Freunde mit gewissen Vorzügen von Maginisha ================================================================================ Kapitel 5: ----------- Piep. Piep. Piep. 'Was für ein nerviges Geräusch.' Piep. Piep. Piep. 'Was zur Hölle ist das?' Piep. Piep. Piep. 'Oh man, geh weg. Lass mich schlafen!' Piep. Piep. Piep. Endlich drang es in Yojis Gehirn vor, dass das enervierende Geräusch sein Wecker war. An einem Sonntagmorgen! Seine Hand tastete sich aus der Decke heraus, suchte nach der quälenden Geräuschquelle und schubste sie versehentlich vom Nachtisch. Jetzt quäkte das blöde Ding eine Etage tiefer weiter und er kam nicht heran. Mit einem Grunzen schob er sich ein Stück weiter in Richtung Bettrand, seine langen Finger glitten suchend über den Boden. Jeans, Socke, Unterhose (zu einem unordentlichen Knäuel zusammen geknüllt) Flasche, Schuh, noch eine Socke, aber kein Wecker. Es piepte weiter und weiter und...verstummte plötzlich. 'Wenn ich gewusste hätte, dass er irgendwann aufgibt, hätte ich mich auch einfach umdrehen und mich totstellen können.' Yoji rollte herum und ließ sich rückwärts in das Kissen sinken. Warum genau hatte er den Wecker überhaupt gestellt? War Montag? Immerhin hatte er Samstagnacht eine Mission gehabt, da war es ungeschriebenes Gesetz, dass er Sonntag freihatte. Alle anderen nutzten diese Vereinbarung auch. Alle außer Aya. Aya! Verdammt, sie waren verabredet. Um zehn Uhr morgens. Mitten in der Nacht quasi. Allerdings hatte Yoji sicherheitshalber der Uhrzeit zugestimmt und dafür darauf bestanden, dass er aussuchen durfte, wo sie sich trafen. Ihm schwebte ein bestimmtes Café vor. Die umgebaute Lagerhalle am Hafen, deren obere Etage ein rustikales Ambiente zwischen Beton und Stahlträgern hatte, wurde oft genug von Nachtschwärmern als letzte Anlaufstelle vor dem Heimweg genutzt. Später am Morgen war nicht mehr so viel los, man hatte seine Ruhe und konnte sich unterhalten, während die Bedienungen die Runde machten und Kaffee nachschenkten, so oft man wollte. Manchmal blieb er, wenn die Müdigkeit es erlaubte, noch so lange, bis diese besondere Art von Ruhe eintrat. Keine beängstigende Stille, sondern eine befriedende Ruhe, die schwer zu beschreiben war. Sonne, die durch hohe Fenster schien, Staub, der in der Luft tanzte, leise Gespräche und der Geruch nach guten Essen und warmem Kaffee in der Luft. Sie bot gleichzeitig Freiheit und Geborgenheit und damit hoffentlich einen guten Hintergrund für das Gespräch, dass er mit Aya führen wollte. Wenn der es zuließ, verstand sich. Aber hatte Aya nicht zugestimmt, dass sie sich unterhalten mussten? Also half es nichts, er musste sich aus dem Bett erheben und duschen gehen. Obwohl...einmal noch umdrehen. Nur ganz kurz. Mit quietschenden Reifen schlidderte der Seven um die Ecke und kam genau vor dem Koneko zum Stehen. Am Straßenrand eine einsame Gestalt, die jetzt, da Yoji aus dem Wagen stolperte, bedeutsam auf die Uhr sah. „Du bist zu spät“, stellte Aya fest. Yoji fuhr sich durch die noch nassen Haare, bemühte sich, wenigstens einen Knopf seines kurzärmeligen Hemdes zu schließen, verfehlte das richtige Knopfloch und stand als schiefes Bild des Jammers vor dem anderen Mann. „Tut mir leid, hab verschlafen“, murmelte er. Normalerweise nahm er so was ja auf die leichte Schulter, aber heute war ihm das irgendwie peinlich. „Willst du einsteigen?“ Ayas linke Augenbraue wanderte ein Stück weit nach oben. Er antwortete nicht, ging an Yoji vorbei und sprang auf den Beifahrersitz, ohne die Tür zu öffnen. Yoji grinste. Ok, er war noch im Geschäft. Er ahmte Ayas Geste nach und streifte den Sicherheitsgurt über. „Dann mal los.“ Die Fahrt verlief in völligem Schweigen. Wie viel anders es doch war als gestern Abend. Da war Yoji angespannt gewesen, konzentriert und gleichzeitig waren seine Gedanken im Dreieck gesprungen. Aya hatte wirklich Recht damit, sauer auf ihn zu sein. Er konnte vielleicht zwei Jobs nebeneinander machen, aber drei bekam er nicht auf die Reihe. Erst einmal musste er das Rätsel namens Aya lösen, wenn er sich wieder auf den Rest konzentrieren wollte. Wobei es Rätsel nicht so ganz treffend beschrieb. Gordischer Knoten erschien ihm passender. Das Café war schon sehr leer. Es würde gegen Mittag schließen und erst gegen Abend wieder öffnen. Trotzdem wies ihnen die Bedienung freundlich einen Tisch zu. Yoji sah flüchtig auf die Uhr und verfluchte einmal mehr, dass er verschlafen hatte. Sie hatten kaum mehr als eine halbe Stunde bis zum offiziellen Torschluss. Trotzdem zwang er sich zur Ruhe, atmete tief durch und versuchte, die Atmosphäre in sich aufzunehmen. Er lehnte er sich zurück, nahm einen Schluck aus der weißen Tasse in seinen Händen und sah Aya erwartungsvoll an. Aya reagierte nicht. Er wandte den Kopf ab und sah aus dem Fenster. Yoji beobachtete, wie das Sonnenlicht die roten Haare seines Gegenübers in Flammen setzten, der blassen Haut einen warmen Schimmer verliehen. Es ließ Aya lebendig wirken, seine Gesichtszüge weicher, jünger. Yoji spürte eine winzige Sehnsucht, dieses Licht zu erhalten. Den Moment festzuhalten und die Wärme, die darin lag. Unbewusst lehnte er sich vor, legte die Arme auf den Tisch, die Hände flach auf die Resopalplatte. In dem Moment, als seine Finger die unsichtbare Mittellinie des Tischs überschritten, ruckte Ayas Kopf zu ihm herum. Die violetten Augen taxierten ihn. Yoji nahm langsam die Hände wieder auf seine Seite und stützte sich auf die Ellenbogen, das Kinn in den Händen verborgen. Er hatte eine Grenze überschritten, den ersten Stein geworfen. Nun musste er warten, was weiter geschah. „Du warst in meinem Zimmer.“ Es war eine Feststellung, keine Frage, also wartete Yoji ab. Aya wollte reden, dann sollte er das tun. Manchmal war es einfacher, gar nichts zu sagen. Irgendwann fingen die Leute nach Yojis Erfahrung, von selber an zu reden. Er hatte zwar nicht erwartet, dass diese Methode auch bei Aya wirkte, aber sie tat es. „Hast du was Interessantes gefunden?“ Ah, eine Frage jetzt. Yoji war somit gezwungen zu antworten. Er setzte ein breites Grinsen auf und hörte sich selber sagen: „Abgesehen davon, dass du einen furchtbaren Musikgeschmack hast, keine Unterwäsche trägst und anscheinend nackt schläfst, meinst du?“ Was als Nächstes geschah, ließ Yoji fast an seiner Sinneswahrnehmung zweifeln. Er blinzelte und sah noch einmal genauer hin, aber es war ohne Zweifel ersichtlich. Um Ayas Nase hatte sich ein hauchzarter Rotschimmer gebildet. Hatte Yoji mit seiner albernen Bemerkung, die sein Mund schneller ausgespuckt hatte, als sein Gehirn ihn hatte davon abhalten können, etwa ins Schwarze getroffen? Aber welche davon stimmte? Unwillkürlich ließ er seinen Blick tiefer wandern und verharrte an der Tischkante. „Lass das“, fauchte Aya. Der Rotton vertiefte sich nicht. Also war es wohl das andere. Aya schlief nackt? Yojis Grinsen wurde noch breiter. Er biss sich schnell auf die Innenseite der Wange. Das war nicht förderlich. Er hatte vorgehabt, Aya nach dem Briefumschlag zu fragen, doch jetzt fand er sich hier und tat...was eigentlich genau? Wenn Aya eine Frau gewesen wäre, hätte er gesagt, dass er gerade ziemlich plump und hemmungslos flirtete. Verdammte, große Klappe. Er atmete tief durch. Er musste dringend zurück zum Thema kommen. „33“, schleuderte er Aya auf den Tisch. „Erzähl mir davon.“ Ayas Augen wurden groß. Der plötzliche Themenwechsel hatte ihn aus der Bahn geworfen. „Es...du hast...ihn gefunden?“ Yoji verzogen einen Mundwinkel zu einem herablassenden Lächeln. „Ich war Profi-Schnüffler, schon vergessen? Dein lächerliches Geheimfach kannst du vielleicht vor jemand anderen verstecken, aber nicht vor mir. Ich hab zwei Minuten gebraucht, um es zu finden.“ „Wann?“ Unglaube zeichnete sich auf Ayas Zügen ab. „Als du duschen warst nach der Aktion mit dem Dünger. Glaubst du, ich bin dir die ganzen Wochen einfach aus Langeweile auf die Eier gegangen?“ Aya schwieg. Seine Finger spielten mit dem unbenutzten Löffel vor ihm. Nebenbei registrierte Yoji, dass er noch nichts getrunken hatte. Trank Aya überhaupt Kaffee? Yoji hatte nicht gefragt. Es ging ihm auf, dass er wirklich wenig über den Mann wusste. Er winkte einer Bedienung und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Kurz darauf stellte die junge Frau eine Tasse Tee vor Aya auf den Tisch. Der sah auf und blickte erstaunt zu Yoji. „Siehst du“, sagte der und tippte sich gegen die Nase. „Ich kann gut beobachten. Außerdem sehe ich, dass du etwas auf dem Herzen hast. Mag ja sein, dass du eine unglaubliche Selbstkontrolle hast, aber ich glaube nicht, dass es gesund ist, wenn du so was die ganze Zeit mit dir rumschleppst. Also entweder rückst du jetzt mit der Sprache raus oder wir schweigen uns noch eine Weile an und gehen dann wieder nach Hause. Ich für meinen Teil würde lieber hören, was es mit dem Umschlag auf sich hat. Geht es um deine Schwester?“ Aya drehte sie Tasse in seinen Händen. Er sah aus dem Fenster und wieder zurück in die Tasse. Als Yoji schon fast glaubte, dass er niemals anfangen würde zu reden, sagte er ganz leise: „Jahre.“ „Was?“ Yoji glaubte zuerst, sich verhört zu haben. „33 Jahre. Der Zeitraum, den ich als ungelernte Kraft auf dem Bau arbeiten müsste, um das Geld zusammen zu kriegen, damit ich meine Schwester in ein anderes Krankenhaus verlegen lassen könnte, um sie dort bis an ihr Lebensende versorgen zu lassen.“ „Aber...“ Yojis Mund blieb offenstehen. „Woher willst du das wissen? Da gibt es so viele Variablen.“ „Ich habe die ungünstigsten zusammen gerechnet und das kam dabei heraus.“ Yoji nahm einen Schluck Kaffee. Das Getränk schmeckte bitter und er hätte sich liebend gerne eine Zigarette angezündet. „Warum bleibst du nicht einfach bei Weiß?“ Die Frage war Yoji entschlüpft, bevor er sie zurückhalten konnte. Aya hatte damals nicht viel darüber gesprochen, warum er zurückgekommen war, nachdem Omi die Gruppe wieder ins Leben gerufen hatte. Yoji hatte vage Vermutungen über seine Gründe gehabt, aber bei dem Sturkopf wusste man ja nie so genau, woran man war. Aya presste die Lippen zusammen. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch kann. Ich...ich habe den Unfall meiner Schwester und den Tod meiner Eltern gerächt. Takatori ist tot. Jetzt bleibt mir nur noch...“ Er machte eine hilflose Geste, sah wieder aus dem Fenster. Yoji sah ebenfalls hinaus. Er kannte das Loch, in dem Aya steckte, sehr gut. Er war oft genug selbst hineingefallen. Aber anders als Aya hatte er sich wieder aufgerappelt, hatte Hilfe angenommen, hatte sich anderen anvertraut, hatte Trost und Zuflucht gefunden, auch wenn dieser oft nur flüchtig gewesen war. Eine Krücke, um wieder auf die Füße zu kommen. Und er hatte etwas, für das es sich zurückzukehren lohnte. Aya hatte das offensichtlich nicht. Oder besser, er sah es nicht. Vielleicht brauchte es jemandem, der es ihm zeigte. Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen. Fast hätte er gelacht, weil so etwas Profanes wie dieses tiefe Knurren ihn aus seinen trübsinnigen Gedanken holte. Allerdings war es auch etwas, mit dem Yoji etwas anfangen konnte. Ein Problem, das er lösen konnte. „Du brauchst was zu essen“, stellte Yoji fest. Aya sah ihn erstaunt an. „Dein Magen. Er hat geknurrt. Du musst was essen. Komm mit.“ Yoji stand auf und sah über die Schulter zurück. Aya saß immer noch an seinen Platz. Yoji seufzte, drehte sich um und stemmte die Hände in die Hüften. „Muss ich dich jetzt über meine Schulter werfen und tragen oder kommst du freiwillig mit?“ Langsam stemmte sich Aya vom Tisch hoch und stellte sich vor Yoji. „Zufrieden?“ „Nein, erst wenn du mitkommst.“ „Wohin?“ „Wirst du schon sehen.“ Yoji drehte Aya den Rücken zu und schlenderte los in Richtung Küche. Er war sich sicher, dass Aya ihm dieses Mal folgen würde. Tatsächlich hörte er hinter sich die Schritte des andere Mannes. Er lächelte leicht. Ganz vielleicht hatte er ja auch dessen neugierige Seite ein wenig reizen können. Vielleicht war es aber auch nur die Angst, dass Yoji ihn tatsächlich wortwörtlich auf den Arm nehmen würde. Sie kamen an der Doppeltür an, die zum Küchenbereich führte. Yoji winkte einer Bedienung und wies mit dem Zeigefinger auf die Tür. Er zog fragend die Augenbrauen nach oben. Die junge Frau lachte und nickte. Man kannte ihn hier. Er hatte schon oft den Morgen nach einer durchzechten Nacht hier verbracht und dass er manchmal noch Hunger hatte, wenn die Küche eigentlich schon geschlossen hatte, war bisher nie ein Problem gewesen. Als er Ayas zweifelndes Gesicht sah, nahm er den anderen kurzerhand bei der Hand und zog ihn in die Küche. Drinnen war es ähnlich ruhig wie im Gastraum. Eine Bedienung zählte ihre Bons, einer der Küchenhelfer räumte einen Geschirrspüler aus und ordnete die Gerätschaften für den nächsten Tag. Kein Vergleich mit der betriebsamen Atmosphäre, die noch vor kurzem hier geherrscht haben musste und deren Echos noch zwischen den Küchenzeilen umherwehte. Yoji lotste Aya mit sich zu einem mittelgroßen Mann, der an einem großen Brett stand und Gemüse in kleine Würfel schnitt. „Masao-San“, grüßte Yoji und schlug dem Mann auf die Schulter. „Mein Mann der Stunde. Ich brauche deine Hilfe.“ „Yoji!“ Der Mann drehte sich lachend herum und wischte sich die Hände an seiner Schürze ab. „Du weißt, ich habe bereits alles weggeräumt“, jammerte er gespielt verzweifelt. „Hat dich die Damenwelt wieder so lange in Atem gehalten, dass du einen alten Mann von seinem Feierabend abhalten musst?“ „Nein, dieses Mal war ich mit einem Kollegen verabredet. Aber du kennst mich, ich habe verschlafen. Nun hat der Arme meinetwegen nichts zu essen bekommen. Komm, erweiche dein steinernes Herz und mach ihm noch etwas. Bitte. Für mich.“ Der Koch warf einen Blick auf Aya und seine Augen blitzten auf. „Ich sehe, es ist ein Notfall. Na los, setzt euch hinten an einen Tisch. Ich zauber euch noch was.“ Yoji grinste Aya triumphierend an und schob in Richtung eines kleinen Raums, in dem die Küchenarbeiter sonst ihre Pause verbrachten. Hier war es unordentlicher und ein wenig schmuddeliger als im Restaurant. Essensdüfte vergangener Tage schwebten noch in der Luft, alte Zeitschriften lagen herum. Yoji ließ sich auf einen der billigen Stühle fallen und legte die langen Beinen auf einen zweiten Sitz. Aya stand immer noch in der Tür. „Was tun wir hier?“ „Essen.“ „Aber...“ „Setz dich, sonst wird er sauer.“ Yoji komplementierte Aya auf einen Stuhl und drehte seine eigene Sitzgelegenheit herum, sodass seine Beine nun rechts und links der Lehne herunter baumelten. Nur zwei Minuten später kam Masao mit einem Teller herein. Darauf lag ein frisches Omelette, aus dem kleine, bunte Gemüsepunkte herausspitzten. Er stellte den Teller vor Aya und drückte ihm ein Paar Stäbchen in die Hand. „Iss. Du siehst aus, als könntest du es brauchen.“ Aya starrte auf das Besteck, dann auf den Teller, dann auf Yoji. Der zwinkerte ihm zu und stützte das Kinn auf die Fäuste. Er konnte sehen, wie Aya überlegte. Der Duft des Omelettes begann den kleinen Raum auf appetitliche Weise zu füllen. Ein erneutes Magenknurren gab schließlich den Ausschlag. Aya begann zu essen. Schweigend sah Yoji ihm zu, obwohl er wusste, dass das extrem unhöflich war. Er merkte auch, dass es Aya unangenehm war, aber er musste trotzdem weiter hinsehen. Er wusste nicht warum, aber irgendwie hatte der Anblick auf ihn eine sehr befriedigende Wirkung. Aya zwang sich weiter ruhig zu atmen. Einen Bissen nehmen, kauen, schlucken. Eigentlich ganz einfach, wenn da nicht Yoji gewesen wäre, der ihn beobachtete und sich aus unerfindlichen Gründen freute wie ein Schneekönig. Warum, das entzog sich Ayas Verständnis. Vielleicht, weil er Aya dazu gebracht hatte, sein Geheimnis auszuplaudern. Etwas, das ihn nach Ayas Meinung absolut nichts anging. Er brauchte kein Verständnis, keine Hilfe, kein Mitleid. Ein kurzer Blick bestätigte ihm, dass Yoji ihn immer noch beobachtete. Der Mann war wie ein Mückenstich. Je mehr man versuchte, ihn zu ignorieren, desto mehr wollte man kratzen. Und wenn man dann kratzte, war man erst recht geliefert. Egal was man tat, es wurde schlimmer und schlimmer. Man verfing sich in einem Spinnennetz, aus dem es kein Entkommen gab. Er gab es nur ungern zu, aber er hatte sich verheddert und das sehr gründlich. Bis zu diesem einen Abend vor ein paar Wochen war Yoji nur ein Kollege gewesen; jemand, mit dem er zusammen arbeitete und den er ansonsten nicht weiter beachtete. Inzwischen aber geisterte sein Bild so oft durch Ayas Gedanken, dass es ihn schon aufregte, wenn er darüber nachdachte. Das Absurdeste war, dass er besonders oft an ihn denken musste, wenn er nicht anwesend war. Arbeiteten sie zusammen im Laden, fand Aya eine eigenartige Befriedigung darin, ihn zu ignorieren, wohl wissend, dass das den anderen unglaublich nervte. War er aber allein, fühlte er sich dieser Tätigkeit auf unangenehme Weise beraubt. Vermutlich wurde er inzwischen verrückt. „Schmeckt´s?“ Aya atmete tief ein und nahm einen neuen Bissen. War ja klar, dass Yoji nicht einfach die Klappe halten konnte. Tat er ja nie. Was wollte er denn jetzt noch? Dass sich Aya bei ihm bedankte? Da konnte er lange warten. Ungläubig sah Aya, wie sich plötzlich eine Hand in sein Blickfeld mogelte, ein Stück Omelette schnappte und in Yojis Mund beförderte. Genüsslich kauend grinste der andere ihn an. „Lass das. Das ist meins“, grollte Aya. „Tja, so ist das manchmal“, sinnierte Yoji. „Erst will man es nicht haben, aber wenn man es dann wieder hergeben soll, ist es einem auch nicht recht.“ Er leckte sich langsam die Finger ab und sah Aya dabei direkt in die Augen. In Ayas Magen begann es zu kribbeln. Sein Atem beschleunigte sich. Er merkte, dass sein Mund offenstand. Das musste total dämlich aussehen. Schnell presste er die Kiefer aufeinander und legte mit einer entschiedenen Geste die Stäbchen beiseite. „Ich bin satt. Wenn du den Rest möchtest?“ Yoji schüttelte den Kopf. „Ich will lieber eine rauchen. Kommst du mit?“ Aya wurde sich bewusst, dass er im Grunde keine Wahl hatte. Natürlich hätte er mit dem Bus zurückfahren können, aber er wusste nicht einmal wirklich, wo sie waren. Die Vorsicht, die er normalerweise neuen Orten und Menschen gegenüber an den Tag legte, war ihm irgendwie abhanden gekommen. Er war in Yojis Bugwelle mitgeschwommen und hatte sich einlullen lassen von dem trügerischen Gefühl von Sicherheit. Ärger stieg in ihm auf. Yoji schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Nur ein kleiner Spaziergang am Wasser. Danach bringe ich dich zurück.“ Aya dachte kurz nach. Es war den Aufwand im Grunde nicht wert. Zumal ihm die Aussicht auf eine unter Umständen recht lange Busfahrt mit unzähligen, fremden Menschen auch nicht behagte. So nickte er nur knapp und folgte Yoji. Der Koch winkte ihnen nach, als Yoji ihm noch einen Dank zurief. Aya schwieg, sein Blick auf Yojis Füße gerichtet. Er fühlte sich wie ein Fremdkörper in dieser Welt, die nicht seine war. Draußen wurde es etwas besser. Ein frischer Wind trieb den Geruch des Wassers von ihnen weg. Einige Seevögel kreisten über ihren Köpfen. Yoji steckte sich eine Zigarette an und atmete tief ein. Es fiel Aya auf, das er drinnen nicht geraucht hatte, obwohl das nicht verboten war. Hatte er etwa auf ihn Rücksicht genommen? Schnell schob Aya den unliebsamen Gedanken als unwahrscheinlich beiseite. Warum sollte Yoji das tun? Es ergab keinen Sinn. Aber was ergab schon Sinn bei diesem Chaos auf zwei Beinen? Ein Chaos, das ihn jetzt dämlich angrinste, die Zigarette zwischen den Lippen, die langen Haare vom Wind ins Gesicht geweht, die Daumen lässig in die Hosentaschen der engen Jeans gesteckt. Aya spürte, wie sich seine Mundwinkel ein bisschen bewegten. Fast hätte er ungläubig nach seinem Gesicht getastet. Hatte er etwa gerade gelächelt? Eilig setzte er wieder eine verschlossene Miene auf und ging los an Yoji vorbei auf die Hafenkante zu. Es war ihm egal, ob Yoji ihm folgte. Er brauchte jetzt gerade Raum. Viel Raum. Der Blick auf das Wasser mit der Skyline im Hintergrund genügte seinen Ansprüchen nicht annähernd. Am liebsten wäre er gerannt. Da war so viel in seinem Kopf, was nicht zusammenpasste. Was ihn störte, bei seiner Arbeit und seinen Aufgaben behinderte. Und entschieden zu viel davon hatte mit Yoji zu tun. Schritte kamen näher und holten zu ihm auf. Yoji schnaufte ein wenig. „Du musst wohl immer die Sportskanone raushängen lassen, was? Ach nein, das ist ja Ken. Vielleicht den gefühllosen Assasinen-Schwertkämpfer?“ Da war er ja wieder, der Mückenstich. Aya gab lieber gleich auf. Schweigen würde ihn ohnehin nicht weiter bringen. „Gefühle sind in einem Kampf nur von Nachteil. Sie behindern dein Urteilsvermögen und machen dich langsam“, belehrte er Yoji. Der blies die Backen auf und schnaubte. „Also ich mag meine Gefühle. Sie lassen mich mehr wie einen Menschen und weniger wie einen Eisschrank wirken. Solltest du auch mal probieren.“ Aya blieb stehen und funkelte ihn an. „Was? Was sollte ich probieren?“ „Na leben. Gefühle haben. Spaß haben. Du hast mal gesagt, dass du den Namen deiner Schwester angenommen hast, um an ihrer Stelle weiter zu leben. Ich sage dir, das ist Bullshit. Deine Schwester hat, wenn du es so machst, ein ziemlich armseliges Leben.“ Bevor Aya wusste, was er tat, hatte er die Hand zur Faust geballt und damit auf Yojis Nase gezielt. Es knirschte, als er traf, und Sekunden später schoss das Blut aus Yojis Nasenlöchern. „Oh Scheiße!“, jaulte der auf und beugte sich vor, damit die rote Suppe auf den Asphalt statt auf seine Hosen tropfte. Er spuckte aus, nestelte ein Taschentuch hervor und grinste Aya von unten her schief an. „Den hab ich wohl verdient. Aber ernsthaft, du solltest mehr Spaß haben.“ Aya antwortete nicht. Er hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, was Yoji unter Spaß verstand, und er war sich ziemlich sicher, dass das nicht sein Ding war. „Wenn das wieder verheilt ist, gehen wir beide mal aus“, bestimmte Yoji und begann sich, das Taschentuch in die Nasenlöcher zu stopfen. Aya antwortete nicht. Er überlegte, ob das in seinen Ohren wie eine Drohung oder wie ein Versprechen klang. Vermutlich ein bisschen von beidem. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)