Schlussgetaumel von Aprikose ================================================================================ Kapitel 1: Schlussgetaumel -------------------------- Neugierig pickte ein schwarzer Vogel ein Stück Fleisch aus dem Bauch einer am Boden liegenden Gestalt. »Hau ab!«, rief die junge Frau sofort und scheuchte die Krähe von sich. Lange, dünne Gliedmaßen streckten sich aus ihrem von Fäulnis übersäten Oberkörper heraus, während sich die blaue, ledrige Haut angestrengt über die baren Knochen zerrte. Eher wie ein Flickenteppich denn wie ein Mensch wirkte die sich nun aufrichtende Statur und humpelte kraftlos und unkontrolliert ein paar Schritte durch den Wald. Ungeduldig flatterte der Vogel wieder zum Mädchen zurück, das einen Arm ausstreckte und ihn darauf landen ließ. »Du bist wohl hungrig«, flüsterte sie ihm mit einer gluckernden Stimme entgegen. »Aber ich muss noch etwas erledigen. Leider war ich zu unvorsichtig, und jetzt … Naja, möchtest du mir nicht bei meiner Aufgabe helfen?!« Der Vogel ließ ein Krähen ertönen, dann zwickte er nach einem ihrer dürren Finger. »Hey!«, rief sie empört, schüttelte das Tier ab und setzte streng hinzu: »Noch nicht, kleines Freundchen!« Währenddessen stakste sie durch das unebene Dickicht und ließ die Krähe mit lauten Rufen in die Baumkronen fliegen. »Komm bald wieder«, gurgelte sie und mied sorgfältig die Sonnenstrahlen, die stellenweise auf den Waldboden fielen. Inmitten des Vogelgezwitschers stolperte sie ungelenkig voran und suchte mit ihren milchigen Augen aufmerksam die Umgebung ab. Irgendwann stieß sie auf einen breiten Waldweg, dem sie zu folgen entschloss. Je weiter sie lief, desto lauter erklangen die Rufe über ihr, denn mittlerweile zog ein ganzer Schwarm Krähen seine Kreise im Himmel und sie spürte die hungrigen Blicke der Vögel in ihrem Nacken. »Was zum …«, keuchte unvermittelt eine kindliche, schreckerfüllte Stimme aus unmittelbarer Nähe. »Du bist ein Zombiemädchen!«, schrie ihr ein Junge, dessen Alter vielleicht zehn Jahre betrug, vom Wegesrand aus entgegen. Indes stolperte er einen Schritt zurück und kramte hastig in seiner breiten Tasche. Die faulende Gestalt grinste ihn an und baumelte mit erhobenen Armen auf ihn zu. »Halt!«, schrie er und zog einen kleinen Stoffbeutel hervor, »Ah, endlich, das Salz!« Aus dem Mund des Zombies blubberte ein lautes aber undeutliches »Kein Salz, bitte!« hervor und sie blieb stehen. »Was machst du hier draußen?«, fragte sie erbost. »Es ist gefährlich. Geh lieber nach Hause.« Der Junge hielt inne und blickte sie misstrauisch an, während das Mädchen streng zurückschaute. »Ich bin auf dem Weg nach Hause«, antwortete er dann schuldbewusst. »Und was machst du? Wie heißt du? Zombies sollten eigentlich willenlos umhergeistern und Menschen essen!« »Das tun nur die unhöflichen«, gab sie zurück. »Ich muss eine Aufgabe erledigen. Ich bin Abenteurerin und auf der Suche nach etwas sehr Wichtigem.« »Du meinst einen Schatz?! Bin dabei! Ich heiße Sun«, rief der Junge aufgeregt und lachte laut. Er schwang seinen dicken Rucksack hinter sich und lief weiter an der Seite der humpelnden Gestalt. Sein Blick glitt über ihre ramponierte, zerfetzte Kleidung, vorbei an den mittlerweile zu großen Teilen ausgefallenen Haaren, den tiefen Augenhöhlen und den fehlenden Stücken Fleischs in ihrem bläulich-grünen Körper. »Ich habe noch nie einen Zombie so nahe gesehen!«, stellte Sun erstaunt fest. »Dafür, dass du einer bist, siehst du allerdings echt gut aus!« Sie rollte genervt mit den Augen. »Zu Lebzeiten habe ich definitiv bessere Komplimente gehört.« »Wie lange bist du denn schon ein Zombie? Was für einen Schatz suchst du? Und warum flattern so viele Krähen über unseren Köpfen?« »Man stellt fremden Menschen nicht so viele Fragen, Sun«, tadelte ihn das Zombiemädchen. Dann bemerkte sie, wie er mit einem Stock in ihrer Hüfte herumstocherte, sodass ein Stück Fleisch hinabplatschte. Verärgert bückte sie sich und stopfte es zurück. »Fass mich doch nicht an!« »Hab' ich gar nicht! Ist alles an dir herausnehmbar?!«, fragte er mit naiver Stimme weiter und grinste das faulende Wesen fasziniert an. Zur Verdeutlichung schlug sie sich auf den Hinterkopf, fing das herausfallende Auge auf und hielt es ihm hin. Angewidert suchte Sun Abstand. Die Krähen über ihren Köpfen zogen langsam immer engere Kreise, während sich die zwei unterhielten und den Waldpfad beschritten. Regelmäßig schaute sich das Mädchen um und blickte aufmerksam in die Ferne, zeigte gelegentlich auch eine besorgte Mimik.  »Sind hier noch andere Zombies?« »Ja, hier überall. Der Wald ist verseucht«, antwortete sie. »Heißt das, sie könnten kommen und uns holen?«, fragte Sun ein wenig verunsichert und blickte sich unruhig um. Seine Begleiterin zeigte nach oben. »Zombies haben Angst vor Krähen. Die fressen sie nämlich auf! Und das, ohne um Erlaubnis zu bitten.« »Aber dich nicht?« »Ich denke doch. Vermutlich warten sie, bis ich umfalle!«, lachte sie klackernd und man hörte, wie dabei Teile ihrer Kehle herumpurzelten. »Keine Sorge, holde Zombiedame! Ich werde Euch beschützen!« Sun zog ein kleines Holzschwert aus seinem Gürtel, rannte damit umher und begann von Schätzen zu singen. Die Untote beobachtete ihn lächelnd, studierte seine hellblauen Augen, die blasse, dünne Haut und sein fröhliches Gesicht. Schließlich verdeutlichte seine Mimik, dass ihm wieder ein Gedanke gekommen war. »Sag, wie wird man zum Zombie?«, fragte er und äffte stümpferhaft ihre Bewegungsart nach. »Oh, da gibt es verschiedene Wege. Wenn ein Zombie versucht, dich zum Mittag zu verspeisen zum Beispiel. Das schickt sich aber nicht. Oder wenn sie dich küssen. Das schickt sich schon eher.« »Und wie war das bei dir?« »Naja«, flüsterte sie und schaute Sun vielsagend an, »einer von ihnen hat ein Auge auf mich geworfen!« »Ich bin gerne kein Zombie«, verlautbarte Sun, ohne den Witz zu begreifen. »Es ist schön, dass du mich nicht mit Augen bewirfst. Du bist wirklich nett für eine Halbtote.« »Achja?! Du bist nicht besonders nett für einen Menschen!«, rief sie zurück, offenbar verärgert. »Immer diese Vorurteile. Lass dich nicht von so etwas leiten, hörst du!?« Er nickte schüchtern. Sie liefen eine lange Zeit nebeneinander her, während die Untote die Fragen des Kindes in großzügiger Weise beantwortete und ihm Lebenstipps gab. »Sei nie frech zu deiner Mutter«, belehrte sie ihn eingehend, »Du solltest sie respektieren. Und steck alle Kraft in deine Ziele. Nur so kannst du in deinem Leben irgendetwas erreichen. Ein starker Wille kann dir dabei helfen, sogar den schwersten Zeiten entgegenzutreten. Vielleicht gelingt dir dann sogar etwas, das man bis dahin für unmöglich hielt.« »Uff … du klingst wie eine alte Lehrerin«, gähnte Sun. »Macht dich eigentlich etwas traurig?« Ein Anflug von Wehmut huschte über das Gesicht des faulen Mädchens. »Ich finde, du solltest gut zuhören, was ich zu sagen habe!«, sagte sie, um davon abzulenken. »Du wirst dich sicher nicht so bald wieder mit einem Zombiemädchen unterhalten können.« »Ja …«, stimmte er ihr halb zu, doch der Anflug Widerspruch erklang bereits in seiner Stimme. »Höre ich da etwa Schuldbewusstsein?!«, rief sie scharf und sah ihm direkt in die Augen. Er druckste um ihren Blick herum. »Ich bin schon viel zu lange von Zuhause weg, tagelang!«, erklärte er kleinlaut. »Hoffentlich sucht nicht schon jemand nach mir. Ich kriege bestimmt Ärger! Und es wird dunkel.« »Das stimmt«, verlautbarte die Untote streng. »Du solltest schnell nach Hause. Ich kann meinen Kram ohnehin nicht abschließen, solange du da bist! Sag, wieso bist du nicht schon früher zurückgekehrt?« Er blickte auf den Boden. »Ich war wütend. Meine Schwester … sie ist oft mürrisch und weiß vieles besser. Das hat mich geärgert, wir haben uns gestritten. Ich denke, ich werde mich gleich entschuldigen. Wir sind schon fast da«, erklärte Sun elanvoll. »Zufällig sind wir die ganze Zeit in Richtung Zuhause gelaufen. Ist der Schatz etwa bei uns im Dorf?!«, rief er aufgeregt. Mit der Zeit verkleinerten sich die Schritte des Mädchens zusehens. Die Krähen riefen ihnen nun fast ins Ohr, während sich die verbleibende Kraft stetig aus den dürren Gliedmaßen kämpfte. Der Wald lichtete sich immer weiter, bis sie ihn hinter sich ließen. Der Himmel färbte sich orange. Schließlich begegneten sie einer weiten, verhügelten Wiese. »Mein Zuhause ist nicht mehr weit. Da hinten, zwischen den beiden Bergen dort. Man sieht es noch nicht, aber gleich.« Seine Begleiterin lächelte matt und nickte. »Ist gut, weißt du, ich muss jetzt hier abbiegen. Ich würde furchtbar gerne mitkommen, aber ein Zombie ist vermutlich kein sehr willkommener Gast bei einem Familienessen.« Sun nickte verständnisvoll. »Das ist okay. Ich würde gerne deinen Schatz sehen, aber ich muss wirklich zurück. Ich bekomme sicher Ärger.« »Okay, gib gut acht auf dich und pass auf deine Familie auf, ja?« »Natürlich! Ich werde meiner großen Schwester sagen, dass ich ein tolles Zombiemädchen getroffen habe, von dem sie sich ruhig mal eine Scheibe abschneiden könnte. Also, falls sie meine Entschuldigung annimmt, meine ich.« Sie lachte. »Sie wird dir nicht mehr böse sein, versprochen. Und jetzt, lauf!« Das tat er und winkte ihr aus der Ferne zu. Bald schon flatterten die Vögel zu hunderten um sie herum, als würde sie in einer ruhelosen schwarzen Wolke sitzen. »Danke«, gluckerte sie ihnen zu. »Mutter hätte mir nie verziehen, wäre ihm etwas Ernstes zugestoßen. Ein Glück hat er mich nicht erkannt.« Kaum hatte sie diese Worte geflüstert, brach sie zusammen. Sie schluchzte schwer - die ganze Zeit hatte sie sich gezwungen, die Fassung zu bewahren, bis jetzt. Eine Krähe setzte sich auf ihre Schulter, woraufhin sie ihr einen Finger anbot. »Ich bitte euch, lasst nichts von mir übrig.« Sie ließ sich auf den Rücken fallen und starrte mit schmerzerfülltem Gesicht in das schwarze Federmeer. »Nun macht schon. Ihr dürft jetzt.« Sie lächelte den Krähen ausatmend entgegen. Nach ein paar Sekunden mischten sich Angst und Erleichterung in ihren Ausdruck. Dann stürzten sich die Vögel auf sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)