Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 16: ungewöhnlicher Meister ---------------------------------- jetzt, Ogimi auf Okinawa, Wald Ein bisschen erleichtert war Victor schon, als er seine Gegenwehr einstellte und er nur weg gezerrt und gefesselt wurde. Sie hätten ihn immerhin auch gleich totschlagen können, wenn sie gewollt hätten. Die seltsamen Tengu-Verschnitte schleppten ihn ein Stück weit in den Wald hinein und übergaben ihn dort an ein paar zerlumpte Kerle. Zusammen mit den beiden heulenden Mädchen und den Leinensäcken voll Geld und Lebensmitteln. Dann verschwanden sie wie die Geister und es wurde ruhig. Die Männer waren nur gewöhnliche Halunken ohne jeden Bezug zur Magie. Wäre auch nur ein einziger Magi oder Genius darunter gewesen, hätte Victor das mitbekommen. Um so seltsamer fand er es, daß die mit dem Trupp Tengu etwas zu schaffen hatten. Ein zotteliger Japaner mit Zahnlücke musterte die lebende Beute. „o namae wa?“, wollte er von einem der Mädchen wissen. Sie gab eine Antwort. „majishan desu ka?“ „hai ...“ „soshite anata wa?“ Das andere Mädchen gab ebenfalls kleinlaut Antwort. „hogo no seishin ka?“ „uhm.“ Sie nickte zaghaft. „donna sainō o motte imasu ka?“ „wakaranai“ „wakaranai ka?“, wollte er irritiert wissen. Dann wandte er sich nach kurzem Überlegen schulterzuckend an Victor, der das Gespräch mit etwas verkniffenem Gesicht mitverfolgte. „anata wa? „Ich versteh kein Wort, Kumpel“, erwiderte der Russe trocken. Der Mann mit der Zahnlücke musterte ihn von oben bis unten. „nihonjin dewa arimasen." Natürlich verstand Victor auch das nicht. „Spricht hier zufällig jemand Russisch? Wohl eher nicht, oder?“ „doko kara kimashita ka?“ Victor sah ihn fragend an und enthielt sich einer weiteren Antwort. „igirisujin desu ka?“, versuchte er es noch einmal, dann gab er es auf, als sein Gefangener weiter unwissend die Klappe hielt. Schöner Mist, dachte Victor still. Nun war er der Quelle dieses ganzen Spuks zwar ein gutes Stück näher, aber dafür hatte er Vladislav und Waleri verloren, wodurch ihm dieser Fortschritt rein gar nichts brachte. Waleri war der einzige von ihnen, der Japanisch konnte. Ohne Waleri war hier Hopfen und Malz verloren. Die verlotterten Kerle, die aussahen, als würden sie seit Jahren im Wald hausen, berieten sich noch eine Weile hin und her, häufiger mit einem Seitenblick auf den Ausländer, mit dem man sich nicht verständigen konnte, dann machte man irgendwann einfach Aufbruchstimmung. Victor wurde mitgenommen, aber man schleppte ihn in eine andere Richtung davon als die zwei Mädchen. Die Gruppe teilte sich auf. Sah so aus, als würde sich jemand anderes um dieses Sprachproblem kümmern. Während er bereitwillig mitging, fragte er sich, was nun mit diesen Tengu-Dingern war. Im dichten Wald kamen sie nicht sonderlich schnell voran. Als sie endlich das Lager am Hang des Berges Yonaha erreichten, war es schon Nacht. Victor trat aus dem Wald heraus auf das freie Bergplateau und blieb erstmal stehen. Von hier hatte man einen ziemlich tollen Ausblick über die Wälder von Nord-Okinawa. Über ihnen erstreckte sich ein wolkenfreier Sternenhimmel und – was Victor eigentlich zum Stehen gebracht hatte – ein großer, runder, knochenbleicher Vollmond, der den ganzen Landstrich erhellte wie ein riesiger Scheinwerfer. „Shit ...“, war das Letzte, was er noch bewusst denken konnte, dann versank die Welt um ihn herum im Vergessen und in seinem Kopf setzte eine gnadenlose Leere ein, gegen die er machtlos war. Chippy stiefelte um den Gefangenen herum und beaugenscheinigte ihn von allen Seiten. Er war vielleicht sogar noch einen Zentimeter kleiner als sie selbst, dem Aussehen nach nicht asiatischer Herkunft, und mit seinen feinkonturigen Gesichtszügen und der schlanken Statur derwegen ein recht süßes Kerlchen. Hier in Japan hatte man ja was für androgyne Typen übrig. Und wie sie schon aus der Ferne mitbekommen hatte, konnte er mit Bann-Magie arbeiten. Ein ungebundener Genius. Nur war er gerade zur Marmorstatue erstarrt und zuckte mit keiner Wimper mehr. „Was habt ihr mit ihm gemacht?“, wollte Chippy von ihren Männern wissen und wedelte prüfend mit der offenen Handfläche vor Victors Gesicht herum. Es zeigte keine Wirkung. Sein Blick blieb weiter starr geradeaus gerichtet, die Augen folgten der Handbewegung nicht. „Wir haben nichts mit ihm gemacht“, gab Yagi verwirrt zurück und schubbste seine Geisel vorsichtig an. Ebenfalls ohne Erfolg. Chippy drehte sich halb um und folgte Victors ausdruckslosem Blick. Aber in der Ferne waren nur Wald und weiter Nachthimmel zu sehen. Nichts, was diese seltsame Starre erklären könnte. „Er scheint übrigens kein Japanisch zu verstehen. Ich habe es jedenfalls nicht geschafft, ihm irgendein Wort in unserer Sprache aus der Nase zu ziehen.“ „Was spricht er dann, wenn nicht Japanisch?“, hakte Chippy interessiert nach und musterte wieder das unbekannte Kerlchen, das gerade tot wie eine Schaufensterpuppe in der Landschaft herumstand. „Keine Ahnung. Vielleicht kann Lori dir das sagen“, schlug der schmuddelige Räuber mit der Zahnlücke vor. Obwohl inzwischen ein Jahr vergangen war und die Vagabunden im Laufe der Zeit in Sachen Magie und magisch begabter Personen um einiges schlauer geworden waren, hatte sich hier nicht viel verändert. Lord-Lady Chippy war nach wie vor die Anführerin dieser Räuberbande. Das einzige, was sich an ihr verändert hatte, war die Tatsache, daß ihre ursprünglich lila gefärbten Haarspitzen nach einem Jahr nun inzwischen herausgewachsen waren und sie komplett schwarze Haare hatte. Wo sollte sie hier draußen in der Wildnis auch Haarfarbe hernehmen? Sie war als Chefin konsequent und berechenbar und die Männer gehorchten ihr gern, denn seither ging es ihnen besser als jemals zuvor. Sie hatten immer witterungsgerechte Kleider, zu Essen und genug Alkohol zum Feiern. Und mehr brauchte man hier draußen auch nicht, um glücklich zu sein. Es gab eben keinen Strom, und warmes Wasser nur dann, wenn sich jemand die Mühe machte, einen Kessel über das Feuer zu hängen. Aber sonst ließ es sich hier draußen schon leben. Okinawa war allerdings eine sehr südliche Insel, richtig kalt wurde es hier ohnehin nie. Ihr Begleiter Loriel wurde von den Wegelagerern weitestgehend in Ruhe gelassen. Nur selten wechselte mal jemand ein paar Worte mit ihm. Man wusste, daß Lord-Lady Chippy ihn eigentlich nicht recht leiden konnte und es auch nicht gern sah, wenn andere sich zu sehr mit ihm anfreundeten. Abgesehen davon führte aber auch Loriel in den Wäldern ein halbwegs kummerfreies Leben, solange er sich still verhielt. Seine magischen Fähigkeiten sicherten ihm ausreichend Respekt, um in diesem Haufen Halunken nicht gänzlich unter zu gehen. Er wurde nur ab und zu von Chippy herbei zitiert, wenn sie irgendwas von ihm wissen oder haben wollte. Oder wenn er etwas verbockt hatte, was Chippy aus unerfindlichen Gründen nicht in den Kram passte, und er sich die ungewöhnlich harten Strafen abholen durfte, die sie ihm dafür angedeihen ließ. Die Räuberbande war klug genug, nicht danach zu fragen. Aber solange es ihnen an nichts mangelte, stellten sie ohnehin keine dummen Fragen. Victor kam erst am nächsten Morgen wieder zu Bewusstsein, als der Mond endlich hinter irgendwelchen Tannenwipfeln verschwand und seinen Verstand nicht mehr offline hielt. Stöhnend griff er sich an den Kopf und versuchte mit vorsichtigen Bewegungen seinen steifen Nacken wieder zu lockern. Er fühlte sich ein wenig benebelt. Seine Mondsucht war wirklich eine barbarische Schwäche. In den Stunden, die er in Trance gewesen war, hätte sonstwas mit ihm passieren können. Sporadisch klopfte er von außen die Taschen seiner Kleidung ab. Es schien alles noch da zu sein, was er dabei gehabt hatte. Abgesehen vom Geld natürlich. Das hätte ihn auch sehr gewundert, wenn sie ihm das gelassen hätten. Victor schaute sich um. Er fand sich in einem profanen Käfig aus Ästen wieder, die man zu Gittern zusammengebunden hatte. Das Lager war still. Es schienen alle noch zu schlafen. Neben seinem Käfig lehnte auch so ein verlotterter Kerl, der im Sitzen mit verschränkten Armen eingepennt war. Falls der Victor hatte bewachen sollen, machte er seinen Job nicht sonderlich gut. Der Vize-Boss beschloss, sich ein wenig im Lager umzusehen, um sich die Zeit zu vertreiben. Er nahm die Gestalt eines kleineren Wesens an, das durch die Holzstäbe passte, und verließ den Käfig. Draußen wechselte er wieder in seine menschliche Form zurück. So, wohin sollte es zuerst gehen? Er war noch keine drei Schritte weit gekommen, da wurde er bereits von einem unguten Gefühl gestoppt und ließ suchend den Blick umher wandern. Er fühlte sich beobachtet. Und tatsächlich, mit der Schulter an einem Baumstamm lehnend, stand dort ein Mädchen mit plüschigen Wuschelhaaren, jeder Menge Goldschmuck und einem erstaunlich feinen Kleid und sah ihm gelassen bei seiner Flucht zu. Ihre Mimik war eine runde Mischung aus allem möglichen. Sie schien beeindruckt von der Art, wie er einfach aus dem Käfig heraus marschiert war, aber wiederrum nicht beeindruckt genug um ihm ernsthafte Flucht-Chancen zuzutrauen. Ihr Grinsen war überlegen, siegessicher und für Victor lesbar wie ein offenes Buch. Diese junge Dame war sich sicher, ihn problemlos wieder einfangen zu können. Sie machte ihm nur falsche Hoffnungen, indem sie ihn kurz gewähren ließ. Weil sie interessiert war, was er als nächstes tun würde. Victors Augenbrauen zogen sich verspannt ein wenig zusammen. Von dem Mädchen ging eine ungute Aura aus, die ihm zwar nicht angenehm aber sehr vertraut vorkam. Er hätte wetten können, daß er bei ihr einen aktiven Fluch oder eine Verwünschung finden würde, wenn er genauer suchen würde. Er konnte bloß auf diese Entfernung die Quelle nicht gleich finden und die Wirkung nicht genau bestimmen. „yoku dekimashita.“, kommentierte sie mit diesem überheblichen Grinsen. „anata ga me o samashite iru no ga wakarimasu.“ „Jjjjjjjjaaaaaa ... du mich auch“, gab Victor zynisch zurück. Er verstand ihre Sprache nicht, und er wusste schon jetzt ganz genau, daß sie seine auch nicht verstehen würde. „Aber ich freu mich, dich kennen zu lernen. Ich bin Victor, und du?“, quasselte er trotzdem weiter, um sie irgendwie bei Laune zu halten. Er sah nämlich in ihren Augen sehr deutlich, daß sie auf eine Konfrontation aus war. Sie war eindeutig magisch begabt. Und es war doof, mit Magie gegen Magie zu kämpfen, ohne das Geringste von seinem Gegner zu wissen. Um genau zu sein war es IMMER doof, zu kämpfen, ohne das Geringste von seinem Gegner zu wissen. Von irgendwo kam ein dicker, gemütlicher Rocker-Typ mit grauem Schnauzbart angehechtet, stellte sich schräg hinter dem Mädchen auf und schaute fragend zwischen ihr und Victor hin und her. Victor kräuselte die Lippen zu einer Flunsch. Das war ihr Schutzgeist, der natürlich sofort zur Stelle war, wenn sie einen Kampf eröffnete. Sie machte also wirklich ernst. Innerlich bereitete er sich schon auf einen Angriff vor. Dieser sah jedoch völlig anders aus als gedacht, denn den übernahmen für sie vier dieser Tengu-Dinger, die – aus jeder Richtung einer – auf ihn zurasten und sich im Kreis um ihn herum postierten. „Scheiße. ne snova ...“ [Nicht schon wieder ...], murrte der Russe leise in sich hinein. Die hatten ihm jetzt gerade noch gefehlt. Was war das nur für eine Magie? War dieses Mädchen in der Lage, alle möglichen Kreaturen herbei zu rufen und zu kontrollieren? Hatte sie deshalb immer andere Handlanger, die für sie die Dörfer plünderten? Victor hatte jedenfalls keinen Zweifel daran, daß sie als einzige Magierin unter diesem Haufen wilder Hunde die Strippenzieherin war. Nur hatte er in der Universität ja wirklich viel gelernt, aber selbst er konnte sich spontan auf keine magische Gabe besinnen, die einem solche Fähigkeiten gegeben hätte. Victor kam nicht dazu, sich recht lange den Kopf zu zerbrechen. Die Tengu stürzten sich ohne viel Gefackel auf ihn. Der Russe erzeugte eine tellerförmige, waagerechte Bann-Scheibe vor sich und drehte sich damit einmal um seine eigene Achse, wie ein Diskus-Werfer. Die magische Platte ging gleich einem Kreissägenblatt glatt durch alle vier Angreifer hindurch. Aber – wer hätte das gedacht – sie materialisierten sich auf der Stelle neu, wie schon gestern Abend im Wald. Der große Schlagabtausch begann. Loriel verfolgte den Kampf, den sich der Gefangene mit Chippys Illusionen lieferte, und schüttelte leicht den Kopf. Ob der nun versehentlich entkommen war oder ob Chippy ihn absichtlich rausgelassen hatte, konnte er nicht sagen. Aber es war auch egal. Was Chippy hier mit ihm abzog, war Irrsinn. „Warum spielst du so mit ihm?“ „Warum nicht?“ „Musst du immer mit einer Gegenfrage antworten?“ „Und musst du immer dein vorlautes Maul so aufreißen, Bierwampe? Wer hat dir überhaupt erlaubt, zu reden? Juckt es dich mal wieder nach einer ordentlichen Tracht Prügel, oder was?“, hielt Chippy in gleichmütigem Tonfall dagegen, ohne ihren Blick von dem Kampf abzuwenden. „Gut, wenn du es wissen willst: der Mann fasziniert mich. Er scheint verdammt gut kämpfen zu können. Ich will wissen, was er drauf hat.“ Sie schaute noch ein bisschen weiter zu. „Er ist besser als du, das ist Fakt.“ Als ob das ihrer Einschätzung nach eine Leistung wäre! Wenn es nach Chippy ging, war JEDER besser als er, dachte Loriel verbittert. Aber aussprechen tat er das natürlich nicht. Er wollte ja schließlich keine Schläge beziehen. Er musste zugeben, daß dieser kurz geratene Ausländer ein ganz schön breites Repertoire an Magie hatte. Er probierte alle erdenklichen Schilde und Angriffe aus Bann-Magie durch, auf Basis der unterschiedlichsten Faktoren, in der Hoffnung, daß irgend etwas davon endlich Wirkung zeigte. Sehr erfolgreich war er damit allerdings nicht. Gegen Illusionen zeigte nichts Wirkung, deshalb waren es ja Illusionen. Wenn man sich nicht gerade vor sinnesverändernden Zaubern abschotten konnte, dann hatte man nur die Chance, den Magier auszuschalten, der die Illusionen erschaffen hatte. Aber auf diesen Trichter schien das Kerlchen bisher noch nicht gekommen zu sein. Und Loriel hoffte auch inständig, daß ihm diese Idee nicht noch in den Kopf schoss, denn er hatte wahrlich keine Lust, sich als Chippys Schutzgeist mit so einem wehrhaften Typen anlegen zu müssen. Das Lager wurde zunehmend voller und belebter. Die Ganoven wurden von dem Lärm des Kampfes nach und nach munter und kamen schaulustig herbei, um zu sehen, was denn los war. „Beachtlich“, diagnostizierte Chippy beeindruckt. „Naja, genug für den Moment. Lassen wir ihn leben.“ Victor wurde unvorgewarnt von einem Tengu am Kragen gepackt und rücklings zurück in den Käfig geschleift. Er quietschte auf, weil der Angreifer auch ein paar der schulterlangen Haare mit erwischt hatte. Das Ziehen an den Haaren war ein so blöder und unangenehmer Schmerz, daß er erstmal jegliche Gegenwehr vergaß und hellauf damit beschäftigt war, der Zugrichtung zu folgen. Trotz des Protestes wurde er radikal durch die Reihen der Räuber gezerrt, die schaulustig herumstanden, wurde unsanft in den Verschlag aus Ästen befördert und wieder weggesperrt. „Pass auf, daß er nicht nochmal abhaut“, trug Chippy Loriel auf und ging dann weiter, als hätte sie spontan das Interesse an der ganzen Szene verloren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)