Lamiak von Irrati ================================================================================ Kapitel 9: Schwimmtraining -------------------------- An diesem Wochenende fuhr Nael mit seinen Teamkollegen in ein Rudercamp. Ein großer Wettkampf stand bald bevor, der letzte. Über den Winter gab es immer eine Saisonpause, weshalb die Gruppe dann nur noch in den Fitnessräumen trainieren konnte. Es war also sehr wichtig noch ein letztes Wochenende auf dem Wasser verbringen zu können. Alexis und Colin waren zu einem unschlagbaren Team herangewachsen in der kurzen Zeit. Sie ergänzten und inspirierten sich gegenseitig. Da das Land noch sehr neu für sie war, stellte ein gemeinsames Wochenende in Bilbao eine gute Gelegenheit dar es Schritt für Schritt besser kennenzulernen. Arantxa war abgelenkt aufgrund der vergangenen Ereignisse. Unruhe legte sich auf ihr Gemüt. Wenn sie wissen wollen würde, was mit ihr geschehen war, müsste sie sich besser beobachten und das ging nur ohne die anderen, ohne Ablenkung. Also blieb sie im Internat. Sie konnte ein paar ruhige Tage ebenso gut nutzen um sich ganz dem Flügel zu widmen. Seine Klänge beruhigten sie, ihre Wirkung auf ihre innere Balance war beinahe magisch. Sobald sie spielte durchströmte eine Ausgeglichenheit und Harmonie ihre Seele. Arriola schien keine besonderen Pläne zu haben die sie interessiert hätten. Vielleicht traf er sich mit Jente. Jedenfalls hatte die schöne Baskin ihre Ruhe in den nächsten Stunden. Sie genoss die Stille am Abend, die ihren wirr schwirrenden Gedanken erlaubte sich zu setzen. Die Nacht war leise und dunkel. Irgendwie beruhigend. Arantxa schreckte aus einem Traum hoch diese Nacht. Ihr Puls raste, ihre Kehle schnürte sich immer dichter und ihr Atem wurde schneller. Ihre Fingerspitzen füllten sich mit einem kribbelnden Gefühl, dass sich in wenigen Minuten über ihre gesamten Handflächen ausbreitete. Halluzinationen erfanden lange entstellte Krallen an den Stellen wo sonst ihre zierlich, fraulichen Finger waren. Dieses kratzig-trockene Gefühl legte sich erneut an die Innenseiten des Rachens. Taumelnd versuchte sie etwas Trinkbares im Zimmer zu finden, ohne Erfolg. Es war wie der Wunsch nach Regen in einer Wüste. Ihre Beine gaben nach, sie konnten keinen festen Stand finden. Sie stolperte unbeholfen in den Flur und hinüber zur großen Treppe. Sie sank am Geländer auf den Boden, lehnte sich an das Holz der Treppe. Der Boden wirkte kälter und härter als sonst. Es dauerte einige Minuten bis sich die Schwäche ihrer Knie verflüchtigte und sie wieder stark genug waren das Mädchen zitternd in die Senkrechte zu stemmen. Das kribbelnde Gefühl in den Handflächenbegann sich allmählich zu verziehen. Der lange Gang den sie hinunter schlurfte wirkte meilenweit und das Ziel in unendlicher Entfernung. Die vorgetäuschten Krallen begannen wieder sich in Fingerformen zurück zu verwandeln. Sie erreichte Zimmer 4 in der Mitte des endlosen Flures und klatschte ihre flache Hand mehrfach gegen die Tür. Nach wenigen Sekunden tat sie dies erneut. Das zweite Klopfzeichen brachte ihr mehr Erfolg. Luken öffnete verschlafen mit nicht mal halb geöffneten Augen die Tür. „Wer auch immer du bist, ist dir bewusst, dass es mitten in der Nacht ist und ich dabei war den besten Traum aller Zeiten zu haben…? “ Er zwang sich langsam und mit großer Anstrengung seine schweren Lider zu heben. „Fällt dir gerade echt nichts Besseres ein?“ keuchte Arantxa mit schmerzverzerrtem Gesicht. Ihre Stimme klang heiser und kratzig. „Hm?“ fragend zog er verschlafen die Augenbrauen hoch und hoffte sie würden seine Augen weiter öffnen. Arantxa atmete noch immer schwer. Er schaffte es seine Augen zu öffnen und zu realisieren wer an seinem Türrahmen lehnte. „Ay, dios mío…“ Er sah sie mit offenem Mund an. Arantxa ging ohne Worte an ihm vorbei und ließ sich in das Bett ihres Bruders sinken. „I-Ist alles in Ordnung?“ Die Aufregung brachte ihn zum Stottern. Sie lachte erschöpft. „Sehe ich etwa so aus?“ Unsicher begutachtete er sie und quasselte weiter unbeholfen vor sich hin, „Naja, du hast schonmal besser ausgesehen…“, bemerkte aber im selben Moment seine Taktlosigkeit, „Nein! Eh…w-was ich meine ist…Ich meine, du siehst immer, eh, gut aus. Also…hübsch. Heute vielleicht etwas weniger. Sagen wir 70%...nein, 75…okay, 80!“ Seine Konzentration ging gegen null. Sie schaute ihn verwirrt an. Entwaffnet durch seine Aufregung stolperte er fast über seine eigenen Füße. Zum Glück fand er schnell eine sichernde Stütze in dem großen Kleiderschrank des Zimmers, welcher ihn davor bewahrte das Gleichgewicht zu verlieren. Er versuchte seine Ungeschicktheit zu verdecken indem er sich mit einem Ellenbogen dagegen lehnte und die Beine kreuzte. Arantxas Atem beruhigte sich langsam und ihr Kopf begann klarer zu werden. Sie legte sich eine Hand an die Stirn und winkelte auf dem Rücken liegend ihre Beine an. Erst jetzt konnte Luken einen klaren Gedanken fassen und bemerkte wie schlecht es ihr ging. Mit jeder weiteren Sekunde sog er das Bild in sich auf, das sein Gehirn schließlich verarbeiten konnte. Es war ein gräulicher Anblick der sich ihm bot. Ihre Verwundbarkeit bereitete ihm große innerliche Qualen. Besorgt und zugleich gewillt alles in seiner Macht Stehende zu tun um ihr zu helfen, trat er an ihre Seite und legte eine Hand an ihre Stirn. „Ibarra, du kochst ja…ich hole dir ein Glas Wasser!“ Er holte ihr etwas zu trinken und sie kippte es in einem Zug runter. Ein altes verknittertes T-Shirt über seinem Stuhl bot das richtige Substrat und wurde mit Wasser übergossen. Auf der Bettkante sitzend, tupfte er ihr mit dem durchtränkten Stoff über die Stirn. Sie schloss ihre Augen und sog das Wasser gedanklich in sich auf. „Ich schwöre, wenn du jemandem davon erzählst…!“ hauchte sie ihm drohend zu und zog ärgerlich ihre Augenbrauen zusammen. „Halt die Klappe und lass mich dir helfen.“ gab er mit Nachdruck von sich und machte eine erwartungsvolle Geste mit den Händen. Sie schaute ihn an, nickte und schloss die Augen wieder. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass ein kleiner Leberfleck seine Wange verzierte, rechts neben seinem Nasenrücken. Sie schlief schnell wieder ein. Luken blieb noch eine Weile neben ihr sitzen und legte ihr sein zusammengerolltes, nasses T-Shirt auf ihre Stirn. In seinem Bett grübelte er. Was war los mit ihr? Vielleicht ein Virus? Aber warum konnte sie sich neulich an nichts erinnern? Nachdem er sich vergewisserte, dass Arantxa tief und ruhig schlief, schloss auch er seine Augen. Aber nicht für lange. Die Baskin schnappte laut nach Luft als sie aus einem neuen Alptraum erwachte. Heiser schrie sie auf und riss Luken damit aus dem Schlaf. Er zuckte zusammen und richtete sich schlagartig auf. Arantxa saß heftig atmend auf dem Bett und krallte die Finger in den Bettbezug. Luken eilte zu ihr herüber und versuchte sie zu beruhigen. „Ist schon okay“ wollte er den Schmerz des aufgebrachten Mädchens mildern, „es war nur ein Traum. Alles ist gut. Dir passiert hier nichts.“ Er setzte sich neben ihr auf das Bett und legte besorgt und schützend einen Arm um sie. Tiefe dunkle Augenringe zierten ihr verzweifeltes Gesicht. Ihre Augen wirkten wässrig. Er lehnte sich mit ihr leicht gegen die Wand und strich mit einer Hand über ihren nackten Oberarm. Mit der anderen rieb er sich die müden Augen. „Wie fändest du es eigentlich mal wieder etwas mehr als nur zwei Stunden am Stück zu schlafen? Könnten wir beide gut gebrauchen.“ seufzte er scherzend. Er hoffte ein paar zu belächelnde Worte würden ihr helfen sich abzulenken. „Was glaubst du was ich hier versuche?“ gab sie entkräftet aber doch schnippisch zurück. Er lächelte sanft. Sie schien wieder mehr die alte zu sein. Er wollte aufstehen und sie weiterschlafen lassen, nachdem sie wieder etwas zur Ruhe kam. Arantxa griff in den Rücken seines Shirts und hielt ihn fest. Er rollte genervt die müden Augen. „Dein Ernst?“ Ein unterdrücktes schmales lächeln floss über seine Lippen. „Cállate! (Halt den Mund)“ befahl sie und krallte ihre Finger weiterhin in den Stoff und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Arriola sank geschlagen zu Boden. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bettseite und ließ erschöpft seinen Kopf nach hinten auf die Matratze überkippen. Arantxa griff nach einem neuen Stück Stoff um sich zu vergewissern er würde nicht wieder aufstehen. Ein paar graue Lichtstrahlen weckten Arantxa am nächsten Morgen. Sie blickte um sich und fand Arriola in derselben Position wieder. Angelehnt ans Bett, den Kopf nach hinten gekippt, Arme und Beine lang vom Körper weggestreckt und offen stehendem Mund. Sie konnte nicht anders als über diesen Anblick zu schmunzeln. Ihr Körper fühlte sich etwas steif an, also räkelte sie sich sitzend ein wenig und nahm einen tiefen Atemzug. Sie war dankbar in der letzten Nacht nicht allein gewesen zu sein. Ihr Körper fühlte sich staubtrocken an. Sie legte Mittelfinger und Daumen zu einem Kreis zusammen und schnippte gegen Arriola’s Ohr. Dieser schreckte auf. „Was?! Was ist passiert?“ Sein Verstand war noch leicht vernebelt vom Schlafmangel der letzten Nacht und seine Augen klein. Sein Nacken schmerzte, es war definitiv nicht die bequemste Nacht die er hinter sich hatte, aber definitiv bisher die aufregendste. Er rieb sich den Nacken und drehte sich zu Arantxa um die ihn nach der kräftezehrenden Nacht aus dem Schlaf geholt hatte. „Ich will zum See gehen.“ Sie klang entschlossen. „O-Okay.“ Er nickte mehrmals mit fragendem Gesicht als wäre es eine Selbstverständlichkeit, war aber zugleich neugierig was sie dort wollte und warum sie ausgerechnet jetzt dorthin musste, aber er stellte keine Fragen. Er nickte nur stumm. Es war seltsam, aber er wollte ihr helfen sich selbst zu verstehen und ihr die Unterstützung geben die sie vielleicht brauchte ohne es offensichtlich zu wollen, geschweige denn sich einzugestehen. Ein unerwartetes Vertrauen ihrerseits lag plötzlich auf seinen Schultern. Es fühlte sich angenehm an. Draußen war es kälter geworden, der Herbst erstreckte sich jeden Tag mehr über das Land. Oft war die Umgebung um den See von Nebelschwaden umgeben, grau am Morgen und düster am Abend. Auf dem Weg dorthin redeten sie kein Wort. Arantxa wirkte fest entschlossen, mit einem Funken an Ehrfurcht. Luken schritt still neben ihr, vergrub die Hände in den engen Hosentaschen. Die Feuchtigkeit des Nebels kroch zwischen die Fasern seines Kapuzenpullovers. Sie erreichten dieselbe Stelle an der er sie das letzte Mal aus dem Wasser kommen sah. Sie standen am dünnen Ufer und blickten auf den See hinaus. „Was jetzt?“ wollte er von ihr wissen. „Ich bin nicht sicher…“ begann sie grübelnd ohne ihn anzuschauen. Man konnte erkennen, dass sie angestrengt nachdachte. Sie erinnerte sich daran wie gut sich damals das samtene Wasser an ihrem Körper angefühlt hatte. Der Gedanke daran legte ihr ein trockenes Gefühl in den Mund und machte sie neugierig. „Ich will etwas versuchen.“ sagte sie nun entschlossen und kniff die Augen etwas zusammen. Gespannt erwartete Luken eine weitere Erklärung. Diese kam jedoch nicht. Stattdessen drehte sich Arantxa zu ihm um, streifte sich ihre Jacke ab und legte sie über Luken‘s Schulter. Er stutze. „Wa-Was tust du?!“ „Wonach sieht es denn aus? Ich gehe schwimmen.“ Während ihrer halbherzigen Erklärung hatte sie sich bereits ihre Schuhe ausgezogen und schaute den verwirrten jungen Mann herausfordernd an. Er war nicht sicher wie er reagieren sollte. „Soll ich …eh… etwa auch da rein?“ Man hörte seiner Stimme an, dass er die Feuchtigkeit in seinem Pullover der des Wassers auf seiner Haut deutlich vorzog. „Nein, du bleibst hier und wartest.“ Er atmete einmal erleichtert auf. „Aber du musst genau zusehen und beobachten was passiert.“ „W-Was?!“ Bei dem Gedanken an Arantxas nackten Körper stieg die Hitze in seinen Körper erneut auf und machte ihn nervös. „Dreh dich um.“ Ihre Stimme nahm einen entschlossenen Befehlston an. Er folgte den Anweisungen gespannt und hielt weiterhin ihre Jacke fest im Arm. Sein Gesicht schaute in Richtung der Allee mit den Bäumen, hinter denen er sich einst versteckte, sein Rücken war dem See zugekehrt. „Mach die Augen zu.“ hörte er sie dicht hinter sich. Sein Herz schlug etwas fester gegen die Vorderwand seines Brustkobes und er tat was sie forderte. „Streck die Arme aus.“ Er wurde nervöser. Dann legte sie ihm ein Päckchen aus ihrer Kleidung auf die ausgestreckten Unterarme. Er wusste nicht ob es Erleichterung oder Enttäuschung war, nachdem er erkannte, dass er ihre Sachen verwahren sollte. Dann hörte er sie weggehen. Er lauschte ihren leisen Schritten. Als ihre Zehen das Wasser berührten atmete sie einmal tief durch und schritt voran. Langsam sog sich ihr Körper erneut mit dem angenehm wohligen Gefühl voll. Mit jedem weiteren Schritt gelang sie tiefer in den See und es war als würde sich ihr Verstand vernebeln, doch sie zwang sich konzentriert zu bleiben solang es möglich war. Als sie bis zum Brustkorb in Wasser gehüllt war rief sie Luken zu. „Arriola! Dreh dich um!“ Ihre Hände verschränkten sich vor ihrem Oberkörper um ihre Blöße vor ihm zu verdecken. Arriola schlug das Herz bis zum Hals. Er wusste nicht was ihn jetzt erwarten würde. Langsam öffnete er die Augen und half seinem festgewachsenem Körper den Befehl zum Umdrehen zu geben. Es dauerte einen Moment ehe er sie anschauen konnte. Ihm fehlten die Worte diese Situation je beschreiben zu können. „Du musst genau aufpassen, hörst du?!“ Er nickte nur stumm. „Versprich, dass du nicht weggehst!“ Während sie ihm zurief trübte sich ihre Aufmerksamkeit ein. Ihre Füße fühlten sich anders an im schlammigen Untergrund des Sees. Sie trat weiter in den See hinein. „Agintzen!?(Versprochen!?)“ Sie konnte die Antwort von Luken nicht mehr wahrnehmen. Dann tauchte sie ein. Es fühlte sich gut an, als wäre sie in ihrem Element. Das kühlende Nass umgab sie vollständig, sie hatte keinerlei Angst, Zweifel oder Wut in sich. Eine Harmonie durchströmte sie wie eine Melodie und füllte ihren Körper damit aus. Kein Verlangen aufzutauchen oder zu atmen. Es war wie ein Traum. Unschlüssig stand Arriola mit ihren Sachen im Arm und starrte auf den Fleck im Wasser wo sie untergetaucht war. Die Situation war äußerst bizarr. „Und was um alles in der Welt soll ich jetzt solange tun?“ sarkastisch hob er beide Arme erwartungsvoll in die Luft. Er schaute sich kurz um und setzte sich nicht weit entfernt auf den Boden. Mit angezogenen Knien schaute er hinaus auf das glatte, dunkle Wasser. In einiger Entfernung lag die Isla de Zuhatza. Eine kleine Insel in mitten des Ullíbarri-Gamboa. Sie war nicht sonderlich groß oder aufregend. Er und Nael waren ein paar Mal dort in den Vergangenen Jahren. Absolut nichts Besonderes. Sie war überwuchert mit Sträuchern und massiven, alten Bäumen. Ein wirrer Wald der nichts bot als Grün. Wo war Arantxa geblieben? Sie tauchte nicht auf, es war als wäre sie nie da gewesen. Nur ihre verlassenen Sachen überzeugten ihn, dass sie tatsächlich in den See ging. Er zweifelte beinahe an seiner Wahrnehmung. Was wollte sie nur in diesem See? Es ergab keinen Sinn für ihn. Warum konnte sie sich an nichts erinnern? Vielleicht gab es Substanzen in dem See die das Erinnerungsvermögen angriffen, Verschmutzung. Aber so recht wollte er das nicht glauben. Man konnte von der Stelle mehr als die Hälfte des Sees überblicken. Minuten vergingen. Die Sonne war inzwischen höher am Himmel und sog ein wenig die Feuchtigkeit aus Luken‘s Pullover. Sobald er mit den Gedanken abschweifte, zwang er sich dazu aufmerksam zu bleiben und den See nicht aus den Augen zu verlieren. Sie musste wiederkommen. Er wartete geduldig und machte sich gedanklich Notizen. Er hatte es versprochen. Er würde solange ausharren bis sie wiederkam. Er setzte sich in den Schneidersitz, verschränkte die Arme vor dem Körper und wartete. Stunden waren vergangen und in Luken wuchs die Ruhelosigkeit. Ungeduldig wackelte er mit seinem rechten Fuß. Er versuchte sich die Bilder ins Gedächtnis zurück zu holen als er Arantxa auf dem Stein sah, wie sie sich durch die Haare fuhr. Sie wirkte wie in Trance, aber so zufrieden. Als säße sie am Klavier. Diese beiden Zustände ihres Gemüts ähnelten einander sehr. Er wollte entschlüsseln was hier vor sich ging. Was hatte ihr gestriger Fieberwahn mit dieser Faszination mit dem See gemeinsam? Sie war so durstig gewesen, erinnerte er sich, vielleicht wollte sie deshalb schwimmen gehen. Vielleicht kühlte es sie ab? Er verwarf diesen idiotischen Gedanken. Es musste etwas anderes dahinterstecken. Noch immer keine Spur von ihr. Es war bereits Nachmittag und die Sonne begann langsam wieder zu sinken. Auf dem Rücken liegend kam ihm ein Gedanke. Er rief sich wiederholt die Geschichte seines Vaters ins Gedächtnis zurück. Wiederholt kam sie ihm in den Sinn. Es nervte ihn, dass er immer wieder daran denken musste. Es war eine alte Geschichte, nur ein Märchen. Er stand auf und klopfte sich den Dreck von der Hose. Er wanderte auf und ab am Ufer. Dann blieb er auf einmal stehen und schaute auf den Stapel von Arantxas Kleidung. „Ich frage mich ob…“ begann er seinen Gedanken zu festigen. Der Bereich zwischen seinen Augenbrauen lag in kleinen Falten. Er nahm Arantxas Kleidung an sich und begann sie zu durchforsten. „Oh Gott, Arriola, wenn sie dich erwischt, bist du dem Tode geweiht.“ Gestand er sich nervös ein und vergewisserte sich zwischendurch ob sie wieder auftauchte. Er wurde fündig. In ihrer Jacke bekam Luken etwas Festes zu fassen. Er griff in die kleine Tasche und holte hervor was in ihr steckte. Eindringlich musterte er den goldenen Kamm in seiner Hand. Er war ein wirklich hübsches Erbstück. Auf seiner Vorderseite waren Muster eingraviert. Er war nicht sicher ob sie eine Bedeutung haben oder nur als Schmuck dienten. Es ähnelte einem Baum oder einer Blume. Von unten aus ragte ein Stamm empor, gebildet aus mehreren dünneren Linien. Er lief aus in einem rundlichen Gebilde, deren Ränder schleifenartige Linien schmückten. In ihrer Mitte vereinigten sie sich alle. Der Stamm des Musters besaß sogar zwei Blätter. Luken zog sein Handy aus der Hosentasche hervor und fotografierte das Muster und den Kamm mehrmals. Die Sonne begann zu sinken als er ein leises plätschern vernahm. Ruckartig drehte er sich um und suchte den See mit seinen Augen ab. Der Sonnenuntergang tauchte ihn und die Umgebung in ein warmes orange-rotes Licht. Etwas tat sich an der Wasseroberfläche. Die zuvor glatte Oberfläche wölbte sich. Er war zu weit entfernt als das Luken etwas hätte genauer erkennen können. Es war totenstill, nur das leise Gluckern des Sees und der Wind, der auffrischte, waren zu hören. Luken’s Blick biss sich an einer Wölbung des Wassers fest und er versuchte angestrengt sich jede Einzelheit genau einzuprägen. Die Wölbung wuchs und der Umriss einer Person wurde erkennbar. Es musste einfach sie sein. Gefesselt stand Luken mit halb offenem Mund und aufmerksamen Mahagoni-Augen da, den Kamm fest in der rechten Hand. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Nach weiteren Sekunden war er sicher, dass sie es war. Er atmete erleichtert auf. Langsam und fließend schritt sie immer weiter auf das Ufer zu. Ihre nassen langen Haare verdeckten ihre Nacktheit nur teilweise. Er zwang sich wegzusehen. Ruhig und neugierig kam sie auf ihn zu. Er warf den Kopf in den Nacken und richtete seinen Blick krampfartig in den Himmel. „Gott, Arantxa tu‘ mir das bitte nicht an…“ nuschelte er verlegen den Wolken zu. Sie blickte ruhig auf ihn aus geringer Entfernung. „Du warst ziemlich lange weg. Seit wann kannst du eigentlich 11 Stunden die Luft anhalten und planschen gehen?“ versuchte er tollpatschig die unangenehme Situation zu bereinigen, doch sein Geschwätz wurde ignoriert. „Du hast etwas das mir gehört.“ Ihre Stimme klang etwas greller als gewöhnlich. Luken stutze kurz aber realisierte was sie meinte. Sie streckte ihm die offene Hand entgegen und forderte es ein. „Oh, ja…“ ohne den Blick auf sie zu richten streckte er ihr den Kamm entgegen. Ihre Finger wirkten blass, waren aber von einmalig zarter Haut geprägt. Es war eigenartig. „ich habe ihn mir nur kurz angeschaut, ehrlich.“ Er hoffte ihre eiskalte Rache würde ihn nicht treffen wie Jente damals. „Danke.“ gab sie gnädig zurück. Er konnte nicht anders als sie nun anzusehen. Er musterte ihre vom Wasser strähnigen Haare die ihr ins Gesicht vielen und langsam zu trocknen begannen. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, keinerlei negative Emotion war von ihrer samtigen Haut zu lesen. Etwas war anders an ihr. Eindringlich prüfte er sie, als er einen grünlichen Strich in ihrer Iris lokalisierte. Er schob sein Gesicht dichter an ihres um den Strich in ihrem linken Auge besser zu analysieren. Je länger er ihn anstarrte desto dünner wurde er, bis er vollkommen verschwunden war. Arantxa blickte ihn aufgelöst an, als erwache sie aus einem Traum. Zu ihrem Schrecken stellte sie fest, wie sie gerade vor ihm stand und wie eindringlich er ihr ins Auge starrte. Sie räusperte sich, so dass Luken ihre Wesensveränderung auffiel. „Wie wäre es, wenn mir jemand eine Jacke geben würde?!“ Sie blickte beschämt aber stolz von ihm weg und biss sich peinlich berührt auf die Lippen. Ihr Begutachter wirbelte ungeschickt herum, ergriff ihre Sachen, streckte ihr diese entgegen und hielt sich die freie Hand über sein Gesicht. „Oh man…“ pustete völlig überfordert von der Situation. Er drehte sich von ihr weg und starrte verlegen auf seine Füße. Arantxa sagte nichts und legte ihre Sachen hinter einem großen Felsen wieder an. Auf diesem sitzen versuchte sie geduldig ihre langen, dicken Haare mit dem Kamm ihrer Mutter zu entwirren. Stumm und gleichmäßig ließ sie ihn durch ihre Strähnen gleiten. Der Anblick weckte Kindheitserinnerungen in Luken. Wieder diese Geschichte seines Vaters. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)