Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 22: erschreckende Machtlosigkeit ---------------------------------------- „Du hast mich gerufen“, grüßte der Shogu Tenshi bei seiner Rückkehr zu der kleinen Wissenschafts-Konferenz. „Ja.“ Loriel wartete vergeblich auf weitere Äußerungen. Zum Beispiel, warum sie ihn denn nun herbei befehligt hatte. „Na, und was willst du?“ „Gar nichts. Ich will dich bloß im Auge behalten. Du strolchst bei den Gefangenen rum. Das gefällt mir nicht.“ Diesem verdammten Gör entging aber auch nichts. „Was hast du mit denen vor?“, hakte Loriel also nach, weil sich die Frage einfach notgedrungen aufzwang. Er bekam keine Antwort. Chippy las weiter konzentriert den Text, den sie vor sich liegen hatte. Vermutlich ein Laborbericht der beiden Forscher. Oder eine Beschreibung des was-auch-immer-sich-in-der-kleinen-Pappschachtel-neben-ihr-befinden-mochte. Loriel fragte lieber gar nicht erst nach, was da drin war. „Chippy, das sind Touristen!“ „Das sind nie im Leben Touristen“, hielt das Mädchen überzeugt dagegen. „Touristen laufen nicht mit metalldetektor-sicheren Knarren am Arsch der Welt rum und schnüffeln irgendwelchen ungeklärten Verbrechen hinterher.“ Die beiden Laboranten hatten ihr erzählt, daß Vladislav mit einer Pistole versucht hatte, sie zu bedrohen. „Schonmal drüber nachgedacht, daß sie dann im Ernstfall vielleicht sogar Polizisten sein könnten!?“ „Keine Sorge. Wenn sie das wären, wüssten wir es inzwischen. Ich denke eher, die sind sowas wie wir.“ „Sind sie. Der Blonde ist der Chef einer Organisation, die sich Motus nennt“, gab Professor Doktor Hülsenkorn seinen neunmalklugen Senf dazu. Vladislav hatte sie im Rahmen seiner vorübergehenden Geiselnahme ja ausführlich über die Machenschaften seines Kartells aufgeklärt. „Dann sind sie Kriminelle? Ist ja noch schlimmer! Willst du etwa solche Leute zum Feind haben und dich mit denen anlegen?“, diskutierte Loriel weiter. Die russische Mafia war ja fast noch krasser als die Yakuza, die sie hier hatten. „Wie auch immer, jedenfalls gehören sie nicht nach Japan. Was glaubst du, was passiert, wenn die verschwinden? Denkst du, es wird keiner nach denen suchen, dort wo die herkommen? Erst recht wenn einer davon der Boss ist! Man wird sie irgendwann zurückerwarten!“ „Nicht mein Problem.“ „NOCH nicht!“ Chippy sah endlich auf und starrte ihn vorwurfsvoll an. „Hör jetzt auf, rumzudiskutieren, Mann! Ich will dein Geleier nicht hören! Setz dich irgendwo hin, wo ich dich sehen kann, und halt deinen verdammten Rand! Sonst lasse ich dich mit Medikamenten außer Gefecht setzen!“ Der Engel pflanzte sich auf einen Stuhl und tat, was sie sagte. Er wusste nur zu gut, daß sowas keine leeren Drohungen waren. Chippy benötigte noch eine halbe Stunde, um sich durch den Text zu kämpfen, obwohl der objektiv betrachtet gar nicht so lang war. Hin und wieder fragte sie die Wissenschaftler nach einem Kanji, das sie nicht kannte. Das Lesen fiel ihr echt schwer, weil sie es ihr Leben lang nie sonderlich geübt hatte. In den paar Monaten in der Nord-Schule war es zwar zwangsläufig etwas besser geworden, aber anspruchsvolle Texte stellten sie nach wie vor vor echte Herausforderungen. Als sie glaubte, dem Blatt Papier genug Informationen entlockt zu haben, legte sie es weg und öffnete endlich die kleine Schachtel, die neben ihr auf dem Tisch lag. Es kam ein gänzlich undefinierbares Objekt zum Vorschein. Eine Art unförmiger Edelstein mit ein paar eingravierten Unebenheiten, Ecken und Kanten. Er war von einem unnatürlich intensiven Dunkelblau. Selbst Lapislazuli hatte keine so kräftige Farbe. Von der Größe her konnte man das Ding gut in einer Hand halten. Da es wohl nicht bloß dazu da war, schick auszusehen, oder es jemandem an den Kopf zu werfen, konnte es nur einen magischen Zweck erfüllen. Chippy lächelte leicht, pappte den Deckel wieder auf die Schachtel und stand auf, um damit den Raum zu verlassen. Loriel schloss sich ihr kommentarlos an. Die junge Frau warf ihm einen bösen Blick zu, als sie merkte, daß ihr Schutzgeist hinter ihr her trottete. „Was willst du?“ „Irgendwo bleiben, wo du mich sehen kannst. Wie du es wolltest“, brummte der Shogu Tenshi mürrisch zurück. „Hm. Auch wieder wahr. Aber steh mir ja nicht im Weg rum!“ „Ich bin ja nicht lebensmüde.“ Chippy marschierte weiter. Ihrer Richtung nach zu urteilen wollte sie direkterweise zu den Zellen, in denen die Versuchsobjekte und neuerdings auch russische Gäste weggesperrt wurden, solange man sie nicht brauchte. „Weißt du, was das ist?“ Sie hielt vielsagend ihre Schachtel hoch. Ihre Laune hob sich zusehens. „Ich bin sicher, du verrätst es mir.“ „Dieses Artefakt habe ich von einem afrikanischen Voodoo-Meister zugeschickt bekommen. Es erzwingt eine mentale Verbindung zwischen zwei Individuen.“ Loriel überlegte, ob er das gerade richtig verstanden hatte. „Also es stellt künstlich ein silbernes Band her? Wie zwischen einem Schutzgeist und seinem Schützling?“ „Korrekt.“ „Sowas geht!?“, wollte Loriel fassungslos wissen. Das hatte er ja noch nie gehört. Aber nagut, er hatte auch nie zuvor gehört, daß sich dieses Band kappen ließ. Und doch schienen die zwei Forscher es geschafft zu haben. „Und was willst du damit? Du hast doch einen Schutzgeist! Auch wenn du mich los werden willst, bin ich immer noch dein Genius Intimus.“ Chippy lachte. „Ich will dich nicht einfach nur loswerden, Bier-Wampe. Ich will einen BESSEREN Schutzgeist. Einen, der mal richtig was drauf hat. Und dieses Artefakt hier wird mir dabei helfen.“ „Dann hast du zwei Schutzgeister?“ „Nein.“ Die Illusionistin schüttelte fröhlich den Kopf. Wie gesprächig sie gerade gegenüber Loriel war, zeugte mehr als deutlich davon, wie gut ihre Laune gerade war. Sonst sprach sie nie so viel mit ihm. „Nein. Wenn dieses Ding so funktioniert, wie es sollte, dann wird die alte mentale Verbindung überschrieben. Das silberne Band zu dir wird gelöscht und durch eins ersetzt, das mich mit jemand anderem verbindet. So als würde man am Computer Steckplätze umstecken.“ Dem tätowierten, alten Rocker wurde schlecht, als er das hörte. „Bist du auch über die Nebenwirkungen aufgeklärt worden?“, keuchte er schockiert. Chippy machte jetzt verdammt nochmal wirklich ernst!? Sie wollte ihn mit aller Macht absägen. Ob nun mit der radikalen Methode der beiden Forscher, oder mit diesem dunkelblauen Stein da, egal. Mit dem Ziel so unmittelbar vor Augen war ihr jetzt offensichtlich alles Schnuppe. Sein Schützling schmunzelte ihn gehässig an. „Umbringen wird es dich jedenfalls nicht, wenn der Beipackzettel die Wahrheit sagt. Also keine Sorge.“ Dann schob sie die Tür auf, vor der sie inzwischen angelangt waren, und trat ins Verließ ein. Die Illusionistin schaute sich interessiert in der Kammer um, die an den Wänden ringsherum mit fünf Käfigen gesäumt war. Es war dunkel, kühl und sogar ein wenig muffig hier drin. Eigentlich kein angemessener Ort für ihren zukünftigen Schutzgeist. Aber wenn sie Erfolg hatte, würde er ja nicht mehr lange hier bleiben müssen. Sie kontrollierte nochmal, ob ihre Illusionen noch einwandfrei intakt waren, die den drei Russen den Einsatz jeglicher Magie versagten. Dann galt ihr erstes Interesse Vladislav und Waleri. Die beiden lebten noch und sahen gesund und munter aus. Scheinbar hatte diese neue Methode der Forscher zur Trennung des silbernen Bandes tatsächlich Früchte getragen, ohne die Probanden umzubringen oder dauerhaft zu schädigen. „baishunpu, watashi o hanashite, soshite chippy o korosu to chikatte imasu!“ [Lass mich hier raus, du Hure, und ich schwöre, ich werde dich umbringen!], zischte Waleri sie aggressiv an. Er ließ ganz bewusst die respektvolle 'san'-Endung an ihrem Namen weg, die unter normalen Umständen üblich und grammatisch korrekt gewesen wäre. „Sieh an, ich wusste gar nicht, daß du Japanisch sprichst“, gab Chippy amüsiert zurück, ohne diese Drohung zu werten. Natürlich hatte sie nicht vor, ihn raus zu lassen, so oder so nicht. „Wenn du so starke Sprüche klopfen kannst, kann es dir ja nicht schlecht gehen. Das freut mich.“ „majo!“ [Hexe], fluchte er. „Mh“, machte Chippy nachdenklich, als müsse sie überlegen, ob man das so gelten lassen konnte. „Ich glaube, die korrekte Bezeichnung wäre 'Magi', oder wenigstens 'Magier' oder 'magisch Begabter', oder sowas in der Art“, zog sie den Gefangenen auf und ergötzte sich an seinem stinksauren Gesicht. Er hätte sie am liebsten erwürgt, das sah man ihm an. Aber machen konnte er nichts. In seinem Käfig war er machtlos. Als sie seiner bösen Schimpf-Kanonaden überdrüssig wurde, warf sie ihn mit einer Detonations-Illusion an die Rückwand des Käfigs. Waleri krachte schwungvoll mit dem Rücken gegen die Ziegelmauer und knickte in den Beinen ein. Er rutschte an der Wand herunter, bis er auf dem Boden zu sitzen kam. Dann hielt er allerdings einsichtig die Klappe. Vladislav saß in einer Ecke der Zelle, die Beine lang ausgestreckt, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und verdrehte genervt die Augen. Musste Waleri sich denn selbst in so einer Situation noch mit der jungen Dame anlegen? Chippy schlenderte weiter zur nächsten Zelle und schaute, was Victor derweile so trieb. Der hatte sich ebenfalls auf dem blanken Boden niedergelassen und harrte geduldig der Dinge, die da kommen mochten. Lächelnd zückte Chippy den Schlüssel und schloss die Zelle auf. Sie hielt ihm einladend die Tür auf. „dete kudasai“ [Raus mit dir.] Er musterte argwöhnisch die offene Käfigtür und rührte sich erstmal nicht von der Stelle. War das gut oder schlecht? „Du willst, daß ich mitkomme?“ „Victor, geh da nicht mit!“, riet Vladislav ihm von nebenan. „Was hab ich denn für eine Wahl?“, konterte der Vize-Boss, kämpfte sich ächzend auf die Beine und klopfte sich die Hose sauber. Aus der Mitte des Raumes schossen Ranken aus dem Boden. Eindeutig Chippys Werk. Die Dinger konnten nur Illusionen sein. Das machte sie aber leider nicht weniger wirkungsvoll. Sie peitschten zielstrebig in Victors offen stehenden Verschlag hinein, umwickelten ihn blitzschnell wie Fesseln, und zerrten ihn ruckartig aus dem Käfig heraus. Vladislav keuchte ebenso schockiert auf wie Victor selbst, der sich für einen Moment im freien Flug befand und die Umgebung wild um sich herum wirbeln sah, um dann hart in der Mitte des Raumes auf die Erde zu klatschen. Die Ranken wendeten ihn auf den Rücken herum wie ein Schnitzel in der Pfanne, und zurrten ihn auf dem Rücken liegend bewegungsunfähig fest. Sowohl die Handgelenke wurden ihm links und rechts auf den Boden getackert, als auch die Beine. Um seine Taille schlang sich ebenfalls noch eine Liane, um ihn festzuhalten. Victor stöhnte schmerzlich auf und musste sich erstmal räumlich neu orientieren. Die unkontrollierte Ladung hatte ganz schön weh getan. Himmel, hatte die mächtige Fähigkeiten. Mit einer gescheiten Ausbildung hätte aus ihr mal eine richtig starke Magierin werden können. „Sag doch, wenn´s dir nicht schnell genug geht, Mann!“, beschwerte er sich bei Chippy. Während Victor noch systematisch alle Schlingpflanzen durchtestete, die ihn auf dem Boden festgenagelt hielten, zog die junge Illusionistin ein abschreckend langes Messer aus ihrer Beintasche. Sie drehte die Klinge in der Hand nach unten, kniete sich neben ihn und setzte ihm die Spitze direkt auf die Brust. Victor gab seine Entfesselungsversuche sofort auf. „rorieru ni sayonara o iu“, meinte Chippy mit einem herablassenden Grinsen. „Dir ist schon klar, daß ich dich nicht verstehe, oder?“, maulte er unbeeindruckt. „Sie sagt, sie wird sich von mir trennen“, gab Loriel ihm zu verstehen. Auf Englisch, denn da waren die Verständigungs-Chancen größer. Ach ja. 'ro-ri-e-ru' war die japanische Art, 'Loriel' auszusprechen, erinnerte sich der Vize-Boss der Motus. „Wie ihr meint.“ Chippy quasselte weiter auf Japanisch auf ihn ein. „Chippy findet dich beeindruckend. Du bist nützlicher als ich. Du bist wesentlich mächtiger“, übersetzte ihr Schutzgeist sinngemäß und hörbar humorlos mit. „Du hast die gewinnbringenderen Fähigkeiten. Und nebenbei bist du auch um einiges cooler.“ Victor schaute ungläubig zwischen ihr und Loriel hin und her. Cooler, ja? Das sollte sie wirklich geäußert haben? Schlimmer noch, das sollte wirklich ein Kriterium sein, nach dem sie vorging? „Was will sie mir damit jetzt sagen?“ „sore wa dōiu imi desu ka?, übersetzte Loriel diesmal in die andere Richtung und hörte sich die Antwort seines Schützlings missmutig an. Er war nicht begeistert davon, daß Chippy ihn loswerden wollte. Trotzdem dolmetchte er artig weiter. „Du sollst ihr neuer Genius Intimus werden. Sie wird dich an sich binden. Du wirst mich ersetzen. ... Und sie will wissen, was du dazu sagst.“ Dem Motus-Vize schlief das Gesicht ein. Das war der reinste Albtraum. Und was sollte er dazu schon sagen? Es war ja nicht so, als ob er die Wahl gehabt hätte, diesen Vorschlag abzulehnen, wenn er die Klinge des Buschmessers nicht eine Handbreit tiefer in seinem Herzen sehen wollte. Er konnte nur zustimmen und mitspielen und geduldig auf eine Gelegenheit warten, sich zu befreien. Früher oder später würde sie ihn ja wohl wieder loslassen müssen. Ihre magischen Fähigkeiten mussten doch irgendwann mal erschöpft sein. Sie konnte ihre Illusionen nicht tagelang aufrecht erhalten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)