Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 1: neue Seiten ---------------------- Victor platzte mit mehr vorgetäuschtem als echtem Elan in das Büro des Motus-Bosses hinein, in einer Hand ein Würstchen, in das er gerade biss. Aber er blieb wie angewurzelt in der Tür stehen, als er direkt in den Lauf einer Pistole schaute. Seine übliche, vorlaute Begrüßung blieb ihm ebenfalls im Hals stecken. Vladislav saß hinter dem Schreibtisch, die Knarre im Anschlag. Als er Victor erkannte, lächelte er. „Hey, komm rein. prochodi“, meinte er und winkte seinen Vize näher. Erst dabei kam das herausgezogene Magazin zum Vorschein. Vladislav wartete die Kanone wohl gerade. „W-Was wird das?“, fragte Victor etwas stockend zurück. Auch wenn die Pistole gar nicht geladen war, steckte ihm doch immer noch der Schreck in den Knochen. Den Boss bewaffnet zu sehen, gab ihm ein unwohles Gefühl. „Nichts, was dir Sorgen machen müsste. Ich bin nur gerade auf der Suche nach einer Waffe, die mir gefällt.“ „Willst du jemanden erschießen?“ „Wenn sich´s ergibt!? ... Nun setz dich schon, Mann. Steh nicht so dumm da in der Tür rum, das macht mich hibbelig.“ Mit einem Nicken schloss der Gestaltwandler die Tür hinter sich und ließ sich auf der gegenüberliegenden Seite von Vladislavs Schreibtisch nieder. Und biss wieder in sein Würstchen, das er nun endlich aufessen wollte. „Du hast dich in den letzten Tagen rar gemacht, Victor. Was ist los?“, wollte der Boss wissen und zerlegte dabei seine Waffe weiter in Einzelteile, um sich alles genau anzusehen. „Ja, tut mir leid. Ich hab einen langjährigen Freund verloren. Das hat mich ein bisschen aus der Bahn gehauen. Ich wäre dir zu nichts nütze gewesen, in diesem Zustand. Darum hab ich mich mal ein paar Tage aus allem rausgenommen.“ „Ehrlich? Ich hätte nicht gedacht, daß dich mal was aus der Bahn hauen könnte. Bisher bist du noch mit allem irgendwie fertig geworden. ... Du hast Freunde?“ „Jetzt nicht mehr. Er war der einzige. Und eigentlich ... hatte ich den Kontakt zu ihm auch schon seit geraumer Zeit abgebrochen. Ich wollte nicht, daß er irgendwas von der Motus mitkriegt.“ Er machte eine kurze, sentimentale Pause. „Naja, aber gemocht habe ich ihn deswegen ja trotzdem noch. Sein Tod war mir nicht gleichgültig.“ Vladislav beäugte ihn verstehend. Er wusste, wie es war, nahestehende Leute zu verlieren und was das bewirkte. Er selbst hatte seinen Sohn verloren. Das war der Grund, warum sie heute alle hier waren. „Und bist du jetzt wieder okay?“ Der Vize nickte. „Ja, es geht wieder. Sonst wäre ich nicht hergekommen. Also, warum hast du mich gerufen?“ „Wir haben Arbeit“, meinte Vladislav humorvoll und zeigte vielsagend seine Pistole hoch. Oder was davon noch in einem Stück war. „Ich gehe nach Japan, einen seltsamen Fall unter die Lupe nehmen. Und du kommst mit.“ „Aha?“, war das einzige, was Victor dazu einfiel. „In Japan gibt es eine Gegend, die immer wieder von tückischen Kreaturen heimgesucht wird. Raubüberfälle, Plünderung, Brandstiftung, inzwischen gibt es sogar Tote. Die Übergriffe häufen sich und das betroffene Gebiet wird immer größer. Im Klartext, es scheinen immer mehr von diesen Dingern zu werden. Wir werden uns das ansehen und entscheiden, ob man die nicht besser auf die blaue oder schwarze Liste setzen sollte.“ „Und du sprichst Japanisch, ja?“ „Nein, aber mein Genius Intimus tut es.“ Victor warf einen kurzen Seitenblick auf den schweigsamen, verbissen dreinschauenden Kerl, der immer mit im Büro herumlungerte. Als magisch begabter Mensch hatte Vladislav natürlich einen Schutzgeist. Alle Magi hatten einen. Victor konnte sich nicht entsinnen, jemals ein Wort mit dem gewechselt zu haben. Der schien gänzlich unkommunikativ zu sein. Entweder war er stumm, oder Vladislav hatte ihm gehörig eingeprügelt, daß er die Klappe zu halten hatte. Manchmal waren Schutzgeister echt nur das persönliche Eigentum ihrer Schützlinge, selbst heutzutage noch. „Na schön. Und wie kommt´s, daß du selber losziehst? Hast du keine Leute, die du schicken kannst?“, wandte er sich wieder an den Boss. „Ich hab dir doch mal erzählt, daß ich noch nie jemanden eigenhändig umgebracht habe, außer dem einen Kerl, der meinen Sohn erschlagen hat. Das muss sich endlich ändern. Ich langweile mich hier zu Tode. Ihr seid die ganze Zeit da draußen und habt Spaß und ich sitze hier über dem öden, organisatorischen Bürokram. Ich will auch endlich mal rausgehen und mitmischen.“ Victor runzelte nur unverständig die Stirn, als würde er arg am Verstand seines Bosses zweifeln. „Dank deiner guten Arbeit hab ich ja jetzt auch die nötige Freizeit dafür“, quasselte der blonde Chef der Motus weiter. „Du nimmst mir so unglaublich viel Kram zuverlässig ab, das finde ich super.“ Victor strich sich mit der Hand endlich eine Strähne der langen, schwarzen Haare aus den Augen, die ihn schon länger störte. „Und wieso muss ich nach Japan unbedingt mitkommen? Sollte nicht wenigstens einer von uns beiden hier die Stellung halten?“ „Die Berichte und Meinungen, um was für Viecher es sich dort handelt, gehen sehr auseinander. Jeder sagt was anderes. Jeder beschreibt die Dinger anders. Ich nehme also an, daß wir es mit Gestaltwandlern zu tun haben.“ „So wie ich“, ergänzte Victor ohne jede Begeisterung. „So wie du, ganz genau. Mir fällt niemand ein, der mir gegen diese Biester besser helfen könnte als du.“ „Nur weil ich selber Gestaltwandler bin, bin ich ja nicht gleich ...“ „Du hast einen Magister Magicae für Gestaltwandlung, oder liege ich da falsch?“, fiel der Boss ihm ins Wort. „Jetzt versuch mir nicht weiß zu machen, du könntest mit sowas nicht umgehen! Ich weiß, daß du andere Gestaltwandler erkennen und enttarnen kannst.“ „Schon gut“, seufzte Victor lustlos. „Hat wohl keinen Sinn, es abzustreiten. Aber ich versteh trotzdem nicht, was wir in Japan wollen. Die haben eine funktionierende Yakuza da. Das ist Einzugsgebiet der Konkurrenz. Sollen die sich doch selber drum kümmern, wenn du mich fragst!“ „Dich frage ich aber nicht“, hielt der Boss genervt augenrollend dagegen. „Aber, hör mal, wo wir gerade bei Magister Magicae sind, da wollte ich sowieso nochmal mit dir reden.“ „Ja?“, machte Vladislav nur und begann seine zerlegte Pistole wieder zusammen zu bauen. Jedenfalls versuchte er es, wenn auch mit wenig Erfolg. „Ich will wieder zur Uni und weiter studieren. Ich will noch einen Magister Magicae für Bann-Magie machen. ... Damit ich dir mehr nütze, weißt du?“, fügte er scheinheilig noch schnell an. „Ah ja“, brummte der Boss zynisch. „Und weiter?“ „Dafür müsste ich dich allerdings bitten, mich erstmal eine Weile nicht mehr so sehr im Ausland rum zu schicken. Oder wenigstens nur in den Semester-Ferien. Das würde sonst mit den Vorlesungen kollidieren. Ich schaffe den Abschluss nicht, wenn ich im Unterricht zu viel fehle.“ „Und was schlägst du stattdessen vor?“ „Was weiß ich. Hast du nicht genug andere Leute, die du in der Welt rumscheuchen kannst? Die Motus ist doch ein großer Laden“, argumentierte Victor. „Ist sie. Aber ich bin kein Freund davon, die Leute über den Tellerrand schauen zu lassen. Die sollen bei den Aufgaben bleiben, die sie haben, und nicht zuviel von anderen Abteilungen mitkriegen.“ „Gut, auch wieder wahr. ... Naja, aber du hast ja selber gerade gesagt, daß du mehr Außendienst schieben willst. Wie wär´s damit?“ Vladislav warf ihm einen tadelnden Blick zu. Dieser Vorschlag war jetzt wirklich dreist. Das hieß übersetzt, daß Victor dafür das Büro am Laufen hielt. Da hätte er ja auch gleich sagen können, daß er Vladislavs Chef-Posten an sich reißen wöllte. „Lass uns nochmal drüber reden, wenn wir aus Japan zurück sind. Jetzt verkrümel dich und pack deine Sachen. Morgen geht der Flug. Wir treffen uns 11 Uhr hier im Büro.“ „Ist gut. Noch irgendwas, was ich über diese Viecher in Japan wissen sollte?“ „Sie sind gefährlich.“ „Ach was, echt!?“, erwiderte Victor, nun seinerseits sarkastisch, und rollte genervt mit den Augen. Da wäre er ja nie im Leben drauf gekommen. Dann beugte er sich vor, schnappte Vladislav die Einzelteile der Pistole aus der Hand und setzte sie mit zwei, drei sicheren Griffen wieder zusammen. Der bekam das ja offensichtlich nicht selber hin. „Ein paar mehr Infos wären schon schön. Von asiatischer Magie und asiatischen Genii hab ich jetzt nicht so die Ahnung. Also würde ich mich gern noch ein bisschen auf die Expedition vorbereiten, bevor wir uns ins Verderben stürzen.“ „Wir werden bewaffnet sein. Erwartest du Probleme?“ „Es gibt da draußen genug Wesen, die sich mit Blei nicht aufhalten lassen. Für manche muss die Munition aus Silber sein, oder mindestens mit einem Bann belegt, damit sie überhaupt was ausrichtet. Und da gibt es die verschiedensten Spielarten. Bann ist nicht gleich Bann, und nicht jeder wirkt bei allen Genii. Und wie gesagt, dann kommt noch dazu, daß die Asiaten sowieso ein komplett anderes Spielfeld sind als das, womit wir´s sonst so zu tun haben. - Also: erwarte ich Probleme? Ja, verdammt!“ Der Boss zog eine Augenbraue hoch. „Da spricht der Mann mit Praxis-Erfahrung. Ich sehe, es ist eine kluge Entscheidung, dich mitzunehmen. Du wirst wohl gut auf mich aufpassen“, kommentierte er. Dabei griff er nach einer Akte und hielt sie Victor hin. „Hier, nimm mit! Steht alles drin, was bisher bekannt ist.“ „Geht doch! Warum nicht gleich so?“ Der Vize tippte sich an eine erdachte Hutkrempe und überließ Vladislav dann wieder sich selbst. Himmel, eine Mission gemeinsam mit dem Boss persönlich, das konnte ja heiter werden. Draußen vor der Tür schlug Victor die Akte auf, ließ die Seiten kurz mit dem Daumen durchblättern, dann machte er wutschnaubend wieder Kehrt und platzte abermals ins Büro hinein. „Willst du mich verarschen!?“, jaulte er sauer und pfefferte ihm das Pamphlet auf den Tisch zurück, noch ehe der Boss was sagen konnte. „Was ist denn?“, wollte Vladislav scheinheilig wissen. „Du wolltest doch alles haben, was ich zu dem Fall zusammengetragen hab.“ „Das ist alles Japanisch, du Blödmann! Wenn dein Genius Japanisch übersetzen kann, schön! Ich kann es nicht!“ „Jetzt beschwert er sich auch noch!“, wandte sich Vladislav amüsiert an seinen Genius Intimus, welcher sich jedoch kein Statement dazu erlaubte. Victor deutete mit dem Zeigefinger auf die Akte. „Hättest du wohl die Güte, mich aufzuklären, was da steht?“ „Na schön, du wirst mir ja eh keine Ruhe lassen. Also wie gesagt geht es um Plünderei, Brandstiftung, Körperverletzung und jetzt sogar Totschlag. Die Täter sind eine offenbar gut organisierte Gruppe, die von den Einheimischen 'das Volk aus den Bergen' genannt wird. Gemeldet wurden die ersten Fälle von der Insel Okinawa, aber diese Dinger haben es wohl inzwischen schon bis auf die Hauptinseln geschafft.“ Victor nickte, während er schon über das Gehörte nachdachte. „Worauf sind die aus, wenn sie ihre Raubzüge abhalten? Lebensmittel? Wertgegenstände?“ Vladislav warf seinem Genius Intimus einen fragenden Blick zu. Er konnte kein Japanisch, um selber in der Akte nachzulesen. „Sake“, brummte der Mann mit tiefer Stimme. Das erste Wort, daß Victor ihn jemals hatte reden hören. Also war er doch nicht stumm. „Die schleppen allen Reiswein weg, den die tragen können. Sieht so aus, als feiern die gern.“ „Sehr ungewöhnlich“, fand Vladislav. Aber Victor schüttelte den Kopf. „Das trifft auf die meisten Yokai zu, also alles was irgendwie in die Kategorie 'japanische Dämonen' fällt. Die trinken alle gern.“ „Ich dachte, du kennst dich mit denen nicht aus.“ „Tu ich auch nicht. Das ist Allgemeinbildung“, hielt Victor dem Boss vor. „Was steht da sonst noch so?“ „Nur ein paar Augenzeugenberichte mit optischer Beschreibung dieser Viecher. Alle sehr konträr. Aber darauf kann man nichts geben, da wir sowieso von Gestaltwandlern ausgehen. Das einzige, worin die sich alle einig sind, ist, daß diese Wesen auf dem Erdboden bleiben. Fliegen können die nicht.“ „Das finde ICH wiederrum ungewöhnlich. Da ich selber Gestaltwandler bin, weiß ich da wovon ich rede. Wenn man schon so eine tolle Fähigkeit hat, dann nutzt man sie doch auch komplett aus.“ „Und? Theorien?“, wollte Vladislav wissen. Der Vize wog abwägend den Kopf hin und her. „Wenn ich raten müsste, würde ich am ehesten Kizune, Tanuki oder Mujina in Betracht ziehen. Das sind die drei gängigsten japanischen Arten, denen umfangreiche, gestaltwandlerische Fähigkeiten nachgesagt werden und die mehr oder weniger finster drauf sind. Wobei Kizune normalerweise nicht im Rudel auftreten. Aber ich werde mich bis morgen noch etwas belesen.“ „Und was sind das für Dinger?“ „Fuchs-, Marderhund- und Dachs-Tiergeister. Allesamt sehr clever, aber leider haben sie meistens nur Unsinn im Kopf und foppen die Menschen. Sie spielen Streiche, in der Regel alles andere als lustig, weil die Menschen dabei in die Irre geführt oder in Gefahr gebracht werden. Manchmal sterben dabei auch Menschen, aber das sind dann eher Unfälle. Sie klauen auch schonmal Dinge. Aber so bestialisch, Menschen mutwillig tot zu schlagen, ist eigentlich keiner von denen.“ Vladislav nickte mit einem undeutbar schalkhaften Gesichtsausdruck, irgendwo zwischen amüsiert und anerkennend. „Wir werden sehen“, entschied er dann. „Also los, ubirajtes! Jetzt hau schon ab, Mann! Ich hab dich schon zweimal rausgebeten. Geh deine Sachen packen und sei morgen pünktlich.“ „Ja-ja, 11 Uhr hier im Büro. Schon klar“, erwiderte Victor und drehte sich um, Richtung Tür. Die nutzlose, japanische Akte ließ er liegen. „Also bis morgen dann.“ Der Boss seufzte leise, als die Tür endlich hinter Victor zu war, und schüttelte leicht den Kopf vor sich hin. „Was ist?“, wollte sein Genius Intimus wissen. „Ach, nichts. Der Kerl tut nur immer so, als hätte er von nichts Ahnung, und dann wartet er im Ernstfall doch mit einem Haufen Wissen und Können auf.“ „Ist doch gut, wenn er kein Hochstapler ist, sondern ein bisschen bescheiden.“ Vladislav lachte leise. „Bescheiden? Klingt er für dich bescheiden?“ „Naja, schlagfertig. Etwas vorlaut vielleicht. Aber nicht prahlerisch.“ „Er weiß jedenfalls mehr, als er zugibt, und das gibt mir zu denken“, befand der Boss, nicht ohne die hochachtungsvolle Note ganz aus seiner Stimme filtern zu können. Er hatte eine hohe Meinung von Victor als Vize, so oder so. Er vertiefte sich wieder in ein paar Unterlagen auf seinem Tisch. Das deutliche Zeichen für seinen Genius Intimus, daß jetzt gefälligst Klappe-halten angesagt war. Die Unterhaltung war beendet, er wollte nichts mehr hören. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)