Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 25: gemeinsame Vergangenheit ------------------------------------ Waleri ließ sich neben seinem Schützling wieder zu Boden plumpsen, um sich auszuruhen. Der Einsatz seiner Fähigkeit, so kurz er auch gewesen sein mochte, hatte ihn ganz schön geschlaucht. Wie immer. Darum nutzte er sein magisches Talent auch so ungern in vollem Umfang. „Super. Victor ist weg und wir sitzen immer noch hier fest. Der hat uns einfach im Stich gelassen, der Sack. So dankt er mir das also.“ „Nein-nein, keine Sorge“, gab Vladislav gelassen zurück. „Der wird schon wiederkommen und uns noch helfen.“ „Du vertraust diesem Kerl viel zu sehr.“ „Warum nicht?“ Der Boss warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, bevor er wieder wegschaute. „Wie lange kennst du ihn schon? Ein paar Monate? Ein Jahr?“ „Du untertreibst. Und ich habe auch keinen Grund, ihm nicht zu trauen.“ Waleri zog die Stirn in Falten. Na, HATTE Vladislav denn einen Grund, ihm zu vertrauen? Hatte er irgendwas Gutes gegen ihn in der Hand, oder so? Irgendwas, was ihm seine Loyalität sicherte? „Du weißt ja bis heute nichtmal, was er überhaupt ist! Hat er dir jemals seine wahre Gestalt gezeigt?“, hielt er dagegen. „Victor ist ein Gestaltwandler. Selbst wenn er mir irgendwas zeigen würde, was er angeblich ist, könnte ich nie ganz sicher sein. Also ist es auch egal.“ Waleri gab es auf und diskutierte nicht weiter. Vladislav warf ihm abermals einen Blick aus dem Augenwinkel zu. „Warum guckst du mich denn dauernd so schief von der Seite an?“, wollte Waleri wissen, weil ihn das langsam aber sicher nervte. „mne zhal'. [Tut mir leid.] Es ist so ungewohnt, nicht über die mentale Brücke zu spüren, was du empfindest, oder was du von einer Sache hältst. Ich muss dir ins Gesicht schauen, um wenigstens anhand deiner Mimik das Nötigste zu erraten.“ Diese Aussage stimmte den Genius wieder milde. Das ging ihm auch so, selbst wenn er solche Gefühlsduseleien niemals offen zugegeben hätte. „Glaubst du, das silberne Band zwischen uns ist wirklich gekappt?“ „Zumindest fühlt es sich so an. Ich spüre es nicht mehr. Ich fühl mich innerlich irgendwie halb tot. Da fehlt was.“ Es herrschte Ruhe, da Vladislav vergeblich auf eine Antwort wartete. Nur untermalt von Loriels Toben in der Nachbar-Zelle. Vladislav schaute wieder kurz herüber. „Wenn diese Verbindung wirklich weg ist, Waleri ... Wirst du dann jetzt eigene Wege gehen? Oder wirst du bleiben?“ „Was ist das denn für ´ne bescheuerte Frage!?“, begehrte Waleri beleidigt auf. „Ich frag ja nur.“ „Was wäre dir denn lieber? Willst du mich gern los haben!?“ „Nein. Das wollte ich damit nicht sagen“, versuchte Vladislav ihm betont ruhig zu erklären. Er hörte sich regelrecht deprimiert an. „Aber dieses Leben, das wir führen ... die Leitung eines Verbrecher-Kartells wie der Motus, mit all dem Waffenschmuggel, Sklavenhandel, Mord und Totschlag ... vielleicht gefällt dir das ja nicht. Vielleicht würdest du lieber nichts mehr damit zu tun haben wollen. Ich wäre dir jedenfalls nicht böse, wenn es so wäre. Ich könnte es verstehen.“ Waleri lachte trocken und, ja, sehr humorlos. „Wenn ich dich mal dran erinnern dürfte, dann war ich derjenige, der dich überhaupt da hin gebracht hat, Kumpel.“ Er kannte Vladislav schon so lange. Seit der 12 Jahre alt war, war Waleri nicht von seiner Seite gewichen und hatte Vladislavs ganzes seitheriges Leben mit ihm geteilt. Er war der, der Rache für Vladislavs erschlagenen Sohn gewollt hatte. Und Vladislav durfte ihm glauben, daß er an Wolodja gehangen hatte, auch wenn es Vladislavs Sohn gewesen war, und nicht sein eigener. Er hatte den Hass gegen die Rotkappen in Vladislav gesät, und gegen alles andere, was noch so da draußen rumkroch. Er hatte Vladislav klar gemacht, daß Kreaturen auf Erden wandelten, die es nicht geben dürfte, und daß die Staatlichen nichts dagegen taten. Er hatte Vladislav die Jagd auf gefährliche Genii zur Aufgabe gegeben, damit sein Leben nach dem Tod seines Sohnes wieder einen Sinn bekam, weil er schon kurz davor gewesen war, sich selber wegzuräumen. ER, Waleri, war das gewesen! Er hatte Vladislav dazu gebracht, seine Knarre lieber auf andere zu richten, statt sich die Mündung an den eigenen Kopf zu halten. Eigentlich war Waleri der, der die Motus ins Leben gerufen hatte und am Laufen hielt, auch wenn er sich offiziell im Hintergrund hielt. Vladislav als Boss der Motus war da ein wenig sein Strohmann, einfach nur weil es blöd ausgesehen hätte, wenn ein Typ, der mit Waffengewalt Genii jagte, sich von einem Genius herumbefehligen ließ. Aber der Einfluss, den er auf Vladislav ausübte, war maßgeblich. Und Waleri war schon ein Schlitzohr gewesen, lange bevor es Vladislav in seiner Welt überhaupt gegeben hatte. Mit einem redlichen, braven Spießer-Leben wäre er totunglücklich. „Meine Frau hätte das sicherlich nicht gewollt, daß sowas aus uns wird.“ „Deine Frau!“, betonte Waleri anklagend, „... ist abgehauen und hat dich verlassen, weil sie den Tod eures Sohnes nicht richtig verkraftet hat!“ Vladislav wusste nicht mal, wo sie inzwischen hin war, wo sie jetzt lebte oder was sie gerade machte. „Sie ist nun wirklich die letzte, die noch ein Recht darauf hat, über dein Leben mit zu bestimmen.“ „Ach, das sagst du jetzt nur, weil du sie nicht mochtest.“ „Ich? Sie war es, die MICH nicht mochte. Weil sie wusste, daß ich ein Gauner bin und es mit Recht und Ordnung nicht so eng sehe.“ „Darum habe ich dich ja auch gebeten, es zu unterlassen.“ „Und ich HABE es ja auch unterlassen, solange sie da war. Und? Hat das deinen Wolodja gerettet? Oder hat es deine Ehe gerettet?“ Vladislav seufzte leise. Inzwischen musste er seinem Genius Intimus nicht mal mehr ins Gesicht sehen. Er hörte schon am Tonfall deutlich genug, wie er drauf war. Seine Frau, selbst nicht magisch begabt, war einfach nicht gut damit klar gekommen, daß sie ihn nie für sich alleine gehabt hatte, und da konnte er sie sogar ein bisschen verstehen. Sie musste ihn immer mit Waleri teilen. Man konnte es 'Eifersucht' nennen, wenn man wollte. Aber Fakt war, daß seine Frau und Waleri sich gegenseitig nie ausstehen konnten. Wie sie vor allem direkt nach Wolodjas Tod mit Waleri umgesprungen war, war schon mehr als nur Trauer-Biestigkeit gewesen. Sie hatte Waleri förmlich die Schuld am Tod ihres Sohnes gegeben, einfach nur weil er ein Genius war. Dabei waren Vladislav und Waleri nichtmal in der Nähe gewesen, als es passiert war. Glaubte sie denn, Waleri hätte es nicht verhindert, wenn er gekonnt hätte? Vladislav kratzte sich unglücklich im Genick und sagte nichts mehr. Dieser Diskussion war er ohnehin nicht gewachsen. Wie auch? Waleri hatte ja Recht. Loriel in der Nachbar-Zelle war unterdessen zusammengebrochen und heulte. Vladislav fragte sich, ob Waleri auch so ausgeflippt wäre, wenn man ihn von ihm getrennt hätte. Schutzgeister hingen doch sehr viel extremer an ihren Schützlingen, als sie gemeinhin zugeben wollten. Auch so ein Nebeneffekt der mentalen Bindung. Was hätte wohl seine Schwester dazu gesagt, wenn sie das alles noch erfahren hätte? Leider bestand ja auch zu ihr kein Kontakt mehr. Der liebe, kleine Sonnenschein, Klassensprecherin, immer vorzeigbar gekleidet, immer artig, in der Schule gute Noten, dann eine steile Karriere in einem ehrbaren Beruf. Seine Schwester war das perfekte Kind, wie Eltern es sich wünschten. Entsprechend war sie auch meistens mit mehr Aufmerksamkeit gesegnet gewesen. Mit Vladislav als einzigem Magier in der ganzen Familie hatte man nicht so recht umgehen können, und noch weniger mit dem zwielichtigen Waleri, der aus dem Nichts aufgetaucht und quasi über Nacht einfach in das Haus der Familie mit eingezogen war. Natürlich war auch seine jüngere Schwester nicht perfekt. Aber sie war gut darin, es jedem glaubhaft zu machen. Darum hatte sie inzwischen auch keinen Kontakt mehr zu Vladislav. Der passte nicht in die perfekte Fassade ihres Lebens. Waleri, der nun seinerseits vergeblich auf weitere Diskussionsbeiträge wartete, holte Luft und trieb das Thema eben selber weiter voran. „Also wenn du mich nicht mehr willst, dann schick mich weg. Wenn nicht, dann lebe damit, daß ich bleibe.“ Vladislavs Blick ruckte erschrocken herum. „Bist du etwa beleidigt?“, wollte der Motus-Boss wissen und sah seinem Genius Intimus nun doch wieder ins Gesicht, um ihn einschätzen zu können. Was sollte diese Wortwahl? Das hätte man jetzt durchaus netter formulieren können. „Du fragst mich ernsthaft, ob ich eigene Wege gehen will! Nach allem, was wir gemeinsam erlebt und durchlebt haben. Ja, verdammt, natürlich bin ich beleidigt! Denkst du, ich hau jetzt einfach ab? Als Magier ohne Schutzgeist bist du doch so gut wie tot. Magier haben nicht grundlos Schutzgeister! Und du hast Magie nichtmal studiert. Du hast bloß eine stupide Ausbildung.“ „Was willst du damit jetzt sagen?“, verlangte er in drohendem Tonfall zu erfahren. Vladislav wusste zwar sehr genau, was sein Genius Intimus damit sagen wollte, aber es nochmal aus seinem Mund bestätigt zu hören, machte einfach mehr Spaß, wenn man sich gepflegt streiten wollte. „Gib es zu: Du bist mittelmäßig!“, motzte Waleri aber ungebremst weiter. „Du hast nichts auf dem Kasten! Jedenfalls nicht genug, um alleine zu überleben! Du kriegst ja mit deiner Bann-Magie nichtmal solche schnöden Türschlösser hier auf, um uns zu befreien! Deinem verehrten Victor wäre das nicht passiert. Der hätte den Käfig garantiert im Null Komma Nichts auf gehabt!“ „Jetzt krieg dich wieder ein, Mann“, nörgelte Vladislav langsam gefrustet. Nebenbei bemerkt hatte Waleri selbst nicht studiert. Er hatte nichtmal eine Ausbildung vorzuweisen. Er hatte gar nichts! Er hatte immer nur geboxt, das war das Einzige, was er konnte. Weil er in Russland als Boxer nichts geworden war, hatte er sein Glück irgendwann in Japan versucht, bei den Sumo-Ringern. Und daß auch das nicht erfolgreicher verlaufen war, hatte nur bedingt damit zu tun, daß die nationalstolzen Japaner sich in ihrem eigenen Land nicht von Ausländern übertrumpfen lassen wollten. Jedenfalls durfte Waleri sich ja wohl als letzter über unzureichende Ausbildung beschweren. „Ich wollte mit dieser Frage doch nicht sagen, daß du gehen sollst. Ich wollte dir bloß klar machen, daß ich dich nicht dazu zwingen würde, zu bleiben, falls du es nicht willst. Du bist nicht mein Eigentum und ich kette dich nicht an. Ich respektiere dich als eigenständiges Individuum mit einem eigenen Willen und mit eigenen Freiheiten. Als jemanden mit einem eigenen Leben. Ist das denn so schlimm für dich?“ „Allein, daß du in Betracht ziehst, ich könnte gehen wollen ... Du machst mich fassungslos, echt.“ „Waleri“, seufzte sein Schützling um Vernunft bittend. „Du bist alles, was mir noch geblieben ist. Das einzige, was ich noch habe. Ich würde dich niemals wegschicken. Bitte missversteh mich nicht, wenn ich dir in so einer Situation hier Freiheiten lassen will und mich für deine Wünsche interessiere.“ Dabei deutete er vielsagend auf die Gitterstäbe, um das Wort 'Situation' zu konkretisieren. „Es kam in unserem Leben immerhin selten genug vor, daß wir wirklich mal bei irgendwas eine Wahl hatten.“ Der Genius Intimus schnaufte leise. „Schon gut, ich hab überreagiert, tut mir leid. Ist gerade eine sehr extreme Lage, in der wir hier stecken.“ „Ja, ist es. Wir sind beide ganz schön am Ende. Also lass uns nicht streiten, okay?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)