Broken Wings von Disqua ================================================================================ Kapitel 36: Erinnerungslücken füllen ------------------------------------ Luzifer war nach wie vor ziemlich geladen. Die Informationen, die er bisher erhalten hatte, trugen nicht gerade zu seiner Beruhigung bei. Im Gegenteil. Seine Wut auf Gott wuchs wieder an. Er verstand das Handeln nicht. Mit grossen Schritten machte er sich auf den Weg zu Raphaels Zelle. Er musste mit ihm sprechen, auch wenn er selbst wusste, dass seine aktuelle Laune kontraproduktiv sein könnte, dennoch musste dieser aufgeklärt werden. Seine Gedanken fuhren wortwörtlich eine Achterbahn und leider keine, die für Kinder geeignet war. Wie konnte so vieles schief gehen? Er konnte kaum glauben, dass Gott dies wirklich nicht gesehen hatte. Er war der allmächtige Schöpfer, er musste wissen, was vor sich ging. Doch hätte er Raphael wirklich über eine so lange Zeit im Unwissenden gelassen? Michael, jegliche Verfehlung einfach verziehen? Nein, dies konnte und wollte er nicht glauben, im Gegenteil, auch wenn er selbst unfassbar wütend auf Gott war, so hatten die anderen offensichtlich nur gute Erfahrungen mit ihm gemacht. Er behandelte sie gütig, abgesehen von Raphael. Gerade als er die Zellentür öffnete, kam ihm eine Idee, vielleicht wusste Gott, was damals wirklich zwischen ihnen war und bestrafte Raphael dafür, nicht für sein Schweigen im Prozess, sondern für alles, was davor war. Nur wusste dieser auch dies nicht mehr, war die Strafe dann nicht ebenfalls hinfällig? Sein Kopf rauchte und wirklich zufrieden war er mit seinem Ergebnis auch nicht. Es fühlte sich alles ein wenig unbefriedigt an, je mehr Fragen sich auftaten, aber nicht die Antworten dazu bekam. «Er hatte es verdient», riss ihn Raphaels Stimme aus seinen Gedanken und richtete die Aufmerksamkeit voll und ganz auf ihn. «Wie bitte?», hakte Luzifer sichtlich verwirrt nach. Sein Blick glitt über den Schutzengel, welcher aufstand und ein paar Schritte auf ihn zumachte. Dabei fiel Luzifer auf, dass er ein klein wenig hinkte. «Du bist verletzt», stellte er überflüssigerweise fest und seine Wut auf Gott war augenblicklich verflogen. «Ich sagte, er hatte es verdient, aber du scheinst nicht wegen deiner Sünde vorbeigekommen zu sein …» Auf die Verletzung ging Raphael gar nicht erst ein. Er war niemand, der Offensichtliches bestätigen musste und abstreiten wollte er die Tatsache ebenfalls nicht mehr. Ihm war bewusst, dass er seine Kraft für weitaus wichtigere Dinge benötigte und bis vor kurzem ging er nicht davon aus, dass er hier angegriffen würde. «Ist an dieser Verletzung Gadles schuld?» Luzifers Stimme nahm einen gefährlichen Unterton an und er spürte, wie die Wut wieder in ihm hoch zu kochen begann. «Nein, ich weiss nicht, wer für die Wunde zuständig war, solltest du es herausfinden und sollte dieser Dämon noch leben, dann kannst du ihm gerne meine Bewunderung aussprechen. Normalerweise lasse ich mich nicht so einfach erwischen», kam es amüsiert von Raphael und brachte Luzifer damit vollkommen aus dem Konzept. «Wie bitte?» «Diese Verletzung ist noch aus dem Kampf, sie ist nicht frisch», klärte Raphael Luzifer ein wenig genauer auf und irgendwie fand er die Reaktion doch interessanter als erwartet. «Du willst mir gerade sagen, dass du deine Freunde geheilt hast, deine gesamte Energie auf sie verwendet hast, aber dich selbst aussen vorgelassen hast? Noch schlimmer, hast du die Verletzungen vor uns verborgen, anstatt sie zu heilen? Was geht in deinem Kopf eigentlich vor sich? Ich versteh dich nicht.» Luzifer musterte Raphael und schien ihn offensichtlich nach weiteren Verletzungen abzuchecken, dabei fiel ihm auf, dass er nicht nur gehinkt hatte, sondern sein gesamtes Körpergewicht auf eine Körperhälfte verlagert hatte. «Wo noch?», wollte er ein wenig fordernder wissen. «Ich wusste ja, dass du ein sturer Idiot bist, warst du schon immer, aber wieso in drei Gottes Namen, tust du dir das alles selbst an? Du bist kein Märtyrer und wirst es niemals werden, sofern du das vorhattest. Du wirst hier auch nicht durch die Hand eines Dämonen sterben, genauso wenig durch meine oder durch die einer meiner Generäle, egal wie sehr du uns provozierst.» Luzifer redete sich fast ein wenig in Rage und Raphael hätte gelogen, wenn ihn dieser Vortrag nicht ein wenig amüsiert hätte. Er trat einen weiteren Schritt auf Luzifer zu und noch ehe dieser weiter sprechen konnte, hatte er seine Lippen auf die von Luzifer gelegt. Die Überraschung war diesem ins Gesicht geschrieben und Raphael löste sich genauso schnell wieder, wie er sich ihm genähert hatte. «Was war das?» «Ein Kuss», beantwortete Raphael die Frage amüsiert und es schien definitiv so, als hätte ihm die Ansage absolut nichts ausgemacht. Im Gegenteil, sie prallte vollkommen an ihm ab. «Ich weiss selbst, dass es ein Kuss war, aber wieso? Bisher warst du nicht gerade sonderlich offen für meine Annäherungen und jetzt?» Raphael hatte sich unterdessen wieder hingesetzt und beobachtete Luzifer in seinen Reaktionen. «Ich habe nicht vor zu sterben. Meine Motive sind ziemlich einfach und lediglich an meine Aufgabe angelehnt. Ich bin ein Schutzengel und was wäre ich für ein Schutzengel, wenn ich meine Freunde nicht beschützen würde? Solange meine Wunden nicht tödlich sind, bin ich lediglich eingeschränkt und geschwächt. Mich zu töten ist nicht so einfach, ich bin kein einfacher Engel, wie du selbst weisst», begann Raphael mit einer Erklärung, nur nicht mit derjenigen, die Luzifer hören wollte. «Du lenkst vom Thema ab», knurrte dieser ein wenig ungehalten, was Raphael lediglich Lächeln liess. «Eigentlich tue ich das Gegenteil, du wolltest wissen, wieso ich die anderen geheilt habe, ehe ich mich um mich selbst gekümmert habe, mit dem Kuss habe ich eigentlich vom Thema abgelenkt und er scheint dich nun von deinem eigentlichen Vorhaben abzulenken.» Erneut knurrte Luzifer leise auf. Raphael hatte vollkommen recht mit seinen Worten und es ärgerte ihn, dass auch Raziel recht hatte, er liess sich zu leicht provozieren. Unnötig provozieren. «Ich bin hier, weil ich dir Fragen stellen wollte ... « «Zu deinem General? Wie gesagt, er hat es verdient, auch wenn er an meinen Verletzungen nicht beteiligt war.» Luzifer schüttelte den Kopf und begann in der Zelle hoch und runter zu laufen. Er wollte ihn auf die schwarzen Flügel ansprechen und dessen Meinung dazu hören und nun? Seine Gedanken kreisen gerade nur um diesen kurzen Kuss. Schnell schüttelte er den Kopf, er durfte sich nun wirklich nicht weiter ablenken lassen, auch wenn es ziemlich verlockend war. «Du scheinst mir erzählen zu wollen, was passiert ist», merkte Luzifer nach einer Weile doch mit einem etwas wissenden Grinsen an und setzte sich dann doch neben Raphael. Er kannte bisher nur die Version von Gadles, wobei dieser ihm nicht wirklich erzählt hatte, was passiert war. Lediglich dessen Erkenntnis aus dieser Begegnung. «Er kam mir ein wenig zu Nahe und hat den Fehler gemacht, nicht auf mich zu hören. Ein Tipp, den du deinen Dämonen geben solltest, nähere dich nicht von hinten einem Engel, die Spannweite der Flügel kann schmerzhaft werden. Es wäre falsch von mir zu sagen, dass ich hoffe, sein Aufprall war schmerzhaft, aber wie ich eben schon sagte, es war verdient.» Luzifer seufzte und kniff die Augen für einen Moment genervt zusammen. Vielleicht sollte er Gadles doch bestrafen. Er hatte keine Erlaubnis Raphael aufzusuchen und schon gar nicht, ihn in irgendeiner Weise zu berühren. «Ich gehe davon aus, dass mein kleines Geheimnis aufgeflogen ist, hm?» Luzifer wandte sich nun Raphael zu und versuchte aus dessen Gesicht irgendeine Emotion abzulesen. Doch wie die Tage zuvor wirkte er ziemlich gefasst und er hörte Metatrons Worte in seinem Hinterkopf. Es war nicht immer alles so, wie es auf den ersten Blick zu sein schien. Raphael konnte nicht lügen, nicht mit Worten, aber seine Gesten, die mussten nicht ehrlich sein. «Dachtest du wirklich, du könntest es auf Dauer verbergen?» Luzifer verschränkte die Arme vor der Brust und ist nun selbst in die Beobachterrolle gegangen. Sie begutachteten sich gegenseitig, wie Raubtiere, bereit sich auf die Beute zu stürzen, bei jedem noch so kleinen Fehler. «Solang es nicht nötig gewesen wäre, natürlich. Je länger ihr hier seid, desto unmöglicher wäre es geworden. Irgendwann hätte sich wer verplappert. Es war natürlich nicht geplant, dass ich meine Beherrschung verliere.» Luzifer nickte lediglich und liess Raphael nicht aus den Augen. «Ich verstehe dennoch eine kleine Sache nicht. Du bist sichtlich angeschlagen und hast viel Kraft gebraucht um diese Tatsache vor uns zu verbergen und dann hast du die Kraft, einen meiner stärksten Generäle durch das halbe Verlies zu schleudern, nur mit deiner Flügelkraft. Wie?» «Er hat meine Geduld überstrapaziert und ich denke, selbst wir haben einen Urinstinkt, der uns vor Gefahr beschützt. Da wir ein Experiment Gottes sind, hat er all das an uns getestet, bevor er den Menschen erschaffen hat. Er funktioniert bei mir sehr ausgezeichnet.» «Du denkst, wir sind ein Experiment?» Luzifer hatte die Verbitterung sehr wohl aus den Worten seines Freundes herausgehört und konnte er die Worte nicht wirklich glauben. «Was denkst du denn, was wir sind? Er hat uns erschaffen, gehegt und gepflegt und verstösst uns bei erster Gelegenheit und erschafft die Menschheit, die es mit jedem vergangenen Jahr hinbekommt, sich selbst mehr und mehr zu zerstören, und er tut nichts. Im Gegenteil, meine Arbeit und die meiner Engel steigen ins Bodenlose …» Luzifer seufzte leise und legte eine Hand auf Raphaels Knie. Langsam verstand er, worauf dieser hinaus wollte. «Ich glaube nicht, dass er dich noch immer bestrafen will, und ich glaube auch nicht, dass wir ein Experiment waren oder sind. Im Gegenteil.» «Es ist unfassbar, dass du ihn ausgerechnet in Schutz nimmst. Du, der hier eingedrungen ist, um sich an ihm zu rächen, legst gerade ein gutes Wort für ihn ein?» Raphael konnte es wirklich kaum glauben und Luzifer musste über diese Feststellung doch leise lachen. «Ich glaube einfach nicht, dass wir ein Experiment waren, schon gar kein fehlgeschlagenes oder ungeliebtes, sonst hätte er unsere Existenz einfach auslöschen können. Seine Bestrafungen mögen unangemessen sein, aber vielleicht hat er auch einfach keine Relation.» Raphaels Blick wurde ein wenig intensiver und er legte eine Hand auf die von Luzifer. «Selbst wenn, irgendwann sollte eine Bestrafung enden.» «Zeig sie mir», forderte Luzifer nach einem Moment der Stille. Nachdem keine Reaktion folgte, stand er selbst auf und zog Raphael auf die Beine. «Los, ich will sie sehen», forderte er ihn erneut auf. «Und wieso sollte ich dir meine Bestrafung zeigen?» Luzifer lächelte bei der Frage und legte seine Arme um Raphael. Es war keine Umarmung im eigentlichen Sinne, eher eine Geste, die ihm zeigen sollte, dass er nicht vorhatte, sich über ihn lustig zu machen. Raphael trat einen Schritt zurück und wirkte nach wie vor eher unruhig und nicht überzeugt, was Luzifer ihm auch nicht verdenken konnte. «Gott ist nicht unfehlbar», durchbrach Luzifer die Stille und breitete seine eigenen Flügel aus. Raphael war sichtlich überrascht und streckte seine Hand nach diesen aus. «Unfassbar. Du wurdest verbannt und bist von den Äusserlichkeiten mehr Himmelsbewohner als ich es bin», stellte er dann fest, ehe Luzifer seine Flügel wieder verschwinden liess. «Ich weiss nicht, ob er diese Kleinigkeit vergessen hat oder aber, ob es eine Strafe sein soll, aber ich habe aufgehört, darüber nachzudenken, weil ich nicht derjenige bin, der es ändern kann. Zugegeben, das wurde mir erst bewusst, als ich hierher zurückgekommen bin.» Nun war es an Raphael zu seufzen und Luzifers Blick machte ihm deutlich, dass er nun an der Reihe war. «Ich kann auch gerne noch einen General schicken, der dich provoziert, aber ich glaube darüber sind wir hinaus, oder?», versuchte Luzifer, die angespannte Situation ein wenig zu lockern und es schien zu funktionieren. Raphael schüttelte leicht amüsiert den Kopf und breitete seine Flügel aus. Luzifer trat einen Schritt nach hinten und schluckte erst einmal hart. Sie waren imposant und hatten absolut keine Gemeinsamkeit mit denen der Dämonen. Im Gegenteil, in seinen Augen strotzten sie vor Eleganz und Anmut, sie machten ihn einzigartig und vermutlich war genau dies Raphaels Problem. «Ich sehe dich selten sprachlos», war es nun Raphael, der die Stille durchbrach und seine Flügel wieder verschwinden liess. «Kennst du deine Bestrafung?», wollte Luzifer wissen und setzte sich wieder hin. Er hatte das Gefühl, seine Beine würden ihn nicht länger halten, da kam ihm die unbequeme Pritsche gerade recht. «Misstrauen. Zumindest wurde es mir so gesagt. Gott glaubte mir nicht. Er dachte oder denkt, dass ich dich geschützt habe, aber ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, wovor. Jetzt nach und nach kann ich mir Dinge zusammenreimen, aber die Erinnerung ist nach wie vor nicht vorhanden. Wie hätte ich ihm also etwas verschweigen oder ihn anlügen können, wenn er uns diese Option gar nicht erst gegeben hat?» Raphael tat es Luzifer gleich und setzte sich ebenfalls wieder hin. «Die Strafe war okay, für einen gewissen Zeitraum, aber nicht bis in alle Ewigkeit. Ich kann ihm keine Antwort geben, nicht auf die Fragen, die er mir stellt. Er als Allwissender sollte dies doch auch wissen.» Luzifer hörte Raphael zu und ihm kam langsam aber sicher eine Idee, wieso die Bestrafung nach all den Jahren noch andauerte. «Ich glaube, deine Annahme ist nicht unbedingt verkehrt, aber ich denke, es ist nicht aufgrund des Misstrauens, welches Gott dir gegenüber hegt, sondern umgekehrt. Du vertraust ihm nicht mehr und dafür wurdest du gekennzeichnet. So wie ich, der keinen Platz in der Hölle finden sollte und doch haben wir uns behauptet. Ich bin der oberste General des Teufels und du einer der mächtigsten Erzengel, die es jemals geben wird. Die Menschen bitten dich um ihren Schutz und lassen sich von deiner Erscheinung nicht abschrecken, im Gegenteil, ich denke sie bewundern dich und sind stolz darauf, wenn du dich ihnen zu erkennen gibst.» Raphael schüttelte den Kopf. Er hatte es so nie gesehen und er war auch nicht bereit, es so zu sehen. Sein Misstrauen zu Gott erwachte erst nach dieser Strafe und für ihn war es absolut logisch, dass er dieses nie verloren hatte. Es war in seinen Augen niemals fair gewesen. Es jetzt zu hinterfragen, dafür war er definitiv nicht bereit und Luzifer machte sein inneres Chaos nicht gerade einfacher. «Langsam glaube ich, du bist hier, um meine Fragen zu klären und nicht deine Antworten zu finden.» «Da könntest du gar nicht so falsch liegen, aber nur weil unser Schicksal offensichtlich miteinander verbunden ist. Demnach stell ich dir diese Frage noch genau einmal, hilfst du mir endlich?» Raphael atmete einmal tief ein und wieder aus. Ihm war vollkommen bewusst, dass er Luzifer diese Antwort noch schuldig war. Doch anstatt ihm zu antworten, kam er ihm dieses Mal ein wenig näher und schaute ihm in die Augen. «Nutz meine Erinnerungslücken nicht aus, sonst werde ich dir meine Kraft demonstrieren.» Luzifer lachte leise und erwiderte den Blick, ohne einmal zu blinzeln. «Wenn du mir hilfst, werden wir diese füllen, darauf hast du mein Wort.» Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)