Reminiszenz von Maginisha ================================================================================ Kapitel 2: Wiedersehen ---------------------- Der Kies knirscht unter seinen Füßen, als er den Weg zwischen den Gräbern entlanggeht. Ein Friedhof. Warum hat ihn Crawford zu einem Friedhof geschickt? Die Luft ist voll vom Gekreisch der Vögel, die über dem nahen Meer kreisen. Das ferne Rauschen der Wellen mischt sich darunter. Der Wind schiebt langsam einige Wolken über den Himmel und taucht die Landschaft in ein wechselndes Mosaik aus Hell und Dunkel. Nagi steht unschlüssig zwischen den Gräbern. Steinerne Stätten der Erinnerung, zu denen die Verbliebenen pilgern, um zu beten und zu trauern. Nagi macht ein abfälliges Geräusch. Er hat keine Toten in seinem Leben zu beweinen. Nicht mehr.   In der Ferne hört er einen Wagen halten. Instinktiv sucht er Schutz im Schatten eines Baumes. Schritte nähern sich ihm. Mit einem Mal sieht er aus den Augenwinkeln einen Namen auf einem Grabstein und er weiß plötzlich, wen er treffen wird. Fast hätte er gelacht. Das ist wirklich eine Ironie des Schicksals. Das letzte Mal, als er ihn sah, hat er versucht, ihn umzubringen. Ganz so einfach wird seine Aufgabe dieses Mal wohl nicht werden.       Bombays Körper flog, wie von einer riesigen Faust gepackt, gegen eine der Säulen. Nagi konnte förmlich hören, wie seine Knochen knackten. Der junge Weiß wehrte sich, kämpfte gegen die Kräfte an, die versuchen, das Leben aus ihm herauszupressen. Nagi betrachtete ihn gelangweilt. Menschliche Körper waren so einfach zu zerbrechen. Plötzlich sprang ihn Siberian von der Seite an. Die messerscharfen Krallen an seinen Handschuhen verfehlten Nagi nur um Haaresbreite, als er zurücksprang und sich in Sicherheit brachte. Bombay entkam seinen Griff und fiel. Nagi fluchte innerlich. Er hatte sich zu viel Zeit gelassen. Um ihn herum bröckelten der Putz von der Decke. Ein dumpfes Grollen erklang unter seinen Füßen. Ein Laut, den er eher spüren, denn hören konnte.   Noch bevor sein Angreifer sich ihm erneut zuwenden konnte, hatte sich Farfarello bereits auf ihn gestürzt und die beiden Weiß in einem Kampf verwickelt. Nagi zog sich ein wenig zurück und ließ ihm seinen Spaß. Er wusste, dass Farfarello nur mit seinen Gegnern spielte. Immerhin hatte er nicht einmal eine Waffe gezogen. Diese lächerlichen weißen Ritter klammerten sich so verzweifelt an ihre Rechtschaffenheit, dass sie nicht einmal merkten, wie aussichtslos ihr Versuch war, Schwarz aufzuhalten. Sie hatten keine Chance.   Er wollte sich eben Schuldig zuwenden, der sich von Balinese hatte einwickeln lassen, als er plötzlich stutzte. Etwas stimmte nicht. Er spürte eine Erschütterung um sich herum und hörte wieder dieses tiefe Grollen unter seinen Füßen. Anscheinend hatten die Explosionen, die sie vor kurzem vernommen hatten, mehr Schaden angerichtet, als er angenommen hatte. Die bereits angegriffene Integrität des Gebäudes war bei seinem Zusammentreffen mit dem Eszett-Ältesten noch weiter in Mitleidenschaft gezogen worden. Er hatte die Energie des Erdbebens, mit dem dieser sie angegriffen hatte, umgeleitet und damit wohl eine Kettenreaktion in Gang gesetzt. Er hörte den Stein ächzen, fühlte das Beben, das Zittern der steinernen Strukturen, die unwiderruflich ins Wanken geraten waren.   Siberian landete einen Treffer gegen Farfarello und schickte ihn zu Boden. Bombay wirbelte herum und schrie Nagi an. Ich werde Ouka rächen! Eine Salve von Wurfgeschossen flog Nagi entgegen. Er wehrte sie mit einer beiläufigen Bewegung ab und ließ Bombay im nächsten Moment rückwärts taumeln. Er wollte eben zum finalen Schlag ausholen, als plötzlich die Bodenplatten aufzubrechen begannen. Kämpfer, Schwarz wie Weiß, stürzten in die Tiefe, wurden von dem Abgrund verschlungen, der sich unter ihnen auftat. Nagi sah, wie sein Team von den Steinmassen verschluckt wurde. Er griff hinaus, errichtete ein Schild, klammerte sich an jeden Körper, den er erreichen konnte. Salziges Wasser schoss in Fontänen aus dem Boden, die Decke stürzte ein und begrub sie unter sich. Schläge prasselten auf seinen Körper nieder, das Wasser nahm ihm die Sicht, aber er ließ nicht los. Er musste...er konnte jeden von ihnen retten. Er würde nicht aufgeben.   An das, was danach passierte, erinnert er sich nur noch in Bruchstücken. Eiskaltes Wasser, das Gefühl in die Tiefe gezogen zu werden, der pure Überlebenswille, der ihn schließlich wieder an die Oberfläche brachte und mit ihm sowohl diejenigen, die er zu retten hoffte, wie auch diejenigen, denen er zuvor noch den Untergang bringen wollte. Sie schwammen in verschiedene Richtungen davon und ihre Wege haben sich seit dem nicht mehr gekreuzt. Bis jetzt.     Der Neuankömmling tritt an das Grab, legt die Blumen nieder, die er mitgebracht hat, entzündet ein Räucherstäbchen. Er ist allein, niemand ist mit ihm gekommen. Eine perfekte Gelegenheit, zu Ende zu bringen, was er damals angefangen hat. Sein Gegenüber hat sich verändert. Aus dem Jungen, der sich Nagi einst entgegengestellte, ist ein Mann geworden. Er trägt einen Anzug, die Haare sind dunkler und kürzer geschnitten. Er überlegt, ob der andere ihn wohl erkennen wird.   „Du kannst rauskommen“, sagt der Mann am Grab plötzlich. „Ich weiß, dass du da bist. Also zeig dich.“ Nagi tritt aus dem Schatten und blickt ihm entgegen. Für einen Augenblick stehen sie da und sehen sich an. Er sieht zu, wie die Erkenntnis langsam über das Gesicht des anderen kriecht. „Es ist eine Weile her“, sagt Nagi schließlich. „Vier Jahre?“, antwortet sein Gegenüber.   Nagi überlegt, wie er ihn nennen soll. Sein Blick gleitet zu dem Grabstein. Ouka Sasaki, Reiji Takatoris uneheliche Tochter. Farfarello hat sie damals erschossen. Eine Tat die ihm und Schuldig eine gehörige Tracht Prügel eingebracht hat. Der aufgebrachte Reiji hätte sie vermutlich umgebracht, wenn Crawford seine Wut nicht umgeleitet und ihm Weiß als Ziel angeboten hätte. Wie lange ist das schon her? Sinnlose Ränkespiele alter Männer.   „Seit dem ist viel passiert“, fährt der andere fort. „Es ist eigenartig, dass ich ausgerechnet dich heute hier treffe.“ Er dreht sich um, wendet Nagi den Rücken zu. Eine rüde Geste, wenn man so will. Vielleicht aber auch eine Botschaft, dass er keine Angst vor ihm hat. Leichtsinnig, töricht und doch kommt Nagi nicht umhin, dieser Unverfrorenheit ein wenig Respekt zu zollen. Er tritt neben ihn und betrachtet das Grab. Wartet ab. Noch ist er sich nicht sicher, wie diese Begegnung ausgehen wird.   „Das Grab ist leer“, sagt der andere plötzlich. „Ihr Körper wurde...fortgeschafft. Ich komme nur hierher, weil ich hier allein sein kann. Ein Takatori hat viele Verpflichtungen.“ Nagi ist fast ein wenig erstaunt. „Takatori“, wiederholt er. Er versucht, sich an die verworrene Familiengeschichte zu erinnern. Schuldig hat es ihm einmal erklärt, aber er hat ihm nicht richtig zugehört. „Ich habe das Erbe meines Vaters und das meines Onkels angetreten. Mein Großvater, er...“ Die Stimme des jungen Takatori erstirbt. Nagi schüttelt innerlich den Kopf. Es mag ja sein, dass er den Namen seiner Familie angenommen hat, aber der Kern unter der starken Hülle ist immer noch weich, nachgiebig. Er kann es fühlen. „Du brauchst Hilfe.“ Es ist eine Feststellung, keine Frage. Der andere blickt auf. „Ich wüsste nicht, wobei du mir helfen solltest“, sagt er. Nagi macht sich nicht die Mühe, seine Herablassung verbergen. Er hat nie gesagt, dass er derjenige sein würde, der ihm hilft. Obwohl...ist das vielleicht der Grund, aus dem Crawford ihn hergeschickt hat?   „Ihr habt Ouka getötet“, sagt der junge Takatori. Es klingt wie auswendig gelernt. Das Feuer, das damals hinter dieser Aussage stand, ist erloschen. Nagi antwortet nicht. Hält aus einem ihm unbekannten Grund ein Schulterzucken zurück. Er hat damals in diesem Spiel nur eine unwesentliche Rolle gespielt. Hat getan, was man ihm gesagt hat. Hat getan, was Schuldig wollte. Er hätte sich weigern können, aber es erschien ihm die Mühe nicht wert. Wahrscheinlich war er zu jener Zeit noch besser darin, sich selbst zu belügen. „Ich werde jetzt gehen“, verkündet er. „Auf Wiedersehen, Mister Takatori.“ Er hört Crawford in diesen Worten. Arroganter Bastard. Er hat von den Besten gelernt.   Nagi dreht sich um und geht den knirschenden Weg entlang. Er sieht förmlich vor sich, wie der andere mit sich ringt, sich nicht umdrehen will, um ihm nachzusehen. Er verliert den Kampf. „Mamoru“, ruft er ihm hinterher. „Mein Name ist Mamoru.“ Nagis Gesichtsausdruck verändert sich nicht, aber er weiß jetzt, dass der anderen ihn finden wird. Er braucht nur zu warten.         Wieder zurück im Wagen lässt Omi den Kopf gegen die kühle Scheibe sinken. Die Klärung seiner Gedanken, die er sich von diesem Ausflug versprochen hatte, hat sich in Luft aufgelöst. Stattdessen herrscht hinter seiner Stirn noch mehr Chaos als zuvor. Er hätte nicht gedacht, dass er einen von ihnen noch einmal wiedersehen würde. Eigentlich hatte er gedacht, Schwarz sei damals bei dem Unglück ums Leben gekommen. Wie naiv er doch gewesen war. Wenn Weiß nahezu unverletzt aus dem Zusammenbruch des Gebäudes hervorgegangen war, war es nur logisch, dass ihre Gegner ebenfalls überlebt hatten. Warum entzog sich bis heute noch seinem Verständnis. Vielleicht war es nicht nur Zufall gewesen. Ebenso wenig wie ihr Zusammentreffen heute. Es ruft ihm einmal mehr vor Augen, in welche Gefahren er seine ehemaligen Freunde schicken muss. Welche Kräfte das Böse auf seiner Seite hat. Er kann das nicht, will diese Entscheidungen nicht treffen, will nicht verantwortlich sein dafür, dass irgendwann einmal eine dieser dunklen Bestien seine Freunde in Stücke reißt.   Die Worte seines Großvaters wandern wieder durch seinen Kopf. Er muss das nicht tun. Er kann zurückkehren an seinen alten Platz und die Position als Perser jemand anderem überlassen. Jemandem, der vielleicht nicht so rücksichtsvoll ist wie er. Der Weiß ohne Rücksicht auf Verluste auch ungenügend vorbereitet auf Missionen schickt. Er kann wieder jemand anderen über sein Schicksal bestimmen lassen und niemand würde ihm einen Vorwurf machen. Niemand außer ihm selbst.   Er sinkt im Sitz zusammen und unterdrückt ein Schluchzen. Eine Schwäche, die ihn nicht mehr oft übermannt. Du brauchst Hilfe, hat der andere Junge gesagt. Aber an wen soll er sich wenden? Mit wem soll er sprechen? Er ist ganz allein, hat diesen Weg selbst gewählt. Aber er zweifelt, ob er in der Lage ist, ihn zu gehen. Es ist einfach, zu wissen, dass man es tun muss. Es wirklich zu tun, eine ganz andere Sache. Die Befehle zu geben, die seine Freunde von damals in Gefahr bringen. Die sie zwingen zu kämpfen, zu töten und ihre Hände immer tiefer und tiefer in Blut zu tauchen. Die sie dazu verurteilen, weiter ins Dunkle zu gleiten, während er nur dabei zusieht. Es fühlt sich an, als würde er sie verraten.   Er atmet tief durch und strafft sich. Vielleicht...vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit. Vielleicht könnte er jemand anderen finden, der ihre Aufgaben übernimmt. Hat Schwarz nicht bereits früher für einen Takatori gearbeitet? Vielleicht ist er interessiert an einem Angebot. Ein Pakt mit dem Teufel, aber vielleicht ein Ausweg aus seinen Problemen.   Er klappt sein Telefon auf, drückt eine Taste. Er braucht nicht lange zu warten, bis die Frau am anderen Ende abnimmt. „Rex, ich brauche alle Unterlagen, die wir zu der Gruppierung Schwarz haben“, sagt er in einem Ton, der nichts von seinem inneren Aufruhr verrät. Er hört, wie sie am anderen Ende zögert. „Bis heute Mittag“, schließt er das Gespräch und legt auf, bevor sie noch etwas erwidern kann. Vorerst braucht niemand etwas von diesem Treffen und seinen Plänen zu wissen. Er wird das ganz allein schaffen.               Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)