Reminiszenz von Maginisha ================================================================================ Kapitel 5: Entgegenkommen ------------------------- Beschädigte Ware, Missgeburt, abnormal, Freak. Er ist schon viel genannt worden und sein jetziges Gegenüber bildet dabei anscheinend keine Ausnahme. Er unterdrückt noch einmal den Wunsch, ihm die Akte aus den Händen zu reißen oder seinen Kopf ein paar Mal auf den Tisch zu schlagen. Stattdessen erwidert er den höflichen Gruß mit einem knappen Kopfnicken.   „Ich bin froh, dass du es einrichten konntest.“ Der andere wirkt leicht angespannt, als er ihn bittet, sich zu setzen. Er ignoriert die Bitte und bleibt stehen. Er ist nicht hier, um Höflichkeiten auszutauschen. Sein Blick richtet sich auf die Akte.   „Ich...wir sind in Schwierigkeiten und ich brauche deine Hilfe“, gesteht der andere schließlich offen. „Der Fall, an dem Weiß momentan arbeitet ist komplizierter als alles, mit dem wir bisher zu tun hatten. Oder vielleicht kommt mir das auch nur so vor, weil ich jetzt derjenige bin, der die Entscheidungen trifft. Ich brauche deinen Rat, Nagi-kun.“ Sein Gesicht zuckt leicht ob der vertrauten Anrede. Sie sind bei Weitem keine Freunde, er ist sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt auf derselben Seite stehen. Noch dazu ist es unheimlich dumm von dem anderen, einen völlig Fremden in interne Angelegenheiten einzuweihen. Bombay oder jetzt vielmehr Perser muss das wissen. Warum tut er das?   Sein Gegenüber lächelt fast ein wenig entschuldigend. „Ich weiß, es ist ein wenig ungewöhnlich, so eine Bitte an dich zu richten, obwohl wir uns kaum kennen. Aber ich wüsste nicht, an wen ich mich sonst in dieser Angelegenheit wenden sollte. Wenn jemand sich mit so etwas auskennt, dann sicherlich du.“ Er schiebt Nagi den Ordner über den Tisch und auf einmal sieht er, dass es sich um eine Fallakte handelt. Es sind keine Informationen über ihn, obwohl er sich keine Illusion macht, dass der junge Takatori diese nicht trotzdem eingeholt hat. Langsam greift er nach den Papieren und sieht sie durch. Ganz am Ende steht ein Bericht von Abyssinian. Einer der Mitglieder von Weiß wurde getötet. Der Name sagt Nagi nichts, aber es erklärt die Anspannung. Ein Teammitglied zu verlieren, ist nie einfach. Neben den Umständen, die zum Tod dieses Kyou geführt haben, gibt es auch noch einen Abschnitt bezüglich eines Zusammentreffens mit einem ungewöhnlich starken Gegner. Er fiel durch Stärke und Schnelligkeit auf, die weit über das Maß eines normalen Menschen hinausgingen, und konnte auch von zwei Weiß-Mitgliedern gleichzeitig nicht gestoppt werden.   „Du siehst, was ich meine?“, fragt sein Gegenüber. „Ich konnte mir zunächst keinen Reim darauf machen, aber nachdem wir uns getroffen haben, dachte ich...“ „Dachtest du, du könntest doch mal den Freak fragen, was er davon hält“, beendet Nagi den Satz. In seiner Stimme liegt zu viel Wut und Bitterkeit und er verflucht sich dafür, dass er sich zu einer Antwort hat hinreißen lassen. Ein leichtes Lächeln antwortet ihm. „Ich dachte eigentlich eher an so etwas wie Experte. Diese Gruppe, der du angehörst. Schwarz. Sie sind alle so, oder nicht? Ihr alle habt übermenschliche Kräfte. Könnt Dinge tun, die normale Menschen nicht können. Vielleicht könntest du mir mehr darüber erzählen?“   Sein erster Impuls ist, ihm an den Kopf zu werfen, dass er nicht mehr zu Schwarz gehört. Der zweite, dass ihn das nichts angeht. Aber diese verdammte Höflichkeit, das offene Gesicht, das ihm entgegen schaut, hält ihn aus irgendwelchen Gründen davon ab. Wenn er naiv genug wäre, könnte er fast denken, dass ihm der andere so etwas wie Respekt entgegenbringt. Respekt und Vertrauen. Das erste ist unwahrscheinlich, das zweite wäre schlichtweg dumm. Er hasst es, mit dummen Leuten zu arbeiten.   „Gibt es noch mehr wie euch?“, fragt der andere jetzt. Nagi nickt leicht. „Es gibt...andere. Die Anzahl von Talenten ist vielfältig. Und nicht jeder benutzt sein Talent auf die gleiche Weise.“ Das ist etwas, das Schuldig ihm einmal erklärt hat. Damals auf diesem Boot, während sie auf der Flucht vor Farblos, einem weit stärkeren Team von Rosenkreuzlern, gewesen waren.         „Hey, Schuldig, du solltest reinkommen. Der telepathisch Schild verhindert zwar, dass uns Colonel Amlisch mit seinem Geist erfassen kann, aber er macht die Leute nicht blind. Du bist nicht gerade unauffällig.“ Schuldig tat so, als hätte er Nagi nicht gehört, sondern starrte weiter über die Reling gebeugt auf das langsam vorbeiziehende Wasser des Rheins. Nagi seufzte, stieg nun ebenfalls aus der Luke an der Seite des Schiffes und ging langsam auf den grübelnden Mann zu. Er zögerte kurz, bevor er Schuldig leicht am Arm berührte . „Schuldig?“ Der andere zuckte zusammen und blinzelte ein paar Mal, bevor er Nagi erkannte. Ein Grinsen schob sich auf sein Gesicht. „Was denn, Nagilein? Ich hätte gedacht, dass du mit dem Ohr an Farfarellos Tür klebst, damit du live mitbekommst, was er und diese Sally da unten treiben.“ Nagi spürte, wie die Hitze in seine Wangen stieg. „Sie...sie reden nur.“ Schuldig lachte auf. „Noch. Dieser Hexe kann vermutlich nicht einmal Farfarello widerstehen. Sei froh, dass du noch so unerfahren bist. Frauen bedeuten nur Ärger.“   Nagi schwieg dazu und spürte die Wut in seinem Bauch rumoren. Sie hatten hier ein ernstes Problem und für Schuldig war das alles wieder nur ein Spiel. „Aber kein besonders interessantes Spiel“, merkte Schuldig an. „Ich könnte mir weitaus bessere Sachen vorstellen, als mich mit Amlisch und Sergej zu rollen. Sergej ist einfach nur ein Arschloch, das sich wer weiß was auf seine Psychobarriere einbildet, und Amlisch mit seinem zweiten Gesicht und den Illusionen ist ein verdammt gefährlicher Gegner. Zumal die beiden einfach mehr Kampferfahrung haben als wir. Beide kennen sich mit Militär-Taktik und solchem Kram aus. Ich bin nur froh, dass es Rudolf bereits erwischt hat. Ich kann Pyrokineten nicht ausstehen.“ „Und Silvia?“ Nagi war die Frage entschlüpft, bevor er sie zurückhalten konnte. Er biss sich auf die Unterlippe, aber es ließ sich nicht mehr zurückholen. Schuldig verzog das Gesicht. „Bis ich wusste, dass Crawford auch was mit ihr hatte, fand ich den Gedanken an ein Wiedersehen gar nicht mal so übel. Aber jetzt...“ Er schüttelte den Kopf und grinste Nagi an. „Obwohl du von ihr bestimmt noch was lernen könntest. Sie kann ein paar wirklich nette Tricks.“ Nagi runzelte die Stirn. „Crawford hat gesagt, sie beherrscht ebenfalls Telekinese. Ich wüsste nicht, was es da noch zu lernen gibt.“ Schuldigs Grinsen wurde breiter und Nagi konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass der andere auf etwas anspielte, was er gar nicht wissen wollte. Er zuckte zurück, als Schuldig ganz nahe an ihn herankam, sodass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. „Sagen wir mal, sie hat ein paar sehr interessante Anwendungsgebiete für ihre Kräfte gefunden. Nichts, was wir beide mal miteinander probieren werden, aber nichtsdestotrotz sehr innovativ.“ Er lehnte sich wieder zurück und betrachtete das Wasser. „Außerdem benutzt sie ihre Kräfte im Allgemeinen als Verstärker für ihre körperlichen Angriffe. Wenn dich mal ein Kranichtritt mit der Kraft eines halben Güterzugs durch den Raum geschleudert hast, weißt du erst, was Schmerzen sind.“ Nagi musste unwillkürlich grinsen. „Sie hat dich verprügelt?“ Schuldig schnaubte unwillig. „Mehr als einmal. Ich bin einfach immer wieder bei ihrem Training aufgekreuzt, bis wir dann endlich so zusammen auf der Matte gelandet sind, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich muss sagen, es hat sich wirklich gelohnt.“ Schuldigs Züge wurden wieder entrückt. „Sie ist wirklich speziell. Ich meine, hast du das Outfit gesehen? Es ist eine Sache, wenn dich eine Kampflesbe im Flecktarn mit Springerstiefeln zusammentritt. Aber wenn du am Boden liegst und dein Blick die endlos langen Beine entlangwandern, die irgendwo in dem schattigen Bereich unter ihrem hochgeschlitzten Rock enden, sieht die Lage schon ganz anders aus. Das mochte ich immer so an Schreient. Die Mädels wussten auch, wie man sich anzieht. Diese Schön hätte ich wirklich gerne mal durch die Laken gezogen. Zu schade, dass wir ihnen das Licht ausblasen mussten.“ Nagi wandte den Kopf ab. Er mochte die Wendung nicht, die das Gespräch nahm. „Hey, du trauerst der kleinen Verrückten doch nicht immer noch nach, oder?“ „Tot war etwas Besonders“, antwortete Nagi gepresst. „Ich weiß“, antwortete Schuldig leise. „Die Erste ist anscheinend immer was Besonderes.“ Er räusperte sich. „Das mit euch wäre sowieso nicht gutgegangen. Sei froh, dass du sie los bist.“   Nagi zögerte kurz, bevor er stockend sagte: „Man...man hat ihre Leiche nie gefunden. Als du mich damals geholt hast, war sie nicht da.“ Er sah auf. „Weißt du, was mit ihr passiert ist?“ Schuldig zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Du hast da alles in Schutt und Asche zerlegt. Wahrscheinlich war sie irgendwo zwischen den Trümmern verschüttet.“ Nagi konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Schuldig ihm nicht alles sagte. „Da waren Fußspuren“, schoss er ins Blaue und war erstaunt über die Reaktion. Einen winzigen Augenblick lang sah Schuldig fast...ertappt aus. „Da waren jede Menge Fußspuren“, wiegelte er Nagis Einwurf im nächsten Moment ab. „Wer weiß, vielleicht hast du sie auch einfach zerstäubt. Wäre doch möglich. Keiner weiß, was du da für ein Inferno entfesselt hast.“ Er sah Nagi an. „Denkst du, du bekommst das noch mal hin? Gegen Farblos wäre das wirklich hilfreich.“ Nagi schüttelte den Kopf. „Ich...es ist nicht so einfach. Ich kann mich kaum erinnern, was damals passiert ist. Totaler Blackout.“ „Wäre ja auch zu schön gewesen. Nicht, dass du nicht auch so hilfreich wärst. Schau dir nur die Maschine an, die du da gebaut hast. Ein telepathischer Schild, der ein ganzes Schiff einschließt. Wenn ich so etwas errichten sollte, wäre ich nach einer Stunde zu nichts mehr zu gebrauchen.“ „Du bist auch so zu nichts zu gebrauchen“, stichelte Nagi, um seine Freude über das Lob zu verbergen. Er wusste nicht, was heute mit Schuldig los war. Sie redeten sonst nie so miteinander. Es gefiel ihm irgendwie, aber er wusste, dass er den Telepathen das lieber nicht merken lassen sollte. Er würde sonst garantiert einen Weg finden, es ins Lächerliche zu ziehen. Es war Zeit für einen taktischen Rückzug.   „Du solltest trotzdem nicht hier oben bleiben“, sagte er mit einem letzten Blick auf das Wasser. „Sie könnten dich sehen.“ „Ich pass schon auf mich auf, Kohai.“ Nagi zuckte zusammen. Schuldig mochte zwar fließend Japanisch sprechen, das bedeutete aber nicht, das ihm nicht ab und an Patzer passierten. Außerdem hatte er nur ein einziges Mal in seinen ersten Tagen bei Schwarz den Fehler gemacht, Schuldig Senpai zu nennen, was dieser zunächst mit einem Heiterkeitsausbruch allererster Güte bedacht hatte, um es Nagi dann bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten wieder unter die Nase zu reiben. Wütend fuhr er zu Schuldig herum, doch dieser grinste ihn nur breit an. „Wenn du nicht gleich verschwindest, muss ich annehmen, dass du dich von mir doch in Silvias ganz spezieller Technik unterrichten lassen willst.“ Nagi ersparte sich eine Erwiderung, drehte sich auf dem Absatz herum und floh unter Deck, Schuldigs Lachen immer noch in seinem Ohr.           „Talent allein ist nicht alles. Man kann jeden besiegen, wenn man seine Schwachstellen kennt“, sagt Nagi abwesend. Er denkt an den Kampf mit Farblos, indem es zuerst so ausgesehen hatte, als sei Schwarz geschlagen. Einer nach dem anderen war zu Boden gegangen. Einzig Farfarello hatte sich nicht aufhalten lassen; nicht von Amlischs Illusionen, nicht von dem gesegneten Schwert, mit dem Silvia ihn durchbohrte, und nicht von Sergejs Barriere. Am Ende hatte er blutüberströmt mit Sergejs Kopf in der Hand inmitten des Schlachtfeldes gestanden, ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht.   Nagi versucht, die Erinnerung zu vertreiben. Er muss sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, auch wenn die Erinnerungen schwer wiegen. An diesem Tag haben sie Farfarello gehen lassen. Er hat irgendwo ein neues Leben mit Sally angefangen und Nagi wünscht ihm alles Glück der Welt. Ein Glück, das es für ihn nicht geben wird, solange Eszett noch seine Klauen nach der Macht ausstreckt. Nach allem, was er in der Akte gelesen hat, ist er sich sicher, dass es eine Verbindung gibt, geben muss. Die Handschrift, die dieser ganze Fall rund um die Ausbildung einer Armee von Supermenschen als die ultimativen Soldaten trägt, ist zu charakteristisch, um nicht mit Eszett in Verbindung zu stehen. Es ist ein anderer Ansatz als der, den sie bisher verfolgt haben, aber trotz allem ist da dieses vertraute Gefühl, das dafür sorgt, dass sich ihm die Haare im Nacken aufstellen. Wenn das hier tatsächlich Eszetts Wirken ist, beginnt er langsam zu ahnen, warum er hier ist.   „Ihr solltet weitere Nachforschungen anstellen“, sagt er schließlich. „Weitet euren Suchradius aus. Findet heraus, ob es noch andere Schulen wie Koua gibt. Ich bin mir sicher, ihr werdet welche finden.“ Der junge Takatori nickt, ein Ausdruck der Dankbarkeit huscht über seine Züge. „Wenn...wenn es irgendetwas gibt, was ich für dich tun kann, lass es mich wissen.“   Nagi überlegt. Wenn er hier Eszett auf den Fersen ist, wäre es klüger für ihn, den Kopf unten zu halten. Ein sicheres Versteck zu finden und gleichzeitig mit Takatori in Kontakt zu bleiben. Sein Blick wandert durch den Raum und bleibt schließlich an dem jungen Mann ihm gegenüber hängen. „Ich bräuchte eine Bleibe“, sagt er und sieht gleich darauf Verstehen über die Züge seines Gegenübers huschen. „Diese Wohnung hier steht leer. Der Junge, der hier gelebt hat, hat inzwischen ein neues Zuhause gefunden. Ich bin mir sicher, er hätte nichts dagegen, wenn du hier einziehst.“ Das Lächeln ist ein wenig zu breit, zu fröhlich für Nagis Geschmack, aber das belustigte Funkeln in den blauen Augen verfehlt seine Wirkung nicht. Nagi fühlt, wie sich auch sein Mund für einen Augenblick zu einem leichten Lächeln verzieht, bevor es wieder hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit verschwindet. „Wen immer du schickst, es sollten Profis sein“, sagt er noch. Perser lächelt nun wieder rein geschäftsmäßig. „Keine Sorge“, antwortet er. „Ich habe genau die richtigen Männer dafür im Auge.“         Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)