Freunde mit gewissen Vorzügen von Maginisha ================================================================================ Kapitel 11: ------------ Yoji beugte sich neugierig über Ayas Schulter, der gerade konzentriert an einem Gesteck arbeitete, und flüsterte ganz nah an seinem Ohr. „Was machst du da?“ Aya schrak zusammen und starrte ihn wütend an. „Verdammt, ich arbeite! Solltest du zur Abwechslung auch mal versuchen.“ Yoji gluckste amüsiert. „Aber ich arbeite doch.“ Gut, vielleicht nicht unbedingt in dem Sinne, wie der andere es meinte, aber Yoji arbeitete wirklich hart daran, Aya davon zu überzeugen, dass er es ohne ihn nicht aushalten konnte. Wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab, so wie jetzt gerade, wo sie alleine im Laden waren, weil Ken und Omi etwas im Gewächshaus zu erledigen hatten, pirschte er sich unauffällig an Aya heran und brachte ihre Körper näher zusammen, als dem andere augenscheinlich angenehm war. Natürlich durfte er es nicht übertreiben, aber ein versehentliches Streifen hier, eine flüchtige Berührung dort. Er konnte sehen, dass er Aya zusehends verunsicherte, sein Widerstand schwächer wurde. Wann immer er konnte, fauchte Aya ihn an, schubste ihn beiseite oder schaffte sich sonst irgendwie körperlichen Freiraum. Aber Yoji wart hartnäckig und Aya trotz all der Bissigkeit und dem kühlen Gebaren nicht aus Eis. Und in seltenen, sehr seltenen Momenten wie jetzt gerade, befreite er sich nicht aus der Gefangennahme und ließ einen kurzen Augenblick der Nähe zu, nicht ahnend, dass er dadurch das Feuer nur noch weiter anfachte.   Yojis Betrachtungen wurden durch das Läuten der Türglocke unterbrochen. Schnell trat er zurück und verschwand unter dem Tresen. Sollte Aya sich doch um den Kunden kümmern. Er selbst hatte zu viel damit zu tun, sich seinen nächsten Schachzug auszudenken. Er wurde allerdings schnell wieder auf die Bildfläche gezogen, als Aya den Eingetretenen beziehungsweise die Eingetretene begrüßte. „Manx“, nickte Aya und wischte sich die Hände an der Schürze ab. „Eine neue Mission?“ Die Frau nickte. „Ja. Hol bitte die anderen.“ Yoji trat schnell hinter dem Tresen hervor und setzte ein breites Lächeln auf. Es gefror, als er den Ausdruck auf Manx' Gesicht sah. Sie war blass, hatte Augenringe und augenscheinlich zu wenig geschlafen. „Alles in Ordnung, Manx?“ Sie setzte ein kleines, falsches Lächeln auf. „Natürlich, Balinese. Alles weitere unten.“ Sie ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei und verschwand in Richtung Missionsraum. Das gefiel ihm nicht. Manx war nicht der Typ für Sentimentalitäten und wenn das, was sie ihnen mitgebracht hatte, sie so mitnahm, musste es etwas Ernstes sein.   Als sie alle versammelt waren, legte Manx mit steinerner Miene die Mappe auf den Tisch, die sie mitgebracht hatte. „Was ist das, Manx?“, fragte Omi. „Euer neuer Fall. Eine Serie von Morden. Es gibt bisher keinerlei Hinweise auf die Täter.“ „Warum kommt ihr dann damit zu uns?“, ließ sich Aya vernehmen. „Wenn es keine Zielperson gibt, können wir nichts tun.“ Manx verzog spöttisch den Mund. „Ich wusste ja nicht, dass ich es hier mit einer Bande hilfloser kleiner Jungs zu tun habe, die sich nicht einmal selbst die Nase putzen können. Wenn ihr die Mission nicht wollt, werden wir jemanden finden, der es kann.“ „Kein Grund, in Streit zu geraten“, versuchte Omi die Lage zu beruhigen. „Warum zeigt du uns nicht, was du hast? Dann entscheiden wir weiter.“ Manx nickte und öffnete die Mappe. Yoji sah, dass ihre Finger leicht zitterten. Sie holte Fotos heraus und ließ sie auf den Tisch fallen. Omi nahm sie und begann, die Bilder durchzusehen. Seine Miene wurde mit jedem Bild finsterer. „Das ist grausam“, sagte er. „Jemand hat diese Menschen total verstümmelt. Und doch...“ Er drehte eines der Bilder und schüttelte den Kopf. „Es sieht nicht so aus, als wäre große Gewalteinwirkung im Spiel gewesen. Die Schnitte sind alle präzise und sauber ausgeführt.“ „Die Opfer waren gefesselt“, erklärte Manx. „Wir fanden sie angebunden an Tische, Bänke, Stühle. Einer hing sogar an einer Wand. Sie sind alle durch den Blutverlust gestorben.“ „Trotzdem...irgendetwas ist seltsam daran.“ Ken trat nun ebenfalls hinzu, nahm Omi die Bilder ab und sah sie durch. Sein Gesicht zeigte Abscheu. „Es gibt gar keine Hinweise auf den Täter?“ „Keine. Wir sind nicht einmal sicher, wie er oder sie seine Opfer auswählt. Außer das sie alle aus einer Gegend stammen. Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie das zusammenhängt. Sie alle wohnten in ähnlichen Wohnungen, fuhren mit dem gleichen Bus, kauften in den gleichen Läden ein...“ Manx' Stimme wurde leiser, verstummte erstickt. Yoji trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. Normalerweise wehrte sie sich sofort diese gegen diese zutrauliche Geste, doch heute ließ sie den Arm, wo er war. „Manx, was ist mit dir?“ Omis Gesicht war nun ernsthaft besorgt. Manx atmete tief ein und straffte die Schultern, wobei sie Yojis Arm nun doch abschüttelte. „Nun ja, auch Kritiker Agenten müssen irgendwo wohnen, nicht wahr? Auch sie haben Nachbarn, Freunde, die nette Dame von der Supermarktkasse, die ihnen hilft, wenn sie einmal den Geldbeutel vergessen haben.“ Yoji verstand plötzlich. „Sie war eines der Opfer?“ Manx nickte. Ken ballte die Faust und hieb auf den Tisch. „Ich bin dabei.“ „Wir alle sind es“, versicherte Omi. „Wo ist das Zielgebiet?“ Manx breitete eine Karte aus, auf der ein Stadtteil markiert war. „Ihr müsst sehr vorsichtig sein. Wie gesagt, der Täter oder die Täterin geht äußerst geschickt vor. Wie können nicht einmal ausschließen, dass es sich um mehrere Ziele handelt. Außerdem überwacht die Polizei das Gebiet. Sollte sie einen von euch erwischen, ständet ihr automatisch als Verdächtige da. Ihr wisst, dass Kritiker euch in dem Fall nicht mehr helfen kann und wird. Werdet ihr gefasst, war das euer letzter Fehler.“   Trotz dieser Ankündigung stand Entschlossenheit auf ihren Gesichtern. Dieses Risiko gingen sie bei allen Missionen ein. Nur dieses Mal war es etwas Persönliches. Jemand bedrohte Manx' Sicherheit und sie war Teil des Teams. Jeder von ihnen würde sein Bestes geben, um das zu verhindern. „Wir werden sie kriegen, Manx. Das versprechen wir dir.“ Manx Mund verzog sich ob Omis zuversichtlichen Versprechens zu einem kleinen Lächeln. „Ich lege mein vollstes Vertrauen in Weiß. Schnappt euch diese Bestie und bringt sie zur Strecke.“           Die dunkle Gestalt mit dem langen Mantel verharrte auf dem Dach des mehrstöckigen Wohnhauses und beobachtete, wie erneut ein Polizeiwagen vorbeifuhr. Die Scheinwerfer tauchten die Straße in helles Licht und hinterließen nur umso dunklere Schatten. Schatten in denen das Böse und das Gute lauerten. Ein Geräusch in seinem Ohr ließ ihn aufhorchen „Bombay hier. Ich bin den Polizisten entkommen. Haltet euch lieber vom Boden fern.“ Es knackte erneut. „Siberian hier. Der Park wird von einer Hundestaffel durchsucht. Ziehe mich zurück.“ Er wartete. Als nichts weiter zu hören war, drückte er selbst den Sendeknopf. „Abyssinian hier. Keine verdächtigen Bewegungen zwischen den Wohnblocks. Wechsele den Standort.“ Am Rand des Dachs sah er noch einmal nach unten. Eine Gasse, Mülltonnen, ein großer Papiercontainer. Viele Möglichkeiten, um sich zu verstecken, keine, um Opfer zu finden. Sie vergeudeten ihre Zeit. Sein Blick wanderte nach oben. Auf dem Dach gegenüber glaubte er, eine Bewegung ausmachen zu können. Er legte erneut die Hand an das Headset. „Balinese, wo bist du?“ Er erhielt keine Antwort. Verdammter Idiot.   Die Bewegung auf dem Dach wiederholte sich. Vielleicht nur eine Täuschung, aber vielleicht auch mehr. Er maß den Abstand zwischen den Gebäuden mit einem schnellen Blick. Mit genügend Anlauf müsste er es schaffen und würde wertvolle Zeit sparen. Er kletterte auf die Mauer, die das Dach umgab, ging ein paar Schritte zurück, lief dann an und sprang kurz vor dem Rand des Daches ab. Im letzten Moment rutschte sein Fuß weg, nahm ihm wichtigen Schwung und ließ den Sprung zu einem schlecht kontrollierten Fall werden. Statt des anvisierten Daches raste jetzt die rote Backsteinmauer auf ihn zu. Er reagierte blitzschnell, schwang das Schwert herum, um es als Anker zu benutzen, als sich etwas um sein Handgelenk wickelte. Ein scharfer Schmerz, als ein Ruck nach oben erfolgte, der ihn aus der Flugbahn warf und statt frontal nun seitlich gegen die Mauer prallen ließ. Der harte Stoß prellte ihm die Waffe aus der Hand, die klirrend in der Tiefe verschwand. Er sah nach oben und identifizierte sofort, was ihn vor dem Sturz gerettet hatte. Der Draht schnitt in die empfindliche Haut gerade unterhalb seines Handschuhs. „Rauf oder runter?“, hörte er Balineses Stimme von oben fragen. „Runter“, knurrte er. „Du hast mein Katana fallen lassen.“ „Oh Entschuldigung, dass ich dir gerade deinen Arsch gerettet habe“, war die unfreundliche Antwort und der Draht verlor schneller an Spannung, als er gedacht hatte. Er kam unsanft auf der Straße auf, rollte sich ab und landete zwischen zwei Mülltonnen, die mit lautem Geschepper umfielen. Er fluchte, befreite sich von dem Draht, schnappte sein Katana vom Boden und wollte gerade zum Eingang der Gasse laufen, als dort die ersten Ausläufer eines Lichtkegels erschienen. Eine weitere Streife und er stand mitten in der Sichtlinie. Schnell duckte er sich hinter den Container und drückte sich rücklings gegen das kalte Metall. Der Geruch von Abfall und feuchtem Papier stieg ihm in die Nase.   Der Wagen hielt, Autotüren klappten, das Licht zweier Taschenlampen irrte über die Wände. „Hast du auch was gehört?“, fragte einer der Polizisten. „Ja, da war was. Soll ich die Zentrale verständigen?“ „Nein, nachher ist es doch wieder nur eine streunende Katze. Wir sehen erst mal selber nach.“ Der Schein der Lampen kam näher, irrte über Boden und Wände. Abyssinan suchte die Gasse nach einer Fluchtmöglichkeit ab. Es gab zwei Türen, die jeweils in eines der Wohnhäuser führten. Vermutlich waren beide abgeschlossen und vor allem im Sichtfeld der Polizisten. Er packte das Katana fester und entschuldigte sich im Geiste bei den beiden Unschuldigen, die er im Begriff war, anzugreifen und vielleicht sogar zu töten, wenn es sein musste. Die Polizisten waren jetzt bis auf einen halben Meter heran, er zählte von drei runter und... „Hey! Sucht ihr wen?“ Balineses Stimme hallte von den Wänden wieder. „Bleiben Sie stehen und nehmen Sie die Hände hoch“, rief einer der Polizisten. Sie richteten Taschenlampen und Waffen auf den Eingang der Gasse. „Sorry, Jungs, aber ich habe noch eine Verabredung. Wenn ihr mitkommen wollt, müsst ihr euch beeilen.“ „Bleiben Sie sofort stehen!“, wiederholte der Polizist und spannte den Hahn seiner Pistole. Abyssinian ging in die Knie, bereit zum Sprung. „Mist, er haut ab. Los hinterher.“ Die Waffe senkte sich, die Polizisten verfielen in Laufschritt, um Balinese zu folgen. Abyssinian wartete noch, bis ihre Schritte verhallt waren, dann verließ er die Gasse eilig in umgekehrter Richtung. Ein Stück weiter die Straße entlang betätigte er erneut den Sprechknopf. „Balinese wird verfolgt. Die Hauptstraße runter in südlicher Richtung.“ Es knackte und Bombays Stimme erklang. „Sollen wir ihm helfen? Ich bin in der Nähe.“ „Negativ. Wir haben bereits zu viel Aufmerksamkeit erregt. Wir brechen für heute Nacht ab. Abyssinian over und out.“   Er blieb stehen und sah noch einmal die Straße hinunter. Natürlich würde er ihm nicht folgen. Balinese kam alleine klar. Er hatte sich ja auch selbst in diese Situation gebracht und sich nicht an die Anweisungen gehalten. Abyssinian hatte nicht um seine Hilfe gebeten. Sollte der Idiot doch sehen, wie er da wieder rauskam. Er war schließlich nicht seine Mutter. Er... „Ach fuck!“, fluchte Abyssinian und machte sich auf den Weg, um seinem Teamkollegen zu folgen. Er konnte nur hoffen, dass er ihn fand, bevor es die Polizisten taten.         Seine Lungen wehrten sich massiv gegen die Belastung, die er ihnen zumutete. Vielleicht sollte er doch anfangen, weniger zu rauchen. Die Polizisten, die ihn verfolgten, rauchten unter Garantie nicht. Sie hatten die Ausdauer von Marathonläufern und noch dazu Verstärkung von zwei weiteren Uniformierten bekommen. Normalerweise war es für ihn kein Problem, Wachleute auszuschalten, die das Pech hatten, sich zur falschen Zeit am falschen Ort zu befinden. Er verbuchte sie unter der Kategorie Gegner und war durch mit der Sache. Aber das hier waren Gesetzeshüter. Leute, denen er eigentlich helfen sollte. Er hatte Hemmungen, sie einfach umzubringen. Irgendwo musste eine Grenze sein. Schritte halten hinter ihm durch die Nacht, der Schein der Taschenlampen geisterte durch die Dunkelheit, die ihn nur unzureichend verbarg. Er brauchte dringend ein Versteck. Zu seiner linken tauchte ein verlassenes Kaufhaus auf. Er lief daran vorbei und bog in die Gasse ein, in der er sich einen Hintereingang versprach. Ja, da war er. Eilig fischte er das Etui mit den Dietrichen hervor, wählte einen passenden aus und öffnete die Tür binnen weniger Augenblicke. Trotzdem hörte er bereits die näher kommenden Schritte. Er schlüpfte in die staubige Finsternis hinter der Tür und schloss sie leise wieder. Drinnen lauschte er und atmete erleichtert auf, als die Schritte seinen Standort passierten und sich weiter die Straße hinab bewegten. Mit viel Glück würden sie nicht zurückkommen. Er würde eine Weile hier abwarten und sich dann zurück zu seinem Auto begeben.   Yojis Hand wanderte zu seinem Ohr und entfernte das nutzlose Headset. Es war der Grund, warum er sich Abyssinian überhaupt genähert hatte, obwohl abgesprochen war, dass jeder von ihnen die Gegend alleine durchkämmte. Dummerweise war er nicht mehr dazu gekommen, seinem Teamkollegen das mitzuteilen. Die Ereignisse hatten sich irgendwie überschlagen. Aber das tat jetzt nichts zur Sache. Er würde hier schon rauskommen.   Um ihn herum war nichts, als undurchdringliche Dunkelheit. Vermutlich ein Lagerraum. Er konnte zwar hier bleiben, aber falls die Polizisten doch zurückkamen, war es sicherer, seinen Aufenthaltsort zu verlagern. Er tastete sich an der Wand entlang, bis er auf eine Tür stieß. Sie war zu seinem Glück offen, so schlüpfte er hindurch und fand sich dem veränderten Hall nach zu urteilen in einem Flur wieder. Auch hier gab es kein Licht, sodass er sich weiter vortastete, bis er eine weitere Tür fand. Dahinter befand sich ein Verkaufsraum. Durch die blind gewordenen Fenster kam genug Licht, um sich zu orientieren.   Vor ihm lag eine große, offene Verkaufsfläche, die nur ab und an von runden, die Decke abstützenden Säulen unterbrochen wurde. Unrat und Staub bedeckten den Boden, ein umgeworfener Kleiderständer und einige unvollständige Schaufensterpuppen waren zu einem grotesken Gebilde zusammen gelehnt worden. Wahrscheinlich waren Jugendliche hier eingebrochen und hatten eine Party gefeiert. Der Anblick der kopf- und gliedmaßenlosen Puppen jagte ihm trotzdem einen Schauer über den Rücken und er beschloss, dass er hier nicht bleiben wollte. In der Mitte des Raums gab es eine Rolltreppe, die in den ersten Stock führte. Er betrat die metallenen Stufen und folgte ihnen nach oben. Das helle Echo seiner Schritte hallte durch die Räume und ließ sie nur umso leerer wirken.     Obwohl es nicht sein konnte, hatte er das Gefühl, dass sich die Staubkonzentration in der Luft hier oben noch verdichtete. Er schmeckte es förmlich auf seiner Zunge. Die Luft kratzte beim Einatmen. Aber vielleicht brauchte er auch einfach nur eine Zigarette. Er versicherte sich, dass er sich weit genug von den wenigen Fenstern entfernt befand, und zündete sich eine an. Der Rauch vertrieb die Staubgespenster und die imaginäre Wärme der kleinen, brennenden Spitze die klamme Kälte. Wahrscheinlich war irgendwo ein Fenster kaputt und ließ die Nachtluft herein. Tagsüber war die Frühlingssonne schon angenehm warm, aber nachts überzog manchmal noch Eis die Scheiben. Er wickelte sich fester in seinen Mantel und ließ sich an einer Wand neben einem Stapel aufgeplatzter Kartons zu Boden sinken. Den Kopf gegen den kalten Beton gelehnt nahm er erneut einen Zug. Wie lange würde er wohl hierbleiben müssen? Er versuchte im Dunkeln die Uhrzeit zu erkennen, aber es war hoffnungslos. Wenn sie nicht seine Waffe gewesen wäre, hätte er die Uhr vermutlich schon längst gegen ein neueres Modell mit Beleuchtung ausgetauscht. Er inhalierte noch einen Zug und schloss für einen Moment die Augen. Es war beinahe friedlich hier drinnen, wenn man einmal von der Kälte und dem stetigen Tropfen von Wasser absah, das er jetzt von irgendwo vernahm. War das Geräusch gerade eben schon da gewesen?   Er öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit. Misstrauisch irrte sein Blick durch den Raum, konnte jedoch nichts Auffälliges erkennen. Das düstere Grau verwandelte alles in formlose Schatten. Zumal diese Etage, so weit er es hatte erkennen können, mehr oder weniger leer gewesen war. Trotzdem hatte er plötzlich das untrügliche Gefühl, nicht allein zu sein. Da waren huschende Geräusche, leises Tappen, unterdrücktes Atmen. Er spürte, wie sich die Haare an seinen Unterarmen aufrichteten. Mit einer bedächtigen Bewegung drückte er die Zigarette aus und stand auf. Von wo kam sein Gegner? Die Akustik des großen Raums richtete sich mit einem Male gegen ihn, spielte ihm Streiche, ließ ihn Dinge hören, wo keine waren. Die dicken Säulen gaben dem Feind Deckung, der sich unaufhaltsam heranpirschte. Etwas klirrte. Metall stieß gegen Stein. Sein Kopf ruckte in die Richtung herum und sah nur nahtloses Grau. Es legte sich auf seine Sinne, seine Augen und Ohren, wickelte sich wie ein Leichentuch um Nase und Mund und machte das Atmen schwer. Blind trat er ein, zwei Schritte vor. Die Hände ausgestreckt, um den Feind abzufangen, wenn er sich zeigte. Fast wünschte er den Augenblick herbei, da der andere endlich den ersten Angriff wagte.   Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herum fahren. Etwas quiekte. Im grauen Licht huschte ein dunkler Schatten mit einem langen Schwanz an der Wand entlang und verschwand hinter den Kartons, neben denen er gesessen hatte. Er atmete auf. Nur eine Ratte. Eine verdammte Ratte. Er lachte trocken, doch das Lachen blieb ihm plötzlich im Halse stecken, als er merkte, dass jemand hinter ihm stand. Völlig geräuschlos hatte sich der Jäger angepirscht und ihn in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit erwischt. Seine rechte Hand glitt zu seiner Uhr, fasste das Ende des Drahtes, zog es langsam heraus. „Ich habe dich erwartet“, sagte er und wirbelte herum. Seine Hände fassten nur leere Luft, als der andere sich duckte und ihn mit seinem Körper gegen die Wand rammte. Sein Kopf wurde durch die Wucht des Aufpralls gegen den Beton geschleudert, er fühlte einen dumpfen Schmerz. Die Welt schien sich mit einem Mal in Zeitlupe zu bewegen. Er griff nach dem Körper vor ihm, wollte ihn, von sich wegdrücken, spürte rauen Stoff und nackte Haut. Eine Hand legte sich über sein Gesicht, zog es vor und schlug seinen Kopf noch einmal mit voller Wucht nach hinten. Ihm wurde übel. Eine Faust schloss sich wie eine eiserne Klammer um sein rechtes Handgelenk, drückte es gegen die Wand. Er stöhnte, wollte sich wehren, aber seine Sicht war verschwommen, sein Blick unscharf, die helle Gestalt vor ihm ein verwischter Schatten. Er spürte etwas Feuchtes an seiner Wange, fühlte heißen Atem über sein Gesicht waschen. Jemand lachte. „Eins“, sagte eine heisere Stimme und ein alles betäubender Schmerz raste durch seine Hand. Eine scharfe Klinge bohrte sich durch die Handfläche bis in die Wand und nagelte ihn dort fest. Er schrie, hörte sich selbst schreien und wieder das Lachen seines Gegners. Ein helles, irres Lachen wie von einem Wahnsinnigen.   Plötzlich hörte er einen Schrei, eine dunkle Stimme, die etwas rief, dessen Sinn ihm sich durch den Nebel des Schmerzes nicht erschließen wollte. Sein Gegner ließ von ihm ab, zischte und fauchte. Schritte, das Scharren von Metall auf Stein, Funken sprühten, als eine Klinge den Betonboden traf statt des anvisierten Körpers. Schweres Atmen und das Klirren einer Fensterscheibe, die zerbrach. Eine zweite Stimme, die etwas rief. Ein einzelnes Wort, das keinen Sinn ergab. Durch die Tränen in seinen Augen sah er, wie sein Gegner sich umdrehte und der Stimme folgte. Zuerst langsam und widerwillig, dann folgsam wie ein zurückgerufener Hund. Die Schritte entfernten sich, verdoppelten sich und verhallten in der grauen Dunkelheit. Er war allein mit seinem Retter, den er nun endlich erkannte. „A...Abyssinian.“ Seine Stimme war brüchig, sein Kopf immer noch benebelt von dem harten Schlag gegen den Kopf. „Verdammt, Balinese. Was sollte das? Ich suche dich schon die ganze Zeit. Warum hast du nicht geantwortet?“ „Headset kaputt“, murmelte er. Seine Beine drohten unter ihm wegzusacken, nur der scharfe Schmerz in seiner Handfläche ließ ihn sich zusammenreißen. Er war immer noch an die Wand genagelt wie ein verdammter Käfer. Mit Mühe unterdrückte er ein erneutes Stöhnen. „Hilf mir mal“, bat er und deutete auf die Klinge. Abyssinian fasste das Messer. „Das wird wehtun.“ „Tut es schon“, lachte er heiser und bereute den Witz nur Sekunden später, als ein neuer Schmerzimplus durch seinen gesamten Arm raste und ihm schwarz vor Augen wurde. Er fiel auf die Knie und keuchte. Eine Übelkeitswelle schwappte in ihm hoch. Er schluckte die aufsteigende Magensäure wieder hinunter. Das fehlte noch, dass er sich jetzt hier übergab. „Komm, wir müssen hier weg.“ Abyssinian griff ihm unter den unverletzten Arm und zog ihn hoch. Gemeinsam schafften sie es aus dem Kaufhaus bis zur Straße. Die kalte Nachtluft klärte seinen Kopf etwas und ließ ihn freier atmen. „Was...wer war das?“ Der anderen schüttelte nur den Kopf. „Besprechen wir später. Die Polizei ist immer noch in Aufregung und wer immer es da drinnen auf dich abgesehen hatte, kann noch nicht weit sein. Los, komm mit. Wir fahren zusammen.“ „Ist das nicht gegen die Regeln?“, grinste er und erntete einen finsteren Blick. „Alles klar, blöder Witz. Mit der Hand kann ich eh nicht lenken. Also los, wo steht dein Auto.“       Während sie zurück zum Porsche gingen, folgten ihnen interessierte Blicke. „Sieh an“, sagte die eine Person auf dem Dach des Kaufhauses. „Wen haben wir denn da? Wusstest du, dass sie es sind?“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Dann würde ich sagen, das Spiel ist eröffnet. Mal sehen, welche Zug sie als Nächstes machen.“     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)