Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 20: zweifelhafte Erfolge -------------------------------- Berg Yonaha auf Okinawa Dem Grad der Trockenheit und Härte nach zu urteilen war dieses Brötchen, das er bekommen hatte, schon mindestens 3 Tage alt. Aber das war ihm egal. Hauptsache sein Magen hörte erstmal für eine Weile auf zu knurren. Victor hatte vor Hunger schon fast Bauchschmerzen. Er saß im Schatten eines Baumes und überschaute das Treiben auf dem Bergplateau. Loriel tauchte fröhlich grinsend vor ihm auf. „Ich wollte dir sagen, daß wir bald los können. Chippy hat nur noch was zu klären“, berichtete er auf Englisch. „Los können? Wohin denn?“, erwiderte Victor verdutzt. Er wusste von gar nichts. „Auf der anderen Seite des Yonaha-san gibt es eine Forschungsstation. Die haben ein Telefon. Dort kannst du dich von irgendjemandem abholen und wieder in die Zivilisation zurückbringen lassen.“ Von 'irgendjemandem'? Da war Victor jetzt kein Fan davon. Am Ende kamen bloß noch blöde Fragen zu seiner Identität, seinem Einreisestatus und dem Grund seines Aufenthalts in Japan auf. Ihm war sehr daran gelegen, erstmal Vladislav und Waleri wieder zu finden, und das wusste Loriel eigentlich auch. Er hatte dem Engel davon erzählt, daß er im Gefecht mit den Tengu von seinen beiden Begleitern getrennt worden war. Eigentlich hoffte er, daß die zwei sich inzwischen schon wieder bis zum Hotel durchgeschlagen hatten und er sie dort wiederfand. „Könnt ihr mich denn nicht nach Kunigami bringen?“ „Das liegt auch auf der anderen Seite des Berges. Aber das ist zu weit weg, um es zu erlaufen. Die Forschungsstation ist etwa auf halber Strecke, und das ist schon weit genug, glaub mir.“ „Dann werde ich fliegen und Kunigami von der Luft aus suchen. Das sollte ja nun nicht das Problem sein“, entschied der Russe einfach. Außerdem war er ja auch von Kunigami aus hier her gelaufen. Wie viel schlimmer konnte der Rückweg schon werden? Loriel schüttelte – immer noch manisch grinsend – den Kopf. „Deine zwei Gefährten, die du suchst, sind mit ziemlicher Sicherheit auch in der Station gestrandet. Wenn sie noch leben, dann sind sie dort.“ „Na, davon geh ich mal schwer aus, daß die noch leben.“ Also gut, dann auf zu diesem ominösen Labor. Einen Versuch war es wert. Wenn es nichts brachte, konnte er von dort immer noch in seiner Greifengestalt nach Kunigami weiter fliegen. „Und was beschert dir so gute Laune?“, wechselte er das Thema. „Ach, ich bin einfach glücklich. Chippy ist wie ausgewechselt. So freundlich und human habe ich sie noch nie erlebt. Wer weiß, was aus ihr geworden wäre, wenn du den Fluch auf ihrem Anhänger nicht gelöst hättest.“ „Gern geschehen“, meinte Victor salopp. „Wenn sie jetzt noch diese Räuberbande hier durch den Schornsteig jagt, und aufhört Dörfer zu überfallen, zu brandschatzen und Leute zu erschlagen, dann kann ich Japan beruhigt wieder verlassen.“ „Das wird sie. Sie überlegt sogar schon, ob sie die Magie-Ausbildung an der Nord-Schule fortsetzt. Eigentlich ist es ja egal, welche Schule es wird. Aber wenn sie die Ausbildung wirklich ernsthaft weitermachen will, geht für mich die Sonne auf.“ „Ist mir jedenfalls lieber, als wenn wir gegen sie vorgehen müssen. Aber sag mal, was genau tut sie eigentlich? Was ist ihre magische Fähigkeit? Kann sie andere Wesen kontrollieren?“ Loriel ließ sich bei ihm auf dem Fußboden nieder. Das Gespräch schien ja länger zu dauern. „Nein. Sie ist eine Illusionistin. Sie ruft diese Dinger nicht herbei, sondern erschafft sie selber. Ihr Talent ist vor allem das Erschaffen von Illusionen von Lebewesen, je nach Motivation und Tagesform bis zu zehn Kopien auf einmal. In den paar Monaten Ausbildung, die sie bisher genossen hat, hat sie sogar gelernt, diese Illusionen über größere Entfernungen zu dirigieren, selbst außerhalb ihrer Sichtweite. Sie kann ihre Illusionen bis zu einem Kilometer weit weg schicken, und immer noch agieren lassen.“ Victor hatte ein wenig Probleme, diesem Redeschwall zu folgen, da sein Englisch langsam ausgelotet war. Aber nach allem, was er verstand, waren diese Tengu-Dinger dann auch nur Illusionen. Das erklärte vieles. „Sieht und hört sie dann durch ihre Illusionen?“, wollte Victor wissen. Wie sonst wollte das Mädchen diese Dinger noch gezielt handeln lassen, ohne überhaupt zu sehen, wo sie waren oder auf welche Hindernisse sie stießen? „Nein, ich glaube nicht. Sie gibt den Illusionen ihre Instruktionen mit, und dann handeln die aus eigenem Antrieb. Zwar nicht sonderlich intelligent, aber eigenständig. Chippy muss sich nur darauf konzentrieren, daß ihre Magie nicht verpufft und die Illusionen sich nicht einfach mitten über der Handlung in Luft auflösen.“ Der Vize-Boss der Motus zog ein anerkennendes Gesicht. Nicht von schlechten Eltern, dieses Mädchen. „Sie kann hauptsächlich aus dem Nichts etwas Neues erschaffen. Witzigerweise bekommt sie komplexe, bewegte Illusionen wie Lebewesen, die rumrennen, oder auch mal einen sprudelnden Geysir, ganz gut hin. Aber zu einfachen, unbelebten Gegenständen, die tot in der Gegend rumliegen, reicht es kaum. Sie kann dir keine Kleidungsstücke oder Gebrauchsgegenstände vorgaukeln. Bestenfalls noch simple, geometrische Formen. Und vorhandene Objekte zu verändern oder verschwinden zu lassen, dafür fehlt ihr auch das Talent. Sie hat es bisher nur ein einziges Mal geschafft, aus einem 1'000-Yen-Schein einen 10'000´er zu machen. Und das war ein ungewolltes Versehen. Bewusst kann sie sowas nicht.“ „Beruhigend, daß ihre Fähigkeiten auch Grenzen haben“, murmelte Victor weniger euphorisch. Er hatte nämlich in der Tat kein einziges Ass gegen Illusionen im Ärmel, selbst wenn er wusste, daß es welche waren. „Sieht sie, was sie tut? Kann sie ihre eigenen Illusionen wahrnehmen? Die meisten Illusionisten können sich doch nicht selber verarschen, oder?“ Loriel überlegte. „Von Natur aus eigentlich nicht, das stimmt. Aber es gibt ein paar Tricks, die einem Illusionisten da helfen. Chippy hat während ihrer Ausbildung gelernt, zumindest Schemen dessen zu sehen, was andere als Realität vorgegaukelt bekommen.“ Der schwarze Greif kreiste einige Male über der bezeichneten Stelle in der Luft. Einerseits, um überhaupt erstmal zu entdecken, weswegen sie hier waren. Es war schon eine gute Idee gewesen, zu fliegen, um Zeit, Kraft und Nerven zu sparen, aber dieser winzige Beton-Quarter war so gut unter den dichten Baumkronen versteckt, daß man ihn von oben gar nicht wirklich sah. Victor hätte dieses Ding nie im Leben alleine gefunden. Und zum anderen musste er sich auch was einfallen lassen, wie er mit seiner Größe und Gestalt da jetzt am besten runter kam. Er konnte als Greif kaum zwischen die Bäume tauchen und landen, ohne sich an irgendwelchen Ästen aufzuspießen, oder haltlos nach unten durch zu sacken, weil die Baumwimpfel sein Gewicht nicht trugen. Er wollte es aber auch nicht riskieren, mitten im Flug seine Gestalt zu ändern. Die Sekunden, die er dafür brauchte, würden ausreichen, um ihn gnadenlos abstürzen zu lassen. Er entschied sich unter den möglichen Lücken im Baumbestand für das geringste Übel, brach etwas radikaler als beabsichtigt durch das Holz und tropfte ungelenk zu Boden. Dort nahm er wieder seine menschliche Gestalt an. Loriel landete sehr viel eleganter neben ihm, setzte seinen Schützling Chippy ab, und ließ seine ergrauten Engelsflügel ebenfalls verschwinden, um mehr Platz zu haben. Da wären sie also. Victor beäugte den vier mal vier Meter messenden Bau belustigt. „Ich hatte mir eure Forschungsstation etwas größer vorgestellt“, spöttelte er. Der Engel zog eine tadelnden Miene. „Das ist nur der Eingang.“ „Ist mir schon klar. Geh du mal vor! Hier ist Magie am Werk. Ich werde da sicher nicht als erster meinen Fuß rein setzen.“ Schulterzuckend zog Loriel die Tür auf und verschwand im Inneren. Chippy folgte ihm ohne zu zögern. Victor schlussfolgerte daraus, daß die beiden schon mal hier waren und wussten, was sie da drin erwartete. Also traute auch er sich letztlich hinein und stieg die geräumige Treppe hinunter. Unten erstreckte sich ein etwas längerer Gang, auf dem ihnen auch direkt eine Person im weißen Laborkittel entgegen kam. Chippy verwickelte den Mann auf Japanisch in ein Gespräch, das Victor nicht verstand. Aber da immer wieder auf ihn gezeigt wurde, oder man in seine Richtung schaute, war klar, daß es um ihn ging. Er hoffte, das Mädchen erzählte dem Kerl nichts Unvorteilhaftes. Der Wissenschaftler löste sich schließlich von der Illusionistin und ihrem Genius und kam lächelnd herüber. „Ich grüße Sie. Willkommen in unserem Labor“, begann er in feinstem Russisch und machte Victor damit derwegen etwas sprachlos. „Ich bin Professor Doktor Hülsenkorn. Sie suchen ein paar Ihrer Kollegen, wie ich höre?“ Der Vize-Boss der Motus nickte nur mit ziemlich dummem Gesichtsausdruck. Er war immer noch zu baff, daß der Mann offensichtlich ein Russe war. „Hier sind zufällig zwei Herren auf Grund gelaufen. Ich nehme wohl an, das sind Ihre vermissten Freunde. Der eine hat sich uns als Mika vorgestellt.“ Der Professor grinste, als würde er das lustig finden. Victor verstand sofort, was daran so entsetzlich witzig war. „Inzwischen ist ihm 'Vladislav' lieber, oder?“, vermutete er einfach mal. „So ist es“, kicherte der Mann gut gelaunt. „Kommen Sie, ich bring Sie zu ihm.“ „Geht es den beiden gut?“ „Natürlich, bestens.“ „Wenigstens das“, seufzte Victor erleichtert. Dem Boss hätte er ja durchaus zugetraut, sich richtig saftig in Schwierigkeiten zu bringen. Ach, was hieß 'zugetraut'? 'Voraussetzen' wäre ein treffenderes Wort gewesen. Vladislav wertete mit Waleri ein interessantes, verkrüppeltes Präparat aus. Man konnte gar nicht richtig deuten, was es mal war oder was es hätte werden sollen. Der in Formaldehyd eingelegte Embryo sah entfernt wie ein missgestaltetes Raubvogelküken aus, hatte aber Fischschuppen. Sicher eines von den genmanipulierten Experimenten der beiden Forscher, das schiefgegangen war. Die Tür ging auf und ließ Vladislav aufschauen. Er traute seinen Augen kaum, als er die schulterlangen, schwarzen Haare und den Körperbau einer halben Portion erkannte. „Na, hey!? Wie hast du mich denn hier gefunden?“ „Zufall. Jemand war so freundlich, mir die Station hier zu zeigen“, lächelte Victor zufrieden zurück. Er hatte sich noch nie so gefreut, den Boss zu sehen. Endlich wieder ein vertrautes Gesicht in all diesem Situations-Chaos hier. Endlich wieder jemand, mit dem er sich problemlos unterhalten konnte. „Wo bist du gewesen?“, hakte Vladislav neugierig nach. „Ich habe das 'Volk aus den Bergen' gejagt. Übrigens erfolgreich. Und du?“ „Ich habe eine Motus-Außenstelle gegründet. Auch erfolgreich. Das hier ist jetzt unser japanischer Cluster.“ Vladislav deutete raumfüllend in die Runde. Dann begann er von der angeblichen Vergiftung zu erzählen. Und Victor berichtete im Gegenzug, was er all die Zeit getrieben hatte. Davon, daß hinter dem 'Volk aus den Bergen' nur eine ganz gewöhnliche Gaunerbande steckte, mit einem fluchbeladenen Mädchen als Anführerin. Und natürlich davon, daß der Fall nun geklärt war und alles wieder seine Ordnung hatte. „Dann gibt es also für die Motus hier vorläufig nichts mehr zu tun?“, übersetzte Vladislav. Der Vize-Boss nickte. „Wir können zurück nach Moskau.“ „Der Langhaarige ist auch magisch begabt. Der ist doch ein Genius, oder?“, murmelte Doktor Bürstenbein leise. Vorsichtshalber auf Japanisch, damit er nicht versehentlich verstanden wurde. „Jetzt haben wir schon drei von denen hier.“ Er lehnte mit verschränkten Armen rücklings an einem gekachelten Labortisch und beobachtete das Zusammentreffen der drei russischen Gäste. Sein Kollege Professor Doktor Hülsenkorn, stand daneben und tat es ihm gleich. Keiner der beiden sah sehr begeistert aus. Verständlich, denn immerhin waren sie inzwischen Vladislavs Geiseln und offiziell in ein Verbrecher-Kartell mit eingebunden. Vladislav hatte ihnen unmissverständlich zu verstehen gegeben, wie groß, organisiert und gefährlich die Motus war, und was hier los gehen würde, wenn man sich den Befehlen, die künftig aus Moskau kommen würden, widersetzte. Nachdem sie Vladislavs mentale Verbindung zu seinem Schutzgeist zertrümmert hatten, hatten sie nun auch nicht gerade einen Stein bei ihm im Brett. Entsprechend wenig Geduld oder Verständnis hatten sie von ihm zu erwarten, wenn irgendwas nicht planmäßig laufen sollte. Und daß dieser Victor zu dem ganzen Gefüge mit dazu gehörte, war schwerlich zu übersehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)