Das Volk aus den Bergen von Futuhiro (Magister Magicae 4) ================================================================================ Kapitel 29: gebändigte Zeit --------------------------- See östlich vom Berg Yonaha Chippy schrie Victors Namen und rief um Hilfe. Auch wenn er kein Japanisch verstand, war ihr Tonfall doch eindeutig genug. Und vom Codex Geniorum her wäre Victor eigentlich sogar dazu verpflichtet gewesen, ihr zu helfen. Das Problem war nur, daß Victor selbst keiner war, der auf die Astralebene hätte wechseln oder darauf hätte Einfluss nehmen können. Er konnte hier nichts tun, selbst wenn er gewollt hätte – ob er wirklich gewollt hätte, mal dahin gestellt. Er konnte nur machtlos zusehen, wie Chippy binnen weniger Sekunden verblasste, durchscheinend wie ein Geist wurde, und von diesen Wesen langsam aber sicher auf die andere Seite gezogen wurde. Für einen Menschen hieß das im Klartext, die Seele verließ den Körper. Chippy würde sterben, zumindest auf der irdischen Ebene. Dann verschwand auch die gesamte, halb-unsichtbare Spinnennetz-Wolke wieder, samt der Kreaturen, die darin hausten. Victor atmete durch und sackte erstmal erschöpft in eine kniende Haltung hinunter. Gott, diese Dinger waren wie ein Sechser im Lotto gewesen. Die hatten ihm das Leben gerettet, mindestens aber seine Freiheit. Ohne die hätte es für ihn verdammt schlecht ausgesehen. Er hatte noch nie so dermaßen in der Tinte gesessen. Diesmal war der Fall aber wirklich und endgültig geklärt, hoffte er. Diese junge Dame würde ihm keine Probleme mehr machen. Und ihr Schutzgeist wohl auch nicht. Victor hatte Chippy ja nicht selber umgebracht, also musste er eigentlich keine Bedenken haben, Loriel jetzt als Racheengel an der Backe zu haben. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht, die von seinem ungeplanten Tauchgang im See noch klatschnass waren. Er war auch viel zu erleichtert, Chippys elenden Illusionen und ihren wahnwitzigen Plänen entkommen zu sein, um ihr Verschwinden als Verlust anzusehen. Der blaue Stein, mit dem Chippy ihn an sich hatte binden wollen, lag dekorativ in der Wiese. Der russische Genius beschloss, das verfluchte Ding mal lieber mitzunehmen, um es zu analysieren und dann zu zerstören, wenn er konnte. Nicht, daß irgendwelchen arglosen Passanten noch Unfälle damit passierten. Während er seine Taschen nach irgendwas durchwühlte, womit er den Stein aufheben konnte ohne ihn mit bloßen Händen anfassen zu müssen, erinnerte er sich selbst daran, auch Vladislavs Pistole wieder einzusammeln. Regel Nummer eins: niemals Beweismittel rumliegen lassen. Als Victor nicht fündig wurde – seit seine Kleidung die Verwandlung in eine andere Gestalt mitvollzogen hatte, war in seinen Taschen nichts mehr drin – zog er seine Jacke aus, kämpfte sich wieder auf die Beine und wickelte das Artefakt eben darin ein. „Mann, siehst du scheiße aus!“, konnte sich Vladislav nicht verkneifen, als sie sich einige Zeit später im Wald wiedertrafen. Victor hatte vom See aus den Rückweg zum Labor angetreten, aber aus dem waren Vladislav und Waleri ja inzwischen geflüchtet. Die zwei waren immer noch in der unmittelbaren Umgebung der Station unterwegs, wo Victor sie eher zufällig aufgriff. „Halt bloß die Klappe!“, maulte Victor zurück. Seine Haare, inzwischen wieder etwas angetrocknet, sahen sicher aus wie ein Vogelnest. Und seine Klamotten waren nach dem unfreiwilligen Bad im See auch nicht besser dran. Außerdem schlurkste er sehr kraft- und lustlos vor sich hin. „Aber freut mich, euch wohlauf und auf freiem Fuß zu sehen.“ Waleri grinste schief. „Hast du vielleicht eine Ahnung, wo wir hier sind? Wir haben uns wohl ein bisschen verirrt, nachdem wir aus der Forschungseinrichtung geflüchtet sind.“ „Ah ja. Und ich dachte schon, ihr hättet mich gesucht, um mir zu helfen.“ „Wie denn bitte? Du hast doch keinen eingebauten Peilsender“, meinte Vladislav. Victor winkte ab und deutete dann in die Richtung, in die er sowieso unterwegs gewesen war. „Nach Kunigami zu unserem Hotel geht´s da lang. Und morgen will ich im Flieger nach Moskau sitzen, daß das klar ist!“ Er stiefelte schwerfällig und etwas grummelig weiter, wobei er nichtmal sagen konnte, woher die schlechte Laune so richtig rührte. Vermutlich von der Gesamtsituation, Vladislavs überaus taktvoller Begrüßung, seiner Übermüdung und seiner sonstigen, augenblicklichen Verfassung. Seine Nerven waren im Moment einfach nicht mehr die besten. Vladislav und Waleri schlossen sich ihm an. „Darf ich daraus schließen, daß Chippy jetzt endlich unschädlich ist?“, wollte der Boss wissen. „Totsicher.“ „Das Labor ist übrigens auch Geschichte“, streute Waleri ein. „Wie schade. Ist wohl doch nix aus eurer Motus-Außenstelle geworden, was?“, erwiderte Victor zynisch und warf ihm einen abschätzenden Seitenblick zu. Sollte er nett zu dem Kerl sein, oder weiter seiner schlechten Laune frönen? „Ich kam noch gar nicht dazu, dir zu danken, daß du mich vor Lori gerettet hast“, wechselte er das Thema. „Du bist ein Tempomat?“ „Nicht ganz. Ich bin nur ein Zeitpuffer. Ich kann mich nicht selber frei in der Zeit vor oder zurück bewegen wie ein Springer. Und ich kann ihre Geschwindigkeit auch nicht ändern, wie ein richtiger Tempomat es könnte. Ich kann sie nur komplett anhalten und einen kurzen Stillstand erzwingen. Das können Tempomaten wiederrum nicht. Und was mir echt schwer fällt, ist, konkrete Einzelpersonen von dem Zeitstop auszuschließen oder den Zeitstop auf Einzelpersonen zu beschränken. Sowas wie im Labor, Lori einzufrieren und dich nicht, war für meine Verhältnisse eine echte Meisterleistung, auf die ich auch derwegen etwas stolz bin.“ Victors Laune hob sich langsam wieder, als die Neugier hoch kam. „Diese Fähigkeit ist wahnsinnig selten! Wie lange schaffst du das?“ „Nicht lange. Vielleicht 20 Sekunden, wenn ich richtig fit bin.“ „Das ist ne Menge Zeit. In 20 Sekunden kann man viel regeln.“ „Sicher. Aber in alten Tagen hat es Wesen gegeben, die mächtig genug waren, die Zeit für eine Viertelstunde anzuhalten. Da sind meine 20 Sekunden schon sehr lächerlich. Und wenn ich diese Fähigkeit einmal eingesetzt habe, braucht sie auch ewig, um sich wieder voll zu regenerieren. Daher nutze ich sie nur sehr ungern, weil ich danach erstmal ne ganze Weile machtlos bin.“ „Was genau passiert, wenn man diese Fähigkeit einsetzt? Wie weit reicht sie?“, bohrte Victor wissbegierig nach. Diese Begabung fand er unglaublich cool und faszinierend. Ein bisschen neidisch war er darauf schon. „Wie groß der Radius werden kann und wie lange man die Zeit anhalten kann, bestimmt sich nach dem Talent und der individuellen Stärke. Der Zeit-Stop wirkt nur im Umkreis von ein paar Metern. Ich kann nicht die ganze Welt anhalten“, grinste Waleri. Die Aufregung machte ihn ungewohnt redselig. „Ich erzeuge im Prinzip eine Zeitblase. Innen drin steht die Zeit still, draußen läuft sie normal weiter. Also wenn einer draußen steht und reinguckt, sieht es für ihn aus, als hätte jemand bei einem Video die Stop-Taste gedrückt. Wenn man von draußen in die Zeitblase rein springt, wird man sofort mit in der Zeit eingefroren. Und wenn diese Zeitblase wieder aufgehoben wird, gibt es im Inneren einen Zeitraffer-Effekt, weil der Zeitunterschied zwischen innen und außen sich notgedrungen wieder anzugleichen versucht“, erzählte er bereitwillig. „Wenn ich die Zeit anhalte, fühlt sich das an wie so ein Gummiband, das immer mehr in die Länge gezogen wird. Je länger es schon gezogen wurde, um so schwerer wird es für mich, es weiter festzuhalten oder gar noch länger zu ziehen. Und irgendwann schnippst es mir dann weg, weil ich es nicht mehr halten kann, und peitscht in seine Ursprungsposition zurück, wo es hingehört. Genau das passiert mit der Zeit, die ich angehalten habe. Sie schnippst als Zeitraffer schlagartig dorthin, wo sie eigentlich hingehört, und holt die Verzögerung damit wieder auf.“ „Trotzdem eine sehr verführerische Fähigkeit. Ich würde die vermutlich am laufenden Band nutzen.“ „Ja. Darum hat meine Karriere als Profi-Boxer damals auch so ein klägliches Ende gefunden. Ich bin ein paar Mal zu oft wegen Betrugs disqualifiziert worden. Im Ring ist diese Zeitpuffer-Fähigkeit Gold wert. Man braucht beim Boxen ja auch keine 20 Sekunden. Ein Wimpernschlag Zeitverschleppung reicht schon, um dem Gegner gehörig in die Eier zu treten. Es hat auch lange gedauert, bis es jemandem aufgefallen ist, was ich tue. Aber irgendwann IST es halt leider aufgefallen.“ Victor hatte Wort gehalten. An diesem Abend saßen sie wieder geduscht und ausgeruht im Speisesaal ihres Hotels in Kunigami und stopften gierig ihr Abendessen in sich hinein. Sie alle waren am Verhungern. Vladislav schaute seinen Schutzgeist ein wenig traurig an. „Was meinst du, wie das Leben jetzt weiter geht, wenn das silberne Band zwischen uns beiden gekappt ist?“ „Ist es nicht. Lass mich mal“, mischte sich Victor ein, kramte einen Stift aus der Innentasche seiner Jacke, klaubte eine Papierserviette vom Tisch und begann darauf eine Bann-Marke vorzuzeichnen, damit er sie dann später mit Magie auf eine Person übertragen konnte. „Was wird das?“ „Die mentale Verbindung zwischen euch ist nicht getrennt. Die ist nur mit Bann-Magie unterdrückt, so daß ihr sie nicht mehr spürt. Das hätte mich übrigens auch sehr gewundert. Das silberne Band kann man nicht zerstören. Genau so wenig wie man ein neues weben kann. Ich löse den Bann wieder, damit ihr euch gegenseitig wieder wahrnehmen könnt. Gib mir ne Sekunde.“ Victor schaute seinen Boss immer wieder abschätzend an, dann kritzelte er weiter auf der Serviette herum. Vladislav hatte schon fast den gehässigen Verdacht, daß Victor ein Portrait von ihm zu zeichnen versuchte, so wie er ständig die prüfende Gesichtskontrolle machte. Nach einer Weile gab Victor einen genervten Laut von sich und knüllte die Serviette zusammen. „So ein Rotz. Eine einfache Bann-Marke reicht da nicht. Das wird auf Ritual-Magie hinaus laufen. Ich hasse das. Die ist immer so scheiße aufwändig.“ „Tja ...“, meinte Vladislav nachdenklich. „Das muss auch ziemlich umfangreiche und komplexe Magie sein, wenn sie sowas bewerkstelligen kann wie eine mentale Verbindung zwischen Genius und Schützling außer Gefecht zu setzen. Klar, daß dann auch die Gegenmaßnahmen entsprechend gepfeffert sein müssen.“ Rituale waren in der Tat sehr lästig, weil sie die haarkleine Einhaltung eines konkreten Ablaufplans erforderten. Man musste sich sklavisch an irgendwelche Materialvorgaben, Orts- und Datumsvorschriften, Zeitpläne und Handlungsabfolgen halten. Die Magie war dabei von eher untergeordneter Rolle. Es kam vorrangig darauf an, am richtigen Ort im richtigen Moment mit der richtigen Requisite die richtige Handlung auszuführen, die richtigen Worte dabei zu sprechen, und einfach nicht zu hinterfragen, was das alles sollte. Wenn ein Ritual vorsah, daß man sich dreimal auf einem Bein hüpfend im Kreis drehen und sich dabei an die Nase fassen musste, dann war es eben so, egal wie dämlich man sich dabei vorkam oder ob es objektiv irgendeinen Sinn ergab. Ein Ritual war sowas wie ein festgelegter Code für ein Zahlenschloss. Die Zahlenkombination ergab in der Regel keinerlei Sinn. Aber nur wenn man die richtige Kombination anwendete, ging das Schloss wieder auf. Wenn auch nur eine Zahl nicht stimmte, tat sich überhaupt nichts. „Ich kümmere mich in Moskau in Ruhe darum, einverstanden?“, schlug Victor vor. „Zu Hause habe ich Bücher zum Thema und kann nachlesen. Das geht schneller als wenn ich so lange rumprobieren muss, bis es klappt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)