Reminiszenz von Maginisha ================================================================================ Kapitel 6: Training ------------------- Müde starrt Mamoru auf den Bildschirm, auf dem ein leuchtend grüner Schriftzug auf und ab schwebt. Die Buchstaben bildeten ein Wort. Epitaph. Er hat es nachgeschlagen und herausgefunden, dass es die Bezeichnung für ein Grabdenkmal oder eine Gedenktafel für einen Verstorbenen an einer Kirchenwand handelt. Allerdings ist das bisher der einzige Hinweis, den er auf den Inhalt der verschlüsselten Datei hat. Er benötigt mehr Informationen, um sich Zugang zu den Daten zu verschaffen.   Die Tage vergehen und er erwartet die Neuigkeiten seines Teams aus Europa mit wachsender Ungeduld. Schuldbewusst gleitet sein Blick zu der Schublade, in die er das Bild gelegt hat, das zuvor noch auf seinem Schreibtisch stand. Es zeigt Aya, Yoji, Ken und ihn in den Tagen, als sie noch im Blumenladen gearbeitet haben. Als sie alle zusammen noch Weiß waren. Er hat den Anblick nicht mehr ertragen.   Die Tür öffnet sich und Rex kommt herein. Seine Sekretärin hat einen Daten-Extraktor und eine Mappe in den Händen. Er ist sofort hellwach. „Sind sie wieder da?“, fragte er fast atemlos. Er fragt nicht, ob ihnen etwas zugestoßen ist. Es würde zu viel verraten. Wäre unprofessionell. Rex nickt nachsichtig. „Siberian und Balinese sind erfolgreich zurückgekehrt. Ich habe hier die Berichte und die benötigen Daten.“ Sie reicht ihm beides und er schenkt ihr einen dankbaren Blick. Ganz kurz huscht die Erinnerung an Manx und Birman durch seine Gedanken. Zwei weitere Opfer im Kampf gegen die Dunkelheit. „Brauchst du noch etwas?“, fragt Rex und streicht sich eine ihrer kurzen Haarsträhnen hinter das Ohr. „Nein, danke, Rex. Das war alles.“ Sie nickt erneut und schickt sich an, das Büro wieder zu verlassen. An der Tür bleibt sie noch einmal stehen. „Sie sind beide unverletzt“, informiert sie ihren Chef. Er dreht sich nicht um, aber sie sieht wie sich seine Schultern ein wenig entspannen. Ein kleines Lächeln huscht über ihr Gesicht und sie ist sich sicher, dass das Foto am nächsten Morgen wieder auf seinem Schreibtisch stehen wird.             Nagis Hand mit dem Wasserkessel schwebt über dem Plastikbecher, als es leise klopft. Er knurrt unwillig und setzt das heiße Wasser wieder ab. Er weiß, wer dort draußen vor der Tür des kleinen Apartments steht. Seine Mahlzeit wird warten müssen. Er isst nicht gerne vor Leuten, von denen er den Eindruck hat, dass sie das Essen bezahlen. Es gibt ihm das Gefühl, dass sie etwas dafür erwarten.   Er öffnet die Wohnungstür vom Wohnzimmer aus und hört, wie der andere eintritt und seine Schuhe abstreift. Kurz darauf steht Mamoru in dem kleinen Raum. Der teure Mantel, den er trägt, ist zu warm für das Wetter. Auf seiner Stirn sind Schweißtropfen zu sehen. „Hallo, Nagi-kun. Ich hoffe, ich störe dich nicht?“ Nagi antwortet nicht und deutet wortlos auf das Sofa. Der andere nickt dankbar und legt eine Diskette auf den Tisch, bevor er sich seines Mantels entledigt. „Wo...?“, fragt er und hält den Mantel unschlüssig in den Händen. Nagi kann der Versuchung nicht widerstehen. Er lässt das Kleidungsstück mit einer Geste im Flur verschwinden. Für ihn ist es normal, seine Gabe zu verwenden, aber er sieht das Erstaunen im Blick seines Gastes. Man sollte denken, dass es mehr als ein paar Zirkustricks braucht, um einen Takatori zu beeindrucken, denkt er bei sich und deutet auf die Disk. „Was ist da drauf?“ „Hast du einen Computer?“ Er zieht eine Augenbraue nach oben und Mamoru grinst plötzlich. „Dumme Frage, oder?“ „Allerdings.“ Er holt sein Laptop, öffnet es und gibt den 21-stelligen Sicherheitscode ein. Jetzt ist es Mamoru, der die Augenbrauen hochzieht. Nagi zuckt mit den Schultern. „Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind“, zitiert er und ruft das Hauptmenü auf. Er streckt die Hand nach der Disk aus und schiebt sie in das Laufwerk. Kurz darauf fluten Informationen den Bildschirm. Er klickt sich durch die Dateien, während Mamoru erzählt.   „Es war uns möglich, weitere Akademien ausfindig zu machen. Aus einer Einrichtung in Europa haben wir die fehlenden Informationen bekommen, die es uns ermöglichten, die Daten auf der Disk zu entschlüsseln. Es sieht so aus, als wurden an den Mitgliedern der sogenannten Z-Klasse tatsächlich genetische Veränderungen vorgenommen, um sie zu besseren Kämpfern zu machen. Ich habe noch nicht alle Berichte durchgesehen, aber die Technik, die dahinter steckt, scheint weit fortgeschritten zu sein. Die Testobjekte können schneller laufen, höher springen, sind stärker und haben übermenschlich schnelle Reflexe. Sie überleben Stürze aus großer Höhe und...“ Mamoru verstummt, als er Nagis Gesicht sieht. Bestürzung bemächtigt sich seiner Züge. „Was...was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Nagi schüttelt den Kopf. Er will nicht darüber reden, dass ihm die Bezeichnung „Testobjekte“ den Magen umdreht. Stumm klickt er weiter durch die Daten.   Mamoru schweigt noch einen Augenblick, dann fährt er fort: „Es gibt außerdem eine Person mit dem Codenamen Epitaph. Er oder sie hat augenscheinlich die Leitung über beide Einrichtungen gehabt. Die Organisation, die hinter all dem steckt, ist...“ „Eszett“, beendet Nagi den Satz. Er hat es bereits nach den ersten Berichten gewusst. Der andere sieht ihn leicht verwundert an. „Du hast das geahnt, oder?“ Er antwortete nicht, aber sein Schweigen ist Hinweis genug.   Mamoru setzt die Ellenbogen auf die Knie, verschränkt die Hände und lehnt sich dagegen. „Ich dachte, wir hätten Eszett damals ausgelöscht. Ich...der Turm. Sie waren doch tot.“ Nagi stößt spöttisch die Luft aus. „Und wir haben damals genug Kritiker-Personal ausgeschaltet, um einen kleinen Friedhof damit zu füllen.“ Mamoru verzieht den Mund zu einem dünnen Lächeln. „Ich verstehe. Es gibt immer mehr als einen Kopf.“ Er überlegt kurz und sieht Nagi abschätzend an. „Würdest...würdest du uns gegen diese Z-Klasse helfen? Ich meine, kannst du das? Dass wir damals gegen euch gewonnen haben...“ „Ihr habt nicht gewonnen“, weist Nagi ihn leicht gereizt zurecht. „Das Gebäude ist eingestürzt. Weiß war niemals eine Bedrohung für Schwarz.“ Mamoru atmet ein paar Mal leise ein und aus, bevor er weiter spricht. „Also gut. Normale Menschen sind also keine Gegner für euch. Für dich. Aber wie sieht es mit diesen genetisch veränderten Menschen aus. Wärst du in der Lage, sie zu besiegen? Wie stark bist du? Wie weit gehen deine Fähigkeiten?“ Nagi antwortet nicht. Seine Gedanken wandern zu einem kalten Herbsttag im letzten Jahr.           Die Jahreszeit war bereits fortgeschritten, die roten und gelben Blätter bedeckten den Boden, während die Bäume dunkel, kahl und abweisend eine dickte Mauer um den verlassenen Übungsplatz bildeten. Sein Atem hinterließ weiße Wölkchen in der Luft ebenso wie der von Schuldig. „Heute testen wir mal, wie stark du wirklich bist“, sagte der Telepath und zwinkerte ihm zu. „Deine Aufgabe ist einfach. Du musst mich suchen, finden und ausschalten.“ Nagi runzelte die Stirn. „Für so was bist du doch zuständig. Du fühlst, wo deine Gegner sind, indem du ihre Gedanken liest.“ „Deine Gabe sollte dir das ebenfalls ermöglichen“, wiegelte Schuldig den Einwand ab. „Du hast gesagt, es geht um Energiestrukturen. Du fühlst sie und änderst sie mit deinem Verstand. Also sollte es doch auch möglich sein, dass du einen Körper von einer Mauer unterscheiden kannst. Außerdem ist das ja noch nicht alles. Ich habe nicht vor, es dir allzu leicht zu machen.“   Nagi strich sie sich Haare aus der Stirn. Er hatte beschlossen, sie wachsen zu lassen. Schuldig fand, es ließ ihn mehr denn je wie einen grantigen Emo aussehen, aber Nagi war das egal. Jemand, der die Welt mit einer Haarfarbe wie Schuldigs belästigte, konnte sich darüber ohnehin kein Urteil erlauben. Schuldig gab etwas wie ein Kichern von sich. „Na los, du Twink. Dann lass mal sehen, was du so drauf hast.“ Noch bevor Nagi ihm für die blöde Bemerkung eine verpassen konnte, war Schuldig mit übermenschlicher Geschwindigkeit zwischen den verfallenen Gebäuden verschwunden. Nagi seufzte. Er wusste nicht, was das bringen sollte, aber wenn Crawford und Schuldig der Meinung waren, dass er das hier lernen sollte, würde er es eben tun. Ein böses Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. „Wenn ich dich kriege“, rief er Schuldig hinterher“, bekomme ich dann eine Belohnung?“ 'Ich denk mir was aus', antwortete Schuldig in seinen Gedanken und Nagis Grinsen wurde breiter. Vielleicht war das hier doch gar nicht so schlecht. Langsam bewegte er sich auf die Ruinen zu.   Um ihn herum war es vollkommen still, nur die Blätter raschelten leise unter seinen Füßen. Er stoppte und sah stirnrunzelnd nach unten. Wahrscheinlich musste Schuldig ihn nicht hören, aber er hatte vor, jeden Vorteil zu nutzen, den er bekommen konnte. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck ließ er ein wenig seiner Gabe ausfließen und fühlte, wie er sich ein winziges Stück erhob. Er schwebte nicht wirklich, aber es erleichterte die Bewegungen, machte ihn schneller und leiser. Schuldig hatte gesagt, er sollte ihn finden. Sein Blick glitt über die verfallenen Gebäude. Hier gab es unzählige Schlupfwinkel. Alle nacheinander zu durchsuchen, würde zu lange dauern. Außerdem war das nicht der Sinn der Übung. Er musste seine Fähigkeit benutzen, um den Telepathen aufzuspüren. Mit einem tiefen Atemzug schloss er die Augen und griff hinaus.   Alles um ihn herum vibrierte. Aller Materie wohnte eine latente Energie inne. Ein kleiner Teil seines Gehirns war stets damit beschäftigt, die Berechnungen anzustellen, die ihm erlaubten, das Energielevel in genau dem richtigen Maß zu manipulieren, damit er die erwünschte Wirkung erzielte. Einen Schalter umzulegen, eine Tasse aus dem Schrank zu holen, einen Panzer beiseite zu schieben. All das funktionierte nach dem gleichen Prinzip nur mit unterschiedlichem Kraftaufwand. Farfarello hatte einmal einen Scherz darüber gemacht, dass Nagi keines von Gottes Geschöpfen, sondern die Ausgeburt einer Maschine sei. Nagi hatte ihn daraufhin aus dem Fenster im dritten Stock geworfen. Es wurde schwieriger, wenn er die Dinge, die er bewegen wollte, nicht sehen konnte. Dann musste er zusätzlich die Energiemuster erspüren, die er verändern wollte. Er lachte leise, als ihm klar wurde, dass es genau das war, was er jetzt brauchte. Es war eigentlich ganz...   Etwas Hartes traf ihn am Kopf. Warme Flüssigkeit begann seinen Hinterkopf hinabzulaufen. „Nicht die Deckung vernachlässigen“, hörte er Schuldigs Stimme. Sie schien von überall zugleich zu kommen. Er griff nach der blutenden Wunde und sah den Stein am Boden liegen, der ihn getroffen hatte. Er sah sich um. Hinter ihm war niemand. Keine Deckung, keine Mauer, die Schuldig verbergen konnte. Er knurrte leise. „Das bekommst du zurück, du Bastard!“ „Dazu musst du mich erst mal kriegen!“ Schuldigs Lachen verklang zwischen den Gebäuden. Nagi hörte, wie er ein deutsches Kinderlied anstimmte. Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald...   Er hasste es, wenn Schuldig das tat. Ihn reizte, ihn wütend machte. Manchmal hatte er Angst, ihn zu verletzten. Die Kontrolle zu verlieren. 'Keine Panik, ich bin nicht aus Zucker. Nun streng dich endlich mal an. Mir ist kalt und ich könnte mir was Besseres vorstellen, als hier mit dir durch den beschissenen Wald zu stolpern. Aber du weißt ja: erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Nagi schnaubte und versuchte es noch einmal. Zur Sicherheit legte er gleichzeitig einen Schild um sich. Noch etwas, dass er erst seit Kurzem wirklich beherrschte. Der Trick war, den Schild nicht zu weit zu fassen, denn je größer das Feld war, desto mehr strengte es ihn an. Eine enganliegende Rüstung aus pulsierender Energie, die Schläge und Stöße abfederte. Es war anstrengend, das Energiefeld die ganze Zeit aufrechtzuerhalten, daher verzichtete er normalerweise darauf. Hier erschien es ihm jedoch angebracht.   Er brachte den Schild in Position und ließ seine Gabe über die Gebäude streichen. Mauern, Mauern, Mauern. Er spürte die Unterschiede zwischen tragenden Wänden und ihren dünneren Gegenstücken. Spürte Fenster, Türen, Fußböden. Alles hatte seine eigene Signatur. Nach und nach entstand in seinem Kopf eine Karte der Ruinen. Einmal abgespeichert brauchte er sie nicht mehr ständig im Griff zu haben und konnte sich darauf konzentrieren, das zu finden, was er suchte. Eine Energiespur, die sich von der der unbelebten Objekten unterschied. Wieder traf ihn ein Wurfgeschoss, aber dieses Mal prallte es von der Barriere ab. 'Nicht übel', lobte Schuldig ihn in Gedanken. 'Aber der Schild kostet zu viel Energie. Nimm ihn runter.' 'Fällt mir gar nicht ein', gab Nagi zurück und scannte weiter die Umgebung. 'Nimm ihn runter, hab ich gesagt.' Schuldig klang eindeutig ärgerlich. 'Den kannst du meinetwegen benutzen, wenn dir mal wieder ein Haus über dem Kopf zusammenstürzt, aber in allen anderen Fällen will ich hier gezielte Abwehr sehen. Sonst gehen dir in einer halben Stunde die Lichter aus und ich darf dich zum Auto tragen. Fällt mir gar nicht ein. Außerdem futterst du dann wieder die ganzen Chouquettes alleine auf und Mister Greizkragen Crawford lässt mich garantiert nicht gleich wieder neue kaufen. Lebensmittelpreise in Frankreich sind einfach abartig.' Nagi unterdrückte ein Lachen und nahm den Schild runter. Sekunden später hielt er gerade noch rechtzeitig einen weiteren Stein auf, der nur Zentimeter vor seinem Gesicht schwebte. Er ließ ihn mit einem Schnauben zu Boden fallen. 'Gehen dir nicht bald mal die Steine aus?', fauchte er ungehalten und verteilte die kinetische Energie, die er von dem Geschoss abgeleitet hatte gleichmäßig. 'Nö, hab noch die ganzen Taschen voll', kam es mit einem mentalen Grinsen zurück. 'Du bist kindisch.' 'Und du langsam. Streng dich mal ein bisschen an.'   Nagi schnaubte und setzte sich in Bewegung. Er pirschte sich durch die Ruinen, spähte in dunkle Winkel und verfluchte Schuldig, der sich ihm immer gerade dann entzog, wenn er dachte, dass er ihn gefunden hatte. Immer wieder musste er im letzten Augenblick Wurfgeschosse aufhalten und konnte dem Impuls, die Steine zurückzuschleudern immer schlechter widerstehen. So langsam ging ihm die Geduld aus. Er konzentrierte sich und griff noch einmal weit hinaus und versuchte, die verräterische Energiesignatur zu finden, die ihm endlich den Aufenthaltsort des Telepathen verriet.   Beinahe hätte er laut gejubelt, als er Schuldig schließlich entdeckte. Er stand in einem Gebäude in etwa fünfzig Meter Entfernung und beobachtete ihn. Nagi ließ es sich nicht anmerken und suchte scheinbar weiter. Gleichzeitig löste er einige Metallstreben von der Wand hinter Schuldig und ließ sie auf den Ahnungslosen zu schweben. 'Hab dich!', dachte er, öffnete die Augen und hörte einen überraschten Schrei, als sich das Metall um die Gliedmaßen seines Ziels wand und es an die Wand drückten. Mit einem triumphierenden Lächeln ging er auf das Gebäude zu, in dem Schuldig verzweifelt versuchte, sich zu befreien. „Netter Trick“, rief der Telepath hinunter. „Jetzt mach mich wieder los. Wir haben für heute genug getan. Lass uns nach Hause fahren.“   Nagi nahm Anlauf und sprang mit zwei Sätzen die Wand hinauf. Er blieb in der Fensteröffnung hocken und betrachtete seine Beute. Schuldig war mit angewinkelten Armen an die Wand gefesselt. Das Metall steckte in der Mauer und wand sich zweimal um seine Handgelenke. Die Füße waren auf die gleiche Weise gefesselt und hielten seinen Körper somit zuverlässig fest. Langsam ließ sich Nagi vom Fensterbrett gleiten und ging mit gewählten Schritten auf Schuldig zu. Der hielt in seinen Bemühungen, sich von den metallenen Fesseln zu befreien, inne und sah Nagi mit einem amüsierten Zug um den Mund herum an. „Schlauer Schachzug. Hast mich wirklich drangekriegt. Aber jetzt mach das wieder ab. Es scheuert.“ Nagi ließ seinen Blick über Schuldig streichen. Er trug ebenso wie Nagi einen dicken, wollenen Mantel, der ihn gegen die Kälte schützen sollte. Um seinen Hals schlang sich ein langer Schal in Rostrot. Er passte irgendwie zu seiner Haarfarbe. Auf einen Wink von Nagi hin begann sich der Stoff wie von Geisterhand von Schuldigs Hals zu wickeln. Schulgi hob eine Augenbraue. „Was wird das denn jetzt?“ Nagi antwortete nicht. Der Schal glitt zur Seite und rollte sich auf dem Boden zusammen wie eine dicke, zufriedene Katze. Gleich darauf begannen sich die Knöpfe des Mantels zu öffnen. „Hey, ist arschkalt hier. Glaub ja nicht, dass dir das irgendwelche Punkte bringt.“ Nagi schwieg weiterhin und entfernte den letzten Knopf des Mantels mit solcher Kraft, dass er absprang und irgendwo zwischen Schutt und vertrockneten Blättern davon sprang. Schuldigs Mund verzog sich verdrießlich. „Der war teuer, du kleines Aas.“ Er seufzte, als Nagi immer noch keine Anstalten machte, ihn loszumachen. Stattdessen begannen sich jetzt auch die Knöpfe seines Hemds zu öffnen. Nagi trat einen Schritt näher. „Frierst du?“, fragte er leise und ließ seine behandschuhten Hände über Schuldigs entblößte Brust gleiten. Der Telepath erzitterte unter der Berührung. „Nicht wirklich“, antwortete er rau. „Aber ich dachte, du wolltest eine Belohnung. Wenn du mich hier fesselst, wie soll ich dann etwas für dich tun?“ Er rüttelte an den Metallstangen. „Siehst du, ich bin total hilflos. Also würdest du mich wohl freundlicherweise losmachen? Ich verspreche auch, ganz brav zu sein.“ „Mhm“, machte Nagi, als müsste er überlegen. Heißes Blut floss innerhalb seines Körpers gerade abwärts und er sah deutlich, dass es Schuldig nicht anders ging. Dieses Spiel begann, ihm wirklich Spaß zu machen. Er ließ die Metallstangen sich ein wenig tiefer bewegen, sodass Schuldig von ihnen weiter nach unten gedrückt wurde und schließlich leicht in die Knie gehen musste, bis er sich auf Augenhöhe mit Nagi befand.   „Was bietest du mir für deine Freiheit?“, hauchte er gegen Schuldigs Ohr und erntete einen neuen Schauer. Die durchdringenden, blauen Augen seines Gegenübers bohrten sich in seine. „Ich könnte dich zwingen, mich freizulassen“, sagte der Telepath, die Stimme mit einem dunklen Timbre, das Nagi bis in den Magen fuhr. „Bist du dir sicher, dass du das willst?“, fragte Nagi mit einem leichten Lächeln. „Oder soll ich dir zeigen, was ich noch alles kann?“ Er hatte den Eindruck, Schuldigs Herzschlag hören zu können. Oder vielleicht war es auch nur sein eigenes Herz, das ihn in einem wummernden Takt bis zum Hals schlug. Langsam lehnte er sich vor, seine Lippen öffneten sich leicht und...         „Nagi-kun? Ist alles in Ordnung?“ Mamoru sieht ihn besorgt an. Nagi schluckt, sein Mund ist trocken. „Ja ich...ich habe nur Hunger“, antwortet er und bemerkt, dass das nicht einmal gelogen ist. „Ich wollte mir vorhin gerade etwas zu essen machen.“ Er zeigt auf die winzige Küchenecke, in der immer noch die geöffnete Packung Instantnudeln steht. Das Wasser im Kessel ist inzwischen sicherlich kalt. „Mhm, die habe ich früher auch immer gegessen“, meint Mamoru nachdenklich. Er sieht sich in dem Zimmer um, als hinge auch er einen Augenblick lang seinen Gedanken nach. Dann lächelt er Nagi mit einem spitzbübischen Ausdruck in den Augen an. „Hast du noch eine Packung?“ Nagi blinzelt. Er glaubt zunächst, sich verhört zu haben. Sein Mund verzieht sich zu einem spöttischen Hohnlächeln. „Ein Takatori, der Instantnudeln isst? Wenn das die Presse erfährt.“ Mamoru sieht sich noch einmal um. „Wir können ja die Vorhänge zuziehen, um ganz sicher zu sein, dass es niemand sieht.“ Nagi überlegt einen Augenblick, dann nickt er langsam. Er weiß nicht genau, warum er eine zweite Packung aus dem Schrank holt und noch mehr Wasser in den Kessel füllt, bevor er ihn auf den Herd setzt. Er mag es nicht, vor anderen zu essen. Aber er war auch noch nie derjenige, der das Essen bezahlt hat. Er stellt fest, dass es sich gar nicht so schlecht anfühlt.         Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)