten ihr Leben noch vor sich, während es für Ayas Schwester keine Zukunft zu geben schien. Trotzdem zögerte Omi. Er wollte es nicht. Wollte diese Wahl nicht treffen müssen. Aber er wusste, er würde es letztendlich tun. Mit schwerem Herzen brach er an diesem Abend in Richtung Park auf. Wasser tropfte von den Bäumen, nur wenige Leute waren bei diesem Wetter unterwegs. Die heftigen Regenfälle hatten die Luft abgekühlt. Omi fröstelte in seinen kurzen Hosen. Er lief ein wenig ziellos durch den Park, weil er nicht genau wusste, wo sie sich treffen würden. Schließlich entdeckte er Schuldigs auffällige Haarmähne an einem der Picknicktische, die unter pilzförmigen Dächern angebracht waren. Er saß entspannt da, die Augen geschlossen so wie beim ersten Mal, als sie sich hier getroffen hatten. Wie lange war das her? Als Omi näher trat, öffnete Schuldig die Augen. „Du bist gekommen.“ Omi zuckte mit den Schultern. „Hatte ich denn eine Wahl?“ Er setzte sich neben Schuldig. Gestattete sich einen Blick auf den Mann, dessen Profil sich gegen den regengrauen Himmel abzeichnete. Sein Herz zog sich zusammen und er wendete sich ab, als er die Tränen in seinen Augen spürte. „Ich werde es tun. Du bekommst Ayas Schwester.“ Schuldig schwieg. Omi wartete, dass er etwas sagen würde. Bedingungen nennen, einen Ablauf vorschlagen. Etwas, dass die Stille zwischen ihnen vertrieb. Als er es nicht mehr aushielt, rieb er sich über die Augen und sah wieder zu Schuldig. Der saß einfach nur da und beobachtete ihn. „Du weinst“, stellte er fest. „Warum?“ „Weil...“ Omi rang nach Worten. Die Gedanken flatterten durch seinen Kopf wie ein Haufen aufgeregter Vögel. Er wandte sich wieder ab und starrte auf den Boden. „Weil es sich falsch anfühlt. Ich weiß, ich muss es tun, und ich nehme die Schuld des Verrats auf mich, um meine Freunde zu retten. Selbst wenn sie mich dafür hassen werden, wenn sie es jemals herausfinden. Aber etwas kann ich nicht vor mir selbst rechtfertigen. Eine Unschuldige zu opfern. Ich wünschte...ich wünschte, du hättest einen anderen Preis verlangt. Ich hätte dir alles gegeben.“ Die letzten Worte hatte er geflüstert. Der Regen setzte wieder ein. Das Wasser hüllte sie in einen feinen Vorhang, sperrte die Welt dort draußen aus. Omi atmete tief ein, als er Schuldigs Hand an seinem Kinn spürte. Er drehte Omi zu sich herum. „Und wenn ich dir verspreche, dass ihr nichts passiert?“, fragte er. „Würde das etwas ändern?“ Omis Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. „Kannst du das denn?“ Schuldigs Mundwinkel wanderten ein Stück nach oben. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich sie brauche. Ich habe nicht vor, sie auf einem Scheiterhaufen irgendwelchen uralten Göttern zu opfern. Sie wird medizinisch versorgt werden, es wird ihr an nichts fehlen. Okay?“ Omi nickte tapfer. „Okay.“ Er roch den Regen, die feuchte Erde und den Geruch, der von Schuldigs warmen Körper ausging. Es schien so leicht, so verführerisch, sich einfach fallen zu lassen. Die Last der letzten Tage abzustreifen jetzt, da die Wahl getroffen war. Er war so allein damit gewesen, so einsam. Schuldig nahm ihm die Entscheidung ab. Er stand auf und zog seinen Mantel aus. Als er ihn Omi um die Schultern legte und sich wieder setzte, zog er Omi gleichzeitig an sich. Omi spürte eine Hand, die seinen Rücken streichelte. Er lehnte sich in die Umarmung und schloss die Augen. Genoss die Wärme, die...ja, die Vertrautheit. 'Du vertraust dem Teufel.' 'Wenn nicht ihm, wem dann?' Schuldig lachte leise. Er zog Omi auf seinen Schoß, legte seine Hand in Omis Nacken und versiegelte seine Lippen mit einem Kuss. Omi erwiderte die Berührung. Er öffnete die Lippen, empfing Schuldigs Zunge in seinem Mund. Wie ausgehungert stürzte er sich in den Kuss. Ihre Zungen streiften sich, glitten über- und untereinader. Ihre Lippen prallten aufeinander, als hätten sie sich seit ewigen Zeiten gesucht. Schuldigs Mund wanderte tiefer, küsste Omis Kehle. Omi legte den Kopf in den Nacken, gewährte ihm vollen Zugriff. Er spürte Schuldigs Hände auf seinem Rücken, wie sie sich auf die nackte Haut schoben. Wo sie ihn berührten, setzten sie ihn in Brand. Er spürte die Hitze in seinem Inneren und zwischen seinen Beinen. Er keuchte in einen erneuten Kuss, als Schuldig sich unter ihm bewegte, um seiner eigenen Erregung mehr Platz zu geben. Omi legte seine Hände auf Schuldigs Schultern und schob sich ein Stück weit von ihm weg, so dass er ihn ansehen konnte. „Ich will es nochmal machen.“ Schuldig hob fragend die Augenbrauen. Omi spürte, dass er rot wurde. Gott, konnte Schuldig ihn nicht einfach verstehen? Er wollte ihm einen blasen. Jetzt hier im Park unter diesem verdammten Picknickpilz. Erkenntnis breitete sich auf Schuldigs Zügen aus. „Tut dir keinen Zwang an, Bishounen. Ich bin ganz dein.“ Omi glitt von seinem Schoß und kniete sich auf die kalten Steine. Er hatte keine Ahnung, ob das jetzt ein Dankeschön oder eine eigens auferlegte Form von Buße war. Aber für Buße fühlte es sich zu gut an. Er genoss das Gefühl, Schuldigs Fleisch unter seinen Händen und seine Lippen zu haben. Lauschte den schneller werdenden Atemzügen, dem unterdrückten Stöhnen, das sich in das Geräusch des fallenden Regens mischte. Sog jede Regung, jedes Zucken, jede Berührung in sich auf. Als es vorbei war, zog Schuldig ihn wieder auf seinen Schoß. Er küsste Omi sanft auf die Lippen und murmelte: „Daran könnte ich mich gewöhnen.“ Omi konnte nicht anders, als zu grinsen. „Gern geschehen.“ Während Schuldig seinen Hals küsste, nagte Omi an seiner Unterlippe und überlegte, ob er Schuldig fragen sollte, ob der sich irgendwann mal revanchieren würde. Er hatte es nicht eilig damit, aber er war neugierig, wie es sein würde. „Irgendwann mal, Bishounen.“, nuschelte Schuldig in seinen Hals. Omi blinzelte überrascht. Hatte er die Frage doch laut ausgesprochen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Unter ihm hielt Schuldig kurz in der Bewegung inne, bevor er seine Liebkosungen fortsetzte. Omi vergaß, weiter darüber nachzudenken. Solange dieser Augenblick andauerte, wollte er ihn genießen, so gut er konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die doch viel zu kurz dauerte, sagte Schuldig: „Wir sollten langsam gehen. Es wird dunkel.“ Omi nickte und rutschte von seinem Schoß. „Wann sehen wir uns wieder?“ Schuldig zog ein Handy aus seiner Tasche und reichte es Omi. „Meine Nummer ist eingespeichert. Sag mir Bescheid, wenn die Gelegenheit günstig ist. Nicht dass wir im Krankenhaus auf einmal einem aufgebrachten Abyssinian gegenüber zu stehen.Ich würde ihn nur ungern töten müssen.“ „Das würde ich dir auch nie verzeihen.“ „Ich weiß.“ Schuldig stand auf. Er schien etwas zu überlegen, schüttelte dann aber den Kopf. „Mach´s gut, Bishounen. Wir sehen uns.“ Er trat in den Regen hinaus und wurde kurz darauf von der aufkommenden Dunkelheit verschluckt. Omi sprang auf. „Dein Mantel!“, rief er ihm nach, aber er erhielt keine Antwort mehr. Omi schlug die Arme um das Kleidungsstück und konnte sich gerade noch davon abhalten, seine Nase in den Stoff zu drücken. Der Regen wurde stärker. Omi fluchte. Er hielt den Mantel über seinen Kopf und rannte zu seiner Maschine. Auf dem Heimweg musste er ohne jeden Grund immer wieder grinsen. Trotz des Regens, der seine Glieder schlottern ließ, fühlte er sich eigenartig leicht und frei. Fast ein bisschen, als würde er fliegen. Kapitel 10: Die Entführung -------------------------- „Aya?“ Omi verschränkte die Hände hinter dem Rücken und wippte mit den Füßen vor und zurück. „Ich...ich müsste diese Woche nachmittags zu einem Projekt in der Schule bleiben. Bis Abends. Meinst du, ihr kriegt das hin? Ich meine, wenn du und die anderen dann immer hier seid, sollte das doch gehen. So wenn ihr alle zusammen im Laden bleibt, meine ich. Meinst du, das geht in Ordnung? Wenn nicht, musst du es nur sagen. Also wenn du an einem Tag was vorhast, sag einfach Bescheid, dann frage ich, ob das in der Schule auch ohne mich geht.“ Aya hob den Kopf und sah Omi an. „Du redest zu viel.“ Omi wurde rot bis unter die Haarspitzen. Er hatte es sich irgendwie leichter vorgestellt, einen Tag zu finden, wo er ausschließen konnte, dass Aya zu seiner Schwester ins Krankenhaus fuhr. Aber der schweigsame Weiß hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, völlig unvorhersehbar zu verschwinden und dann teilweise erst am nächsten Tag wieder aufzutauchen. Omi hatte keine Ahnung, wohin er ging, aber er konnte das Risiko nicht eingehen. Daher hatte er sich die Sache mit dem Projekt einfallen lassen. Und bis vor drei Sekunden war ihm das auch noch wie eine gute Idee vorgekommen. „U-und?“ würgte er hervor. Aya sah ihn noch einen Augenblick lang durchdringend an, dann nickte er. Omi musste an sich halten, um nicht laut hörbar aufzuatmen. Das war schon mal geschafft. Jetzt musste er nur noch Schuldig verständigen. Er rannte in sein Zimmer und schloss die Tür ab. Er kramte mit fliegenden Fingern das Handy aus seiner Unterwäsche-Schublade hervor. Es war ihm als sicheres Versteck erschienen, aber als er das Handy jetzt aus einer Boxerhorts zog, musste er lachen. „Ja, geh mir an die Wäsche, Baby“, kicherte er und begann, eine SMS zu tippen. Morgen Nachmittag um 15 Ihr nach Schulschluss würden sie sich in der Nähe des Krankenhauses treffen und dann gemeinsam dort hinfahren. Schuldig hatte ihm geschrieben, dass es unauffälliger sein würde, wenn sie nur mit einem Auto dort ankamen. Omi schickte die SMS ab und ließ sich am Schrank zu Boden gleiten. Er spielte mit dem Handy in seiner Hand. Er hatte es nicht ausgehalten abzuwarten, bis er einen Termin für die Entführung hatte. Irgendwann hatte er Schuldig abends einfach eine kurze Nachricht geschickt und ihm eine gute Nacht gewünscht. Er war fast aus dem Bett gefallen, als er kurz darauf tatsächlich eine Antwort bekommen hatte. „Schlaf gut, Bishounen“ hatte darin gestanden. Drei Worte, die alles Mögliche mit ihm angerichtet, aber nicht für eine ruhige Nacht gesorgt hatten. Omi versicherte sich noch einmal, dass die Tür abgeschlossen war, dann öffnete er den Schrank und zog von ganz unten den grünen Mantel hervor, den Schuldig im Park vergessen hatte. Er hatte Blut und Wasser geschwitzt, als er ihn in die Wohnung gebracht hatte aus Angst, einer der anderen könnte ihn erkennen. Omi drückte sein Gesicht in den Stoff und inhalierte den Geruch. Einen Tag noch. Omi hatte noch nie das Gefühl gehabt, dass sich die letzte Stunde so sehr hinzog. Als endlich die Schulglocke läutete, war er der Erste, der aus dem Klassenzimmer stürmte. Er fuhr zum vereinbarten Treffpunkt und war erleichtert, dass Schuldig schon auf ihn wartete. Omi stieg ab, nahm den Helm ab und deutete auf den roten Sportwagen. „Unauffällig, eh?“ Schuldig hob die Hände. „Entschuldige bitte, wenn ich Geschmack habe. Das sieht man doch an dir, oder?“ Omi blinzelte. Irrte er sich oder flirtete Schuldig mit ihm? Vor Aufregung bekam er ein bisschen rote Ohren. Doch dann rief er sich zur Raison. Sie waren hier auf einer Mission. Mehr oder weniger. Schuldig warf einen Blick auf das Paket auf Omis Schoß. „Ist das mein Mantel?“ „Ja, ich habe ihn für dich aufbewahrt.“ „Gut. Ich habe ihn schon fast ein wenig vermisst.“ Omi musste lächeln. „Ayas Schwester liegt im zweiten Stock im Westflügel. Ich zeige dir das Zimmer.“ Sie betraten das Krankenhaus. Ein Geruch nach Linoleum und Desinfektionsmitteln schlug Omi entgegen. Er sah sich sichernd nach allen Seiten um, während Schuldig geradewegs durch die Eingangshalle marschierte. „Was machst du denn?“, zischte Omi. „Ich dachte, wir wollten unauffällig bleiben.“ „Vertrau mir“, lächelte Schuldig. „Es wird sich niemand an uns erinnern.“ Omi fand die Formulierung ein wenig merkwürdig, aber die Leute schienen tatsächlich wenig Notiz von ihnen zu nehmen. Eine Reinigunsgkraft hätte Omi fast mit ihrem Putzwagen überrollt, wenn Schuldig ihn nicht rechtzeitig beiseite gezogen hätte. Es schien fast, als wären sie unsichtbar. Omi erinnerte sich daran, dass es bei ihrem Treffen im Park ähnlich gewesen war. Er beschloss, Schuldig später einmal danach zu fragen. Jetzt waren sie erst mal im richtigen Stockwerk angekommen. Omi ging vor zu der Tür am Ende des Ganges. Er atmete noch einmal tief durch, bedeutete Schuldig kurz zu warten, und drückte dann die Klinke herunter. In Ayas Krankenzimmer waren die Jalousien halb heruntergelassen, um die Nachmittagssonne daran zu hindern, den Raum unnötig aufzuheizen. So lag der Raum in einem von einzelnen Sonnenstrahlen durchzogenen angenehmen Dämmerlicht da. Neben dem Bett piepste eine Maschine vor sich hin. Ein Monitor zeigte gleichmäßige Wellenbewegungen, während auf einem anderen eine gezackte Linie zu sehen war. Darunter lief eine zweite, völlig glatte Linie. Aya lag blass und klein auf dem weißen Kissen. Ihre dunklen Haare waren zu Zöpfen geflochten. Sie trug ein grünes Nachthemd und ihre Hände lagen auf der Decke, die sich unter ihren Atemzügen hob und senkte. Omi trat zu ihr und zögerte ihre Hand zu berühren. Er wusste nicht, ob er ein Recht dazu hatte. Schuldig trat neben ihn und betrachtete das Mädchen. „Das ist sie also.“ Omi konnte seine Neugier nicht im Zaum halten. „Was hast du mit ihr vor?“ „Das geht dich nichts an“, erwiderte Schuldig scharf und Omi schluckte. Er hatte doch nur... Was war so besonderes an diesem Mädchen? Schuldig seufzte. „Es gibt Leute, die sich für sie interessieren. Leute, denen ich verpflichtet bin. Gefährliche Leute.“ Omi blickte zu ihm auf. Schuldig hatte die Augen geschlossen. Seine Hand bewegte sich leicht, so als würde er sie in fließendes Wasser halten. Der Monitor mit der flachen Linie zeigte plötzlich einen kleinen Ausschlag. Nur ganz leicht, so wie Wasser in einem Glas zitterte, wenn ein schwerer Lastzug vorüberfuhr. Plötzlich sog Schuldig scharf die Luft ein und riss die Augen auf. „Wir müssen weg“, sagte er. Er klang angespannt. „Was? Warum?“ Omi war völlig überrumpelt. „Was ist los?“ „Wir bekommen Besuch“, knurrte Schuldig. „Schreient.“ In diesem Moment hörte Omi schon Schritte den Korridor entlang kommen. Mehrere Personen liefen den Korridor entlang, ihre Schritte klackerten auf dem glatten Boden und eine helle Stimme sagte: „Tot gefällt es hier nicht. Können wir wieder nach Hause gehen?“ Schuldig fluchte leise. Er packte Omi, drückte ihn hinter den Monitoren auf den Boden und sah ihn eindringlich an. „Du bleibst hier und rührst dich nicht. Lass dich nicht sehen. Ich übernehme das Reden.“ Die Schritte waren vor der Tür stehen geblieben. „Neu, du bleibst hier und passt auf, dass uns niemand stört. Wir holen das Mädchen.“ Omis Gedanken überschlugen sich. Schreient? Er hatte geglaubt, dass die vier Frauen in dem Feuer in der Villa seines Bruders Masafumi umgekommen waren, nachdem dieser sich in ein Monster verwandelt und das Gebäude in Schutt und Asche verwandelt hatte. Offensichtlich hatte er sich getäuscht. Die Tür öffnete sich und Omi konnte drei Paar Füße sehen, die den Raum betraten. Zwei von ihnen trugen weiße Kittel über ihrer Kleidung. Das dritte Paar Beine steckte in kniehohen, weißen Strümpfen an deren Saum ein rotes Kreuz aufgebracht war. „Schuldig?“ „Was macht er hier?“ Schuldig deutete eine Verbeugung an. „Hell, Schön, Tot. Ich bin überrascht, euch hier zu treffen. Was verschafft mir das Vergnügen?“ „Das Gleiche wollte ich auch gerade fragen.“ Das musste Hell sein. Omi drückte sich noch ein wenig näher an die Monitore, um etwas erkennen zu können. „Wir sind hier wegen Aya Fujimiya. Wir werden sie mitnehmen.“ „Ja, wir benutzen sie, um Weiß anzulocken“, mischte sich Schön ein. „Sie werden dafür bezahlen, was sie Masafumi angetan haben. Er...er...“ Ihre Stimme erstarb von Tränen erstickt. „Papa geht es nicht gut. Weiß hat ihm wehgetan. Jetzt tun wir Weiß weh.“ Hell hatte offensichtlich genug von der Konversation. „Schön, bring mir eine Decke aus dem Schrank.“ Omi hörte Schritte und Schön kam in sein Blickfeld. Obwohl sie einen weißen Kittel trug, hätte niemand sie für eine Ärztin halten können. Omi konnte die rote Peitsche an ihrem Gürtel erkennen. Er machte sich ganz klein. Wenn sie sich jetzt umdrehte... „Lass Tot das machen!“, rief die Kleinmädchenstimme wieder. Tot rannte an Schön vorbei zum Schrank, der in der anderen Ecke des Zimmers stand. Sie trug ein weißes Kleidchen und eine Krankenschwesterhaube auf dem Kopf. In ihrem Überschwang zog sie gleich zwei Decken auf einmal aus dem Schrank. Eine der Decken fiel zu Boden, sie bückte sich danach und sah Omi an. „Weiß!“ Das Wort gellte schrill durch den Raum und brachte Omis Trommelfelle zum Klingen. Plötzlich sah er sich drei wütenden Frauen gegenüber. Hell hatte ein Messer gezogen, Schön hielt ihre Peitsche in den Händen und Tot hatte sich in Ermangelung einer Waffe eine Blumenvase geschnappt. Omi hörte, wie sich die Tür öffnete und Neu herein kam. Sie sprach kein Wort, setzte über das Bett hinweg und packte Omi am Kragen. Die Frau, deren halbes Gesicht von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt wurde, zog ihn auf die Füße und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Sie holte gerade zu einem zweiten Schlag aus, als Schuldig ihre Hand abfing. „Schluss damit!“, rief er. „Bitte, meine Damen, wir wollen uns doch nicht streiten. Dazu besteht kein Grund.“ „Was tut er hier?“ Hells Gesicht was vor Hass verzerrt. „Er soll bezahlen, genau wie die anderen. Lass uns vorbei, Schuldig.“ „Nein.“ Schuldig stellte sich demonstrativ zwischen Schreient und Omi. „Ihr werdet ihn nicht bekommen. Und ihr werdet auch das Mädchen nicht mitnehmen. Ihr werdet jetzt gehen.“ Omi hatte sich inzwischen aufgerappelt. Er drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Er hatte keinerlei Ausrüstung dabei, sodass ihre Gegner ihnen nicht nur zahlenmäßig überlegen waren. Es gab keine Möglichkeit, wie sie den Kampf gewinnen konnten. „Geh zur Seite, Schuldig“, sagte Hell gefährlich leise. „Oder wir werden dich auch aus dem Weg räumen.“ „Versucht es“, knurrte er und zog eine Waffe. Tot schrie auf und warf die Vase nach Schuldig. Der duckte sich und schoss. Das Porzellan zerschellte an der Wand, die Scherben regneten zu Boden. Neu trat nach Schuldigs Beinen, er wich ihr aus und richtete seine Waffe auf sie. „Neu!“ Schöns Peitsche wickelte sich um Schuldigs Arm und ließ den Schuss fehlgehen. Die Kugel streifte die Lampe und krachte funkenschlagend gegen die Wand. Ein Messer wirbelte durch die Luft. Schuldig tauchte darunter weg und holte aus der Bewegung zu einem Schwinger gegen Hell aus. Wieder löste sich ein Schuss. Tot schrie und stürzte sich auf Schuldig. Beide gingen neben dem Bett zu Boden. „Weg von mir, du kleine Kröte!“, fauchte Schuldig und warf Tot gegen Schön, die nun ihrerseits zu Boden gingen. Omi wich einem Tritt von Neu aus und fühlte sich in die Ecke gedrängt. Er duckte sich, rollte sich unter dem Bett hindurch und kam mit dem Rücken zur Tür wieder auf die Füße. Schuldig zielte erneut mit der Waffe auf Hell, der Schuss ging fehl und ließ die Scheibe hinter ihr in tausend Scherben zerspringen. „Vorsicht!“, rief Omi gerade noch rechtzeitig, als Neu den Stuhl, der neben dem Bett gestanden hatte, aufhob und nach Schuldig warf. Der Stuhl flog durch die bereits zertrümmerte Scheibe und durchschlug die Jalousie. Helles Sonnenlicht flutete das Zimmer und blendete alle Anwesenden. „Schnell, da raus!“ Omi fühlte sich gepackt und in Richtung Fenster gestoßen. Er blinzelte und sah, wie Schuldig Aya vom Bett hob und mit einem Satz bei ihm war. „Folge mir!“ rief er und sprang aus dem Fenster. Omi überlegte nicht lange. Er kletterte auf das Fensterbrett und wollte gerade springen, als sich etwas um seine Beine wickelte und ihm die Füße wegriss. Noch im Fallen drehte er sich und sah sie rote Peitschenschnur, die seinen Knöchel umwickelt hatte. Statt wie geplant, mit einem gezielten Sprung in die Tiefe zu rauschen, wurde sein unkontrollierter Fall abrupt abgebremst, er drehte sich in der Luft und knallte mit dem Rücken gegen die Hauswand. Alle Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, sein Kopf schlug gegen die Steine. Er schmeckte Blut in seinem Mund, als er sich auf die Zunge biss. Undeutlich sah er Schuldig, der am Boden angekommen war und zu ihm hoch sah. Er rief etwas, das Omi nicht verstand, und ein Schuss zerfetzte die Stille des sonnigen Spätnachmittags. Schöns Peitsche zerriss und Omi stürzte ungebremst dem Boden entgegen. Er riss die Arme vor das Gesicht und fiel weicher als erwartet. „Uff!“, machte Schuldig unter ihm. „Sie entkommen!“, kreischte Hell von Oben. „Wir müssen ihnen nach. Schnell, zur Treppe.“ Omi blickte nach oben und sah, das Neu Anstalten machte, ihnen durch das Fenster zu folgen. Er ließ sich von Schuldig auf die Füße ziehen und rannte, ohne genau zu wissen, wohin. Schuldig nahm Aya wieder auf und folgte Omi. Er sah sich nach ihren Verfolgerinnen um. Neu war ihnen dicht auf den Fersen, die anderen drei verließen gerade das Gebäude. „Zum Auto“, rief Schuldig. Wenn wir das schaffen, können wir sie abhängen.“ Omi rannte über den Vorplatz des Krankenhauses in Richtung Parkhaus. Seine Lungen rebellierten, sein Bein schmerzte, wo Schöns Peitsche ihn getroffen hatte. Die roten Striemen brannten wie Feuer. Er strauchelte, stolperte beinahe und wurde von Schuldig überholt. „Schritt halten, Kleiner. Wir sind gleich da.“ Sie erreichten das Parkhaus. Omi lief für einen Augenblick blind weiter, bis sich seine Augen an die hier herrschende Dunkelheit gewöhnt hatten. Wie aus dem Nichts traf ihn ein Tritt und schleuderte ihn auf den harten Asphalt. Neu hatte sie eingeholt. „Omi!“ Schuldig fuhr zu Neu herum, in seinen Augen stand die kalte Wut. Er fletschte die Zähne und knurrte: „Das hast du nicht umsonst gemacht.“ Neu wollte auf Schuldig losgehen, doch dann wurden ihre Schritte langsamer, ihre Bewegungen unkontrolliert. Sie griff sich an den Kopf, stolperte. Schließlich brach sie in die Knie. Sie zitterte. „Komm“, knurrte Schuldig und zog Omi mit sich zum Auto. Erlegte Aya auf die Rückbank und steuerte den Wagen dann in halsbrecherischem Tempo aus dem Parkhaus. Am Eingang trafen sie auf den Rest von Schreient. Schuldig gab Gas, ein Messer traf die Windschutzscheibe und ließ das Glas splittern aber nicht reißen. Im letzten Augenblick sprangen die Frauen zur Seite und Schuldig lenkte den Wagen in Richtung Ausfahrt. Während sie weiter durch die Stadt jagten, griff Schuldig nach seinem Handy. Er wollte schon wählen, dann fiel sein Blick auf Omi. Er schien zu überlegen. Dann drückte er entschlossen die Wahltaste. „Crawford, ich bin´s. Ich hab ein Problem. Ein Zusammenstoß mit Schreient.“ Schuldig lauschte den Worten seines Gesprächspartners und sein Gesicht wurde zunehmend ärgerlicher. „Ich weiß, was du gesagt hast. Die Ereignisse haben sich etwas...überschlagen. Meinst du vielleicht, ich hatte das geplant? Was soll das heißen? Ich...ich habe das Mädchen. Ja. Nein. Ist gut. Ich komme.“ Schuldig legte auf und feuerte das Handy in den Fußraum. Er atmete zischend aus und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Also schön. Dann also ab nach Hause.“ Omi wagte nicht, sich zu rühren. Er starrte auf die kaputte Windschutzscheibe und fragte sich, was ihn wohl in diesem „zu Hause“ erwarten würde. Kapitel 11: Alles schwarz ------------------------- Schuldig parkte den Wagen vor einem mehrstöckigen Wohnhaus. Er stellte den Motor ab und umklammerte weiter das Lenkrad. Fast schien es, als wäre er am liebsten im Auto geblieben. Omi legte die Hand auf sein Knie. „Was ist?“ Schuldig ließ sich gegen die Rücklehne sinken. „Ich weiß gerade nicht, was ich machen soll“, gab er zu. „Ich...es war nicht geplant, dass du mit dem Rest von Schwarz zusammen triffst.“ „Dann lass mich gehen. Ich verschwinde einfach.“ Schuldig ließ ein trockenes Lachen hören. „So einfach ist das nicht. Du weißt zu viel. Ich...ich kann dich nicht gehen lassen. Jetzt nicht mehr. Komm!“ Schuldig nahm Aya auf die Arme und steuerte auf den Eingang zu. Omi folgte ihm. Er erwog kurz, einfach zu fliehen, ließ es dann aber. Er konnte nicht riskieren, die anderen dadurch in Gefahr zu bringen. Er musste wohl oder übel mit in die Höhle des Löwen. Schuldig schwieg im Aufzug und auf dem Weg zur Wohnung. Als sie ankamen, öffnete ein Mann die Tür. Omi erkannte Reji Takatoris ersten Bodyguard, Crawford. Als sein Blick auf Omi fiel, bildete sich eine zornige Falte auf seiner Stirn. „Du hast den Weiß mitgebracht? Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“ Schuldig schob sich an Crawford vorbei in die Wohnung. „Sein Name ist Omi. Und ja, ich musste ihn mitnehmen. Oder hätte ich ihn Schreient überlassen sollen?“ „Das wäre klüger gewesen.“ Crawford Hand schloss sie wie ein Schraubstock um Omis Schulter. Er schubste ihn in durch die Tür und schloss diese hinter sich. Omi wusste nicht, was er erwartet hatte. Es war eine ganz normale, geräumige Wohnung und keine gruselige Tropfsteinhöhle oder etwas in der Art. Schuldig stand mit Aya im Arm im Flur. Crawford hatte sich offensichtlich wieder soweit in der Gewalt, dass er Anweisungen geben konnte. „Sie und den Weiß zu Nagi, du ins Wohnzimmer“, kommandierte er. „Farfarello!“ Am Ende des Flur öffnete sich eine Tür und ein Mann trat ein. Sein Gesicht war durch Narben entstellt, er trug eine Augenklappe und hatte einen Verband am linken Arm. Ein einzelnes, bernsteinfarbendes Auge fixierte Omi. „Weiß“, konstatierte er und leckte sich über die Lippen wie ein Raubtier, das eine interessante Beute entdeckt hatte. Omi schauderte. Während er sich langsam auf Omi zuschob, schlug dem das Herz bis zum Hals. „Farfarello!“, schnappte Crawford. „Ins Wohnzimmer. Los!“ Omi drückte sich mit dem größtmöglichen Abstand an dem irre aussehenden Mann vorbei, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und folgte Schuldig zu einem weiteren Zimmer. Die Tür wurde geöffnet und ein Junge trat heraus. Er trug eine blaue Schuluniform. „Hier ist Besuch für dich, Nagi. Pass auf die beiden auf. Bin gleich wieder da“, sagte Schuldig, legte Aya auf das Bett und verließ dann den Raum, ohne Omi noch einmal anzusehen. Omi stand ein wenig unschlüssig herum. Dem Jungen schien es ähnlich zu gehen. Schließlich gab Omi sich einen Ruck und sagte: „Du bist also Nagi? Du hast bestimmt den Brief zum Blumenladen gebracht. Mein Name ist Omi.“ „Ich weiß“, antwortete der Junge nur und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Er schloss die Anwendung auf dem Bildschirm und starrte dann auf die dunkle Glasscheibe. Omi fühlte sich von Moment zu Moment unbehaglicher. Wo war er hier nur reingeraten? Aus dem Nebenraum erklangen erregte Stimmen. Omi lauschte, konnte aber nichts verstehen. „Darf...darf ich mich setzen?“, fragte Omi und deutete auf das Bett. Nagi nickte. Vorsichtig ließ sich Omi an der Bettkante nieder und betrachtete Aya. „Ein Wunder, dass du bei dem Kampf mit Schreient nichts abbekommen hast“, murmelte er leise. Er bemerkte aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Nagi hatte sich wieder zu ihm herumgedreht. „Hast du Schreient gesagt?“, fragte er leise. Omi sah auf. Der Junge, der eben noch so zugeknöpft wirkte, zeigte so etwas wie Interesse. „Ja, wir haben sie im Krankenhaus getroffen. Sie...wir haben gekämpft.“ Als hätte die Erinnerung an den Kampf eine Art Schleuse geöffnet, begann Omis Bein zu schmerzen. Die roten Striemen, die Schöns Waffe hinterlassen hatten, brannten wie verrückt und die linke Seite seines Gesichts fühlte sich an, als wäre sie geschwollen. Er hätte die Stelle kühlen müssen, traute sich aber nicht zu fragen. „War Tot auch da?“ Nagis Stimme war leise, fast unhörbar. Omi sah auf. Irrte er sich oder war da ein leichter Glanz in den Augen des Jungen? „Ja, sie war auch da. Hatte sich als Krankenschwester verkleidet.“ Omi überlegte kurz und fügte dann hinzu: „Sah wirklich sehr süß aus mit dem kurzen Rock und so.“ Bingo, der Junge wurde rot. Omi fragte sich, wann genau er sich eigentlich mit dem Yoji-Virus infiziert hatte. Er begann zu ahnen, was genau seinem Freund immer so Spaß daran machte, ihn aufzuziehen. Er grinste. Als Nagi das sah, drehte er sich abrupt auf seinem Schreibtischstuhl herum und begann wild in einem Heft zu blättern. Als er die gewünschte Seite gefunden hatte, streckte er die Hand aus. Ein Buch aus dem Regal wackelte und flog dann von selbst in seine Hand. Er schlug es auf und steckte grimmig die Nase zwischen die Seiten. Omis Augen wurden kugelrund. „Wie...wie hast du das gemacht?“ „Was?“ Nagi drehte sich nicht um. „Na das mit dem Buch! Es ist geflogen!“ Der andere Junge ließ das Buch sinken und sagte: „Telekinese. Ich kann Dinge mithilfe meiner Gedanken bewegen.“ Omi war froh, dass er saß, sonst, so fürchtete er, wären ihm in diesem Moment vermutlich die Beine unter dem Körper weg geknickt. „Aber das ist ja...das ist ja...das ist...ich weiß auch nicht, was das ist. Fantastisch? Einzigartig? Phänomenal? Ich wünschte, ich hätte solche Super-Kräfte. Wie stark bis du? Kannst du einen Tisch hochheben? Ein Auto? Ein Haus?“ Nagi sah Omi an, als wäre er verrückt geworden. Plötzlich stahl sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht. Nicht groß, eher mikroskopisch klein, aber es war da. Er hob die Hand und der Schreibtisch bewegte sich mehrere Zentimeter in die Luft. Er ließ ihn dort einen Augenblick, dann senkte er ihn wieder auf seinen ursprünglichen Platz zurück. Omi konnte es immer noch nicht glauben. Telekinese! Seine Gedanken arbeiteten daran, ein Puzzle zusammenzusetzen, dessen Bild sich einfach nicht zu erkennen geben wollte. „Seid ihr...ich meine, seid ihr alle so begabt?“ Nagi nickte. „Crawford kann die Zukunft voraussagen. Farfarello spürt keinen Schmerz.“ „Und Schuldig?“ Omi wagte kaum zu atmen. „Er ist ein Telepath. Das heißt, er kann Gedanken lesen.“ Klack. Das letzte Puzzleteil rutschte an seinen Platz. Das also war es gewesen, was Omi schon die ganze Zeit irgendwie geahnt, aber nie recht hatte fassen können. Die Stimmen im Wohnzimmer wurden wieder lauter. „Ich wüsste gerne, was die da drüben reden“, murmelte Omi. Nagi antwortete nicht. Stattdessen hob er die Hand und deutete auf eine Lüftungsöffnung kurz unter der Zimmerdecke. Das Lüftungsgitter wackelte, schob sich aus der Öffnung und gab ein Loch in der Wand frei. Sofort hörte man die Stimmen aus dem Nebenraum lauter. Omi stand auf und stellte sich direkt darunter und lauschte. Nur am Rande bemerkte er, dass Nagi sich ebenfalls zu ihm gesellte. „Ich weiß wirklich nicht, was du dir dabei gedacht hast, ihn herzubringen“, giftete Crawford gerade. „Du hättest ihn töten sollen, als Schreient auftauchte. Wir und sie sind auf derselben Seite. Ein Friedensangebot, wenn du so willst.“ „Wir sind auf derselben Seite wie dieses Püppchen?“, höhnte Schuldig. „Seit wann?“ „Seit wir sie benutzen können, um Weiß loszuwerden“, erwiderte Crawford kalt. „Hättest du ihnen das Mädchen doch gelassen. Wir hätten sie schon wieder bekommen. In der Zwischenzeit wären sich Weiß und Schreient an die Kehle gegangen. Wir hätten nur noch die Reste entsorgen müssen.“ „Aber so macht es mehr Spaß“, ließ sich eine heisere Stimme vernehmen, von der Omi annahm, dass sie Farfarello gehörte. „Wir töten sie einfach alle.“ „Uns wird nichts anderes übrigbleiben nach diesem Desaster“, sagte Crawford. „Immerhin haben wir jetzt etwas, was jeder von ihnen will. Das hast du ja großartig hinbekommen, Schuldig.“ „Wir...wir könnten ihnen die beiden doch jetzt noch aushändigen“, schlug Schuldig vor. Omi fühlte, wie ihm kalt wurde. „Ich entschuldige mich, sage, dass es ein Missverständnis war, und zurück zum alten Plan. Ich mach auch noch ne hübsche Schleife drum.“ „Du könntest den Jungen auch gleich erschießen, dann haben wir weniger Ärger.“ „Ja, das könnte ich.“ Omi suchte nach irgendwelchen Anzeichen von Sarkasmus, aber er fand keine. „Ich könnte das für dich übernehmen“, schlug Farfarello vor. „Ich könnte mir vorstellen, dass es Gott sehr verletzen würde, so einen kleinen Jungen schreien zu hören. So weich und warm und voller Leben.“ „Du wirst ihn nicht anrühren!“ Etwas polterte. Schuldig war offenbar aufgesprungen. „Was denn, was denn“, spottete Crawford. „Du wirst doch nicht sentimental werden, Schuldig.“ Omis Herz setzte einen Schlag aus, als er den nächsten Satz hörte. „Nein, aber ich kann meinen Dreck selber wegräumen.“ Omi trat von der Wand zurück und blinzelte gegen die Tränen an. Nagi verschloss die Öffnung wieder und setzte sich zurück an den Schreibtisch. Er zögerte einen Augenblick, dann schlug er sein Buch auf und begann zu lesen. Omi ließ sich auf das Bett neben Aya sinken. Sein Kopf war seltsam leer. Ihm fiel ein, was Nagi gesagt hatte. Dass Schuldig Gedanken lesen konnte. Nun, bei ihm gab es momentan nicht besonders viel zu lesen. Die Tür wurde geöffnet und Schuldig trat ein. Er mied Omis Blick und setzt sich neben ihn. „Wir haben jetzt alles besprochen“, sagte er. „Ja, ich hab´s gehört“, erwiderte Omi bitter. „Du willst den Dreck beseitigen.“ Schuldig schwieg. Nagi drehte sich zu ihnen herum und Omi hatte das Gefühl, das etwas zwischen ihm und Schuldig vorging. Er sah von einem zum anderen. „Redet ihr etwa miteinander?“, fragte er fassungslos. Schuldig deutete ein Lächeln an. „Nagi hat es dir also erzählt. Ich hatte gedacht, du kommst irgendwann von selber drauf. Ja, Nagi wollte wissen, ob ich eine Idee habe, wie er Tot aus der Sache raushalten kann. Der gute Naggels ist nämlich ein bisschen verschossen in sie. „Schuldig!“ Nagi war feuerrot angelaufen und die Bücher in seinem Regal zitterten bedrohlich. „Hey, schon gut, reg dich wieder ab“, lachte Schuldig. „Ist ja nun wirklich kein großes Geheimnis. Selbst Crawford hat das schon mitbekommen.“ „Er wird verlangen, dass ich mich entscheide“, sagte Nagi und senkte den Kopf. „Ja, das verlangt er momentan wohl von uns beiden“, sagte Schuldig und sein Blick ruhte auf Omi. Als die Nacht hereinbrach, saß Omi auf Schuldigs Bett im Schein einer kleinen Nachttischlampe. Crawford hatte sie auf Schuldigs eindringlichen Wunsch hin umverteilt. Was genau er Crawford erzählt hatte, wollte Omi lieber gar nicht wissen. Schon das Abendessen war eine Erfahrung, auf die er hätte verzichten können. Er hatte kaum einen Bissen runter bekommen, weil Farfarello ihn die ganze Zeit angestarrt und dabei mit einem Messer gespielt hatte. Als Schuldig danach noch darauf bestanden hatte, dass dieser Irre sich Omis Bein ansah, wäre Omi am liebsten noch einmal aus dem Fenster gesprungen, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich dieses Mal im achten Stock befanden. Die nachfolgende Prozedur war etwas gewesen, von dem sich Omi sicher war, dass es ihm noch eine ganze Weile Alpträume beschweren würde. Farfarello hatte ihn zwar verbunden, aber insgeheim hatte Omi das Gefühl gehabt, dass er sich dabei eher darüber Gedanken machte, wie er Omi auf höchst kreative Weise aus dem Weg räumen konnte. Dabei hatte er immer wieder vor sich hin gelächelt und etwas von „sündigem Engel“ gemurmelt. Ganz am Schluss hatte er sich ganz nahe zu Omi gelehnt, ihn gierig mit dem einzelnen Auge angestarrt und gefragt: „Fürchtest du dich vor dem Tod?“ Hätte Omi sich in dem Moment nicht auf die Zunge gebissen, hätte er wohl geantwortet: „Ja, wenn er Farfarello heißt.“ Die Bedrohung, die von diesem Mann ausging, war für ihn quasi körperlich spürbar gewesen. Sie hatte die Idee, dass er die nächsten Tage tatsächlich nicht überleben könnte, sehr greifbar gemacht. „Und, wie gefällt dir deine Übernachtungsparty bei Schwarz?“, witzelte Schuldig. Er ließ sich neben Omi aufs Bett fallen, legte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. „Die Gesellschaft lässt ein bisschen zu wünschen übrig“, gab Omi frostig zurück. „Und das Unterhaltungsprogramm ist zum Gähnen.“ „Soso, ich bin also zum Gähnen“, gluckste Schuldig und langte nach Omis Hand. Er zog sie weg, so das Omi neben ihn sank. Sofort war er über ihm und drückte seine Lippen auf Omis Mund. Omi hatte sich eigentlich nicht so überrumpeln lassen wollen, aber jetzt, da ihm Schuldig so nahe war, konnte er nicht anders. Dieser Mann machte ihn verrückt. Trotzdem schob er ihn entschieden von sich. „Was hat Crawford vor? Mit mir, meine ich.“ Schuldigs Miene verdüsterte sich. „Er hat sich mit Schreient in Verbindung gesetzt. Ich glaube, er will einen Preis für dich aushandeln. Oder ihnen dich anstelle des Mädchens anbieten. Was immer ihm am günstigsten erscheint.“ „Das heißt, das hier wird meine letzte Nacht mit dir sein?“ Schuldig wiegte den Kopf hin und her. „Ja, Bishounen, so sieht´s wohl aus.“ „Dann schlaf mit mir.“ „W-was?“ Omi sah, dass er es wohl tatsächlich geschafft hatte, Schuldig aus dem Konzept zu bringen. Es stand ihm irgendwie. Ließ ihn jünger aussehen. „Bist du dir im Klaren, was du gerade gesagt hast?“ Omi nickte. „Völlig im Klaren. Ich meine, ich habe mein Leben oft genug riskiert, seit ich bei Weiß bin. Und ich habe nie...für den Augenblick gelebt. Weil ich irgendwie wusste, da kommt noch was. Aber jetzt...“ Er brach ab, als seine Stimme brüchig wurde. Schuldig zog ihn in einen Kuss, der die Tränen zurückdrängte. Es folgte ein zweiter und ein dritter und dann noch viele mehr, die Omis ganzen Körper zu bedecken suchten. Schuldig entkleidete ihn Stück für Stück und ersetzte jedes bisschen Stoff mit seinen Lippen. Omi seufzte, als schließlich auch die letzte Hülle fiel und er nackt vor Schuldig auf dem Bett lag. Schuldigs Hand fuhr an seinem Oberschenkel entlang und strich zwischen seinen Beinen hindurch. Omi keuchte, als sie Schuldigs Finger um seine Erektion legten und Küsse sein Becken liebkosten. „Nein“, sagte er und schob Schuldigs Kopf weg. „Bitte, ich halte das nicht aus. Wenn du da weitermachst, ist es vorbei, bevor es angefangen hat.“ „Wie du willst, Bishounen.“ Schuldig schob sich nach oben und legte sich neben Omi. 'Und du bist dir ganz sicher?' Omi war erstaunt über die Stimme in seinem Kopf. Ihm wurde klar, dass er sie schon ein paar Mal gehört hatte. 'Ganz sicher.', dachte er zurück. Schuldig stand auf und zog sich ebenfalls aus. Als Omi ihn schließlich völlig nackt vor sich sah, fiel ihm etwas ein. Er wurde ein bisschen rot um die Nase, weil er nicht wusste, wie er danach fragen sollte. Bittend sah er Schuldig an. Der zwinkerte ihm zu. 'Ist manchmal ganz praktisch, die Sache mit dem Gedankenlesen.' Schuldig ging zu einer Kommode und kam mit etwas in der Hand zurück. Omi erkannte es sofort wieder. Es war eine weitere Flasche der After-Sun-Lotion, die Schuldig ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. 'Meinst du, die wird gehen?' 'Die ist perfekt!' Omi spürte, wie Schuldig die kühle Lotion zwischen seinen Beinen verteilte. Als seine Hand weiter nach hinten wanderte, wurde Omi aufgeregt. 'Sch, entspann dich. Ich tu dir nicht weh.' 'Ich weiß, aber ich glaube, ich habe ein bisschen Angst vor den eigenen Courage' Schuldig schmunzelte. 'Dann lass mich dir helfen.' Es fühlte sich an, als würde sich ein Schleier um Omis Kopf legen. Er sah und spürte noch alles, aber es war irgendwie weicher, weniger scharf, weniger bedrohlich. 'Sorgst du so dafür, dass dich die Leute nicht bemerken?' 'Ja.' Es war das letzte Wort, das Omi bewusst hörte. Er fühlte, wie Schuldig ihn küsste und spürte, wie er ihn zunächst mit den Fingern vorbereitete. Er sah, wie Schuldig sich zwischen seinen Beinen postierte, wie er sich zu ihm beugte und schließlich in ihn eindrang. Dann nahm Schuldig den Schleier von Omis Gedanken. Omi keuchte auf, als sein Bewusstsein plötzlich mit aller Deutlichkeit zurückkam. Schuldig bewegte sich in ihm und Omi hatte das Gefühl, von innen heraus zu verglühen. Er stöhnte, als Schuldig einen Punkt in ihm berührte, der heiße Lava durch seine Nervenbahnen sandte. Schuldig rollte sich mit Omi zusammen herum, sodass Omi jetzt auf ihm saß. Instinktiv begann Omi sein Becken zu bewegen, den Rhythmus und Winkel zu bestimmen, der ihm die größte Lust verschaffte. Er stieß Schuldigs Hand weg, die nach seiner Erektion griff, weil er den Moment voll auskosten wollte. Schuldig so tief in ihm, wie es nur ging. Er hob und senkte seinen Körper, beugte sich zu Schuldig herab und küsste ihn stürmisch, nur um gleich darauf wieder die volle Länge in sich aufzunehmen. Er merkte selbst, wie er dabei immer weiter auf das Ende zusteuerte, aber noch konnte er durchhalten. Er öffnete die Augen und betrachtete seinen Liebhaber. Schuldig, der sich unter ihm wand, sich auf die Lippen biss, um nicht zu laut zu stöhnen, wann immer Omi sich auf ihn herabsenkte. Der an sich halten musste, um nicht die Hände auf Omis Hüften zu legen und die Führung zu übernehmen und stattdessen die Finger ins Laken krallte. Schuldig, der sich schließlich mit einem heiseren Laut an ihn klammerte und zuckend in ihm kam. Noch fest in der Umarmung, wehrte sich Omi dieses Mal nicht, als Schuldig zwischen sie griff und ihn mit wenigen Strichen ebenfalls in die Erlösung schickte. Schwer atmend saßen sie auf dem Bett und hielten sich aneinander fest. Omi strich Schuldig durch das Haar. „Danke.“, sagte er leise. „Ich kann mich nicht beklagen, Bishounen“, lächelte Schuldig und biss leicht in Omis Schulter. „Schuldig?“ „Ja?“ 'Ich liebe dich.' Zum zweiten Mal an diesem Abend sah Schuldig ihn an, als wäre Omi von einem anderen Stern. Er blinzelte, als könne er das eben Gehörte nicht begreifen. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Omi hörte, wie seine Zähne anfingen zu klappern. Er beugte sich vor und wollte Schuldig küssen, doch der stieß ihn von sich und sprang aus dem Bett. Er schien nicht zu wissen, wo er hinlaufen sollte, raufte sich die Haare, blieb schließlich vor der Kommode stehen und lehnte sich stöhnend darauf, den Kopf zwischen den Händen vergraben. Omi betrachtete seine bebende Rückseite. Er glitt ebenfalls vom Bett, trat hinter Schuldig und legte die Hand auf seinen Rücken. Schuldig zuckte zusammen, ließ ihn aber gewähren. „Schu, es ist... Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen.“ „Du hast es aber gedacht. Das reicht bei mir ja schon. Ich kann dem leider nicht entfliehen, dass du mir das um die Ohren haust.“ „Würdest du denn fliehen wollen?“ Schuldig drehte sich zu ihm um und schüttelte den Kopf. „Nein, davor nicht. Aber davor, wie ich einen Weg finden soll, Crawford daran zu hindern, den einzigen Menschen auf dieser Welt umzubringen, dem ich was bedeute. Davor würde ich gerade gerne fliehen.“ Kapitel 12: Hals über Kopf -------------------------- Schuldig hob plötzlich den Kopf, als hätte er etwas gehört. Omi sah ihn fragend an. „Nagi“, erklärte Schuldig. „Er will wissen, ob er rüber kommen kann.“ Omi blickte an sich herab und auf das zerwühlte Bett. „Vielleicht gehen wir lieber zu ihm. Außerdem müsste ich mal ins Bad.“ „Klar, zweite Tür auf der rechten Seite neben Nagis Zimmer.“ Omi zögerte. „Kann ich denn einfach so gehen? Ich meine, ohne dass mich dieser Farfarello aufschlitzt?“ Schuldig winkte ab. „Der schläft. Genauso wie Crawford. Muss wohl irgendwas im Essen gewesen sein. Ein paar Beruhigungsmittel oder so.“ Omis Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Du hast das schon vorher geplant?“ „Nein, nicht geplant“, antwortete Schuldig ausweichend. „Nur als Möglichkeit in Betracht gezogen.“ „Du bist ein hinterhältiger, manipulativer Bastard.“ „Ich weiß.“ Also Omi Nagis Zimmer betrat, waren der und Schuldig schon dabei, ihre Optionen durchzusprechen. „Es gibt eigentlich nur Kampf oder Flucht“, bemerkte Schuldig gerade. „Ich werde nicht gegen Crawford kämpfen“, stellte Nagi klar. „Bleibt also nur Flucht. Aber wohin? Crawford kennt alle unsere Verstecke.“ Omi räusperte sich. „Und wenn wir...ich meine, wir werden Hilfe brauchen.“ Schuldigs Augenbrauen wanderten nach oben. „Von Weiß? Vergiss es. Die würden sich auf Nagi und mich stürzen, sobald wir da auftauchen. Also auf mich zumindest. Außerdem ist das nicht viel besser als alle anderen Verstecke. Crawford ist bestens über Weiß informiert.“ Omi erschrak. „Wie das?“ „Weil ich ihm alle Infos fein säuberlich auf dem Silbertablett serviert habe. Er ist immerhin für alle Belange von Schwarz verantwortlich. Wenn ich nicht Meldung gemacht hätte, wäre das Spiel ganz schnell vorbei gewesen.“ „Crawford weiß vom Koneko?“ Omi sprang alarmiert auf. „Wir müssen sie warnen.“ Er suchte in seiner Hosentasche nach seinem Handy, aber es schien ihm irgendwo aus der Tasche gefallen zu sein. „Omi hat Recht“, sagte Nagi plötzlich. „Wir brauchen Hilfe und anscheinend ist Weiß momentan unsere einzige Chance.“ „Oh, na prima. Chibis aller Länder vereinigt euch oder was?“, grummelte Schuldig. „Also gut, gehen wir. Und hoffen, dass wir noch zu Wort kommen, bevor mir dein giftiger Anführer sein Schwert zwischen die Rippen rammt, weil ich sein kostbares Schwesterlein angefasst habe.“ Während der Wagen durch die Nacht glitt, fiel Omi etwas ein. „Wird Crawford uns nicht finden? Ich meine, wo er doch die Zukunft voraussehen kann. Sieht er da nicht, wohin wir gehen werden?“ Schuldig schüttelte den Kopf. „Nein, so einfach ist das nicht. Die Zukunft ist eine kniffelige Angelegenheit, auch wenn Crawford immer so tut, als hätte er den ganz großen Durchblick. Also klar, kurzzeitige Voraussagen wie die Bewegungen seines Gegners im Kampf, schafft er natürlich locker. Aber je weiter die Zukunft entfernt ist, die er zu sehen wünscht, desto mehr Verzweigungen gibt es. Das Ganze ist sehr komplex. Und auch nicht ungefährlich. Glaub mir. Crawford hat mir mal, als ich unerlaubt in seinen Gedanken rumgewühlt habe, eine volle Ladung Zukunftsvision verpasst. Dass ich danach nur ohnmächtig war und mein Kopf nicht zu blutigem Brei zerplatzt ist, hat mich selbst gewundert.“ Omi sah ihn voller Mitleid an. „Auf jeden Fall kann er uns nicht so einfach aufspüren. Dazu braucht er Ruhe und Zeit. Er muss höllisch aufpassen, dass er sich im Gewirr der Möglichkeiten nicht verliert. Deswegen ist er auch so ein penibler Arsch.“ Nagi grollte auf dem Rücksitz. „Ja ok, ein Arsch ist er auch so, aber die Pingeligkeit kommt von innen. Sie ist für ihn überlebenswichtig. Wer in seinem Kopf so ordentlich sein muss, ist es dann auch äußerlich.“ „Und was ist mit deinem Kopf?“, grinste Omi. „Mein Kopf? In meinem Kopf war es noch nie ordentlich“, lachte Schuldig. „Zu viel los, zu viele Stimmen von außen. Wenn du da aufräumen willst, kannst du auch gleich mit Nutella Zähne putzen.“ „Mit was?“ Nagi schnaubte laut auf. „Frag nicht. Irgendein pappsüßer Schokoladen-Aufstrich, auf den er total wild ist. Bete, dass du nie erlebst, wenn das Glas alle ist, bevor du neues eingekauft hast.“ „Das war einmal“, verteidigte sich Schuldig. „Und ich hab dir einen neuen Laptop gekauft.“ Omi grinste leise vor sich hin. Wie es schien, hatte Schuldig ein paar Seiten, von denen er noch nichts wusste. Er hoffte, dass er noch Gelegenheit haben würde, sie kennenzulernen. Er ahnte, dass Schuldig ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Auch wenn Crawford Zeit brauchen würde, würde er sie früher oder später finden. Omi zog die Beine an den Körper und schlang die Arme darum. Er bettete den Kopf auf die Knie, während draußen die Straßenlaternen vorbeizogen. Die Nacht schien heute finsterer zu sein als sonst. Nicht nur dunkel, sondern tiefschwarz. In den Fenstern der Wohnung des Koneko brannte noch Licht. Omi konnte sich vorstellen, was drinnen los war. Er war nicht nach Hause gekommen, war nicht erreichbar. Das Krankenhaus hatte Aya sicherlich über die Entführung seiner Schwester unterrichtet. Die drei dort drinnen waren wirklich nicht zu beneiden. Trotzdem hätte Omi gerade sehr gerne mit ihnen getauscht. „Ich denke, es wird das Beste sein, wenn ich zuerst alleine reingehe.“ Nagi wollte protestieren, aber Schuldig schnitt ihm das Wort ab. „Lass ihn gehen. Er kriegt das schon hin. Und falls hier irgendwelche wild gewordenen Kätzchen auf uns einstürmen, werden wir doch spielend mit denen fertig.“ Nagi schwieg und ließ sich wieder in den Sitz sinken. Er rückte noch ein Stück von Ayas Schwester weg und starrte aus dem Fenster. Omi holte noch einmal tief Luft und stieg aus. Er hatte die Tür noch nicht erreicht, als diese schon vor ihm aufflog und Ken ihm entgegen sprang. „Omi!“, rief er und zog Omi in eine feste Umarmung. „Wo warst du? Wir drehen hier drinnen fast durch. Du bist einfach verschwunden und Ayas Schwester wurde entführt.“ „Ich weiß“, antwortete Omi. „Du weißt?“ Ken sah verwirrt aus. „Aber wie...?“ „Lass uns reingehen. Ich erkläre es euch drinnen.“ Aya und Yoji saßen in der Küche. Ayas Gesicht schien aus Stein gemeißelt. Yoji stand am Fenster und rauchte. Allein die Tatsache, dass Aya ihm das nicht verbot, zeigte, wie ernst die Lage war. Als Omi und Ken eintraten, schnippte Yoji die Zigarette aus dem Fenster. Er sah müde aus. So müde, wie Omi sich fühlte. „Hey“, sagte er leise. „Ich bin wieder da.“ „Wo warst du?“ Ayas Stimme war ein heiseres Flüstern. Omi lief es eiskalt den Rücken hinunter. „Ich...ich war im Krankenhaus“, sagte Omi und schluckte, als Ayas Kopf nach oben schnappte. Seine Augen sezierten Omi bis auf die Knochen. Omis Stimme kam ins Stocken. „Ich...deiner Schwester geht es gut.“ „Woher weißt du das?“ Das Flüstern hatte sich in ein schneidendes Schwert verwandelt. „Aya, ich kann das erklären.“ Omis Herz klopfte bis zum Herz. Das lief überhaupt nicht so, wie er gehofft hatte. „Hey, Abyssinian. Wenn du jemand mit Blicken töten musst, versuch´s doch mal mit jemand in deiner Größe.“ Hätte Schuldig eine Bombe in die Küche geworfen, hätte die Wirkung nicht verheerender sein können. Aya sprang auf und warf dabei den Küchentisch um. Die Zeitung, die auf dem Tisch gelegen hatte, verbreitete sich in einem Papierregen auf dem Boden und Ayas noch fast volle Teetasse zerschellte mit lautem Klirren an einer Tür der Küchenzeile. Ken wirbelte wie von der Tarantel gestochen herum, rutschte auf der Mischung aus lauwarmen Tee und Zeitungspapier aus und fiel Omi direkt vor die Füße. Yoji fegte bei dem Versuch, vom Fensterbrett aus in Kampfhaltung zu springen, die zwei dort stehenden Blumentöpfe herunter und ergänzte den Papiermatsch um eine Flut aus Blumenerde und grünen Blättern. Es war das reinste Chaos. „Was?“ „Warum?“ „Aua!“ Schuldig grinste in bester Cheshire-Cat-Marnier. „Freut mich auch euch zu sehen. Ich hätte ja Blumen mitgebracht, aber ich dachte mir, ein schlafendes Dornröschen tut´s auch.“ Er hob demonstrativ seine Arme, in denen das bewusstlose Mädchen lag. „Nimm deine Finger von meiner Schwester!“, fauchte Aya und sah sich nach einem Messer um. Er würde diesen grinsenden Gaijin umbringen. Notfalls auch mit einem Teelöffel. „Aya, hör doch bitte erst mal zu.“ Omi sah verzweifelt zwischen Aya und Schuldig hin und her. Wie sollte er denn jetzt noch irgendetwas erklären, wenn Schuldig hier rein platzte und alles ruinierte? „Sorry, Bishounen, aber wir haben für den langsamen Schmuse-Kuschelkurs keine Zeit mehr. Mein Handy hat gerade geklingelt. Crawford war dran. Muss wohl doch was von dem Beruhigungsmittel geahnt haben. Er war sehr ungehalten. Es kann sich nur noch um Stunden handeln, bis er hier aufkreuzt. Und zwar eher um weniger, als mehr Stunden. Wir müssen hier weg.“ Ken, der das Ganze nur mit offenem Mund verfolgt hatte, schielte jetzt an Schuldig vorbei in den Flur. „Moment, dich kenne ich doch“, sagte er verblüfft. „Du warst letztens schon mal im Laden.“ Nagi verbeugte sich. „Naoe. Nagi Naoe.“ „Omi, warum hat der Kerl meine Schwester entführt?“ Aya schien den ersten Schreck überwunden zu haben. „Und was noch viel wichtiger ist, warum steht er jetzt in unserer Küche?“, ergänzte Yoji. „Mir scheint, du hast uns eine Menge zu erklären, Omi. Der Kerl hätte Ken und mich fast umgebracht.“ „Ich hab mich eben nicht genug angestrengt, ok?“, äzte Schuldig. Yoji ließ sich davon nicht beirren. „Er hat dich entführt, hat gedroht uns alle zu töten. Warum in aller Welt bringst du ihn hierher?“ „Er hat versprochen, euch nichts zu tun“, wisperte Omi. Er merkte selbst, wie lächerlich das klang. „Du hast noch was vergessen“, sagte Ken. „Er arbeitet für Takatori.“ „Takatori!“ Aya Wut hatte durch den verhassten Namen neue Nahrung bekommen. Schuldig schnaubte belustigt. „Also was das angeht, kann ich euch beruhigen. Ich glaube, das mit der Anstellung hat sich heute Nacht irgendwie erledigt. Ich bin wieder ein freier Mann.“ „Omi, sag uns jetzt endlich, was hier los ist!“ Omi hatte Yoji noch nie so ernst gesehen. Er schloss die Augen und holte tief Luft. „Schuldig wollte Aya-chan als Austausch für euer Leben. Ich habe eingewilligt und ihn hingeführt. Im Krankenhaus sind wir von Schreient angegriffen worden und zum Versteck von Schwarz geflüchtet. Und jetzt bin ich mit den beiden hier, während der Rest von Schwarz uns auf den Fersen ist, um uns alle umzubringen.“ Schweigen breitete sich in der Küche aus. Vom Schrank tropfte der Tee. Ken war der erste, der reagierte. Er rappelte sich vom Boden hoch und sah von einem seiner Freunde zum anderen. „Ich hab zwar nur die Hälfte verstanden, aber der letzte Teil mit dem Umbringen klingt, als sollten wir schleunigst von hier verschwinden.“ Schuldig rollte die Augen zur Decke. „Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber: Siberian hat den Durchblick. Also was ist? Gehen wir?“ „Zuerst gibst du mir meine Schwester zurück.“ Aya ging zu Schuldig und wollte ihm das Mädchen aus den Armen nehmen, doch der hielt es noch einen Augenblick lang fest. „Hör mir genau zu, Abyssinian“, knurrte er leise. „Ohne mich wäre deine kostbare Schwester jetzt in der Gewalt von Schreient. Also zeig dich ein bisschen dankbar und hör auf darüber nachzudenken, bei welcher Gelegenheit du mir dein Buttermesser in den Rücken rammen kannst. Wenn du dich später noch mit mir rollen willst, bitte. Aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir brauchen ein Versteck.“ Schuldig stieß Aya seine Schwester in den Arm und trat einen Schritt zurück. Aya sah auf das bewusstlose Mädchen hinunter und schwieg. Nach einer halben Ewigkeit sagte er: „Ich kenne da jemanden. Packt eure Sachen und dann nichts wie raus hier.“ Er verließ die Küche und ging mit Aya-chan in sein Zimmer. Omi starrte die leere Türöffnung an „Aya kennt jemanden?“, fragte er schließlich. „Ich glaube, schräger kann der Tag nicht mehr werden.“ Das Haus in der ruhigen Wohngegend lag bereits in völliger Dunkelheit da. Es war bereits weit nach Mitternacht. Omi kletterte aus dem Auto, in dem er und Ken mit Schuldig und Nagi unterwegs waren. Er drehte sich zu Schuldig um und sagte: „Ich glaube, es ist besser, wenn du im Wagen bleibst.“ „Wird gemacht. Wollen wir hoffen, dass Abyssinians Kontakt zu gut ist, wie er glaubt. Ich meine, das hier sieht nicht gerade nach einer Gegend für gute Unterweltkontakte aus, aber man kann ja nie wissen.“ „Ihr wartet hier“, sagte Aya, schwang sich über den Zaun und machte sich daran, den Balkon des Hauses zu erklimmen. Er sprang über die Brüstung und klopfte leise an die große Glastür. Als niemand öffnete, kloppte er noch einmal etwas lauter. Er wollte sich gerade daran machen, das Schloss aufzubrechen, als von innen die Vorhänge beiseite gezogen wurden. Das Mädchen auf der andere Seite erschrak. Sie beeilte sich, die Tür zu öffnen. „Aya! Was machst du denn hier? Ich hab mich zu Tode erschreckt.“ „Sakura.“ Aya hatte sofort an das Mädchen denken müssen, dass seiner Schwester so ähnlich sah und mit dem ihn wohl so eine Art Freundschaft verband, wenn man es so nennen wollte. „Sakura, ich brauche deine Hilfe.“ „Meine Hilfe?“ Sakura zog ihren Morgenrock enger um die Schultern. „Gerne. Aber wie könnte ich dir behilflich sein?“ „Du hast mir doch erzählt, dass du früher oft am Strand laufen warst, wenn du mit deinen Eltern in ihrem Ferienhaus warst. Würdest du mir den Schlüssel für das Haus geben?“ Sakura sah ihn aus großen Augen an. „Ich kann dir nicht mehr erzählen. Ich bitte dich nur um den Schlüssel und die Adresse. Ich bringe ihn dir so schnell zurück, wie ich kann.“ Sakura nickte langsam. „Wenn du es sagst, Aya, dann vertraue ich dir. Meine Eltern werden in der nächsten Zeit ohnehin keinen Urlaub dort machen.“ Sie drehte sich um und verschwand im dunklen Zimmer. „Wisst ihr, wer hier wohnt?“, wollte Ken wissen. „Offensichtlich ein Mädchen“, antwortete Yoji. „Ich hab ja nicht geahnt, dass Aya eine Freundin hat. Ob er in der letzten Zeit bei ihr war? Und ob wir wohl noch erfahren werden, wo Omi sich in der letzten Zeit rumgetrieben hat? Die Geschichte, wie du an den Schwarz geraten bist, würde mich doch mal sehr interessieren.“ Omi war dankbar dafür, dass es so dunkel war. Sein Gesicht brannte. Wenn sie erst mal in Sicherheit waren, würde er seinen Freunden eine Menge erklären müssen. Eine ganze Menge sogar. Aya sprang über den Zaun zu ihnen auf die Straße. In seiner Hand klirrte ein Schlüssel. „Ich habe ein Versteck. Fahren wir.“ Kapitel 13: Atempause --------------------- Als Omi erwachte, ging gerade die Sonne auf. Er und Ken saßen auf dem Rücksitz aneinander gelehnt. Nagi war ebenfalls auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Schuldig lenkte den Wagen mit einer Hand, die andere hielt einen fast leeren Kaffeebecher, den er sich wohl irgendwo besorgt hatte. Der Geruch des schwarzen Getränks erfüllte das Innere des Wagens. „Hey“, sagte Omi leise. Er wollte die beiden anderen nicht wecken. „Wo sind wir?“ „Noch eine gute, halbe Stunde schätze ich. Dann sind wir an der Küste.“ Omi überlegte. Das alles war so schnell gegangen, dass er gar keine Gelegenheit gehabt hatte, sich eine plausible Geschichte auszudenken. Was also sollte er bei der unwiderruflich folgenden Befragung sagen? Dass er sich in den Feind verliebt hatte? Dass er sie nur hatte retten wollen? Es war ein verfluchter Alptraum. 'Ist das nicht die Wahrheit? Darauf steht ihr Guten doch so', klinkte sich Schuldig in seine Gedanken ein. 'Hast du mir nicht gesagt, ich wäre nicht viel besser als du?' 'Touché!' Schuldig trank den letzten Schluck Kaffee, knüllte den Becher zusammen und warf ihn in den Fußraum des Beifahrersitzes. 'Ich bin auf jeden Fall froh, dass du Siberian mitgenommen hast.Die Gedanken der anderen beiden waren ja nicht zum Aushalten.' Omi lachte zunächst, stutzte dann aber. 'Also, dass Ayas Gedanken nicht gerade angenehm sind, kann ich ja verstehen. Aber warum Yojis?' 'Balinese hat irgendein Problem mit Neu. Nennt sie Asuka. Kann das sein? Kaum hattest du Schreient erwähnt: BOOOM. Totale Gedankenexplosion. Von so was bekomme ich Kopfschmerzen.' 'Er denkt, dass Neu seine ehemalige Partnerin ist. Ich glaube, er hat immer noch Gefühle für sie.' 'Wie rührend. Vielleicht sollten wir Weiß und Schreient doch zusammen in eine Grube werfen und gucken, was passiert. Ich stelle mir das spaßig vor.' 'Schuldig!' 'Jaja, bin ja schon ruhig.Ich bin eben, wer ich bin.Wobei, wenn ich nicht mehr Schwarz bin und mit Weiß unterwegs, was bin ich denn dann? Dunkelgrau?' Omi gluckste, bis ihm etwas einfiel. 'Meinst du, dass mein Bruder noch lebt? Masafumi meine ich.' 'Mhm, leben würde ich das jetzt nicht nennen. Er schwimmt in einem Tank voller Flüssigkeit herum wie ein halb vergammelter Goldfisch. Hat Crawford zumindest gesagt.' 'DAS hat Crawford gesagt?' 'Naja, nicht so direkt. Nenn es künstlerische Freiheit.' Ken begann sich ebenfalls zu regen. Er gähnte und fragte: „Sind wir bald da?“ Schuldig schüttelte den Kopf. „Wieso fragt das eigentlich immer jeder?“ Omi deutete nach vorne. „Da, Aya biegt ab. Das da oben muss es sein.“ Sie hielten vor einem Haus, das direkt auf dem Scheitelpunkt eines Hügels gebaut worden war. Grünes Gras bedeckte den Boden, der ein gutes Stück weiter in schroff abfallenden Felsenklippen endete. Also Omi ausstieg, konnte er die Wellen rauschen hören und im Wind lag der salzige Geschmack des Meeres. Am Fuß der Felsen öffnete sich auf der einen Seite ein schmaler Sandstrand, an dessen Gestade die weiße Gischt rollte. Omi streckte sich und konnte nicht umhin, die Schönheit der einsamen Landschaft zu bewundern. Am liebsten wäre er jetzt zu einem langen Spaziergang aufgebrochen oder hätte sich einfach nur an die Felskante gesetzt und auf das Meer geblickt, doch die wartenden Mienen seiner Freunde kannten keinen Aufschub. Die Luft im Inneren des Hauses war ein wenig abgestanden, aber es war sauber und überraschend geräumig. Neben einer Küche und einem Wohnraum gab es drei Schlafzimmer, von denen zwei kleinere im ersten Stock lagen. In eines davon brachte Aya seine Schwester. Als er mit finsterem Gesichtsausdruck wieder herunterkam, wollte er sich geradewegs an Omi wenden, aber Yoji ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Es war eine lange Nacht, eine lange Fahrt, wir sind alle nicht ausgeruht. Lass uns erst einmal eine Runde schlafen, bevor wir da weiter machen, wo wir im Koneko aufgehört haben.“ Aya schien zu überlegen. Es war klar, dass er sich mit dem Gedanken nicht recht anfreunden konnte. Trotzdem nickte er. „Gut. Ich werde mir Aya in einem Zimmer schlafen. Yoji, Ken und Omi nehmen das große Zimmer im Erdgeschoss. Und die da kommen mit mir nach oben.“ Schuldig und Nagi sahen sich an. Omi konnte sehen, dass sie sich telepathisch unterhielten. Nagi schüttelte stumm den Kopf. Schuldig schien zu insistieren, bis Nagi schließlich seufzte. „Ich werde auf dem Sofa schlafen“, verkündete er. „Ich denke, Schuldig möchte lieber mit Omi in einem Zimmer schlafen.“ „Was? Warum das denn?“, fragte Ken verwirrt. Schuldig trat hinter Omi und legte besitzergreifend einen Arm um seinen Brustkorb. „Darum, Siberian.“ Omi befreite sich aus seiner Umarmung. „Er heißt Ken. Und das sind Yoji und Aya. Wenn das hier funktionieren soll, müssen wir uns alle zusammenreißen. Alle.“ Schuldig sah aus, als wolle er noch etwas erwidern, beließ es aber bei einem Schnauben. Omi wandte sich an seine Freunde, sah aber eigentlich nur Aya an. „Seid ihr mit der Zimmerverteilung einverstanden?“ Aya nickte unmerklich, drehte sich um und ging nach oben. Omi atmete erleichtert aus. Bis er Kens und Yojis Gesichtsaudruck sah. Der eine war rot angelaufen, der andere hatte ein wissendes Lächeln aufgesetzt. Omi merkte, dass sich seine Gesichtsfarbe Kens unwillkürlich annäherte. „Ich glaube, wir gehen mal lieber schlafen“, nuschelte er und machte, dass er die Treppe hochkam. Hinter sich konnte er einen erstickten Laut von Ken hören und Yoji, der sagte: „Ich glaube, du brauchst was zu trinken. Komm, wir gucken mal, was die Hausbar hergibt.“ Als Schuldig sich zu ihm gesellte, funkelte ihn Omi wütend an. „Sag mal, musste das sein? Können wir ihnen nicht einen Schock nach dem andere verpassen?“ „Hättest du deine Nacht lieber mit Mister Inqusisition persönlich, also known as Yoji, verbracht?“, fragte Schuldig zurück. „Glaub mir, mit mir bist du besser dran.“ „Aber es wird nur geschlafen. Aya ist nebenan.“ „Ja und? Möchtest du ihn fragen, ob er dazu kommen will?“ „Schuldig!“ „Alles klar, nur schlafen. Gute Nacht, Bishounen.“ Schuldig rollte sich neben Omi zusammen und war sofort eingeschlafen. Er musste nach der langen Fahrt völlig erschöpft sein. Omi hingegen lag noch lange wach und lauschte dem Rauschen des Meeres. Wie sollte das morgen nur weitergehen? Yoji stellt das Glas und die Flasche mit der braunen Flüssigkeit vor Ken auf den Nachttisch. „Trink das. Ist gut für die Nerven.“ „Ich mag aber keinen Alkohol“, wagte Ken zu protestieren. „Sehr gut, bleibt mehr für mich übrig. Aber einen solltest du dir trotzdem gönnen.“ Es gluckerte, als der Whisky in das Glas floss. Yoji drückte es Ken in die Hand und führte es dann zu seinem Mund. „Nun sei nicht so ein Weichei. Runter damit.“ Ken schluckte gehorsam und bekam Sekunden später einen Hustenanfall. Der scharfe Alkohol brannte in seiner Kehle und trieb ihm die Tränen in die Augen. In seinem Magen begann sich eine kribbelnde Wärme auszubreiten. Er schüttelte sich, trank aber noch einen Schluck und noch einen, bis das Glas leer war. Yoji wollte nachschenken, aber Ken wehrte ab. „Kommt nicht infrage. Ich besaufe mich hier doch nicht.“ Yojis Blick wanderte an die Zimmerdecke. „Was die beiden da oben wohl jetzt treiben.“ Ken fielen fast die Augen raus. „Na nichts hoffe ich doch. Also ich meine, die werden doch nicht... Hast du gesehen, wie der Kerl Omi angegrapscht hat? War ja zum Fürchten. Der ganze Typ ist zum Fürchten. Was findet Omi wohl an dem?“ Yoji lachte leise. „Na irgendwas wird es wohl sein. Vielleicht hat er verborgene Qualitäten, von denen wir nichts wissen.“ Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. „Boah, Yoji, nee. Hör bloß auf damit.“ Ken schüttelte sich erneut und griff nach der Flasche. Er goss sich nach, trank einen Schluck und ließ sich dann wieder gegen die Rückenlehne des Bettes sinken „Ich meine, mal abgesehen davon, dass der Typ gefährlich ist, ist es ein Mann. Hallo? Ein M-A-N-N! Was kann man denn da wollen? Warum sucht sich Omi nicht ein nettes Mädchen, mit dem er dann...ich weiß nicht. Eis essen geht. Oder Händchen hält.“ „Oder romantische Ausflüge mit dem Motorrad macht?“, half Yoji ihm auf die Sprünge. „Ja so was. Ist doch das Normalste überhaupt.“ Ken trank noch einen Schluck. Man merkte langsam, das seine Aussprache undeutlicher wurde. „Ich meine, bei so einem Kerl, da fehlt doch was. Der hat ja nicht mal Brüschte.“ „Was?“ Yoji verschluckte sich beinahe. „Was hat der nicht?“ „Brüste!“, formulierte Ken überdeutlich. „Hat er doch nicht. Ich meine, ich steh auf Brüste. Wer steht nicht auf Brüste? Stehst du auf Brüste?“ „Absolut“, stimmte Yoji zu. Die Vorzüge der weiblichen Anatomie waren ihm durchaus geläufig. Er hatte auch kein Interesse an etwas anderem, selbst wenn er genug Nachtschwärmer kennengelernt hatte, die anders gepolt waren. Einer hatte sogar mal versucht, ihn abzuschleppen. Yoji hatte dankend abgelehnt. Höflich natürlich. Ihm war es egal, wer mit wem ins Bett stieg, solange er selber das bekam, was er wollte. „Manx hat tolle Brüste“, nuschelte Ken plötzlich. „Hast du die Bluse gesehen, die sie beim letzten Mal anhatte? Ich dachte, mich tritt ein Pferd.“ „Manx?“, prustete Yoji in sein Glas. Das fand er jetzt wiederum überhaupt nicht komisch. Warum starrte Ken auf Manx' Brüste? Ken sah seinen Gesichtsausdruck und hob abwehrend die Hände. „Einmal, ok? Es war einfach nicht zu übersehen. Ansonsten lasse ich dir gerne den Vortritt.“ „Sie will mich ja gar nicht“, seufzte Yoji theatralisch und goss sich noch einmal nach. So langsam merkte er die Wirkung des Alkohols ebenfalls. Er hatte zu schnell zu viel getrunken. Gut, so würde er wenigstens schlafen können und nicht an... Yoji verbot sich jeden weiteren Gedanken. „Aber mal ehrlich, was läuft da zwischen den beiden?“, holte ihn Ken aus seiner Überlegung. „Gehen die wirklich miteinander...also...du weißt schon.“ „Vielleicht. Woher soll ich denn das wissen?“ „Na du bist doch der große Spezialist in so was. Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Wer küsst denn schon einen Kerl. So ohne Brüste.“ Kens Kopf sank langsam zur Seite. Yoji stand auf, nahm ihm das Glas aus der Hand und rückte seinen Freund auf dem Bett zurecht. Als er die Decke über ihm ausbreitete, lächelte er. Ja, wer küsst schon jemanden ohne Brüste? Ein Buch krachte mit einem gewaltigen Knall auf den Boden des Schlafzimmers. Omi hatte nicht einmal Zeit, sich umzudrehen, da hatte Schuldig schon unter das Bett gegriffen, seine Waffe gezogen und auf den Eindringling angelegt. Aya, der im Türrahmen stand, betrachtete die Pistole, die Schuldig auf ihn richtete, mit einem kalten Blick. „Du schläfst mit einer Waffe neben deinem Bett?“, fragte er. „Du etwa nicht?“, gab Schuldig mit einem Fauchen zurück. „Ich befinde mich in einem Haus mit fünf anderen, eiskalten Killern, von denen mindestens einer mich gerne umbringen würde. Was würdest du tun?“ Omi, dem das Herz noch bis zu den Ohren schlug, sah von einem zum anderen. „Bitte, können wir uns vielleicht wieder beruhigen?“ „Nein, wir klären das jetzt. Ich hab genug von diesen Kindereien“, knurrte Schuldig und schwang sich aus dem Bett. Er trat ganz nahe zu Aya, nahm seine Waffe und drückte sie Aya in die Hand. Er schloss die Finger des anderen Mannes darum und hielt die Mündung in Höhe seines Herzens. „Wenn du willst, kannst du jetzt abdrücken. Aber lass mich dir vorher noch etwas sagen. Omi ist wichtig für mich. Ich bin hier, um ihn zu retten und, wenn es denn sein muss, auch euch. Aber ich schaffe das nicht alleine. Du magst Takatori hassen, für das, was er dir und deiner Schwester angetan hat. Aber gegen Crawford ist Takatori nur ein winselnder Hund, der gegen dein Tischbein gepisst hat. Crawford hingegen wird deine gesamte Welt einreißen und dir alles nehmen, von dem du noch nicht einmal wusstest, dass es eine Bedeutung für dich hat. Ich weiß das, weil ich schon oft genug dabei mitgewirkt habe. Also, Aya, hilf mir für Omi das zu tun, was du bei deiner Schwester nicht geschafft hast. Ihn zu beschützen. Mach einen Teil deiner Schuld an ihm wieder gut.“ Schuldig lehnte sich ein wenig zurück, um Aya wieder Raum zu geben. „So und jetzt erschießt du mich entweder oder du lässt mich vorbei. Ich muss mal ins Bad. Deine Entscheidung.“ Aya sah auf die Waffe in seiner Hand. Er schien ernsthaft in Erwägung zu ziehen, den Abzug zu betätigen. Sein Blick fiel auf Omi, der ihn bittend ansah. „Also schön“ raunzte er. „Ich wollte euch eigentlich auch nur zum Frühstück abholen.“ Er ließ die Waffe fallen, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand die Treppe hinunter. Omi atmete hörbar auf. „Ihr beide bringt mich echt noch ins Grab.“ Als sie ins Wohnzimmer kamen, waren die anderen schon anwesend. Nagi wirkte dankbar, endlich nicht mehr allein mit Omis Freunde zu sein. Er rückte zur Seite, damit Omi und Schuldig neben ihm auf dem Sofa Platz fanden. Ken und Yoji hatten jeweils einen Sessel besetzt, Aya saß auf zwei Kissen auf dem Boden. Als alle am Tisch versammelt waren, begannen sie zu essen. Schuldigs Blick glitt über die gedeckte Tafel und bedachte Reis, Fisch und eingelegtes Gemüse mit einem ungläubigen Zwinkern. Hatte sich hier wenigstens irgendwo Rührei versteckt? Wohl kaum in der unvermeidlichen Suppenschüssel und auch nicht in dem undefinierbaren Salat nebenan. Es gab wirklich nichts Essbares auf dem Tisch, das zur Uhrzeit passte. Ja es wurde sogar noch schlimmer, als er eine kleine, unschuldige Schale am Rand des Tisches entdeckte. „Natto?“ Schuldigs Gesicht verzog sich zu einer Maske des Grauens. „Habt ihr echt Natto hingestellt? Wie masochistisch muss man sein? Ihr habt sie echt nicht alle. Das esse ich nicht.“ Er stand auf und verschwand in der Küche. Man hörte Schranktüren klappen, leises Rumoren und schließlich einen freudigen Aufschrei. Es klirrte, raschelte und etwas Stückiges fiel mit leisem Pling-Pling in eine Porzellanschüssel. Kurz darauf erschien ein triumphierend grinsender Schuldig wieder im Wohnzimmer. „Fruit Loops! Wer sagt´s denn?“ Er fläzte sich zwischen Omi und Nagi auf das Sofa, streckte die Hand in Richtung Tisch und verharrte unschlüssig in der Bewegung. Etwas Entscheidendes fehlte. „Keine Milch“, murmelte er. „War ja klar.“ „Ich war einkaufen“, erwiderte Aya ungerührt. „Möchtest du Tee?“ Schuldig schickte ihm einen du-mich-auch-Blick und begann, die trockenen Frühstücksflocken grimmig in sich hinein zu löffeln. Omi rührte nachdenklich in seiner Schüssel herum. Ihm entgingen die stummen Blicke zwischen seinen Freunden nicht. Irgendwie war es eigenartig, hier mit Schuldig und ihnen gleichzeitig am Tisch zu sitzen. Die Luft war zum Schneiden dick, aber niemand traute sich etwas zu sagen. Niemand wagte es, die Fragen zu stellen, die ihnen allen durch die Köpfe huschen mussten. Omi hätte gerade ziemlich gerne mit Schuldig getauscht und ein bisschen Mäuschen gespielt. Oder vielleicht auch nicht. Eigentlich wollte er gar nicht wissen, was sie über ihn dachten. „Ich gehe duschen“, verkündete er plötzlich und stand auf. Er brauchte jetzt eine Pause von all dem. Irgendwie würden die anderen es ja wohl hinkriegen, sich eine halbe Stunde lang nicht gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Hoffentlich. Das Bad war geräumig, verfügte sogar über eine Badewanne, aber Omi zog es vor, sich von oben berieseln zu lassen. Er entkleidete sich und drehte das Wasser an. Schon bald wölkten weiße Dunstschwaden durch den Raum. Anscheinend hatten sie vergessen, die Heizung anzudrehen, und die Nächte waren inzwischen schon empfindlich kühl geworden. Er fröstelte, bevor er unter den heißen Wasserstrahl trat. Oh, tat das gut. Die Wärme lockerte seine Muskeln, die von der unbequemen Autofahrt und die unruhige Nacht immer noch verspannt waren. Am Rande registrierte er, dass die Badtür klappte. Erst, als sich die Duschkabine öffnete und Schuldig zu ihm hineinschlüpfte, öffnete Omi die Augen „Bist du verrückt geworden?“, quietschte er, als Schuldig sich an ihn schmiegte und ihn mit dem Bauch gegen die kalte Duschwand drückte. „Was sollen denn die anderen denken?“ „Oh, willst du das wirklich wissen?“, gurrte Schuldig und biss ihm sanft ins Ohr. „Aya hat nicht mitbekommen, dass ich dir nachgegangen bin. Ken bekommt gerade gedankliche Schnappatmung und Yoji ist ein bisschen neidisch.“ „Und Nagi?“ „Der hat sich deinen Laptop geschnappt und sperrt mich aus.“ Omi blinzelte gegen den Wasserstrahl. „Kann man das?“ „Man kann es üben. Dann dringen deine Gedanken zumindest nicht mehr unbeabsichtigt nach außen.“ „Wir werden es ihnen sagen müssen. Das mit dem Gedankenlesen, meine ich. Und von Nagis Fähigkeiten sollten sie auch erfahren.“ „Das werden sie, wenn die Zeit reif ist. Lass sie sich erst mal so an uns gewöhnen, ohne gleich die Freakshow aufzumachen.“ Omi grinste. „Und was machen wir bis dahin?“ „Bis dahin entschädigst du mich erst mal für diese Zumutung von einem Frühstück.“ Schuldig hatte anscheinend beschlossen, dass die Plauderstunde beendet war. Er ließ seine Hände über Omis Körper wandern, fuhr besitzergreifend zwischen seine Beine und grollte, als er dort fand, was er suchte. Omi sog scharf die Luft ein, als Schuldig begann, seine Länge zu massieren. Gleichzeitig drängte er seine eigene, nicht mehr ganz kleine Erektion zwischen Omis Backen und rieb sich an ihm. Es war klar, was er wollte, und Omi fühlte heiße Schauer in sein Becken schießen, die nicht allein vom Wasser herrührten. Er stütze sich mit den Händen gegen die Wand, streckt den Rücken durch, um Schuldig besseren Zugang zu ermöglichen. Der ließ für einen Augenblick von seinem Opfer ab, etwas klirrte und kurz darauf spürte Omi, wie sich eine ölige Flüssigkeit auf seinem Hintern verteilte. Er hatte nicht lange Zeit darüber nachzudenken, da kurz darauf ein forschender Finger in sein Inneres vordrang. Omi stöhnte, lehnte sich dem Eindringling entgegen. Ein zweiter Finger gesellte sich dazu, gierig, fordernd, ungeduldig, ihn weitend. Gleichzeitig griff Schuldig wieder zwischen Omis Schenkel, massierte und reizte das harte Fleisch, bis Omi bunte Punkte vor den Augen tanzen sah. „Bitte“, wimmerte er und trieb sich selbst erneut auf Schuldigs Finger. Der zögerte den Augenblick heraus. Ließ von Omis Erektion ab, zog die Finger aus ihm und begann ihn auf Hals und Nacken zu küssen. „Um was bittest du mich?“, murmelte er. Seine Stimme war dunkel und voller Lust. Omi spürte deutlich an seiner Hüfte, dass Schuldig längst nicht so beherrscht war, wie er ihn glauben lassen wollte. Er drehte sich herum, seine Erregung zwischen ihnen gefangen. Er zog Schuldig zu sich herab, tauchte tief in einem Kuss ein. Einen Duell ausgetragen mit Lippen, Zunge und Zähnen. Keine Atempause. Omi Hände wanderten über Schuldigs Rückseite, zogen seine Hüfte noch näher, verstärkten den Druck auf sein empfindliches Glied. Das war gut. So gut. Aber es war nicht genug. Nicht erfüllend. Es fachte seinen Hunger nur noch weiter an und ließ ihn unbefriedigt zurück. Er wollte mehr. „Schu, ich halte das nicht mehr aus“, keuchte Omi schließlich. Sein Gesicht brannte, sein Herz hämmerte einen wilden Takt gegen seinen Brustkorb. „Komm zu mir.“ Schuldig hatte endlich ein Einsehen. „Bück dich“, hauchte er in Omis Ohr. „Zeig mir, wie sehr du es willst.“ Omi wirbelte herum, presste die Unterarme gegen die Wand und streckte seinen Hintern vor. Es klirrte noch einmal. Schuldigs Hand glitt glatt und ölig über den verlockenden Eingang, drang kurz in ihn ein und legte sich dann auf seine Hüfte. Omi fühlte die pulsierende Spitze, die sich langsam in ihn vorarbeitete. Er keuchte, wagte nicht sich zu bewegen. Er spürte jeden Millimeter, den der andere vordrang mit atemberaubender Deutlichkeit. Es schienen Minuten zu vergehen, in denen seine Anspannung ungeahnte Höhen erreichte. Irgendwann konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er trat einfach einen Schritt zurück und zwang Schuldig ganz in sich hinein. Der keuchte ein wenig überrascht. „So sehr also“, schnaubte er. „Na das kannst du haben.“ Schuldigs Hände griffen nach Omis Becken, packten ihn hart und drängten ihn wieder an die Wand. Endlich begann sich Schuldig in ihm zu bewegen. Wo eben noch quälende Langsamkeit geherrscht hatte, regierte jetzt ein wummernder Rhythmus, der Omi um den Verstand brachte. Die Wucht der Stöße forderte sein Gleichgewicht auf dem rutschigen Boden heraus. Er krallte die Zehen in die Kacheln, um nur nichts von der ausfüllenden Länge zu verlieren, die sein Innerstes zerwühlte und heiße Schauer durch seine Nerven sandte. Immer wieder traf es den einen, alles erfüllenden Punkt, der ihn zum Schmelzen brachte. Er keuchte, stöhnte, fühlte, wie er sich dem Höhepunkt immer weiter näherte. Seine Hand fand wie von selbst den Weg zwischen seine Beine, während Schuldig weiter in ihn eindrang. Omi schloss die Finger um seine Erektion, pumpte im gleichen Takt, in dem Schuldigs Becken gegen seinen Hintern klatschte. Der Punkt war schon nah, so nah. Er riss die Augen auf, als er über die Klippe raste. In vollem Lauf und ungebremst schoss er über den Rand hinaus und galoppierte auch dort noch weiter. Es flimmerte vor seinen Augen, sein ganzer Körper kribbelte wie unter Strom gesetzt. Schuldig stöhnte hinter ihm, als sich Omis Muskeln um ihn zusammenzogen. Er steigerte das Tempo noch einmal, drang, so tief er konnte, in die heiße Enge vor. Das Klatschen der nassen Körper steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo, bis auch er den Absprung schaffte und sich zuckend in Omi ergoss. Mit fliegenden Flanken brach er über Omi zusammen. Nur das Rauschen des Wassers und ihr keuchender Atem waren noch zu hören. Es dauerte eine Weile, bis sie beide wieder stabil genug waren, um sich zu bewegen und voreinander zu lösen. Sich aneinander festhaltend, blieben sie noch eine Weile unter dem Strahl der Dusche stehen, bis das Wasser plötzlich kalt wurde. Mit einem Kreischen flüchtete Omi aus der Dusche und Schuldig folgte ihm lachend. Omi nahm ein Handtuch aus einem Regal und reicht es an Schuldig weiter. Er war immer noch außer Atem. „Danke“, sagte er und stahl sich einen kleinen Kuss. „Wenn du nicht aufhörst, das immerfort zu sagen, lege ich dich beim nächsten Mal richtig übers Knie“, drohte Schuldig. „Mal sehen, ob du dich dann auch noch bedankst.“ Omi kicherte und nahm sich ebenfalls ein Handtuch. Er fuhr mit dem rauen Stoff über seine vor Hitze und Lust prickelnde Haut und stellte fest, dass er momentan vermutlich einem gut durchgekochten Hummer nicht unähnlich sah. 'Durchgefickt trifft es wohl eher', mischte sich Schuldig ein und grinste breit, als Omi trotz allem noch eine Schattierung tieferes Rot auflegte. Omi schüttelte lachend den Kopf, wurde dann aber wieder nachdenklich. „Hast du das vorhin ernst gemeint, was du zu Aya gesagt hast?“ Schuldig rieb sich weiter mit dem Handtuch ab und wand es sich schließlich um die Hüfte. „Was meinst du?“ „Du weißt genau, was ich meine.“ „Dass ich nicht alleine gegen Crawford ankomme? Ja vermutlich. Dass er dir alles nehmen kann und noch mehr? Stimmt ebenfalls. Wobei ich zugeben muss, dass dieser Teil der Arbeit vielleicht eher in meinen Bereich fiel. Die menschliche Würde ist nur mit einer dünnen Schicht von Moral bedeckt. Wenn du sie abziehst, tun sich Abgründe auf, die dich erschauern ließen. Ich fand es immer recht unterhaltsam, wenn...“ Er brach ab, als er Omis Gesicht sah. „Tut mir leid, falsches Thema. Du weißt, dass ich kein netter Mensch bin.“ „Zu mir warst du nie so.“ Schuldig schwieg. „Das stimmt doch. Oder hattest du vor, mich auch in den Abgrund zu stürzen?“ Schuldigs Stimme war fast unhörbar. „Ich hatte es vor. Ich wollte...nur mit dir spielen. Ein netter Zeitvertreib nichts weiter. Aber du hast so ganz anders reagiert, als ich erwartet hatte. Ich habe mich irgendwie an dich gewöhnt.“ Omis nagte an seiner Unterlippe. „Du hast gesagt, ich bin wichtig für dich“, sagte er und fühlte eine leichte Beklemmung in sich aufsteigen. „Das bist du auch. Aber was willst du denn hören? Ewige Liebesschwüre? Tut mir leid, dazu wird es nicht kommen. Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt kann.“ „Was?“ „Jemanden lieben. Es ist etwas, dass du mit der Zeit verlernst, wenn du so bist wie ich.“ Er trat zu Omi und zog ihn in eine Umarmung. Omi sträubte sich zunächst, ließ sich dann aber gegen Schuldigs Brust sinken. Er atmete tief ein und schluckte. Vielleicht...vielleicht war er wirklich zu naiv gewesen. 'Nein, Bishounen, das warst du nicht. Du hattest, was das angeht, keine Chance. Ich wollte dich und ich hätte dich in jedem Fall bekommen. Das Besondere an dir ist, dass ich dich immer noch haben will. Wieder und wieder und wieder. Ich kann es mir nicht mehr vorstellen, ohne dich zu sein. Nicht deine Küsse zu kosten, deine Seufzer zu trinken, dein Stöhnen zu hören, wenn du kommst.' Omi fühlte erneut die Hitze in sich aufsteigen. Er zupfte an Schuldigs Handtuch. Schuldig grinste ihn an. „Was soll das werden?“ „Zweite Runde“, grinste Omi zurück und wollte sich eben auf die Knie sinken lassen, als draußen vor der Tür ein polterndes Scheppern und laute, wütende Ausrufe zu hören waren. Blitzschnell war Omi wieder auf den Beinen und stürzte zur Tür hinaus. Kapitel 14: Familie ------------------- Omi schaffte es, sich geistesgegenwärtig im Rauslaufen noch eine Hose überzuziehen, bevor er ins Wohnzimmer stürzte. Das Bild, das sich ihm bot, war...grotesk. Aya lag lang hingestreckt auf dem Boden. Um ihn herum lag der Boden voller Scherben, einige von ihnen mit Blut bespritzt. Ken brüllte wie ein Irrer wüste Beschimpfungen und wurde von Yoji festgehalten, der alle Mühe hatte, den anderen unter Kontrolle zu bringen. Und dann war da noch Nagi, der die beiden mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Das alles wäre noch im Rahmen dessen gewesen, was Omi sich vorstellen konnte. Das wirklich Eigenartige war ein bizarres Mobile aus verschiedenen Geschirrteilen, die wie an unsichtbaren Fäden hängend über der Szenerie schwebten, als hätten sie vergessen, dass sie eigentlich der Schwerkraft unterlagen. Es schien, als hätte in diesem Teil des Wohnzimmers ein unsichtbares Kraftfeld die Physik außer Kraft gesetzt und durch etwas ersetzt, das nicht von dieser Welt war. Schuldig, der keuchend neben Omi zum Stehen kam, konnte sich offensichtlich schon eher einen Reim darauf machen. Er fluchte und bewegte sich dann weiter auf die Streitenden zu. „Bring den Idioten irgendwie zum Schweigen, sonst tue ich es“, herrschte er Yoji an, der Ken inzwischen in einem festen Knebelgriff hatte. „Er hat ihn umgebracht. Wenn ich ihn in die Finger kriege, dann...“, randalierte Ken, bis Schuldig mit der Faust ausholte und ihm einen Faustschlag in die Körpermitte verpasste. Mit einem erstickten Geräusch brach Ken zusammen und hing nun leblos in Yojis Armen. Schuldig hingegen konzentrierte sich weiter auf Nagi. „Nagi“, sagte er mit leiser, fast flehender Stimme. „Ich bin da. Hörst du mich? Ich bin bei dir. Komm schon, sieh mich an, Nagi. Ich bin´s. Komm schon, sag mir, dass du mich hörst.“ Omi konnte das alles nicht begreifen. Er tappte wie in Trance zu Yoji, der Ken inzwischen auf den Boden gelegt hatte. Omis Blick glitt zu Aya, der ebenfalls auf dem Boden lag. Was war hier los? Was war passiert? „Wie...“, flüsterte er, aber Yoj schüttelte nur den Kopf. „Ich hab keine Ahnung.“ „Haltet die Klappe, ihr Schlaumeier, sonst passiert was“, fauchte Schuldig. Er drehte sich um und sprach weiter auf Nagi ein, die Hände ausgestreckt, als könnte er ihn so besser erreichen. „Komm schon, Nagi, es wird alles gut. Es war bestimmt ein Unfall. Du hast nichts falsch gemacht. Komm schon, rede mit mir.“ Nagi blinzelte plötzlich, sein Blick irrte unstet im Raum herum, bis er Schuldig erblickte, der ein Stück von ihm entfernt stand. Ein Laut irgendwo zwischen einem Schluchzen und einem Aufheulen verließ seine Kehle. Schuldig machte ein beruhigendes Geräusch. „Komm schon, Nagi. Stell die Sachen wieder hin und dann komm her zu mir. Du kannst das. Komm, stell sie hin.“ Nagi schwankte. Er streckte die Hand aus und das Geschirr, das immer noch in der Luft schwebte, sank langsam zur Erde. Es bildete um Aya herum ein eigenartiges Stillleben. Nagi machte einen unsicheren Schritt, dann noch einen. Schuldig überbrückte schließlich die restliche Distanz zwischen ihnen und nahm ihn in den Arm. Omi hörte leise Schluchzer und undeutlich gemurmelte Worte. Neben ihm atmete Yoji hörbar auf. „Ich weiß nicht, was das war, aber ich glaube, es ist vorbei“, sagte er. „Pass auf Ken auf, ich sehe mal nach Aya.“ Omi nickte mechanisch und kniete sich neben Ken auf den Boden. Er atmete gleichmäßig, schien nur bewusstlos. Yoji drehte Aya herum, dessen Gesicht weiß wie Kalk war. Eine seiner Wangen war blutverschmiert und an seinem Kinn begann sich ein großer Bluterguss zu bilden. „Komm, hilf mir mal“, wies Yoji Omi an. Er hob Aya mit Omis Hilfe hoch und lagerte ihn auf die Couch um. Omi flitzte in die Küche und kam mit einem kalten, nassen Handtuch wieder. Yoji hatte inzwischen zwei Kissen unter Ayas Beine geschoben. Omi wischte das Blut aus Ayas Gesicht und sah, das dieses aus einem langen, schmalen Schnitt quoll. Eigentlich war es nicht viel mehr als ein tiefer Kratzer. Nichts, was eine Narbe hinterlassen würde. Einigermaßen beruhigt wandte sich Omi Schuldig und Nagi zu. Nagi saß inzwischen wieder auf dem Stuhl, auf dem er wohl schon vorher gesessen hatte. Auf dem kleinen Schreibtisch stand Omis aufgeklapptes Laptop. „Was ist passiert?“, fragte er Schuldig. „Ich weiß es noch nicht genau“, antwortete der. „Nagi steht noch unter Schock. Wir haben Glück, dass er uns nicht das Haus über dem Kopf eingerissen hat. So habe ich ihn lange nicht mehr erlebt.“ In diesem Moment begann Aya sich wieder zu regen. Er stöhnte, wehrte Yojis Hand mit dem nassen Handtuch ab und sagte: „Ich bringe Ken um.“ „Was?“ Omi glaubte, sich verhört zu haben. Aya bestand darauf, sich hinzusetzen, obwohl Yoji der Meinung war, dass das keine gute Idee war. „Nimm endlich die Hände von mir, Kudo!“, knurrte Aya. „Mir geht’s gut. Ich bin nur gestürzt. Über die Tasche von diesem dämlichen, schusseligen...wo ist der Kerl?“ Sein Blick fiel auf Ken, das Geschirr, Schuldig und den völlig neben sich stehenden Nagi. „Was ist denn hier los?“ „Mhm“, machte Yoji und betrachtete die Szene genauer. Er ging Richtung Küche und hob mit einem vielsagenden Blick eine Sporttasche auf, dessen langer Tragegurt lose an ihrer Seite herunter baumelte. „Das erklärt dann schon mal die Scherben und die Beule“, stellte er fest. „Aber warum ist die Hälfte der Sachen nicht zerbrochen, sondern...“ Er wedelte mit der Hand in der Luft herum. „Das war Nagi“, sagte Omi. Er hatte jetzt ein Bild davon vor Augen, was wahrscheinlich passiert war. Aya hatte das abgewaschene Geschirr in die Anrichte im Wohnzimmer bringen wollen. Dabei war er anscheinend über den Gurt von Kens Tasche gestolpert und Nagi? Nagi hatte ganz automatisch versucht, den Sturz aufzuhalten. Er musste zu spät gekommen sein, um Aya zu erwischen, hatte aber wenigstens einen Teil des Geschirrs in der Luft halten können. Warum Ken dann so durchgedreht war, konnte Omi nur vermuten, aber wahrscheinlich hatte es einfach sehr seltsam ausgesehen. Aya am Boden liegend, Nagi über ihm, die schwebenden Tassen. Ken hatte wohl die falschen Schlüsse gezogen und vermutet, dass Nagi Aya angegriffen hatte und war durchgedreht. „Durchgedreht?“ Schuldig, der Omis Gedankengänge offensichtlich verfolgte hatte, schnaubte verächtlich. „Er hat ihm eine Heidenangst gemacht. Hat gedroht, er würde ihm jeden Knochen einzeln brechen.“ Nagi, der stumm neben Schuldig getreten war, war fast ebenso blass wie Aya. Er schrak zusammen, als Ken sich wieder zu regen begann. „Ich wusste doch, dass man dem Kerl nicht trauen kann“, stöhnte Ken und drehte sich auf den Rücken. Er hielt sich den Bauch und hustete. „Der schlägt ja zu wie ne Dampfwalze.“ „Du hättest eigentlich gleich noch eine verdient, du Idiot“, brauste Schuldig auf, aber Omi bat ihn mit einer Geste zu schweigen. „Ken, es war alles ein Missverständnis. Aya ist nur gestolpert. Nagi hat ihn nicht angegriffen.“ Ken blinzelte ein paar Mal. Dann schloss er die Augen wieder und ließ den Hinterkopf auf den Boden sinken. „Ich Esel...“ stöhnte er. „Ich hab gedacht, er hat ihn umgebracht.“ „Nein, hat er nicht“, knurrte Aya. „Aber ich hätte nicht übel Lust, dir dieses Schicksal angedeihen zu lassen. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du deine Sachen ordentlich wegräumen sollst? Wie oft?“ Ken zog jammernd den Kopf ein und fing an, eine Entschuldigung zu stammeln, Aya fauchte ihn weiter an und Yoji begutachtete immer noch das unzerbrochene Geschirr. Er blickte zu Omi. „Du sagst, das war Nagi? Wie das?“ Omi seufzte. „Ich glaube, es wird Zeit für das Gespräch. Aber lass uns zunächst mal hier aufräumen. Das wird ne längere Geschichte.“ Schuldig saß wieder zwischen Omi und Nagi auf dem Sofa. Letzterer hatte sich inzwischen wieder beruhigt und sich von Omi zu einem Schokoladenriegel überreden lassen. Still und blass saß er auf dem Sofa und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Aya hatte ein großes Pflaster im Gesicht und einen Eisbeutel in der Hand, den Yoji ihm immer wieder an den Kopf hielt, was nach Ayas offensichtlicher Meinung total übertrieben war. Ken wiederum saß wie ein Häuflein Elend auf dem Boden und wagte nicht, irgendjemanden aus der Runde anzusehen. „Also?“, sagte Yoji schließlich. „Wer fängt an?“ „Nagi beherrscht Telekinese und Schuldig ist ein Telepath“, sprudelte Omi hervor, bevor ihn Schuldig daran hindern konnte. 'Was soll das denn jetzt?' 'Ich dachte, ich mache es wie beim Pflaster. Kurz und schmerzlos.' Schuldig verdrehte die Augen. 'Dass du bei euch für die taktische Planung zuständig bist, halte ich aber für ein Gerücht.' „Telekinese? Telepath?“ Yojis Gesichtsausdruck sprach Bände. Er hatte keine Ahnung, worum es ging. Schuldig seufzte. „Ich kann Gedanken lesen und Nagi bewegt Dinge, ohne sie zu berühren. Daher auch die fliegenden Tassen. Klar soweit?“ „Aber...aber...aber so was gibt es doch gar nicht“, wagte Ken einzuwerfen. Er sah Schuldig mit zusammengekniffenen Augen an. Schuldig verzog missbilligend den Mund. „Die Frage „Was denke ich gerade?“ ist nicht unbedingt das Intelligenteste, was du heute von dir gegeben hast.“ Er warf einen Blick auf Yoji und sagte: „92. Ich bin aber kein Taschenspieler, der dir nur verrät, an welche Zahl du gerade gedacht hast. Ich sehe alles, was in deinem Kopf vorgeht.“ Als Yoji ein wenig weiß um die Nase wurde, setzte er mit einem Grinsen hinzu: „Ja alles.“ Er drehte den Kopf und wollte den Mund schon öffnen, als Aya ihm zuvorkam. „Wage es ja nicht“, knurrte er. „Ich will, dass du dich aus meinem Kopf raushälst.“ Schuldig pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Na mit Vergnügen. Ist sowieso nur langweiliges Zeug. Schwester hier, Takatori da...“ Aya sprang auf. „Du...“ Er wollte wohl noch etwas anfügen, wurde aber von einer Teetasse abgelenkt, die vor seine Nase schwebte. Die Kanne erhob sich ebenfalls vom Tisch, goss die Tasse knapp voll und setzte sich dann sanft wieder ab. Aya starrte die Teetasse an, als würde sie ihn gleich beißen. „Möchtest du einen Tee?“, fragte Nagi, der seine Hand in Richtung der Tasse erhoben hatte. „Sonst nehme ich sie.“ Aya sah ihn an, sah die Tasse an, sah noch einmal Nagi an und griff dann zu, um sich mit der Tasse wieder zu setzen. Er zögerte, dann trank er einen Schluck. Er murmelte etwas und stellte die Tasse wieder ab. „Also schön“, meinte er dann. „Das hätten wir dann wohl geklärt. Und jetzt sagt mir endlich, was ihr mit meiner Schwester vorhattet.“ „Ist das alles, was dir dazu einfällt?“ Ken schien völlig aus dem Häuschen. „Wir haben hier zwei...ich weiß nicht...“ „Pass auf, was du sagst“, erinnerte ihn Schuldig. „Ich warte nur auf eine Gelegenheit, dich nochmal auszuknocken.“ „Das ist wirklich ungewöhnlich“, bemerkte Yoji. „Aber Ayas Frage ist nicht ganz unberechtigt. Was wolltet ihr mit seiner Schwester.“ Schuldig schwieg einen Moment. Omi sah, wie es in seinem Kopf arbeitete. „Schwarz untersteht einer Organisation namens SZ“, sagte er schließlich. Neben ihm sog Nagi scharf die Luft ein. „Sie werden eine Order an uns richten, dass wir das Mädchen besorgen sollen. Was genau sie mit ihr vorhaben, weiß ich nicht. Selbst Crawford war sich nicht ganz sicher.“ Yoji nickte zunächst, dann stutzte er. „Sagtest du, sie werden es noch tun? Woher wisst ihr das?“ Schuldig fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über das Kinn. „Weil Crawford die Zukunft voraussehen kann.“ „Ja genau“, lachte Ken auf. „Und ihr habt euch noch fliegende Drachen und sprechende Kobolde und seid allesamt von Fuchsgeistern besessen.“ „Kobolde? Nein, nur einen Iren, der ziemlich gut mit Messern umgehen kann. Obwohl der vielleicht als besessen durchgehen könnte. Frag mal Omi.“ Ken starrte Omi nur ungläubig an, als der bestätigend nickte. „Und du hast ihnen geholfen?“, fragte Aya stattdessen und fixierte Omi mit einem kalten Blick. „Du hast diesen...Monstern meine Schwester ausgeliefert?“ „Ich...ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte“, stotterte Omi. „Er hat gedroht, euch alle umzubringen. Außerdem hat er versprochen, dass Aya nichts passiert.“ „Wage es nicht, ihren Namen in den Mund zu nehmen“, fauchte Aya. „Das könnte ein bisschen schwierig werden, wo du dich doch genauso nennst“, merkte Schuldig an. „Außerdem hätte es sowieso nichts geändert. Wir hätten das Mädchen ohnehin früher oder später bekommen.“ Aya funkelte ihn wütend an. „Wie meinst du das?“ „Mal angenommen, wir wären an dem Tag nicht im Krankenhaus gewesen, dann hätte sich Schreient dein Schwesterlein geschnappt. Wir hätten dann nur dafür sorgen müssen, dass sich Weiß und Schreient über den Weg laufen, und hätten deine Schwester über eure toten, kalten Körper hinweg einfach zu Tür hinaus getragen, nachdem ihr euch gegenseitig zerfleischt hättet. Das wäre übrigens das Szenario gewesen, das Crawford bevorzugt hätte. Aber selbst wenn ich das Mädchen doch hätte selber holen wollen, was hätte mich dann daran gehindert, alle notwendigen Informationen einfach aus Omis Kopf zu lesen? Dass er es mir gesagt und mich hingeführt hat, war eigentlich nicht notwendig.“ Ayas Gesicht war eine emotionslose Maske. „Warum hast du das dann nicht getan? Warum hast du ihn gezwungen, seine Freunde zu verraten?“ „Du weißt es“, erwiderte Schuldig. „Du weißt es und verstehst es. Weil ich es kann. Weil ich sehen wollte, wie er es tut. Weil ich ihn von euch trennen wollte. Weil ich wollte, dass ihr ihn hasst. Darum. Aber du hasst den falschen Mann, Aya. Wenn du jemanden hassen musst, dann nur mich. Omi hat lediglich getan, was ihm sein kleines, dummes Herz gesagt hat. Er wollte euch schützen. Das ist sein einziges Verbrechen.“ „Nicht ganz“, sagte Omi leise. „Ich habe mich auch in den Mann verliebt, der all das angerichtet hat. Ich...es tut mir leid.“ Er konnte nicht verhindern, dass Tränen in seine Augen schossen. Jetzt, da er das alles so vor sich ausgebreitet sah, kam er sich erneut unheimlich dumm vor. Schuldig drehte ihn zu sich herum, nahm ihn bei den Schultern und zwang ihn, den Kopf zu heben. „Du vergisst etwas, Omi. Du wusstest nicht, was ich kann. Du wusstest nicht, dass alles nur ein Spiel war. Und glaube mir, das ist es inzwischen auch nicht mehr. Ich wäre kaum hier, wenn es so wäre. Ich bin hier, weil ich euch helfen will.“ Schweigen breitete sich aus. Es senkte sich über den Raum wie ein Leichentuch. Erdrückend, schwer, endgültig. Bis Yoji sich endlich räusperte. „Also mit unserer Partnerwahl scheinen wir ja alle nicht so sehr viel Glück zu haben“, sagte er und grinste Omi ein wenig schief an. „Aber immerhin ist dein Partner noch hier und am Leben. Also von daher: Herzlichen Glückwunsch!“ Kens Kopf ruckte herum. „Bist du irre? Die beiden sind doch kein Paar. Also...Omiiii?“ Das letzte Wort hatte er ziemlich panisch gekiekst. Omi musste gegen seinen Willen lachen. Er wurde wieder ernst und sah Schuldig an. 'Sind wir denn ein Paar?', fragte er in Gedanken, weil er sich nicht recht traute, die Frage auszusprechen. 'Ich versohl dir auf jeden Fall den Hintern, wenn du mit jemand anderem in die Kiste steigst. Reicht dir das vorerst?' 'Ja, das reicht vollkommen.' Omi schlang die Arme um Schuldigs Hals und küsste ihn. Hinter ihm gab Ken krächzende Geräusche von sich, Yoji lachte laut und Aya...Aya stand auf und verließ den Raum. Omi sah ihm nach und wusste, es würde Zeit brauchen. Aber mit sehr, sehr viel Glück, würde vielleicht doch wieder alles gut werden. Ken wusste nicht recht, wo er hinsehen sollte. Omi und Schuldig saßen immer noch ineinander verschlungen auf dem Sofa, Yoji war inzwischen in die Küche gegangen und bereitete etwas zu Essen vor und Nagi hatte sich wieder an den Laptop gesetzt. Ken gab sich einen Ruck und ging zu ihm. Er blieb ein Stück weit vom Schreibtisch entfernt stehen und starrte auf seine Schuhe. Als er merkte, dass Nagi ihn ansah, wagte er, ihn anzusprechen. „Es tu mir leid“, murmelte er. „Ich meine, das vorhin. War ne dämliche Aktion.“ „Ja ziemlich“, gab Nagi zurück. Er machte nicht den Eindruck, dass er mit Ken reden wollte. Der ließ sich davon nicht beirren und linste auf den Bildschirm. „Was machst du denn da?“ „Nichts“, antwortete Nagi und klappte den Laptop zu. „Mhm ok. Also...“ Ken lachte plötzlich auf. Nagi sah ihn prüfend an. „Was ist so komisch?“ Ken kicherte. „Ich hab nur gerade gedacht, dass ich froh bin, dass ich nicht gegen dich kicken muss. Du würdest ja voll schummeln beim Tore schießen.“ Nagi legte den Kopf schief. „Kicken. Fußball. Du weißt schon. Das Spiel mit dem Ball? Das musst du doch mal gemacht haben.“ „Nein, nie“, gab Nagi zu. Er schien unsicher zu sein, wo das Gespräch hinführen sollte. „Gut, du siehst auch nicht gerade wie eine Sportkanone aus“, meinte Ken. „Ist nicht böse gemeint. Aber sag mal, hast du eigentlich auch was anderes anzuziehen als diese Uniform?“ Nagi schüttelte den Kopf. „Ok, das müssen wir dringend ändern. In dem Ding kann man sich ja nicht bewegen. Yoji und ich wollten sowieso mal zum Einkaufen. Da kommst du mit und wir besorgen dir was anderes zum Anziehen. Und dann bringe ich dir mal bei, wie man mit einem Ball umgeht. Wirst sehen, das macht Spaß.“ „Ich glaube nicht, dass ich das möchte.“ Nagi sah Hilfe suchend zu Schuldig, der allerdings mehr als abgelenkt war. Sein stummer Hilferuf verhallte ungehört. „Hey“, sagt Ken und lächelte Nagi an. „Das wird schon. Wirst sehen, wir raufen uns schon zusammen. Weißt du, mit Aya hab ich mich auch an unserem ersten Tag geprügelt. Und jetzt sieh uns mal an. Wir sind ein prima Team. Fast so was wie eine Familie.“ „Eine Familie mit einer sehr grantigen Mutter“, konstatierte Nagi trocken und Ken musste so laut lachen, dass Schuldig und Omi aufsahen. „Was machen die beiden da?“, fragte Schuldig. „Ach weißt du, Ken ist eigentlich gar nicht so übel, wenn man ihn mal näher kennt. Er kann super mit Kindern umgehen.“ Schuldig runzelte die Stirn. „Nagi ist aber kein Kind.“ „Das stimmt. Aber ich denke, er braucht trotzdem ein Zuhause. Eine Familie. Einen Platz, wo er hingehört. Ich glaube, das hatte er bisher in seinem Leben nie so wirklich, oder?“ Schuldig sah aus dem Fenster. „Schwarz war bis jetzt seine Familie.“ Omi schnaubte empört. „Eine lausige Familie, wenn du mich fragst.“ „Ja, antwortete Schuldig. „Da magst du Recht haben.“ Schuldig wirkte abwesend, so als würde er etwas lauschen, das nur er hören konnte. Omi musste nicht lange überlegen, worum es sich dabei handelte. „Was ist?“, fragte er trotzdem. Schuldig befreite sich aus Omis Umarmung und stand auf. „Ich gehe nochmal mit Aya reden.“ „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“, murmelte Omi. „Du solltest ihm Zeit lassen.“ „Wir haben aber nicht ewig Zeit“, gab Schuldig zurück. „Die Lage ist zu ernst für solche Mätzchen. Ich komme mir zwar schon vor, wie ein verdammter Seelenklempner, aber was soll´s. Irgendeiner muss es ja machen.“ „Soll ich mitkommen?“ Omi wollte sich bereits erheben. „Nein, das mache ich alleine. Was ich ihm zu sagen habe ist nicht unbedingt für alle Ohren bestimmt.“ Omi legte die Stirn in Falten, sagte aber nichts. Er sah Schuldig nur nach, der langsam die Treppe nach oben ging und fühlte, wie sich sein Herz zusammenzog. Warum nur musste das alles so schwierig sein? Aya saß auf dem Bett seiner Schwester. Neben ihm stand eine Schüssel mit Wasser und er tauchte immer wieder einen kleinen Lappen ein, mit dem er sie wusch. Seine Bewegungen waren gleichmäßig, wirkten aber seltsam mechanisch, so als wäre er mit seinen Gedanken nicht bei der Sache. Als es an der Tür kloppte, sah er auf. „Nein“, knurrte er. Die Tür ging auf und Schuldig betrat den Raum. „Hast du Probleme mit den Ohren?“, knurrte Aya. „Ich habe gesagt, du sollst draußen bleiben.“ Schuldig sah ihn an, schloss die Tür und blieb mitten im Raum stehen. „Die Nummer zieht bei mir nicht“, erklärte er. „Ich hab dir noch was zu sagen.“ Aya schnaubte wütend. „Tust du eigentlich auch noch etwas anderes? Ich habe das Gefühl, ich höre den ganzen Tag nur deine nervige Stimme.“ „Geht mir mit deinen Gedanken nicht anders“, konterte Schuldig. „Die schwirren hier rum wie eine dunkle Wolke, der ich nicht entfliehen kann.“ „Dann hör doch nicht hin.“ Schuldig schwieg einen Augenblick. Aya wandte sich ab, unschlüssig, ob er die Pflege seiner Schwester fortsetzen sollte, während Schuldig noch im Raum war oder nicht. „Ich kann es nicht“, sagte der plötzlich. „Was kannst du nicht?“, spottete Aya. „Dich aus meinem Kopf raushalten.“ „Ja genau. Ich kann es nicht abstellen. Es ist einfach immer da ununterbrochen, ohne Pause. Dein Gedankenkarusell macht mich noch kaputt. Normalerweise würde ich mir ja einen Spaß draus machen, dich noch weiter darin zu verstricken, aber wie ich dir heute Morgen schon erklärt habe, brauche ich dich. Nagi könnte dir beibringen, wie du dich abschirmst, doch ich fürchte, so viel Zeit haben wir nicht. Darum will ich dir ein Angebot machen.“ Aya sah auf. Schuldig wirkte auf ihn merkwürdig ruhig und er fragte sich insgeheim, was für eine neue Teufelei er wohl ausheckte. Schuldig verdrehte genervt die Augen. „Meine Güte, ich weiß ja, dass ich ein Arschloch bin. Aber könntest du mir wenigstens kurz nicht immer gleich was Schlechtes unterstellen. Ich möchte dir anbieten, dass ich mir deine Schwester mal ansehe, wenn das hier vorbei ist. Ich denke, ich könnte sie aufwecken.“ Ayas Gesicht blieb unbeweglich. Er hatte gehört, was Schuldig gesagt hatte, aber der Sinn der Worte wollte nicht in sein Gehirn vordringen. Seine Schwester aufwecken? Das war etwas, das seine Vorstellungskraft überstieg. Wie sollte das möglich sein? Schuldig grinste freudlos. „Ich bin Telepath, schon vergessen. Ich pfusche in anderer Leute Köpfe herum. Warum also nicht mal versuchen, was wieder gerade zu biegen, das kaputt ist.“ Aya Miene bewegte sich immer noch nicht. „Wird es funktionieren?“ Schuldig zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht. Ich würde es nicht hier wagen wollen, wo wir sie im Fall der Fälle nicht ordentlich versorgen könne. Ich bin kein Arzt. Aber möglich wäre es. Ich habe...im Krankenhaus etwas gespürt. Sie ist noch da, aber ich kann dir nicht sagen, ob ich sie wieder von dort zurückholen kann, wo sie momentan ist.“ Aya sagte kein Wort. Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und warf Schuldig einen eisigen Blick zu. „Das ändert aber nichts zwischen uns. Und wenn du Omi was antust, werde ich dich finden und dir deinen Telepathenkopf von den Schultern schneiden. Haben wir uns verstanden?“ „Vollkommen verstanden“, antwortete Schuldig. „Mehr wollte ich auch nicht. Um Omi musst du dir aber keine Sorgen machen. Ich passe gut auf mein Lieblingsspielzeug auf. Immerhin ist er meine einzige Ablenkung, um zwischendurch mal die Gedanken von euch drei anderen aus meinem Kopf zu kriegen.“ Aya hob fragend die Augenbrauen, da hörten sie von unten ein lautes Klirren, ein Fluchen und Yoji, der durch das Haus brüllte: „Wer von euch Idioten hat das Salatöl im Bad stehen lassen? Ich mache die Schweinerei nicht wieder weg.“ „Ich glaube, man verlangt nach mir“, grinste Schuldig und verschwand aus dem Zimmer. Aya nahm die Hand seiner Schwester, die so klein und leblos in seiner eigenen Hand lag. Er spürte, wie sein Herz etwas schneller schlug, und fühlte etwas in sich aufsteigen, dass er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Hoffnung. Yoji war bereits wieder in der Küche, als Schuldig die Treppe hinunterkam. Man hörte Omi im Bad vor sich hin meckern und Schuldig lachte leise. Ohne Fleiß, kein Preis. So hatte er immerhin Zeit, sich den letzten des Teams vorzunehmen. Er schlenderte in die Küche und setzte sich auf die Arbeitsfläche. „Was macht der Salat?“, grinste er und wackelte mit den Augenbrauen. Yoji schnitt weiter Gemüse. „Ach du warst das. Was wolltest du denn...“ Er stockte im Satz, schnaubte kurz und griff nach dem nächsten Gemüsestück. „Ist gut für die Haut. Solltest du auch mal probieren“, grinste Schuldig und schnappte sich ein bereits geschnittenes Stück Karotte. „Nein danke, ich bleibe lieber bei altbewährten Mitteln“, gab Yoji mit einem kurzen Schmunzeln zurück. „Die Damenwelt wäre sicherlich enttäuscht, wenn sie mich verlieren würde.“ „Aber sie hat dich doch gar nicht“, schoss Schuldig einen Pfeil ab. „Nicht wirklich. Du bist nicht wirklich frei, weißt du das?“ Yojis Gesichtsausdruck verdüsterte sich. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ „Oh, es geht mich etwas an, wenn mein Leben von der Professionalität meiner Mitstreiter abhängt. Gefühle sind im Gefecht nur im Weg. Sie hindern einen daran zu tun, was getan werden muss.“ „Ach hör auf mir irgendwelche Vorträge zu halten. Ich bin Profi-Killer, schon vergessen?“ Yoji schob mit dem Messer das fertig geschnittene Gemüse in eine Schüssel und richtete die Schneide dann auf Schuldig. „Wenn ich irgendwelche Ratschläge zu meinem Leben haben will, dann frage ich dich. Oder möchtest du dir von mir anhören, dass du Omi nur ins Bett zerrst, weil es das einzig Gute in deinem beschissenen Leben ist. Weil du eiskaltes Monster an sein warmes Herdfeuer gekrochen kommst, um dich ein bisschen aufzuwärmen? Weil dir der Sex mit ihm die Nähe gibst, die du brauchst, dir aber nicht zugestehst. Weil du schuldig bist an so vielem...“ Yoji schwieg abrupt. Er nahm eine Pfanne aus dem Schrank, stellte sie auf den Herd, ließ die Herdplatte aber abgestellt. „Vermassel es nicht“, sagte er mit dem Rücken zu Schuldig. „So jemanden wie Omi findest du nicht oft.“ „Ich weiß“, gab Schuldig zurück. Er nahm sich noch eine Karotte und schickte sich an, die Küche zu verlassen. Am Tresen, der der Übergang zum Wohnzimmer markierte, blieb er noch einmal stehen. „Du solltest sie vergessen. Sie ist weg“, sagt er zu Yoji. „Wer?“ „Asuka. Ich hab...ich war in Neus Kopf. Als wir im Krankenhaus gekämpft haben. Da ist ein massiver Block. Wie in Beton gegossen. Die alte Persönlichkeit eingefroren und versenkt. Irgendjemand hat da ganze Arbeit geleistet. Ich glaube nicht, dass sich da noch was machen lässt.“ Er verließ die Küche und Yoji blieb allein zurück. Er stand, die Hände neben dem Herd abgestützt, einfach da und starrte auf das schwarze Metall der Pfanne. Als ein Tropfen auf die dunkle Oberfläche fiel, wischte er sich mit dem Handrücken über das Gesicht und schaltete den Herd an. Es wurde Zeit, das Essen zu kochen. Kapitel 15: Das letzte Kapitel ------------------------------ Omi erwachte in vollkommenem Frieden. Die Sonne schien hell und warm auf das Bett, in dem er lag. Durch den schmalen Spalt des gekippten Fensters hörte er das sanfte Wellenrauschen und die Schreie der Seevögel, die an der Steilwand lebten. Ein leichter Luftzug wehte den Geruch nach Salzwasser und feuchter Erde herein und ließ ihn kurz frösteln. Er kuschelte sich tiefer unter die Decke und an den warmen Körper neben sich. Schuldig schlief noch. Seine orangeroten Haare ergossen sich wie unordentlicher Wasserfall auf das Kissen und glühten im Sonnenlicht, als würden sie von ihnen heraus leuchten. Omi grinste, als er merkte, dass sie beide noch nackt waren. Anscheinend war Schuldig ebenso wie er gestern einfach eingeschlafen. Sie waren nach dem Abendessen früh ins Bett gegangen, von Schlafen hatte allerdings keine Rede sein können. Omi wusste nicht, wie oft sie keuchend und ausgelaugt auf die Matratze gesunken waren, nur um kurz darauf wieder übereinander herzufallen. Irgendwann hatte Schuldig dann abgewunken und gemeint, dass sie es für diese Nacht gut sein lassen sollten. Er hatte behauptet, Aya würde bereits darüber nachdenken, sie beide auf höchst blutige Weise zu kastrieren, um ihrem Treiben Einhalt zu gebieten. Omi war sich nicht sicher, ob das nicht nur eine Ausrede gewesen war. Seinem Körper hatte die Pause in jedem Fall gutgetan. Er fühlte sich ausgeruht und frisch. Draußen waren jetzt Stimmen zu hören. Autotüren klappten. Anscheinend brachen Yoji, Ken und Nagi zum Einkaufen auf. Irgendwie tat Nagi ihm fast ein bisschen leid. Er war lange genug der Jüngste in der Gruppe gewesen und wusste, wie sehr die anderen einen unterbuttern konnten. Andererseits war Nagi es gewohnt, sich bei Schwarz zu behaupten. Der würde das schon verkraften. Omi legte sich auf den Bauch und angelte unter das Bett. Irgendwo zwischen den verknäulten Kleidern fand er, was er suchte. Er zog das Handy hervor, das ihm Schuldig damals gegeben hatte. Damals, das klang so weit weg. Dabei waren es doch gerade mal ein paar Tage. Er rief den Nachrichtenspeicher auf und begann zu lesen. Dabei huschte immer wieder ein kleines Lächeln über sein Gesicht, wenn er sich daran erinnerte, wie er diese oder jene SMS verfasst hatte. Immer zitternd, ob er eine Antwort bekommen würde. Das Ziehen in der Magengrube, die atemlose Freude, wenn das Gerät tatsächlich gepiept hatte. Er las gerade eine der letzten Nachrichten vom Tag der Entführung aus dem Krankenhaus, als Schuldig sich neben ihm zu regen begann. „Guten Morgen, Sonnenschein“, flötete Omi und legte das Handy beiseite, um die Hände freizuhaben. Er kuschelte sich an Schuldig und fuhr mit den Fingernägeln über dessen Rückseite, die sich durch die Bewegung entblößt hatte. „Guten Morgen, du kleiner Nimmersatt“, grinste Schuldig noch mit geschlossenen Augen. „Hast du etwa noch nicht genug? Wenn du so weiter machst, wirst du heute den ganzen Tag nicht sitzen können.“ „Wir könnten ja mal tauschen“, schlug Omi mit blitzenden Augen vor. Schuldig öffnete seine Augen ein Stück weit und sah ihn durch die halb geschlossenen Lider an. Er schien nachzudenken. „Warum eigentlich nicht“, sagte er schließlich und zwinkerte Omi zu. „Scheint ja Spaß zu machen.“ Omi stützte sich auf die Ellenbogen. „Hast du noch nie?...ich meine. Also...du warst noch nie unten?“ Schuldig schüttelte leicht den Kopf. „Hat sich irgendwie nicht ergeben.“ Ein breites Grinsen stahl sich auf Omis Gesicht. „Das heißt ja, du bist quasi noch Jungfrau?“ Schuldig machte ein so verblüfftes Gesicht, dass Omi nicht anders konnte, als lauthals zu lachen. Er stürzte sich auf den anderen und küsste ihn wild, bis ihnen beiden die Luft ausging. „Also was ist“, gurrte Omi und knabberte an Schuldigs Ohrläppchen herum. „Begibst du dich jetzt in meine Hände?“ „Aber nur, wenn noch was von dem Gleitgel da ist.“ Schuldig langte nach der kleinen Tube, die auf dem Nachtschrank stand, während Omi bereits seinen Mund in tiefere Regionen wandern ließ. Diesen Teil des Vorspiels liebte er mit Abstand am meisten. Schuldig tastete über den Schrank und bekam etwas zu fassen. Er keuchte abgelenkt, als Omi sein Werk begann, griff zu und hob den Gegenstand vor sein Gesicht. Seine Züge gefroren, als er sah, was er in Händen hielt. „Scheiße!“, fluchte er laut, griff nach Omis Haaren und zerrte ihn unsanft wieder nach oben. „Au, Schu, du tust mir weh“, jammerte Omi. Schuldig achtete gar nicht darauf und hielt ihm das Handy unter die Nase. „Was ist das?“, bellte er. „D-das ist das Handy, das du mir gegeben hast“, stottere Omi. „Ich habe es gestern in meiner Tasche gefunden.“ „Warum zum Teufel hast du es mitgenommen?“ „Ich...es lag zwischen meiner Unterwäsche. Ich habe es eingepackt, als ich meine Sachen geholt habe.“ Schuldig stöhnte und fingerte an der Plastikummantelung herum. Die Rückseite des Handys flog zu Boden, gefolgt vom polternden Akku. Schuldig fasste mit spitzen Finger in das Handy und zog eine kleine, silberne Platte hervor, die etwa die Größe eines Daumennagels hatte. „Weißt du, was das ist?“ Schuldigs Stimme hatte die Kälte einer Gefriertruhe in der Antarktis. Omi schluckte. Natürlich wusste er, was das war. Ein Peilsender. Das Handy war mit einem Peilsender ausgestattet gewesen. Und er hatte es mit in ihr sicheres Versteck gebracht. Wie auf Knopfdruck wehte der Wind plötzlich ein neues Geräusch durch den Fensterspalt heran, das irgendwie zu gleichmäßig war, um natürlichen Ursprungs zu sein. Es erinnerte an eine aufgeregte Hummel, deren dunkles Brummen immer aggressiver und bedrohlicher wurde. Das brummende Geräusch wurde lauter und lauter, steigerte sich zu einem rhythmischen Knattern, das sich schließlich in das charakteristische Geräusch eines Helikopters verwandelte. In diesem Moment ging im Raum gegenüber die Tür auf und Sekunden später platze Aya ins Zimmer. „Wir bekommen Besuch“, rief er und stürzte die Treppe hinunter. Omi und Schuldig sprangen gleichzeitig aus dem Bett, schlüpften in ihre Klamotten und sprinteten hinterher. „Wie wäre das hier?“ Yoji hielt Nagi ein schwarzes T-Shirt unter die Nase. Darauf stand in weißen, unregelmäßigen Buchstaben „Fuck you World“ nebst einer Hand, deren Mittelfinger eine obszöne Geste machte. Nagi schüttelte entsetzt den Kopf. „Nicht?“ Yoji wirkte ernsthaft erstaunt. „Ich dachte, so was trägt man in deinem Alter. Ich hatte so was an, als ich so alt war wie du. Na ja, nicht ganz so cool. Ich hatte es mit einem schwarzen Filzstift auf ein weißes Shirt geschrieben, der bei der nächsten Wäsche alles in einheitliches Dunkelgrau verwandelt hat. Ich hatte zwei Wochen Hausarrest. Meine Mutter hat es bereut, weil ich ihr dann zu Hause die Bude vollgequalmt hab und mit der hübschen, fünf Jahre älteren Nachbarin ins Gespräch gekommen bin, wenn du verstehst, was ich meine.“ Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Nagis Augen hatten die Größe von Untertassen erreicht. „Lass dich von ihm nicht so aufziehen“, grinste Ken. „Der hatte nie eine Mutter.“ Er sah Nagi bei der Aussage zusammenzucken. „Hey, tut mir leid, wenn das ein wunder Punkt ist. Ich rede auch nicht gerne über meine Mutter.“ Ken wanderte weiter durch die überquellenden Ständer des Bekleidungsgeschäfts, während Yoji es vorzog, die hübsche Kassiererin von der Arbeit abzuhalten. Nagi seufzte lautlos und folgte Ken. Während der ernsthaft in den Regalen nach etwas Passendem suchte, zupfte Nagi nur unentschlossen an irgendeinem Stück Stoff neben sich herum. Er spürte die Frage in seinem Mund, wagte aber nicht, sie auszusprechen. „Sie ist gestorben, als ich noch ganz klein war“, sagte Ken plötzlich. „Ich...hab eine ganze Weile gebraucht, bis ich wieder auf die Füße gekommen bin. War lange in einem Waisenhaus.“ „Ich auch“, rutschte es Nagi heraus, ehe er es verhindern konnte. Er biss sich auf die Lippe. „Schon ok, du musst nicht drüber reden“, beruhigte ihn Ken. „Hier. Probier das mal.“ Er hielt Nagi eine schwarze Hose und ein einfarbiges, dunkelblaues T-Shirt hin. Nagi nahm es entgegen und verschwand in einer der Umkleidekabinen. Als er wieder herauskam, musterte Ken ihn einen Augenblick lang. „Das fehlt noch was“, lautete sein Urteil. Er griff nach einer schwarzen Baseball-Kappe mit weißen Ziernähten und stülpte sie Nagi auf den Kopf. „Ja, perfekt. Da erkennt niemand mehr den telekinetischen Killer.“ Sie nahmen noch ein paar ähnliche Kleidungsstücke mit und bezahlten. Die nächste Station war der Supermarkt. Sie streiften durch die Regalreihen und Nagi ließ sich dazu hinreißen, Schuldig auch etwas einzupacken, das nach dessen Maßstäben als essbar durchging. Während sie Obst und Gemüse begutachteten, fragte Yoji plötzlich: „Hast du eigentlich schon mal jemandem getötet?“ Er stellte die Frage in einem Tonfall, als hätte er gefragt, was Nagi von der Aubergine hielt, die er gerade in den Händen hielt. Nagi merkte, wie das Blut in seinen Ohren zu rauschen begann. Yoji sah ihn über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg an. „Mit Absicht, meine ich. Hast du schon mal jemandem mit voller Absicht umgebracht?“ Nagi schossen tausend Dinge durch den Kopf. Begebenheiten, bei denen sich seine Kräfte unbeabsichtigt manifestiert hatten. Wie er das eine Mal den Stein, den ein Junge nach ihm geworfen hatte, mit voller Wucht auf diesen zurückgeschleudert hatte. Die Dinge, die er bei seiner Ausbildung bei Rosenkreuz getan hatte. Ein Mord war nicht darunter gewesen. Nagi antwortete nicht. Yoji hingegen nickte, als hätte er es getan. „Das dachte ich mir.“ Er hielt zwei Auberginen hoch. „Die oder die?“ Ken stieß zu ihnen, packte sie beide und schob sie in einen Gang des Supermarkts, in dem Windeln und Babynahrung verkauft wurden. Er legte den Zeigefinger auf den Mund und deutete mit dem Kopf Richtung Ausgang. Yoji reagierte sofort. Er presste sich mit dem Rücken gegen das Regal und spähte vorsichtig um die Ecke. Nagi sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. „Was wollen die hier?“, flüsterte Ken Yoji zu, als der sich wieder zurückgezogen hatte. „Ich bezweifele, dass sie einkaufen wollen“, gab der ebenso leise zurück. Nagi sah von einem zum anderen. Warum konnten die sich nicht klar ausdrücken? Wen hatten sie entdeckt? „Schreient“, sagte Ken an Nagi gewandt. „Zwei von ihnen haben gerade den Laden betreten.“ Nagis Herz setzte einen Schlag lang aus. Schreient war hier? Wie hatten sie sie gefunden? Und war sie dabei? „Wen hast du gesehen?“, fragte er. Er musste es einfach wissen. „Neu und Schön“, antwortete Ken. „Aber ich glaube, ich habe die anderen beiden in den Laden gegenüber gehen sehen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie suchen nach uns. Aber warum?“ „Wahrscheinlich, weil wir so unwiderstehlich sind“, witzelte Yoji. „Sie können eben einfach nicht genug von uns bekommen.“ „Das ist nicht komisch, Yoji“, zischte Ken. „Wir haben keine Waffen und außerdem sind Zivilisten anwesend. Wir können die beiden nicht einfach ausschalten.“ Yoji warf einen langen Blick auf Nagi. In seinem Kopf schien es zu arbeiten. Er schüttelte ihn unmerklich, als hätte er eine Idee gehabt und verworfen. „Ja, es ist besser, wir verschwinden von hier. Kommt, wir suchen mal, ob es hier einen Hinterausgang gibt.“ Sie huschten mit geduckten Köpfen durch die Gänge des Supermarkts, immer Ausschau nach ihren Verfolgern haltend. Als sie eine metallene Doppeltür erreichten, endete ihre Glückssträhne. Die Tür war verschlossen. „Dann müssen wir wohl doch zur Vordertür raus“, murmelte Ken und wollte schon zurück schleichen, als Nagi ihn am Arm zurückhielt. Er konzentrierte sich auf die Tür, fand an der Außenseite einen Riegel und schob diesen mithilfe seiner Kräfte beiseite. Er drückte leicht gegen die Tür und diese schwang nach außen auf. „Gar nicht mal schlecht, Kleiner“, sagte Ken anerkennend. „Kommt, verschwinden wir, bevor es Ärger gibt. Wir müssen die anderen warnen.“ Der Helikopter schwebte bereits seit mehren Minuten unbeweglich wie ein drohendes Insekt über dem Rand der Steilklippe. Schuldig fletschte die Zähne. „Das ist Crawford. Der arrogante Bastard will uns Angst machen.“ „Da hat er sich aber die Falschen dafür ausgesucht.“, knurrte Aya. Er griff nach seinem Katana. „Los, gehen wir raus. Ich verkrieche mich nicht hier drinnen, während der Feind da draußen ist.“ „Sei bloß vorsichtig“, meinte Schuldig. „Ich kenne ihn. Er heckt irgendetwas aus. Lass dich nicht auf einen Kampf mit ihm ein.“ Aya hob spöttisch eine Augenbraue. „Machst du dir Sorgen um mich?“ Schuldig musterte ihn einen Augenblick. „Nein, eigentlich nicht. War wohl ein dummer Reflex, so was zu sagen. Muss an dem vielen Weiß um mich herum liegen.“ Aya ging zur Tür. Omi wollte ihm folgen, aber Schuldig hielt ihn zurück. „Sei du auch vorsichtig, Bishounen.“ Omi lächelte kurz. „Bin ich doch immer.“ Sie traten vor die Tür. Der Helikopter landete, ohne den Rotor auszustellen. Die Seitentür öffnete sich und zwei Gestalten verließen das Luftfahrzeug. Sie waren kaum ausgestiegen, da hob der Helikopter wieder ab und verließ die Küste in Richtung Landesinneres. Die beiden Männer kamen langsam näher „Nett habt ihr´s hier.“ Was bei jedem anderen wie ein Auftakt zu einem netten Kaffeekränzchen gewirkt hätte, hörte sich aus Crawfords Mund an wie das bedrohliche Knurren eines Kettenhundes. Eines Kettenhundes, von dem man gerade festgestellt hatte, dass er nur drei Meter von einem entfernt stand und nicht angeleint war. „Verpiss dich, Crawford.“ Schuldig hatte keine Angst vor Hunden. Er war lediglich vorsichtig. „Du weißt, dass ich das nicht tun werde. Du hast etwas, das mir gehört. Ich will es zurück.“ „Du meinst das Mädchen?“ Schuldig lachte kurz auf. „Die kann ich dir leider nicht geben. Ich habe diesbezüglich schon einen anderen Deal ausgemacht. Der Preis war besser.“ „Ich sprach nicht von ihr, ich sprach von dir.“ Crawfords linker Mundwinkel wanderte nach oben, als er Schuldigs Gesicht sah. „Hast du wirklich geglaubt, dass du SZ, dass du Schwarz, dass du mich einfach so hintergehen kannst. Demnach bist du immer noch das verzogene Balg, dass du warst, als wir uns kennengelernt haben. Uns hätte die Welt zu Füßen liegen können, aber du hast das alles aufgeben und wofür? Einen guten Fick, der dir nächste Woche schon langweilig wird? Aber du hast gewählt und bist damit nicht mehr Teil des Plans. Und Teile, die nicht in den Plan passen, werden entfernt. Farfarello? Er gehört dir.“ Farfarello trat an Crawford vorbei. In der Hand hielt er den Griff des ausziehbaren Rapiers, das er als Waffe bei Aufträgen bevorzugte. Schuldig wusste, dass er sich binnen Sekunden in eine tödliche Klinge verwandeln konnten. Eine Klinge, die er nicht vorhatte, seinen Körper berühren zu lassen. „Farf, lange nicht gesehen“, versuchte Schuldig einen unverbindlichen Plauderton. „Hast du Gott ein wenig geärgert, während ich weg war.“ Farfarello legte den Kopf schief. „Komm schon, wir müssen uns doch nicht streiten. Lass uns darüber reden.“ Farfarello ließ die Klinge ausschnappen. Schuldig hatte gerade noch Zeit, sich mit einem Sprung rückwärts zu retten, bevor sich das Metall dort in den Boden bohrte, wo er gerade noch gestanden hatte. Ohne anzuhalten, riss Farfarello das Rapier aus dem Boden und stürzte sich mit einem heiseren Schrei auf Schuldig. Schuldig rollte sich ab, machte Boden gut, wobei er selbst merkte, dass er sich mit dem Rücken zur Steilküste manövriert hatte. Farfarello trieb ihn mit immer neuen Ausfällen unbarmherzig auf die Klippe zu. Trotzdem zögerte Schuldig, seine Pistole zu ziehen. „Du willst mich doch gar nicht umbringen“, behauptete er. „Ich glaube, es ist Gott ein weit größerer Dorn im Auge, wenn du mich am Leben lässt. Du und ich, wir hatten doch immer so viel Spaß zusammen.“ Farfarello reagierte nicht darauf. Er hieb erneut mit der messerscharfen Klinge nach Schuldig. Der duckte sich, schnellte wieder hoch und schlug mit voller Wucht auf die Hand, die das Rapier hielt. Die Reaktion war ungewöhnlich, aber nicht überraschend. Jedem anderen wäre durch die Wucht und den Schmerz des Aufpralls die Waffe aus der Hand geglitten. Nicht so Farfarello. Er nutzte die Nähe seines Gegners aus, schlang den Arm um ihn und Schuldig spürte eine weitere, kleinere Klinge, die an seinen Hals gepresst wurde. Wenn man sich bei Farfarello auf etwas verlassen konnte, dann darauf, dass er keinen Mangel an scharfen, spitzen Gegenständen aufkommen ließ. Schuldig ließ Farfarellos Handgelenk los und hob beschwichtigend die Arme. „Ok, du hast gewonnen. Ich ergebe mich. Genügt das?“ Farfarello antwortete nicht. Das Metall des Dolches drückte sich stärker in die empfindliche Haut, ritzte diese und ließ einen klebrigen Blutstropfen an Schuldigs Hals hinunterrinnen. Schuldig schluckte vorsichtig, um die Klinge nicht noch weiter abrutschen zu lassen. Fieberhaft versuchte er, eine Lösung zu finden. Er könnte versuchen, in Farfarellos Kopf vorzudringen. Das war schwierig. Wie alle Mitglieder von Schwarz hatte der gelernt, telepathische Angriffe abzuwehren. Aber selbst, wenn er die Barriere hätte durchbrechen können, war es nahezu unmöglich, Farfarello etwas einzuflüstern. Dessen Gedanken waren zu...festgefahren. Gleichzeitig glitten sie Schuldig durch die telepathischen Finger, wie schlüpfrige Aale in einem Wasserbottich. Kein Anfang und kein Ende, an dem man ansetzen konnte. Auf diesem Weg kam er nicht weiter. Plötzlich verschwand der Dolch von seinem Hals. Farfarello gab ihn frei. Schuldig stolperte eilig einen Schritt vorwärts und fuhr herum. Farfarello fixierte ihn mit seinem einen Auge, während er die Zunge über die blutige Klinge gleiten ließ. Dunkles traf auf blasses Rot und mischte sich zu einer eigentümlichen Schattierung, bevor sie wieder in Farfarellos Mund verschwand. Schuldig wusste, dass das kein gutes Zeichen war. Er hatte Farfarello schon oft beim Spielen zugesehen und jetzt gerade spielte er. Das war einerseits gut, weil es Schuldig eventuell die Chance gab zu überleben. Andererseits tat Farfarello, so wahnsinnig er auch manchmal erscheinen mochte, nie etwas ohne Grund. Er verfolgte stets ein Ziel, selbst wenn das einem Außenstehendem verborgen blieb. Wenn aber Schuldigs Tod nicht die Motivation für diesen Kampf war, was war es dann? Schuldig kniff die Augen zusammen. „Was hat er dir versprochen?“ Zum ersten Mal, seit der Kampf begonnen hatte, öffnete Farfarello den Mund. „Ich bekomme den Jungen.“ Schuldig glaubte, sich verhört zu haben. „Den Jungen? Du meinst Omi?“ Farfarello lächelte. „Ich werde ihn schreien lassen. Sehr laut schreien lassen.“ In diesem Moment griff Schuldig nach seiner Waffe, legte an und schoss. Crawford schob sich die Brille auf dem Nasenrücken zurecht. „Ich glaube, wir hatten schon einmal das Vergnügen“, sagte er in geschäftsmäßigen Ton zu Aya. „Du hast versucht, Reiji Takatori zu töten. Vielleicht hätte ich dich damals schon erledigen sollen, aber das gehört nicht zu den Aufgaben eines Bodyguards. Immerhin wart ihr nicht mehr als ein kleines Ärgernis. Ein Ärgernis, das ich heute beseitigen werde.“ Aya fasste den Griff seines Katanas fester und Omi ließ einen Dart in seiner Hand ausklappen. Sein Blick irrte zu Schuldig, der behände den Streichen seines ehemaligen Teamkollegen auswich. „Wir lassen uns aber nicht so einfach beseitigen, knurrte Aya und holte zu einem ersten Schlag aus. Crawford wich dem Schlag aus und Ayas Schwung trug ihn ein Stück weit an Crawford vorbei. Er spürte einen Faustschlag gegen seine Rippen und taumelte noch einen Schritt vorwärts. Er wirbelte herum, machte einen zweiten Ausfall, aber auch dieser Streich ging fehl. „War das etwa alles?“, lachte Crawford. Omi schleuderte seinen Dart. Crawford fing ihn in der Luft auf und betrachtete die feine Spitze. „Es wundert mich nicht, dass du noch mit Pfeil und Bogen spielst, kleiner Junge. Komm, lass das hier die Erwachsenen regeln.“ Bevor Omi reagieren konnte, war Crawford auf ihn zugesprungen und donnerte ihm die Faust in die Magengegend. Ein zweiter Schwinger gegen sein Kinn, ließ rote Schmerzblitze in seinem Gehirn explodieren. Er hörte Aya schreien, spürte die Tritte in seine Seite, dann noch einen Schlag gegen seinen Kopf und es umfing in Schwärze. „Omi!“ Aya wollte zu ihm eilen, doch Crawford stellte sich ihm in den Weg. Er zog langsam, fast beiläufig sein Jackett aus. Aya konnte jetzt das Holster mit der Waffe sehen, das unter seinem Arm angebracht war. Fast erwartete Aya, dass der Mann jetzt seine Pistole zog, doch er tat es nicht. „Was denn“, sagt er stattdessen. „Wir sind hier noch nicht fertig.“ Er machte einen Ausfallschritt, unterwanderte Ayas abwehrenden Arm und hieb ihm erneut die Faust zwischen die Rippen. Aya keuchte, als die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde. Er hob den Arm, wagte einen Schwertstreich, doch Crawford wich diesem spielerisch aus und trat nach der Hand, die das Katana hielt. Die Klinge wurde Aya aus der Hand geschleudert und landete nicht weit entfernt, doch unerreichbar im Gras. Crawford trat erneut zu. Aya ließ sich fallen, rollte sich ab und kam in entgegengesetzter Richtung zu seiner Waffe wieder auf die Füße. Crawford setzt ihm nach, Aya musste erneut ausweichen. Ein Fausthieb traf ihn am Kinn, ein weiterer gegen den Brustkorb. Er ignorierte den Schmerz, griff nach dem Arm, hielt seinen Gegner fest. Crawford drehte sich aus der Bewegung und fegte Aya mit einem Tritt von den Füßen. Aya rollte rückwärts, fuhr herum und sprang von unten gegen den Mann, um ihn ebenfalls zu Boden zu reißen. Er umfasste nur leere Luft und ein Fuß hieb in seine bereits verletzte Seite. Er wurde aus der Flugbahn geworfen und fühlte einen heißen Schmerz durch seine Seite ziehen. Vermutlich eine angebrochene Rippe. Luft zu holen, bereitete ihm Mühe und ließ den Schmerz erneut aufflammen. Keuchend blieb er einen Augenblick liegen, um sich zu sammeln. Was hatte Omi gesagt? Crawford sah die Zukunft voraus. Somit konnte er wahrscheinlich jeden Angriff sehen, bevor Aya ihn ausführte. Es war unmöglich, ihn zu erwischen. Entweder musste Aya etwas Unerwartetes tun oder er musste Crawford ablenken. Aber wie sollte er das anstellen? Ein Schuss zerriss die Luft. Ein schneller Blick bestätigte Aya, dass es nicht Crawford gewesen war, der geschossen hatte. Vermutlich Schuldig. Egal. Er taumelte auf die Füße, suchte wieder festen Stand. „Deine Beharrlichkeit amüsiert mich“, lächelte Crawford. „Wir beide wissen doch, wie dieser Kampf enden wird.“ „Ich habe Wettervoraussagen noch nie getraut“, knurrte Aya. „Und ich glaube nicht an Schicksal.“ „Große Worte“, spottete Crawford. „Doch welche Zukunft wirst du haben? Wir werden euch besiegen und wir werden euch alle töten. Einen nach dem anderen. Mit wem sollen wir anfangen? Mit dem Jungen vielleicht?“ Er wies auf Omi. „Oder mit deiner Schwester?“ „Das könnt ihr nicht. Schuldig hat gesagt, dass ihr sie nicht anrühren dürft.“ Crawfords Augenbrauen zuckten kurz. „Hat er das? Nun, vielleicht jetzt noch nicht. Doch wenn der Tag gekommen ist, wird sie ebenso sterben wie alle anderen, die es nicht wert sind zu leben. Schwache Individuen, die in der Welt, die wir zu erschaffen suchen, keinen Platz haben. Es wäre vielleicht amüsant, dich am Leben zu lassen und dich erst nach deiner Schwester zu töten. Aber das wäre die Mühe nicht wert. Du wirst einfach in dem Bewusstsein sterben, dass du sie nicht wirst retten können. So wie ich dich einschätze, wird das genug sein.“ „Die anderen werden dich finden und dich zur Strecke bringen. Weiß gibt niemals auf.“ Während sie sprachen, versuchte Aya einen Weg zu finden, wie er wieder an sein Katana kommen konnte. Er hörte einen zweiten und dritten Schuss. „Wen meinst du? Deine zwei Freunde, die sich vermutlich in diesem Moment mit Schreient auseinandersetzen? Du siehst überrascht aus. Ja, ich habe die Damen mitgebracht. Sie hatten reges Interesse an Rache. Ein Unterfangen, das du sicherlich verstehen wirst.“ „Sie sind zu dritt“, antwortete Aya trocken. „Nagi ist bei ihnen.“ Was er bisher nicht geschafft hatte, löste dieser kurze Satz in Crawford aus. Der Mann schien ernsthaft erstaunt. „Nagi ist nicht hier?“, echote er. Ein Schuss war zu hören, gefolgt von einem weiteren. Crawford drehte sich nach dem Geräusch herum. Aya hörte ein Auto, das sich schnell näherte. Er blendete es aus, hechtete mit einem Sprung nach vorne, griff nach dem Katana und federte wieder auf die Füße. Er stand jetzt halb hinter Crawford. Mit einem Kampfschrei stürzte er sich auf ihn. Crawford reagierte instinktiv. Seine Hände schnellten nach oben und fingen die Klinge des Schwerts zwischen sich. Das Metall spielte die Gesichter der zwei Kontrahenten. „Ihr könnt nicht gewinnen“, keuchte Crawford, als müsse er sich selbst davon überzeugen. „Ich habe es...gesehen.“ Ayas Stimme war ein eisiger Hauch. „Die Zukunft ist nicht dazu da, gesehen zu werden. Die Zukunft ist dazu da, um gemacht zu werden.“ Er ließ sich fallen, zog mithilfe des Schwungs das Schwert aus Crawford Händen und hieb es in einer gewaltigen Kraftanstrengung gleich wieder nach oben. Er spürte den Widerstand, als die Klinge auf Stoff, Haut, Fleisch und Knochen stieß. Er drückte weiter, während Crawford einen gurgelnden Laut von sich gab. Blut klatschte vor Aya auf den Boden und besudelte das grüne Gras. Ein Schrei wie aus weiter Ferne und ein finaler Schuss. Es war vorbei. Schuldig kniete neben Farfarello, der aus mehreren Schusswunden blutete. Keine von ihnen hatte nennenswert dazu beigetragen, ihn zu stoppen oder auch nur zu verlangsamen. Nur dieser eine, letzte Schuss, der ihn direkt ins Herz getroffen hatte, hatte ihn schließlich gefällt. Blut strömte wie Wasser aus den Wunden und färbte die zertrampelte Erde um ihn herum rot. Das Leben floss in gleichem Maße aus ihm heraus und ließ den vernarbten Kämpfer zusehends schwinden. Seine Hände öffneten und schlossen sich, als wolle er selbst jetzt noch gegen den letzten Gegner antreten, gegen den er nicht gewinnen konnte. Das einzelne, bernsteinfarbende Auge richtete sich auf Schuldig. „Ich werde...“, begann er und hustete Blut. Ein roter Schwall bedeckte seine bleichen Lippen, das Kinn, rann über den Hals ins Gras. „Du wirst gar nichts mehr, Kumpel“, murmelte Schuldig. „Du hast jetzt eine Verabredung mit deinem Gott, wenn es ihn denn gibt.“ Farfarellos blutbesudelte Lippen verzogen sich zu einem glücklichen Lächeln. „Ich werde Gott töten“, sagte er. Sein Blick brach und Schuldig blieb allein am Rand der Klippe zurück. Seine Hände krampften sich um die Waffe, die den tödlichen Schuss abgegeben hatte. Er sprang auf, holte aus und warf die Pistole ins Meer, so weit er konnte. Sie fiel und fiel, bis sie schließlich auf die Wasseroberfläche traf. Es gab eine kleine Fontäne, Gischt spritze hoch, dann schlossen sich die Fluten wieder über dem Metall und zogen es in die Tiefe. Es versank und zurück blieben nur die Wellen, der Wind und die Schuld. Die ewige und immerwährende Schuld. Epilog: Epilog -------------- Omi und Schuldig saßen nebeneinander am Rand der Klippe. Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Welt in eine Orgie aus Orange und Rot. Das Meer lag ruhig da. Ein Spiegel des Himmels, nur eine Nuance dunkler und intensiver, weckte es in Omi die Assoziation an frisches Blut. Wobei er sich relativ sicher war, dass andere, normale Leute, den Anblick einfach nur romantisch fanden. Omi ließ seinen Blick zu Schuldig huschen, der ungewöhnlich schweigsam war. Er suchte in seinem Kopf nach etwas, worüber sie reden konnten. „Wie geht es Nagi?“, fragte er schließlich, froh darüber ein halbwegs unverfängliches Thema gefunden zu haben. „Es geht“, antwortete Schuldig knapp. Er sah Omis Blick und seufzte. „Er macht sich Vorwürfe. Ist der Meinung, wenn er anwesend gewesen wäre, wäre der Kampf anders ausgegangen. Vermutlich stimmt das sogar. Crawford und Farfarello wären mit ziemlicher Sicherheit noch am Leben. Wie das mit dem Rest aussehen würde, weiß ich nicht.“ „Eigentlich komisch, dass Crawford das nicht hat kommen sehen.“ Schuldig zuckte mit den Schultern. „Ich sagte ja, die Zukunftsseherei ist nicht perfekt. Es geht um Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten. Nagi hat Tage damit zugebracht, Szenerien durchzurechnen. Crawford wird das sicherlich auch getan habe, nur hat er sich anscheinend irgendwo geirrt. Ein entscheidendes Detail falsch eingeschätzt. Ich kann es dir nicht sagen. Ich bin hier nur der Telepath.“ Omi wagte einen Vorstoß. „Und wie geht es dem Telepathen?“ Schuldig strich über seinen Hals. Auf dem Schnitt klebte ein großes Pflaster. „Es piekst, wenn ich lache, aber sonst...“ „Du weißt, was ich meine.“ Schuldig seufzte wieder. „Was willst du hören? Ich hab schon immer Menschen umgebracht. Einer mehr oder weniger macht da auch keinen Unterschied.“ „Es macht einen Unterschied, wenn einem der Mensch etwas bedeutet hat“, sagte Omi. Er wusste immerhin, wovon er sprach. Sie schwiegen eine Weile, sahen der Sonne beim Versinken zu. Der auffrischende Abendwind brachte empfindliche Kühle mit sich. Omi bekam eine Gänsehaut, wollte sich aber nicht erheben. Er wollte Schuldig nicht alleine lassen. „Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte er nach einer halben Ewigkeit. Die Sonne war inzwischen nur noch ein schmaler Strich über dem Horizont. „Tja, ich würde sagen, wir haben einiges vor uns“, orakelte Schuldig. „Angefangen davon, dass Crawford uns als nettes Vermächtnis ja noch Schreient auf den Hals gehetzt hat. Wir werden die Zelte hier morgen abbrechen müssen. Eventuell wäre es sogar klug, noch heute Nacht zu fahren. Wobei ich nicht glaube, dass er ihnen allzu viele Details überlassen hat. Crawford hat die Fäden immer lieber selbst in der Hand gehalten. Aber früher oder später werden sie uns finden. Oder wir finden sie, wenn wir Glück haben.“ „Sie haben immer noch meinen Bruder. Oder das, was von ihm übrig ist. Darum müssen wir uns auch kümmern. Meinst du, wir haben eine Chance, sie irgendwie zu...retten? Du weißt schon, wegen Nagi und auch wegen Yoji. Kannst du nicht irgendetwas mit ihren Köpfen anstellen. Sie wieder normal machen?“ „Pff, keinen Schimmer. Ich habe Yoji schon gesagt, dass das vermutlich nichts werden wird. Aber wer weiß. Wunder soll es ja manchmal geben. Vielleicht können wir die letzten zwei Damen dann ja mit Ken und Aya verkuppeln. Schön wäre bestimmt eine prima Spielerfrau.“ Omi lachte. „Aber Aya und Hell? Niemals! Die beiden müssten wir ja jeden Abend auf Waffen filzen, bevor wir sie alleine in einem Zimmer lassen.“ Schuldig grinste und wackelte mit den Augenbrauen. „Vielleicht stehen die ja auf so was. Wer weiß.“ Omi knuffte Schuldig in die Seite und rückte näher an ihn heran. „Wo werden wir hingehen?“, wollte er wissen. „Schwarz hat einige Unterschlupfmöglichkeiten. Ich habe da schon etwas im Auge. Ruhig, geräumig, abgelegen. Eine perfekte Operationsbasis. Wir werden allerdings damit rechnen müssen, dass uns früher oder später SZ vor der Tür steht. Auch darauf müssen wir uns vorbereiten. Dann ist da noch Takatori. Außerdem natürlich Kritiker. Denen werden wir wohl irgendwie Nagis und meine Anwesenheit erklären müssen. Aber du hast da ja familiäre Beziehungen.“ Schuldig zwinkerte Omi zu, der daraufhin nur mit den Augen rollte. „Eines hast du noch vergessen: Ayas Schwester. Du hast ihm versprochen, sie aufzuwecken.“ Schuldigs Lippen umspielte ein kleines Lächeln. „Ach, das hat er dir also erzählt?“ „Naja, nicht direkt. Er hat so eine komische Andeutung gemacht, da hab ich ihn ausgetrickst und er hat sich verplappert.“ „Ich hab einen schlechten Einfluss auf dich, Bishounen.“ „Und ich einen guten auf dich“, fand Omi. „Passt doch.“ Schuldig sah ernsthaft entsetzt aus. „Einen guten Einfluss auf mich? Wo?“ „Na überleg doch mal“, sagte Omi und begann an den Finger abzuzählen. „Du willst uns gegen Schreient helfen und dabei noch Hell, Neu, Schön und Tot retten. Du willst Takatori aus dem Verkehr ziehen, für Kritiker arbeiten, SZ die Stirn bieten und nicht zuletzt endlich Ayas Schwester aus dem Koma befreien. Also für mich hört sich das ziemlich nach einem Helden an.“ Schuldig stöhnte auf. „Ja am besten nennen wir diesen furchtbaren Film dann Schuldig bringt die Welt in Ordnung oder so ähnlich. Die Haarfarbe stimmt ja immerhin schon mal.“ Omi sah ihn fragend an. „Du kennst Pipi Langstumpf nicht, oder?“ Omi schüttelte den Kopf. „Egal. Erkläre ich dir irgendwann mal, wenn ich darüber hinweggekommen bin, dass ich jetzt einer von den Guten bin.“ „Bei dir klingt das, als wäre es was Schlechtes.“ Schuldig antwortete nicht und sah wieder auf das Meer hinaus, wo die Sonne inzwischen endgültig den Kampf gegen die Wellen verloren hatte. Lediglich ein winziger Rest Rosarot hielt sich hartnäckig am Horizont, über dem die ersten Sterne anfingen zu leuchten. Ein schmaler Lichtstreifen huschte über den Himmel und hinterließ nur eine Erinnerung an sein kurzfristiges Dasein. Eine Sternschnuppe. Omi schloss die Augen und wünschte sich etwas. Schuldig schnaubte neben ihm. „Ich verspreche dir, dass du diesen Wunsch bereuen wirst.“ Omi hingegen sagte nichts. Er lächelte nur und war sich ziemlich sicher, dass Schuldig in diesem Fall nicht Recht behalten würde. ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)