Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 26: hartes Gefecht -------------------------- Victor Akomowarov fand die Treppe nach oben, stürzte förmlich aus dem wenige Quadratmeter messenden Betonklotz hinaus, der hier den Ein- und Ausgang darstellte, und türmte Hals über den Kopf in den Wald. Er war selber ein wenig erstaunt, daß er ohne jedes Hindernis aus der Forschungsstation heraus kam. Er begegnete niemandem, der ihn hätte aufhalten können, und er wurde auch nicht von irgendwelchen magischen Fallen an der Flucht gehindert. Obwohl es hier tatsächlich Gefangene gab, nahmen die Forscher wohl nicht an, daß aus diesem Komplex jemand ungefragt verschwinden könnte. Aber selbst, wenn die sich ihrer Sache so sicher waren, hätte Victor doch zumindest eine Quarantäne-Schleuse in einem medizinischen Labor schon für sinnvoll erachtet. Zum Glück hatten die sein Verschwinden nicht schnell genug bemerkt. Loriel würde einige Momente Zeit brauchen, um Alarm zu schlagen. Er rannte ein Stück weit planlos durch den Wald, darauf achtend, möglichst eine andere Richtung einzuschlagen als die, in die die Tür ausgerichtet war, aber irgendwann musste er sich erschöpft auf einen Felsen setzen und Pause machen. Sein Magen hatte sich wieder beruhigt, aber die Kopfschmerzen waren nervig. Und er fühlte sich absolut nicht fit. Seine Kondition war in Mitleidenschaft gezogen. Er war aus der Puste und seine Beine waren so schwer, als wäre er schon etliche Kilometer gerannt. Was auch immer Chippys blöder Stein mit ihm angestellt hatte, gesund war das nicht. Victor schaute zurück und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dabei ließ er die letzten paar Minuten in der Forschungsstation revue passieren. Es war alles so schnell gegangen. Zu fliehen statt zu kämpfen war ein purer Reflex gewesen. Das bedeutete aber auch, daß er wieder zurück musste, um Vladislav und Waleri zu retten. Wer weiß, was mit den beiden jetzt angestellt wurde, wenn Victor weg war. Was hatte Waleri getan, um den Shogu Tenshi mitten in der Bewegung einzufrieren? Das war nicht einfach nur ein Paralyse-Zauber gewesen. Denn selbst wenn Loriel sich nicht mehr hätte bewegen können, hätten die Schwerkraft und sein eigener Schwung ihn nach vorn umfallen lassen müssen. Aber der hatte förmlich frei in der Luft gehangen. War Waleri etwa ein Tempomat? Konnte er die Zeit anhalten? Von solchen Wesen hatte er in der Tat gehört, aber die waren heutzutage verdammt selten. Das war eine aussterbende Begabung, sehr alte Schule. Das fand man inzwischen eigentlich gar nicht mehr. Er konnte sich kaum vorstellen, daß Waleri ausgerechnet so einer sein sollte. Der Vize-Boss testete kurz ein paar Bann-Schilde durch, um zu sehen, ob seine magischen Fähigkeiten unter Chippys Prozedur gelitten hatten. Er fluchte ungeniert auf, als er gleich darauf eine Rotte Tengu in gelben Gewändern durch die Bäume hindurch heran rauschen sah. Chippys lllusionen. Er war also bereits gefunden worden. Das ging schnell. Als hätte sein Einsatz von Magie diese Dinger angelockt wie ein Leuchtsignal. Er zog Vladislavs Pistole, die er immer noch hinten im rückwärtigen Hosenbund stecken hatte, und schoss die Dinger ab. Aber wie schon letztes Mal zerpulverten sie zu Sand und manifestierten sich gleich darauf neu. Mit gewöhnlicher Munition wurde man die nicht los. Und Victor hatte auf die Schnelle auch keinen hilfreichen Bann auf Lager, den er auf die Munition hätte legen können. Der einzige, der eventuell mit sehr viel Glück etwas hätte ausrichten können, dauerte jetzt zu lange. Er ärgerte sich ein wenig, daß Chippy sich nicht selber zeigte. Hätte er die über den Haufen geschossen, wäre Ruhe gewesen. Er hätte Loriel fragen sollen, was man gegen ihre Illusionen tun konnte, als der dafür noch gesprächig genug gewesen war. Eine Druckwelle aus Wind-Magie, wie sie für Tengu typisch war, traf ihn und schleuderte ihn rückwärts von den Füßen. Victor schaffte es noch, im Flug drei schnelle Schüsse abzugeben. Aber ob er dabei irgendwas getroffen hatte, bekam er nicht mehr mit, da er in diesem Moment schon hart mit dem Rücken auf den Boden krachte. Schon wieder. Als hätte die artgleiche Bruchlandung im Labor nicht schon gereicht. Den Kopf hatte er reflexartig auf die Brust gezogen, so daß er zumindest nicht mit dem Hinterkopf aufschlug, aber durch seine leicht gedrehte Landung knallte er mit der rechten Schulter am wuchtigsten auf. Victor brauchte eine Sekunde, um erstmal schmerzhaft zu stöhnen und wieder Luft zu holen. Dann nahm er sich aber sofort wieder zusammen und sah sich nach seinen Gegnern um. Der Kampf war immerhin noch nicht zu Ende. Weitere Tengu segelten auf ihn zu. Er sprang auf und rannte. Schießeisen brachten hier nichts, solange Chippy nicht selber auftauchte. Loriel hatte gesagt, sie könne ihre Illusionen etwa einen Kilometer weit weg schicken. Vielleicht schaffte er es ja, ihrem Aktionsradius zu entkommen und nicht wiedergefunden zu werden. Nach einer relativ kurzen Strecke brach er unvermutet aus dem Wald und fand sich vor einem langgezogenen See wieder. Er glaubte sofort zu wissen, wo er war. Wenn er die Karte von Okinawa richtig in Erinnerung hatte, lag dieser See östlich vom Berg Yonaha. Er hatte keine Ahnung, wie das Gewässer hieß, aber er begrüßte die Lücke im Wald sehr. Endlich genug Platz, um sich zu verwandeln. In seiner Greifengestalt wäre er mit den mächtigen Schwingen ja nicht durch die Baumkronen gekommen. Victor warf die Pistole weg, versuchte sich noch zu merken, wohin er sie geschmissen hatte um sie später wieder einsammeln zu können, wandelte seine Gestalt und schraubte sich mit einigen, kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Aber er war noch gar nicht ganz auf den kaum 100 Meter breiten See hinaus geflogen, da musste er schon einsehen, daß es eine blöde Idee gewesen war. Tengu konnten immerhin auch fliegen. Ohne viel Federlesen nahmen sie die Verfolgung auf und jagten ihn eben in der Luft weiter. Einer der Tengu schnitt ihm den Weg ab und zwang ihn zu einem harten Ausweichmanöver. Victor verlor den Aufwind und klatschte trudelnd ins Wasser, ohne sich noch abfangen zu können. Seine Reflexe und seine Flugkünste waren für solche anspruchsvollen Nummern einfach nicht trainiert genug. Auch wenn er grundsätzlich fliegen konnte, sofern er die richtige Gestalt annahm, verbrachte er doch 99 Prozent der Zeit am Boden. Mit dem Wasser kam Victor klar. Es war zwar kühl, aber bei weitem nicht so eisig und lähmend wie der blaue Stein, den Chippy ihm angetan hatte. Nur die plötzliche Ruhe war etwas irritierend. Unter Wasser herrschte eine gänzlich andere, viel gedämpftere Akkustik. Hier unten war es unglaublich still. Um so deutlicher hörte Victor um sich herum mehrere große Objekte wie Projektile durch die Oberfläche schießen und ins Wasser eintauchen. Er öffnete die Augen, was unter Wasser nicht gerade angenehm war, und sah drei Tengu auf sich zu tauchen. Ihre weiten Gewänder bauschten sich geisterhaft auf. Tengu unter Wasser. Jetzt übertrieb Chippy mit ihren Illusionen aber wirklich, dachte Victor genervt. Er strampelte sich an die Oberfläche hinauf, um Luft zu holen, und verwandelte sich aus seiner Greifen-Gestalt heraus in irgendeinen großen Fantasie-Fisch ohne reales Vorbild, denn für solche Feinheiten fehlten ihm gerade die Nerven. Hauptsache er konnte schwimmen. Dann sah er zu, daß er weg kam. Gestaltwandlung war schon eine praktische Sache. Auch wenn er spürte, daß es ihm langsam an die Substanz ging. Die Magie fiel ihm zunehmend schwerer. Er hatte in den letzten 24 Stunden nicht geschlafen und kaum etwas gegessen. Genauso wie auf die körperliche Verfassung wirkten sich Übermüdung und Unterzuckerung auch auf die magische Kondition aus. Er hatte sich gerade zurück ans Ufer gerettet und wieder seine menschliche Gestalt angenommen, da hatte er die blöden Dinger schon wieder am Hacken. Die waren echt lästig. Kämpfen konnte man gegen sie nicht, aber weglaufen konnte man auch nicht. Langsam gingen Victor die Kraft und die Ideen aus. Er hatte sich noch nie dermaßen hilflos und aufgeschmissen gefühlt. Sonst war er eigentlich immer ein recht starker und souveräner Kämpfer, der sich nicht so leicht unterbuttern ließ. Aber Illusionen waren genau die eine magische Fähigkeit, gegen die er mit seinen magischen Begabungen absolut nichts ausrichten konnte. Und das sollte was heißen, immerhin hatte er drei Stück davon. Ein Tengu rauschte im Tiefflug frontal auf ihn zu. Der Russe gab es auf, weiter davonlaufen zu wollen. Damit spielte er sich nur selber tot. Stattdessen zog er seinen allerletzten Trumpf, einen elementaren Erd-Schild. Der Tengu, obwohl er nur eine Illusion war, prallte gegen den magischen Schild wie ein Rammbock und wuchtete Victor damit rustikal zu Boden. Er landete halb im Wasser, zwischen einigen Felsen. Dieser Schild blockte wirklich alles. Der Schild hielt auf jeden Fall. Die Frage war nur, ob man als Magier auch den Schild halten konnte. Die Wucht der Schläge, oder das Gewicht, das auf einen herunter donnerte, wurde durch den Schild nicht im mindesten gemindert. Wenn der Gegner einen ungespitzt in den Boden rammte, dann eben zur Not auch mitsamt dem Schild. Man konnte sich ausrechnen, wie hilfreich dieser elementare Erd-Schild für Victor war, bei seiner schmächtigen Statur. Er ließ die Magie des Schildes verpuffen, rollte sich auf der Seite zusammen und schlang schutzsuchend die Arme um den Kopf. Er hatte verspielt, schlicht und einfach. Gegen ein junges Straßenmädchen, das, soweit er wusste, nichtmal eine richtige Ausbildung absolviert hatte. Unfassbar. Und das alles nur, dachte er verbittert, weil Vladislav ihm den ganzen Schlachtplan über den Haufen geworfen hatte. Victor wäre von vorn herein ganz anders an diese Sache heran gegangen, wenn der Boss nicht dabei gewesen wäre. Und er hätte sich Chippy und ihrer Bande auch nie im Leben gezeigt, sondern hätte seine Beobachtungen und Aktionen aus sicherer Entfernung betrieben. Wäre alles nach Plan verlaufen, hätte Chippy bis heute nicht gewusst, daß Vladislav und Victor überhaupt existierten. Und sie wären auch alle miteinander nie in dieser dämlichen Forschungsstation gestrandet, wenn Vladislav wenigstens auf ihn gehört hätte und mit in das Räuberlager gekommen wäre, statt zu flüchten. Die Tengu umkreisten ihn wie ein Schwarm Geier. ... und dann verschwanden sie. Der Vize-Boss der Motus sah vorsichtig und argwöhnisch auf und fragte sich, was das sollte. Er traute dem Frieden nicht. Zwischen den Bäumen kam Chippy mit einem siegessicheren Lächeln heraus geschlendert, wie auf einem Stadtbummel. „ne, akiramete imasu ka?“ [Na, gibst du auf?], wollte sie honigsüß wissen. Victor ließ den Kopf erschöpft wieder auf einen der Felsen fallen. Hatte es noch Sinn, weiter zu kämpfen? Selbst wenn er nicht so ziemlich am Ende gewesen wäre? Verzweifelt suchte er nach einem Grund, weiter zu machen. Wofür eigentlich? Er hatte ja inzwischen gar nichts mehr, wofür er lebte oder wofür es sich zu kämpfen lohnte. Seit er in die Motus mit hineingezogen worden war, war er Vollzeit-Verbrecher ohne ein eigenes Privatleben, ohne Freunde, ohne Familie, ohne Interessen. Ob er nun für Vladislav arbeitete, oder für diese Chippy, sofern ihr blaues Stein-Artefakt ihn nicht umbrachte, was machte das schon für einen Unterschied? Chippy spazierte über das kurze Stück Uferwiese und hob dabei eine Hand, um eine weitere ihrer Illusionen loszulassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)