Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 28: spektakuläres Ende ------------------------------ Forschungsstation Professor Doktor Hülsenkorn kam mit einem Arsenal medizinischer Instrumente herein. Er wollte endlich einen Engel erforschen, wie es ihm versprochen worden war. Das waren unglaublich lehrreiche Wesen mit wahnsinnig faszinierenden, magischen Fähigkeiten. Jeder Forscher leckte sich die Finger nach sowas. Leider waren Shogu Tenshi genauso stark wie selten. Und die, die es gab, stellten sich verständlicherweise nicht freiwillig als Versuchskaninchen zur Verfügung. Die beiden Wissenschaftler hatten quasi einen Deal mit Chippy ausgehandelt. Wenn sie ein Verfahren fanden, Loriel von ihr zu trennen, durften sie ihn behalten. Darauf waren sie natürlich nur zu gern eingegangen. Chippy lieferte ihnen immerhin genug Versuchskaninchen ins Labor, damit sie nach Herzenslust all ihre Forschungen betreiben konnten. Und das silberne Band zu kappen war ganz sicher nicht das einzige, was die beiden Genetiker interessierte. Loriel, der in seinem Käfig schon seit einer ganzen Weile reglos auf der Seite gelegen hatte, rührte sich auch nicht, als der Professor aufschloss und herein kam. Professor Doktor Hülsenkorn rempelte ihn grob an und sagte irgend etwas auf Japanisch, entlockte dem tätowierten Rocker damit aber ebenfalls keine Reaktion. Also zog er sich einen Arm seines Probanden heran, zückte eine schon vorbereitete Einwegspritze und versuchte, ihm zunächst erstmal eine Ladung Blut abzunehmen. Loriel ließ es widerstandslos mit sich geschehen. Wie jemand mit einem gebrochenen Willen. Von Chippy eigenhändig hier eingesperrt und absichtlich zurückgelassen worden zu sein, hatte ihn wohl gründlich fertig gemacht. „Diese Memme ...“, maulte Waleri in der Nachbar-Zelle leise. „Ich hätte dem Kerl den Schädel eingeschlagen, wenn der mir mit einer Nadel in den Käfig reingekommen wäre. So eine super Chance, und Lori nutzt sie nicht.“ „Sei still da drüben. Du bist der Nächste, versprochen“, kommentierte Professor Doktor Hülsenkorn nur schmunzelnd. „Komm nur her, towarisch. Ich warte.“ „Waleri!“, mischte sich sein Schützling Vladislav bittend von der Seite ein. „Du bist gerade nicht in der Position, so die große Klappe zu haben.“ „Nur, weil ich hier drin nicht meine wahre Gestalt annehmen kann, ohne dich zu erdrücken! Sonst wäre dieses Kapitel schon längst abgehakt!“ „Dann mecker nicht, wenn du auch keine besseren Ideen hast.“ „Du bist´n Penner“, fand Waleri und brachte seinen Schützling damit zum Schmunzeln. Solche freundlichen Worte waren zwischen ihnen zwar nicht an der Tagesordnung, aber doch geläufig genug, damit sie wechselseitig wussten, wie sie das zu verstehen hatten. Sie nahmen sich kühle Betitelungen gegenseitig nicht übel, weil sie wussten, daß es nicht ernst gemeint war. Zwischen zwei kriminellen, gestandenen Kerlen wie ihnen durfte der Umgangston ruhig mal etwas rauer werden. Manchmal fragte sich Vladislav allerdings schon, wer von ihnen beiden eigentlich das Sagen hatte. Als Magi war Vladislav an sich der, der bestimmte, was zu tun war und wo es lang ging. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit waren Schutzgeister noch das persönliche Eigentum ihrer Schützlinge gewesen, nicht besser als Sklaven. Der gesellschaftliche Status der Genii Intimi hatte sich in den letzten Jahrzehnten zwar etwas gewandelt und es gab immer mehr Magier, die ihren Schutzgeist als ebenbürtigen Partner betrachteten und ihm einen eigenen Willen zugestanden, aber vom Grundsatz her hatten sie als Magier immer noch die Befehlsgewalt inne. Bei Vladislav und Waleri war diese Grenze von Anfang an arg verschwommen. Vladislav, damals erst 12 Jahre alt, hatte natürlich nicht die Kraft gehabt, den wesentlich älteren Waleri irgendwie großartig zu maßregeln. Und da er als einziger Magier in seinem Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis auch keinerlei Vergleiche zu anderen magisch begabten Menschen hatte, hatte sich ihm diese Rollenverteilung auch nie aufgedrängt. Er als kleiner, naiver Junge, ließ sich gern von dem erwachsenen, durchsetzungsfähigen, draufgängerischen Schutzgeist beeinflussen, der ihm, im Gegensatz zu seinen Eltern, so viel Zeit und Aufmerksamkeit widmete und ganz allein für ihn auf der Welt war. Als Vladislav später erwachsen geworden war, seine eigene Familie gegründet und einen Sohn gehabt hatte, hatte sich daran natürlich auch nicht mehr viel geändert. Waleri war einfach nur ein ständiger, wenn auch etwas zweifelhafter und zwielichtiger Begleiter und Freund geblieben, der halt immer da war, und der Vladislav seine Meinung im Zweifelsfall durchaus auch ungefragt sagte. Nachdem sein Sohn Wolodja von einer Rotkappe erschlagen wurde und seine Frau in ihrer Verzweiflung die Sachen gepackt hatte und abgehauen war, war Vladislav in ein so tiefes Loch gefallen, daß er für jede Art von äußerer Beeinflussung empfänglich gewesen war. In dieser Zeit hatte Waleri ihm sehr viele von seinen richtungsweisenden Meinungen und Plänen eingetrichtert, um ihn irgendwie am Laufen zu halten und zum Weiterleben zu bewegen. Von dieser Linie, die Waleri ihm vorgegeben hatte, war er auch nicht mehr abgewichen, nachdem sein Selbstbewusstsein zurückkehrt und stärker als je zuvor war. Aber auch, wenn die Idee der Motus ursprünglich von Waleri gekommen war, war Vladislav heute mit Leib und Seele Chef dieses Verbrecherkartells. Er war sich in dieser Beziehung absolut mit seinem Schutzgeist einig. Er stand völlig hinter dem, was sie beide taten, und hatte auch keinerlei Gewissensbisse dabei. Er jagte gefährliche Genii aus Überzeugung. Und das hätte er nicht getan, auch nicht auf Waleris Drängen hin, wenn es nicht seinem Wesen und seiner Natur entsprochen hätte. Waleri mochte sehr viel eigene Initiative mit einbringen und den Kurs maßgeblich mitbestimmen, teilweise sogar indem er Vladislav einfach überstimmte, aber Vladislav fühlte sich nie gegen seinen Willen zu irgendwas gezwungen, was er grundsätzlich gar nicht hätte verantworten können. Er war nur manchmal etwas grummelig, wenn Waleris Wortwahl gar zu herrisch wurde. Vladislav war der Meinung, daß man auch in Ruhe über alles reden konnte. Aber manchmal schoss das Ego seines Schutzgeistes, der sein Leben lang immer nur gekämpft und im Ring Gegner vermöbelt hatte, eben über. Loriel drehte sich unvermutet auf den Rücken herum, so daß Professor Doktor Hülsenkorn mit einem erschrockenen Laut versuchte, der Bewegung zu folgen, um die Kanüle im Arm nicht abzubrechen. Der Shogu Tenshi sah sich konzentriert um, als würde er auf etwas lauschen, was nur er hören konnte. Die Nadel in seiner Ellbeuge nahm er scheinbar gar nicht für voll. „nan' desu ka?“ [Was ist denn?], wollte Professor Doktor Hülsenkorn wissen, insgeheim am Überlegen, ob er lieber den Rückzug aus dem Käfig antreten sollte, wenn Loriel plötzlich wieder so putzmunter war. „Chippy steckt in Schwierigkeiten“, stellte der Schutzengel wie eine Tatsache in den Raum und lauschte weiter in die Ferne. „Spürst du die mentale Verbindung zu ihr?“ Loriel nickte. „Wahrscheinlich ist sie wieder mit ihrem Artefakt zugange.“ „Nein. Das ist was anderes. Sie wird schwächer. Und sie hat Panik.“ „Hätte ich an ihrer Stelle auch, wenn ich mit solcher Magie rumspielen würde wie mit diesem Voodoo-Stein, den sie da hat. Logisch, daß die Verbindung zu dir schwächer wird, wenn sie ihn wieder im Einsatz hat. Los, jetzt lass mich das Blut fertig ziehen!“ Loriel blieb ungerührt weiter auf dem Rücken liegen und starrte zur Decke hinauf. Sein Atem wurde tiefer und schneller. Seine Gesichtszüge wurden weicher, bis irgendwann erst ein Lächeln und dann regelrechte Vorfreude daraus wurde. Loriels Augen begannen zu strahlen wie die von Kindern zu Weihnachten. Der Professor zog kopfschüttelnd die Nadel aus seinem Arm und fuhr mit seinen Untersuchungen fort. „Es ist vollbracht“, raunte der Shogu Tenshi heiser. „Sie hat mich losgelassen.“ Mit diesen Worten erhob er sich und stand auf. Professor Doktor Hülsenkorn ging überrascht in Deckung. Loriel wechselte in seine wahre Gestalt. Die des in die Jahre gekommenen, dickbäuchigen Schutzengels mit dem struppigen Schnurrbart und den vom Alter ergrauten Flügeln. Ein heller werdender, gleißend weißer Schein umgab ihn, in dessen Licht er sich zu verändern begann. Seine zwei Flügel wurden noch größer, pompöser und schneeweiß, und es erschienen noch zwei Paar weitere dazu. Das graue, schulterlange Sauerkraut, das er auf dem Kopf hatte, wuchs sich zu wunderschönen, langen, kupferroten Haaren aus. Die unrasierte Haut wurde wieder jung, rein und glatt. Die in der Tat schon etwas schlechten Zähne wurden wieder perfekt. Die Tattoos verschwanden spurlos von einem inzwischen makellosen, schlanken Körper. Dann war das Licht, das ihn einschloss, indess so hell geworden, daß es blendete und man von Loriel nichts mehr erkannte. Er verschwand in dem Licht, zugegeben ein wenig unspektakulärer als gedacht. Der ursprungslose Lichtschein verschwand, und Loriel mit ihm. Zurück blieb nur Professor Doktor Hülsenkorn in einer ansonsten leeren Käfigzelle. „Neid erregend“, kommentierte Vladislav trocken. „Hast du schonmal von Engeln mit 6 Flügeln gehört?“ Waleri nickte leicht. „Cheruben. Er hat gerade auf Japanisch gesagt, das silberne Band zu Chippy wäre weg. Seine aktive Dienstzeit als Schutzengel ist demnach jetzt vorbei. Lori ist zu was Höherem geworden und auf die Astralebene gewechselt. Daher auch das Licht.“ „Weil die Verbindung zu seinem Schützling weggefallen ist?“ „Wer weiß!? Schon möglich.“ „Er hätte wenigstens 'tschüss' sagen können.“ Vladislav und Waleri schauten sich gegenseitig ratlos an. Tja, weg war er. Ein seltsamer Sinneswandel, den Loriel da hingelegt hatte. Vor einer halben Stunde hatte er noch geschrien und getobt, weil Chippy ihn nicht mitgenommen hatte, und jetzt hatte er sich offenkundig über das gelöste, silberne Band gefreut. Und was jetzt? „Also, wenn die Verbindung zwischen Loriel und Chippy weg ist ...“, überlegte Vladislav laut, „... ist das gut oder schlecht für Victor?“ Ehe Waleri dazu eine Vermutung äußern konnte, brach die Hölle los. Alle Käfige sprangen gleichzeitig auf, die Türen wurden regelrecht aus den Schlössern gesprengt. Ein Erdbeben schüttelte die ganze Forschungsstation. In anderen Räumen ging hörbar sehr viel Glas und Technik zu Bruch. Das Licht flackerte und die Belüftungsanlage bekam hörbare Aussetzer. Von den Wänden bröckelte der Putz so bedrohlich herunter, daß man dachte, der gesamte unterirdische Komplex würde jeden Moment in sich zusammenstürzen. „Raus hier!“, entschied Waleri gedankenschnell, schnappte seinen Schützling an der Schulterpartie seines T-Shirts und schob ihn durch die offen stehende Käfigtür nach draußen. Auch wenn der schwankende, bebende Boden die Flucht zu einem Tanz auf Eiern machte, mussten sie hier weg, bevor die Wissenschaftler einschreiten konnten oder der ganze verdammte Bau über ihnen zusammenbrach. So eine Chance bot sich mit Sicherheit kein zweites Mal. Von der Decke rieselten ganze Gesteinsbrocken herunter. Auf ihrem Weg durch andere Räume sahen sie, daß die Käfigtüren nicht die einzigen waren, die sich geöffnet hatten. Sämtliche Schränke, an denen sie vorbei kamen, standen sperrangelweit offen und der Inhalt lag zumeist wild verstreut davor auf dem Boden. „Ist das Lori?“, wollte Vladislav keuchend wissen und torkelte auf dem bebenden Boden mit eingezogenem Kopf neben seinem Genius Intimus her. „Legt der hier gerade die ganze Station in Schutt und Asche?“ „Die Macht dazu hätte er als Cherube durchaus“, stimmte Waleri zu, wobei er suchend den Gang hinauf und hinunter schaute. „Der Ausgang ist links rum!“ „Echt? Ich hätte schwören können: rechts!“ „Du und dein super Orientierungs-Sinn! Du würdest hier nie mehr raus finden!“, zog Vladislav ihn ungeduldig auf und lief einfach los. Nach links, wie er angekündigt hatte, und vorbei an einem funkensprühenden, gerissenen Starkstromkabel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)