Die Chroniken der Vier Jahreszeiten von Lady_of_D (Winters Passion) ================================================================================ Kapitel 9: Sommer III --------------------- "Du hast nach mir gerufen, meine Königin", den Blick gesenkt verbeugte sich der Wintergelehrte vor Königin Cycla. Diese stand inmitten des Lebensbaumes und beobachtete das Treiben einer kleiner Knospe, deren Spitze bereits zu blühen begonnen hatte. Nicht mehr lange und aus dem winzigen Keimling würde der erste Hauch eines Winterleuchtens hervor lugen, bis er schließlich zu einer zarten Blüte oder einem flinken Burschen gedieh. Die Königin des Winterreiches ließ die Finger über die zitternde Knospe wandern, dass ein dünner blauer Faden aus der Kuppe hinaustrat. Zweimal wickelte sich der Faden um die Knospe, dass ihr durchschimmernder Kern wohlwollend zu knacksen begann. Schon jetzt war sie ein aufgewecktes Kerlchen, das sich noch bis zum nächsten Vollmond gedulden musste, bevor aus dem schützenden Kern ein leibhaftiger Körper entstünde. Das tiefe Blau ihrer Seelenspiegel blickte ehrfürchtig auf das stetige Treiben - egal, wie oft sie diesen Augenblick bereits miterlebt hatte, er blieb stets ein ergreifender Augenblick der wahrhaftigen Vollkommenheit. Ihre Augen wendeten sich langsam von der Knospe ab. Ohne auf die Tür zu sehen, vor welcher der Gelehrte sich nicht von der Stelle bewegt hatte, sprach sie zu dem Winterling, der sich daraufhin von seiner Starre löste und in die königlichen Gemächer schritt. Der Blick haftete weiterhin auf den Boden. War es dem einfachen Volk nicht gestattet, sich dem Königspalast ohne ausdrückliche Einladung zu nähern, war es ein noch größerer Frevel, erhobenen Hauptes die königlichen Gemächer zu betreten oder in das Antlitz der Königin zu blicken. Nur die Gnade des Königs allein gewährte einen, den Kopf zu heben, um einen flüchtigen Blick auf dessen Gemahlin werfen zu dürfen (und dies geschah nur zur Wintersonnenwende). Der Gelehrte blieb eine Armlänge vor Königin Cycla stehen, tat eine weitere Verbeugung, ohne auch nur daran zu denken, auf zu sehen und räusperte sich. Leise raschelte der Saum des herrschaftlichen Gewandes über den Schnee bedeckten Boden, dass der blau-goldene Stoff zwischen der weißen Winterdecke hervorstach. Es war dem Wintergelehrten nicht möglich, seine Augen von dem funkelnden Kleid abzuwenden, das flüchtig seine Füße streifte, um schließlich einmal über den gesamten Schneeteppich gezogen zu werden. Die Königin widmete sich Ast für Ast, Zweiglein für Zweiglein, welchen sie nacheinander einen Mantel kalten Hauchs umlegte. "Nun", sagte sie, während ihre Finger einen bebenden Ast besänftigen, "sprich'. Gibt es Neuigkeiten zu berichten?" "Wie immer nur gute Neuigkeiten, Majestät", nickte der Gelehrte eifrig, wobei er immer mehr Mühe hatte, den Blick gesenkt zu halten - verkrampfte sich ihm schon sein Nacken, denn er war nicht mehr der Jüngste. Gern hätte er das Haupt gehoben, nur kurz einen Blick auf ihr Gesicht geworfen. Aus vielen Wintersonnenwenden wusste er um Königin Cyclas Schönheit. Schon damals, als junge Blüte eines Zweigclans der Königsfamilie, hatte sie zu den schönsten ihrer Wesensart gezählt. Der Wintergelehrte konnte sich gut an sie erinnern. An ihre Zurückhaltung und Annahbarkeit. Cycla - die Ruhe vor dem Sturm, die zu aller Überraschung die Aufmerksamkeit des Königs erlangen konnte. Viele Blüten hatten ihm schöne Augen gemacht, waren um ihn geschlichen und hatten um seine Gunst gebuhlt. Doch König Asparagos hatte sie alle abgewiesen und seine Wahl selbst getroffen. Bedauerlich, dachte sich der Wintergelehrte, und beobachtete eine Schneeflocke, die langsam auf einer der herausragenden Wurzeln landete. Nur die Regeln des Anstandes, die jeglichen Blickkontakt verboten und einen Verstoß hart bestraften, hielten den Winterling letztendlich davon ab, der Versuchung zu erliegen. "So erstatte mir Bericht", sprach die Winterkönigin und faltete die Hände nach getaner Arbeit, dass sie vor ihrem Schoß ruhten. "Sehr wohl", nickte der Gelehrte mehrmals und ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. "Alles läuft zu bester Zufriedenheit, meine Königin. Der junge Prinz macht sich hervorragend - ganz wie zu erwarten. Ich bin davon überzeugt, dass er die Abschlussprüfung mit Bravour meistern wird. Er übertrifft bereits jetzt seine künftigen Untertanen um Längen." "Die Fähigkeiten meines Sohnes waren schon immer herausragend." "Gewiss", bestätigte der Gelehrte und verschränkte die Arme hinter dem Rücken, "er kommt ganz nach unserem König. Durch und durch. Vielleicht wird er ihn eines Tages übertreffen...Oh, bitte verzeih, es lag nicht in meiner Absicht, den König zu beleidigen." Die Königin ignorierte die Bemerkung und stolzierte an dem Gelehrten vorbei. Sie ließ sich auf einer der Fensterbrüstungen nieder und schlug die Beine übereinander. Wie eine Eissäule verharrte währenddessen der Wintergelehrte auf seiner Stelle. Als er keine Strafe erwarten konnte, fuhr er fort: "Der junge Prinz zeigt großen Ehrgeiz. Die letzte Zeit ganz besonders. Es würde mich nicht wundern, wenn er-" Die Blätter des Lebensbaumes begannen sich zu biegen. Hinter ihm erhob sich die Königin: "Warum sprichst du nicht weiter", sie war nun dicht an seinem Ohr, dass es ihm eiskalt den Rücken hinunter lief. Diesmal war er froh, ihren Blicken nicht begegnen zu müssen. Er wusste einfach nicht, was sie von ihm hören wollte. Seit Jahren wurde er regelmäßig ins Schloss beordert, um der Winterkönigin von Prinz Tyledions Fortschritt zu berichten. Dabei schien sie auf etwas bestimmtes hinaus zu wollen. Etwas, womit ihr der Gelehrte nicht dienen konnte. Seine Antworten schienen sie nie zufrieden zu stellen. Vielleicht war es den hohen Lobpreisungen geschuldet. Nur die wenigstens erlaubten es sich, dem Königspaar zu missfallen. Wenn Königin Cycla auch nicht jenen furchteinflößenden Ausdruck besaß, so war die Vorstellung von König Asparagos' Blicken, wenn er davon erfuhr, mehr als erschreckend. Doch Furcht war es nicht, die den Gelehrten zu diesem Urteil führten. Auch ohne Tyledions königliche Stellung hätte er nichts anderes zu berichten gehabt. Der junge Thronerbe wurde jeglichen Erwartungen gerecht, welche das Volk an einen Herrscher stellen konnte. Nur der Königin schien die Entwicklung ihres Sohnes nicht zu genügen. "Nun", ihre Stimme hätte die Eisplatten zu ihren Füßen zerschneiden können. Er schluckte schwer. Ihm blieb nichts anderes übrig als der Königin zu antworten: "Seit Wochen - wenn nicht sogar Monate schon vergangen sind - widmet sich der Prinz den intensiven Studien unserer Reichsgeschichte. Er verbringt Stunden in der Bibliothek - ohne Pause. In seinem Alter ungewöhnlich, aber ganz seinem Charakter entsprechend. Wie mir scheint, bereitet sich der junge Prinz auf sein künftiges Erbe vor." "Du denkst, er strebt eine baldige Regentschaft an?" "Ich", geriet der Gelehrte ins stocken, "würde mir nie derartige Unterstellungen erlauben. Sei dir dessen gewiss, meine Königin." "Aber?" "Das Volk beginnt bereits zu spekulieren, wann der junge Prinz den Thron besteigt. Sollte es vor Wintersonnenwende zu einem Duell um den Winterstab kommen-" "Du sprichst, als müsste sich der Prinz einem Kampf mit dem König stellen. Du vergisst den Stellenwert des Prinzen." Leicht begann ihre Stimme zu zittern. "Gewiss nicht, meine Königin", schüttelte er mit dem Kopf. Auch ihm war der Wechsel in Königin Cyclas Stimmfarbe aufgefallen, dass er beschwichtigend mit den Händen vor seinem Gesicht fuchtelte. "Seine Handlungen", fuhr er fort, "und seine Art sich vorzubereiten - alles deutet darauf hin, dass sich der Prinz seinem Erbe stellt-", kurz zögerte er, die nächsten Worte auszusprechen, "und sich für einen Kampf wappnet. Ob er sich dem König stellen will, wage ich nicht zu behaupten. Vielleicht trüben mich meine Sinne. Das Gerede der anderen könnte mich beeinflusst haben." Mit einem Knoten in der Brust wartete der Gelehrte auf die Reaktion der Königin. Doch Königin Cycla entgegnete nichts darauf. Für einen Moment, der sich für den Winterling wie eine Ewigkeit anfühlte, hörte er nur ihren kalten Atem. Nun stand sie wieder direkt vor ihm. Er spürte ihre Blicke auf sich. Was er jedoch nicht sah war die Leere darin. Die Winterkönigin sah wie durch eine Fensterscheibe durch ihn hindurch. "Ich habe genug gehört", sprach sie ruhiger als der Gelehrte befürchtet hatte, "du kannst jetzt gehen." Damit streckte sie ihren rechten Arm in Richtung Tür aus. Ein letztes Mal verbeugte sich der Gelehrte und entfernte sich. Als sich die Schritte des Winterlings verflüchtigten verließ auch die Königin das Zimmer. Durch den Flur schreitend näherte sie sich einem Soldaten, der bereits sein Haupt zu senken begann. "Sag' mir, Diener", die Königin hob ihren Kopf und blickte streng auf den Soldaten, der die Etiketten des Königshauses gewohnt war und ganz selbstverständlich hinab sah, "wo finde ich den Prinzen?" Der Prinz des Winterreiches war im Spiegelsaal - einem Raum im obersten Geschoss, der seinen Namen den verspiegelten Wänden zu verdanken hatte. Es gab keine Fenster, die das Sonnenlicht hinein gelassen hätten. Nur Eis, das so dick eingearbeitet worden war, dass nichts von außen durchdringen konnte. Große Kronleuchter, die von langen, spitzen Eiszapfen gehalten wurden, erhellten den Saal durch wandelnde Krapfen. Das waren kleine, kugelförmige Wesen, die einst aus Wintermagie erschaffen wurden und nun schon seit vielen Jahrhunderten im Winterpalast umher wandelten. Viele von ihnen hatten sich im Königsschloss ihr eigenes Zuhause geschaffen, hatten sich in etwaigen Rissen eingenistet oder lugten zwischen den Treppenstufen hervor, wenn keiner hinsah. Einige hatten sich aus freien Stücken dazu entschieden, dem Palast zu dienen, dass sie von selbst auf die Spitzen der Kronleuchter kletterten und ein weiß-blaues Licht erzeugten, sobald jemand durch das Zimmer schritt. Leise fiepten sie vor sich hin, hüpften auf dem Kronleuchter, dass die Zapfen zu klimpern begannen, und schauten dem Treiben unter sich zu. Tyledion schwang das metallene Schwert und fixierte seinen Gegner, der ihn schwer atmend anstarrte. "War das schon alles, Winso?", fragte er den Mischling, der daraufhin seine Mähne schüttelte. "Also dann", Tyledion stürmte auf den Jüngeren zu, der sich in Position gebracht hatte und sein Schwert fest umklammert hielt. Im letzten Moment parierte er den Angriff des Prinzen. Beide standen sie dicht an dicht. Ihre Blicken klebten aneinander - trübe See kämpfte gegen tosendes Meer. Winso drückte gegen Tyledions Schwert, doch der Gegendruck war gewaltig, dass er ins Wanken geriet. Das Schwert rutschte ihm aus der Hand und fiel klirrend zu Boden. Seufzend bückte er sich. Seine Augen sahen auf die Stelle, auf der das Schwert aufgeprallt war. Da gab es keine Einkerbung, keinen Schnitt. Das Eis, aus dem der Winterpalast errichtet wurde, war kein gewöhnliches Eis. Erschaffen von den ersten Königen wurde es durch die unvergleichliche Magie der Hauptfamilie am Leben erhalten, dass es von Generation zu Generation überdauert hatte. Eine Magie, die für den jungen Mischling unerreichbar schien. Die Augen geschlossen vertrieb Winso die finsteren Gedanken. Er nahm das Schwert zur Hand und richtete sich auf. "Du bist unkonzentriert", sagte Tyledion, der seinen Cousin keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, "und das schon seit Wochen. Dich beschäftigt etwas." Winsos Finger hielten krampfhaft das Schwert. Er öffnete die Augen. "Es ist nichts", entgegnete er zwischen zusammengepressten Lippen, "machen wir weiter." Tyledion wusste, dass sein Cousin nicht die Wahrheit sagte. Jedoch war es keine Stärke der Wintererben, über ihre Gefühle zu sprechen, dass er nicht weiter nach hakte. Stattdessen ging er zwei Schritte zurück, hielt das Schwert vor seinem Gesicht und wartete, dass es ihm sein Cousin gleich tat. "Bereit?", fragte der Winterprinz. Winso nickte und beugte sich leicht nach vorne. Dieses Mal wollte er kein so erbärmliches Bild abgeben. Der erste Schlag kam von ihm. Schnell bewegte sich die Klinge auf seinen Gegenüber. Dieser war darauf gewappnet und tat einen Schritt zur Seite. Mit einem Gegenschlag klatschten die Klingen aneinander. Winso biss sich auf die Unterlippe, er drückte gegen Tyledions Schwert und drehte sich. Er hatte solch einen Schwung, dass seine gesamte Kraft von seinen Händen zu dem Griff seines Schwertes floss. Der nächste Schlag verfehlte nur knapp den jungen Prinzen, der seinen Oberkörper nach hinten gebeugt hatte. Tyledions Blicke verfolgten die schnellen Bewegungen der Klinge, die ihn an den Schweif einer Sternschnuppe erinnerte. Dann sah er es in Winsos Augen - dieser kurze Augenblick des Zögerns. Noch in seiner pendelartigen Bewegung gefangen packte sich der Winterprinz die Klinge und schleuderte dessen Besitzer an die nächstgelegene Wand. Es gab einen dumpfen Knall, bevor das Echo vom Raum verschluckt wurde. Winso schüttelte sich. Der Aufprall kam mit voller Wucht, dass er Mühe hatte, wieder auf die Beine zu kommen. "Du hast gezögert", sagte Tyledion trocken und kam langsamen Schrittes auf seinen Cousin zu, "schon wieder." Mit einem versöhnlichen Grinsen erwiderte Winso die Peinlichkeit. "Ich schwöre, es war keine Absicht." "Du weißt, dass du dir bei der Zwischenprüfung keine Fehler erlauben darfst. Sobald du zögerst, werden sie auf dich losgehen. Deine Mitschüler werden keine Gnade zeigen." "Ich weiß", lächelte Winso matt. Er wusste genau, wie die anderen Winterlinge waren. Zwischen all den disziplinierten Rohlingen tanzte er aus der Reihe. "Ich kann sie einfach nicht abstellen", sagte er und blickte auf das Schwert hinab, "meine Schwäche." "Das ist keine Schwäche", erwiderte Tyledion und steckte sein Schwert zurück in die Scheide. "Aber du solltest mir glauben schenken, wenn ich dir sage, dass du mich nicht verletzen kannst." Er zeigte ihm die Innenfläche seiner Hand. "Wir sind im Spiegelsaal - schon vergessen?" Nicht ein Tropfen des dunkelgrünen Lebenssaftes war aus ihm entwichen - nicht einmal ein Kratzer war zurück geblieben. Der junge Mischling kratzte sich an den Kopf und grinste breit. "Ja, ja. Das Eis fängt den Angriff auf und schützt Hiemes' nähesten Erben vor sämtlichen Schaden. Irgendwie will mir das nicht in den Kopf." Tyledion schüttelte den seinen und wandte sich ab: "Wenn du soweit bist-", den Knauf des Schwertes umklammernd hielt er in seinen Bewegungen inne, als hohe, feine Absätze über die Eisplatten schritten. "Wie ich sehe, bist du wieder fleißig am trainieren." Königin Cycla war nur wenige Schritte vor der Eingangstür zum Stehen gekommen. "Du bist früh auf den Beinen, Mutter", entgegnete Tyledion und kam auf die Winterkönigin zugelaufen. Mit drei Küssen auf die Wangen begrüßte er seine Mutter. "Ich wollte dich sehen", sagte sie. Dann wandte sie sich an den Mischling und entgegnete kühl: "Ich will mit meinem Sohn sprechen. Alleine." Winso steckte sein Schwert in die Halterung, verbeugte sich und lief zügig an den beiden vorbei. Kaum war er außer Hörweite, verschränkte Königin Cycla die Arme vor der Brust und drehte den Kopf in die Richtung, in welcher ihr Neffe verschwunden war. "Ich verstehe nicht", sagte sie kopfschüttelnd, "wieso du ausgerechnet mit ihm trainierst. Du musst dich für seine Unfähigkeit nicht verantwortlich fühlen. Das ist Aufgabe der Gelehrten." "Mitnichten, Mutter", erwiderte Tyledion, "eigentlich ist Winso der einzige, mit dem das Kämpfen noch irgendeine Herausforderung darstellt. Er hat zwar keine nennenswerten Winterfähigkeiten - dafür ist er im physischen Nahkampf kaum zu übertreffen." "Nur wird es ihm wenig nützen." "Ich denke, dass sein Talent seinen Zweck erfüllen wird", widersprach er, "irgendwo muss er sich zukünftig einordnen müssen. Und mit dieser Begabung würde er einen fleißigen Waldhüter abgeben. Dafür braucht er keine Wintermagie und kann sich ganz seinen physischen Kräften widmen." Andererseits, dachte Tyledion schon des Öfteren, würde sein Cousin vollkommen von der Außenwelt abgeschottet sein. Waldhüter lebten seit jeher allein in den Winterwäldern. Für ein fröhliches Gemüt wie Winso wäre ein Leben in völliger Einsamkeit einer Bestrafung gleichgesetzt. Leider fiel dem Winterprinzen keine geeignetere Aufgabe ein, in der Winso einen Platz in der winterlichen Gesellschaft erhielte. "Ich merke", sagte Königin Cycla, wobei der Unterton ihrer Stimme etwas Verletztes bekam, "du hast bereits alles durchdacht. Es war mir nie bewusst, dass du dich so ausgiebig mit diesem Thema beschäftigst." "Wir sprechen nicht mehr über Winso?" Wobei diese Frage keiner Antwort bedurfte. "Ich spreche von deiner Aufgabe als zukünftiger König." "Natürlich befasse ich mich damit, Mutter. Es wäre töricht, erst nach dem Duell darüber nachzudenken." "Was soll das heißen?", Zorn lag in ihren Augen, "dass du dich tatsächlich mit deinem Vater um die Krone streiten willst? Du willst mir doch nicht sagen, dass das Gerede des Pöbels der Wahrheit entspricht!" "Ich verstehe deine Verwunderung nicht, Mutter. Ich befolge lediglich die Gesetze unseres Reiches." "Du bist König Asparagos' einziger Sohn", entgegnete sie als wüsste Tyledion nicht um seine Stellung, "du musst dich nicht erst beweisen." "Tut mir leid, Mutter, aber das sehe ich anders. Meine Position ist keine Ausrede, die Traditionen zu brechen. Außerdem glaube ich kaum, dass Vater mir kampflos die Herrschaft überlassen wird." "Wenn die Zeit gekommen ist, wird er keine andere Wahl haben." Mit aufgerissenen Augen sah sie ihn an. "Du willst mir doch nicht sagen, dass du in naher Zukunft beabsichtigst-." Sie konnte ihren Satz nicht beenden. "Bis zur nächsten Wintersonnenwende vergeht noch einige Zeit", sagte schließlich Tyledion. "Das ist nicht dein ernst." Ihre Stimme erhob sich. "Ich würde es nie wagen, darüber zu scherzen", erwiderte er strengen Blickes. "Weißt du denn nicht, was das für dich bedeutet?" Natürlich wusste das ihr Sohn. Cycla schüttelte den Kopf. "Du hast noch so viel Zeit. Niemand steht dir im Weg." "Meine Entscheidung ist gefallen." "Wie kannst du dieses Geschenk, das wir dir gaben, einfach so wegwerfen", ihre Haarspitzen begannen zu gefrieren, "stattdessen willst du dich diesem sinnlosen Kampf stellen." "Du vergisst dabei das Volk. Glaubst du, sie werden einen König akzeptieren, der nicht einmal den Mut hatte, seinen Vater herauszufordern? Wie können sie sich meiner wahren Stärke bewusst sein? Wenn auch nur der kleinste Zweifel besteht - wie stünde unser Reich denn da?" "Niemand zweifelt deine Fähigkeiten an. Sie respektieren ihren zukünftigen Herrscher." "Angst hat nichts mit Respekt zu tun." "Nach allem", fauchte sie. Die Worte galten nicht mehr ihrem Sohn. Dieser hielt sich zurück, wissend, dass er sie nicht weiter in Rage versetzen sollte. Ihre Emotionen drohten auszubrechen. Winterkräfte bahnten sich den Weg durch ihre Augen. Es brauchte einen Augenblick, bis sich die Königin ihrer Gefühle bewusst wurde. Ein tiefer Atemzug genügte und die Kräfte kehrten zurück in ihr Innerstes. Mit einem letzten Hauch verzweifelter Trauer, die ihr Sohn der Sitten wegen zu ignorieren hatte, sprach sie weiter: "Wieso jetzt? Warum kannst du nicht noch etwas warten? Du bist jung, niemand setzt dich unter Druck. Also wieso, Tyledion?" Was hätte er ihr sagen sollen? Dass ihm nichts anderes übrig blieb? Dass er ein Versprechen halten musste? Dass die Wahrheit sie entsetzen würde? Er konnte nichts darauf erwidern, obwohl der tiefe Ausdruck ihrer Augen nach einer Antwort verlangte. Die drückende Stille wurde schließlich durch ein Klopfen und Räuspern unterbrochen. Einer der Wachen hatte sich vor die offene Tür gestellt. "Verzeih' bitte die Störung, mein Prinz", sprach der Winterling mit kratziger Stimme, "ich sollte euch benachrichtigen, sobald die Vorbereitungen abgeschlossen sind. Die Gelehrten warten nur noch auf deine Befehle." "Ich komme sofort", winkte Tyledion die Wache ab, dass dieser nickend davon marschierte. Tyledion wandte sich an seine Mutter: "Ich bedauere", sagte er und nahm ihre Hand zum Kuss entgegen, "dass wir zum ersten Mal nicht einer Meinung sind." "Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen", sagte die Winterkönigin und blieb regungslos stehen, als er ihr den Rücken zukehrte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)