Die Chroniken der Vier Jahreszeiten von Lady_of_D (Winters Passion) ================================================================================ Kapitel 10: Hochsommer I ------------------------ Heiß schien die Sonne über den Wiesen des neutralen Gebietes. Machtvolle Strahlen, die nur darauf gewartet hatten, ihre Fühler auf der Erde auszustrecken. Es war der erste von drei Tagen, an denen der Sommer seine ganze Macht entfalten sollte. Wenn selbst die Natur vor den Strahlen erzitterte, die Wiesen an den letzten Wasserreserven nagten und die Flüsse sich scheu zurückzogen - dann stand der Hochsommer vor der Tür. Und mit ihm auch das nahende Ende der trockenen Zeiten. An diesem Tag saßen die Prinzessin des Sommers und die Zwillingsschwestern des Frühlingsreiches unter den letzten Schatten spendenden Bäumen, deren Blätter wie Schirme über den Köpfen ragten. Neben ihnen sammelten sich die jungen Sommerblüten, die Prinzessin Myosos Beispiel gefolgt waren und andächtig neben ihr Platz genommen hatten. Hochrangige Mitglieder sahen es als ihre Pflicht, die Nähe der königlichen Familie zu ersuchen und ihnen nach möglichem Ermessen treu zu dienen. So sammelten sie sich um die liebliche Sommerprinzessin, kämmten das goldene Haar, das noch heller als die Sonner erstrahlte, sammelten Gräser, die sie Strähne für Strähne einarbeiteten bis ein geflochtener Kranz entstand, der auf dem Haupt wie eine Krone thronte. Zwei weitere Sommerblüten brachten Myosos Gewand in Form; die junge Sommerprinzessin trug ein orangefarbenes Kleid, dessen Spitzen von den Blüten junger Sonnenblumen begleitet wurden, sowie einer weiß-seidenen Schleppe. Obwohl Myoso derartige Annehmlichkeiten beschämten, sagte sie nichts zu ihren treuen Begleiterinnen, die ihr Leben lang darauf vorbereitet worden waren, der Königsfamilie zu dienen. Es wäre einer Beleidigung gleichgesetzt, wenn die Prinzessin ihre Dienerschaft von sämtlichen Aufgaben befreite, ohne einen ersichtlichen Grund zu nennen. Da reichte es nicht aus, bescheiden und rücksichtsvoll zu sein. "Was soll man nur an solch einem Tag machen", sprach Irida und streckte ihre Arme. Dabei ließ sie die linke Hand rotieren, dass ein Luftwirbel entstand und für einen Augenblick ihre Fingerkuppen kühlte. "Ich bin zu nichts zu gebrauchen", stöhnte Iris und fächerte sich mit dem Blatt eines Bananenbaumes Luft zu. Die Frühlingsprinzessinnen litten besonders unter der aufkommenden Mittagssonne. Ihr Innerstes sehnte sich nach dem Regen, den Tautropfen und den feuchten Gräsern unter ihren Füßen. Stattdessen gab es gold-grüne Wiesen, trockene Erde, die von den Reserven des Frühlings zehrte. Dass die Reiche nicht von Dürre heimgesucht wurden, hatten sie einzig dem Bündnis zwischen Sommer und Frühling zu verdanken. Dieses beinhaltete eine Abmachung, in welcher Königin Allilaea zweimal im Sommer ihren Regen heraufbeschwor, während im Gegenzug König Gingko dafür sorgte, dass zu Beginn des Frühlings genug Sonnenschein über die Keimlinge strahlte. Auf die Gesichter der Frühlingsprinzessinnen antwortend schlug Prinzessin Myoso eines ihrer mitgebrachten Bücher auf, dass die Zwillinge gleichzeitig mit den Köpfen schüttelten. "Keine Lehrstunden, meine liebe Sommerprinzessin", sangen sie im Chor und falteten die Hände zum Gebet. "Bitte", Irida neigte ihr Haupt, "schenke uns etwas Erheiterndes-" "Oder Reizvolles", ergänzte ihre Schwester und grinste breit, "erzähle uns eine Geschichte, die wir nicht kennen. Eine von deinen Vettern... vielleicht etwas, das nicht in den Geschichtsbüchern steht." Daraufhin legte Myoso einen Finger ans Kinn und begann zu überlegen: "Was genau schwebt euch vor?" "Nun ja", Irida rückte etwas näher an die Sommerprinzessin, "da wir nicht oft die Gelegenheit haben, unter uns zu sein", dabei schaute sie auf die Frühlingsschar ihres Reiches, die - wie alle Burschen aus den vier Ländern - mit Training beschäftigt waren, "schlage ich vor, wir erzählen uns der Reihe nach Geschichten." "Klatschgeschichten", betonte Iris. "Oder Romanzen", schwärmte Irida und klimperte mit den Augen. "Oder alles auf einmal", sprachen sie im Chor, dass Myoso anfing zu kichern. "Also schön", lachte sie auf, dass ihre Grübchen hervorstachen, "ich denke, ich weiß, wie ich euch zufriedenstellen kann." Damit klappte sie die Lektüre zu und begann zu erzählen: "Es lebte einst ein Sommerkönig. Dieser liebte eine junge Blüte voll unsagbarer Schönheit. Sie war das reinste Geschöpf, welches das Reich je gesehen hatte. Nur war ihr Leuchten schwach und kränklich, dass sie nie einen Erben zeugen würde. Trotz der Widerstände heiratete der König seine Auserwählte. Die Jahre zogen dahin, ohne dass das Königspaar ein Kind gebar. Den Sommerkönig scherte das Gerede seines Volkes nicht, dass er an der Liebe zu seiner Gemahlin festhielt. Der jüngere Bruder des Königs, der um die Sicherheit seiner Heimat bangte, sah schließlich keinen anderen Weg als selbst zu handeln. Eines Tages folgte er der Königin zu den Flüssen, wo sie jeden Morgen frisches Wasser für den Lebensbaum schöpfte. Den Holzpfahl zur Hand stach er ihr in den Rücken, dass sie sogleich zu Boden fiel und zu Mutter Erde zurückkehrte. Erst am Abend wurde das Unglück bekannt. Ein Sommerling fand die welken Dahlienblüten, die einst das Haupt der Königin schmückten und berichtete dem Sommerkönig von der schlimmen Kunde. Dieser verfiel in unsagbare Trauer und schloss sich in seine Gemächer ein. Wochen und Monate vergingen, Blätter fielen von den Bäumen, Schnee bedeckte die Erde und taute mit Beginn des Frühlings wieder auf - doch der Schmerz des Königs wollte nicht heilen. Jeden Sommer reiste er zu den Flüssen und pflanzte eine Dhalie zur Erinnerung an seine Liebste. Der jüngere Bruder beobachtete das Leid des Älteren. Von Schuld und Ängsten geplagt beschwor er den König, sich neu zu vermählen. Nur gab es keine Blüte, die der Herrscher so begehrte wie einst die Königin. Viele weitere Jahre blieb das Reich ohne Königin und ohne Erben, bis der König eines Sommertages eine frische Knolle der Lieblingsblume zu den Flüssen trug und dort eine liebliche Blüte am Ufer knien und Wasser schöpfen sah. Nicht wissend, wer diese Schönheit war, überwältigte ihn ihr strahlendes Leuchten. Eine Dhalienblüte hing ihr in den Haaren. Der König war sich sicher, in ihr die Reinkarnation seiner Liebsten gefunden zu haben und machte sie zu seiner Braut. So feierte das Sommerreich sieben Tage und sieben Nächte. Denn nicht nur der Sommerkönig hatte sich vermählt. Auch sein Bruder heiratete an diesem Tag. Solch ein pompöses Fest hatte es noch nie gegeben. Alle waren glücklich; der König, sein Bruder und das gesamte Sommervolk. Als sich der siebte Tag dem Ende neigte gingen die Bewohner schlafen und die Königsfamilie bereitete sich auf ihre erste Nacht als frisch Vermählte vor. Die Sommererben warteten in den Gemächern auf ihre jeweilige Braut: die Gemahlin des Bruders? Sie lag auf den hiesigen Feldern des Sommerreiches. Der Regen, ein Geschenk des Frühlings, hatte die Sommerblüte trunken gemacht, dass sie des nachts nicht Heim gefunden hatte. Die Gemahlin des Königs kehrte zurück in die königlichen Gemächer. Jedoch waren die Flure so dunkel, dass sie nicht merkte, welches Bett sie bestiegen hatte. War sie nämlich in den Gemächern des Bruders, der nichts von der falschen Braut bemerkte. Am nächsten Morgen entblößte die Sonne den schrecklichen Irrtum. Die Aufregung war groß. Hatten die beiden in jener Hochzeitsnacht eine Knospe hervorgebracht." "Moment, Moment", Iris' und Iridas Hände hatten sich ineinander verhakt, während die Zwillinge ihre Körper nach vorne gebeugt hatten, dass sie nur eine Nasenlänge von Myoso entfernt waren. "Ist das alles?", fragte Irida. "Das kann nicht alles sein", fügte Iris hinzu. Die Schwestern nickten zustimmend: "Das Ende der Geschichte fehlt." Myoso legte die Hände auf den Schoß. "Weitere Überlieferungen gibt es nicht." "Was?!", riefen die Zwillinge im Chor, dass ihre Stimmen bis zu den Winterlingen gelangten, die sich auf die kommende Winterprüfung vorbereiteten. Köpfe schnellten zu dem aufgebrachten Geschnatter. Die Zwillinge selbst ignorierten die empörten Gesichter derjenigen, die sich in ihrer Arbeit gestört fühlten. "Niemals!", beharrte Irida auf ihre eigene Logik, "Myoso, du kannst uns doch nicht so eine Geschichte erzählen und einfach an der spannendsten Stelle aufhören!" "Ja", pflichtete ihr Iris bei, "irgendwo muss doch geschrieben stehen, wie der König reagiert hat." "Oder was aus dem Kind wurde", ergänzte ihre Schwester. Die Sommerprinzessin schüttelte mit dem Kopf. "In den Ahnenbüchern steht nichts geschrieben. Und der Stammbaum der Urväter schreibt von den Erben der Könige, nicht von den Nachkommen der Zweigfamilien", sie sah nach hinten, zur Bibliothek, "so viel ist bekannt, dass dieser besagte Sommerkönig nur einen Sohn hatte-" "Myoso", Iris machte große Augen, "könnte das nicht bedeuten", und Irida fügte hinzu, "dass dieses Kind...aaaah, ich kann es gar nicht aussprechen." Ihre Wangen begannen zu glühen. Die Prinzessinnen des Frühlings fassten sich an die Gesichter und schüttelten voll Scham die Köpfe. "Was für ein Skandal!", riefen sie im Chor, ihre Aufregung kaum unterdrückend. Sie liebten derlei Geschichten - besonders, wenn sie nicht aus den eigenen Reihen stammten. "Nein! Niemals!", aus den Gebüschen lugten die goldenen Haare Malwas hervor. Die Jüngste der drei Königskinder hatte sich aus dem Unterricht gestohlen und war zu den Älteren geschlichen, um ihren interessanten Geschichten zu lauschen anstatt das langweilige Geplänkel der Gelehrten. "Unser Vorfahre ist der König und niemand sonst", ihre Bäckchen begannen wir reife Kirschen aufzuleuchten. "Sag' es ihnen, Schwester." "Malwa", sprach Myoso und wurde sogleich von der Jüngsten unterbrochen. "Das sind doch nur üble Gerüchte. Geschichten, die sich die Erwachsenen zum Spaß erzählen - oder? Du musst doch etwas auf diese Anschuldigung sagen!" Das Wiesenkind ballte die Hände zur Faust und warf giftige Blicke auf die Frühlingsprinzessinnen, welche sich zusammennahmen, die Kleine nicht zu verspotten. Dafür war sie zu überzeugt von dem, was sie sagte - trotz ihres Alters. "Schwesterchen", begann Myoso klar und offen zu reden, "wenn ich dir eine Antwort geben würde, wäre sie eine Lüge." "Aber", murmelte Malwa kleinlaut. Erst jetzt bemerkte sie ihr unziemliches Verhalten. Sie spürte die Blicke von allen Seiten. "Du kannst doch nicht glauben, dass wir gar nicht vom König abstammen. Dann wäre unser Vorfahre nicht nur aus einer Zweigfamilie. Er wäre ein Mörder. Wir wären die Kinder eines Mörders. Wir stammen doch nicht von einem Verräter ab, der die Königin ermordet hat!" Im Kreis sahen sich die jungen Blüten an. Es herrschte verlegenes Schweigen unter den Sommerlingen. Selbst die Frühlingsprinzessinnen hielten sich zurück. Die Stimme der jüngsten Königstochter war über dem ganzen Feld zu hören gewesen. Die Schüler des Herbstreiches taten so als hätten sie nicht zugehört. Etwas weiter hinter ihnen drehten Frühlingsvertreter ihre Köpfe weg von der Gruppe. Und die Winterlinge, die mit Lernen statt mit Kampfübungen beschäftigt waren, hielten in ihren Studien inne, ohne ihre Augen von diesen abzuwenden. Nur Prinzessin Myoso erhob sich und kam auf ihre Schwester zu. Noch nie hatte sie so ernst mit der Jüngsten gesprochen: "Viele unserer Vorfahren waren Mörder und Verräter. Sie haben vielleicht nicht ihren eigenen Bruder verraten oder die Königin ermordet, aber sie waren dabei als grausame Schlachten geschlagen wurden. Sinnlose Kämpfe, bei denen auf allen Seiten Verluste beklagt wurden. Das ist unsere Geschichte, Malwa. Daran können wir nichts ändern." Obwohl sie leise sprach, hörte jeder Myosos Stimme, die ihnen wie ein Flüstern in die Ohren wehte. "Schwester", sie kniete sich vor die Jüngere und klemmte eine lose Strähne hinter ihr Ohr, "wir können nicht bestimmen, worin unsere Wurzeln liegen. Wir können lediglich entscheiden, mit wem wir sie künftig verbinden wollen. Die Zukunft ist entscheidender als die Vergangenheit. Lass' Kummer und Gram nicht die Gegenwart bestimmen." "Aber", Malwa senkte den Kopf, "ist dann unser Stammbaum bloß eine Lüge?" "Ach, kleine Sommerprinzessin", winkte Iris ab und setzte ein versöhnliches Lächeln auf, "jeder Stammbaum wurde von unseren Vorfahren nachgebessert." "Ja", bestätigte Irida, "selbst in unserem Reich wird das unsittliche Verhalten unserer Urväter einfach ausradiert. Das wird für alle anderen Reiche auch gelten." Aus dem Augenwinkel beäugte sie die Winterlinge. Malwa befriedigte die Antwort nicht. In ihr arbeitete es unentwegt. Die vielen Heldentaten und großartigen Leistungen, die ihr Volk in den Jahrhunderten geleistet hatten - waren sie am Ende nichts weiter als eine große Lüge? Die mahnende Stimme des Sommergelehrten hinderte sie daran, weiter zu grübeln. Dieser entschuldigte sich bei der Ältesten für die Störung, schnappte sich das Sommerkind bei den Zöpfen und zog es zurück in die Lerngruppe. Myoso sah ihrer Schwester hinterher. "Nimm' es nicht so schwer, Prinzessin", sprach eine Sommerblüte und lächelte sanft, "Prinzessin Malwa ist noch jung und wird es irgendwann verstehen." "Vielleicht", hauchte Myoso und setzte sich zurück zu den anderen. Sie wusste, dass nicht jeder mit der Zeit verstand. Gab es Sommerlinge, die nie an der Vollkommenheit ihres Reiches zweifelten. "Ach, einmal wieder Wiesenkind sein", seufzte Irida. "Als ob du wieder auf den Wiesen springen und Scidellos dabei zusehen willst, wie er den Schnee von den Gräsern wischt", kicherte ihre Zwillingsschwester, "du kannst es doch kaum erwarten, dass dich Mama in den Kreis der jungen Blüten aufnimmt." "Du bist doch genauso scharf drauf. Oder wie war das auf dem Sommersonnenwendenfest? Warst du nicht ganz verzückt von dem Win-" "Sei still", boxte Iris ihr in die Seite. Verlegen blickte sie zu Boden und murmelte: "Ich hab nur gesagt, dass ich ihn süß finde." Ihre Schwester begann zu kichern. Die jungen Sommerblüten taten es ihr gleich. "Ihr seid alle gemein", rümpfte Iris die Nase, bevor sie nicht anders konnte als selbst zu schmunzeln. "Das liegt bestimmt an der Hitze", Irida wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. Die Hitze näherte sich ihrem Höhepunkt, die Sonne stand kurz vor ihrem Zenit - die Mittagszeit brach heran. Die jungen Sommerburschen schritten auf den Übungsplatz - angeführt von ihrem Gelehrten und Lathyrus, der den angehenden Soldaten letzte Anweisungen erteilte. Sie waren die einzigen, die sich der Macht der Sonne entgegen stellten. Alle anderen hatten sich in den Schutz der Bäume begeben. Alle? Ein kleiner dunkler Fleck inmitten des Feldes stand regungslos auf der Stelle. Unfähig sich zu bewegen, stand er hilflos seinem grausamen Schicksal gegenüber. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)