Reminiszenz von Maginisha ================================================================================ Kapitel 8: Berührung -------------------- Als es neben ihm klingelt, weiß er im ersten Moment nichts mit dem Ton anzufangen. Erst als er das leuchtende Display sieht, fällt es ihm wieder ein. Mamoru hat ihm ein Handy geschickt in einem unbeschrifteten Umschlag. Er hebt ab. „Ja?“ Mamoru ist am anderen Ende. Natürlich. Wer auch sonst sollte diese Nummer haben? „Ich brauche frische Luft...und jemandem zum Reden. Wollen wir uns treffen?“ Nagi runzelt die Stirn. „Ist das klug?“ „Nein...nein, natürlich nicht. Jemand könnte uns sehen, ich weiß. Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir: Aufstrebender, junger Politiker mit unbekanntem Fremden gesichtet. Es ist nur....es ist so ein schöner Tag und ich will nicht mit meiner Sekretärin in den Park gehen müssen. Und ich will mir auch nicht mehr ständig anhören müssen, wie sie mich am Telefon verleugnet, weil mein Großvater schon wieder anruft.“ „Es gab also Probleme.“ „Ja. Große. Ich...ich will das nicht am Telefon besprechen.“ Nagi seufzt. „Ich komme.“ „Danke, Nagi-kun. Bis in einer halben Stunde.“     Der Park ist gut besucht, aber nicht überfüllt. Kinder spielen laut lachend Fangen, ihre Mütter sitzen im Schatten ihrer Sonnenschirme daneben und unterhalten sich. Jugendliche hocken in Gruppen auf dem Rasen, Spaziergänger bevölkern die Wege, die sie sich mit den Joggern, Inlineskatern und ähnlichen Gefährten teilen müssen. Die Sonne scheint warm vom Himmel und Nagi ist froh, dass er nur Jeans und ein T-Shirt trägt. An dem Denkmal, das sie als Treffpunkt abgemacht haben, ist noch niemand zu sehen. Er lässt sich gegen den kühlen Stein sinken und schließt für einen Moment die Augen. Der Geruch von Gras und blühenden Bäumen liegt in der Luft und der Wind säuselt leise in den Blättern über ihm. Das Vibrieren des frischen Lebens um ihn herum durchdringt ihn und lässt sein Herz leicht werden. In Momenten wie diesem erscheint es so einfach, glücklich zu sein.   Als ein Schatten auf ihn fällt, öffnet er die Augen. Vor ihm steht ein Junge und grinst ihn an. Nagi mustert ihn, angefangen von den Turnschuhen mit den weißen Socken, über die kurzen Hosen bis hin zu der Baseballkappe, die sein Gesicht halb verdeckt. „Schicke Verkleidung“, spottet er. „Wenn dich jetzt jemand erkennt, bist du geliefert.“ „Niemand sucht einen Takatori in kurzen Hosen“, antwortet sein grinsendes Gegenüber, das Nagi versucht ist, Bombay zu nennen. „Die Sachen waren noch in einer Tüte ganz hinten im Schrank. Ich wollte sie immer mal weggeben, aber irgendwie...“ „Irgendwie hattest du zu viel damit zu tun, politische Komplotte zu schmieden und die Herrschaft über Japan an dich zu bringen“, bietet Nagi an. Er nickt wissend. „Eine durchaus glaubwürdige Ausrede für deine Faulheit.“ Der andere stößt empört die Luft aus. „Ein Takatori zu sein, ist viel Arbeit. Aber heute...heute möchte ich einfach nochmal Omi Tsukiyono sein. Er ist...er ist nicht perfekt. Bei weitem nicht. Ein dummer Junge mit einem viel zu weichen Herz und einer naiven Sicht auf die Welt. Aber er ist jemand, der einfach mal mit einem Freund im Park ein Eis essen gehen kann, ohne dass ihm ein Heer von Reportern folgt und daraus eine Stellungsnahme zur politischen Lage der Nation macht.“ Nagi liegt es auf der Zunge zu sagen, dass Mamoru bei Weiten nicht mehr dieser Junge ist, aber er schweigt. Was der andere mit den Geistern seiner Vergangenheit anfängt, geht ihn nichts an. Alles in allem macht es die Verkleidung leichter, sich frei im Park zu bewegen.   „Und? Was will der alte Mann?“, fragt er, als sie anfangen, langsam den Weg entlangzugehen. Mamoru...Omi hat die Hände in den Hosentaschen vergraben. „Er ist ungehalten, weil Abyssinian sich weigert, dem Abzugsbefehl nachzukommen. Rex hat vorgeschlagen, dass ich die Crashers losschicke, um ihn auszuschalten.“ „Und wirst du das tun?“ Omi schüttelt den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich...er tritt für seine Überzeugung ein. Er will Eszett vernichten, weil er fühlt, dass es das Richtige ist. So war er schon immer. Die Leute mögen ihn für distanziert halten, aber tief in seinem Inneren ist es das Mitgefühl und tiefe, moralische Wurzeln, die ihn antreiben. Es reicht ihm nicht, einen Befehl zu befolgen. Er braucht einen Grund, um sich dem Bösen mit Leib und Seele entgegenzuwerfen.“ „Für mich klingt das ziemlich selbstgerecht“, wirft Nagi ein. Sie sind am Rand eines Sees angekommen und lassen sich im Schatten eines hohen Baumes wieder. „Das mag im ersten Moment so wirken, aber so ist es nicht“, sagt Omi leise. „Er bildet sich nicht ein, dass er etwas Besseres ist. Er weiß, dass wir alle unsere Hände tief in Blut getaucht haben. Aber während ich es einfach akzeptiert habe, weil es meine Aufgabe bei Weiß war, braucht er einen Grund dafür. Jemand oder etwas, für den es sich zu kämpfen lohnt. Und jetzt denkt er, dass ich Weiß hintergangen habe, indem ich den Befehl zum Rückzug gab. In seinen Augen habe ich das verraten, wofür Weiß stehen sollte.“ Nagi schweigt einen Augenblick, dann macht er ein abfälliges Geräusch. „Ich weiß schon, warum ich keiner von den Guten bin. Da kriegt man ja schon vom Zuhören Kopfschmerzen. Du tust, was du tun musst. In deiner Position kannst du nicht immer danach handeln, was irgendeiner Märchenbuch-Moral nach richtig oder falsch ist. So einfach funktioniert die Welt nicht.“ Omi grinst ihn schief an. „Vielleicht solltest du meinen Posten übernehmen. Ich glaube, mit dir als seinem Enkel wäre Großvater sehr viel glücklicher.“ Nagi schüttelt den Kopf. „Nein danke, kein Interesse. Allein die Anzüge würden mich umbringen. Du siehst furchtbar darin aus.“   Omis Lachen ist hell und fröhlich. „Wir könnten dir ja eine Uniform schneidern lassen und ich stelle dich als meinen persönlichen Leibwächter an. Dann könnten wir uns auch zusammen in der Öffentlichkeit sehen lassen, ohne dass dumme Fragen aufkommen.“ „Ich soll für einen Takatori arbeiten?“, schnauft Nagi. „Dahingehend sind meine Erfahrungen nicht besonders gut.“ „Und wenn ich dich mit einem Eis besteche? Ich kann wirklich hartnäckig sein.“ Omis Augen funkeln und Nagi stellt fest, dass ihm das besser gefällt als der gequälte Ausdruck, der noch gerade eben darin gelegen hat. Aber es war nicht nur das. Hinter den Sorgen hat er eine Sehnsucht gesehen, die nichts mit dem eigentlichen Problem zu tun hat. Er kennt diesen Blick. Er hat ihn selbst einst gehabt.           Nagi hörte die erregten Stimmen schon, als er aus der Aufzugtür trat. Sie wurden lauter, als er sich ihrer Zimmertür näherte. Es war jetzt deutlich zu hören, dass Crawford und Schuldig sich stritten. Warum konnte er nicht mehr verstehen, da in diesem Moment die Tür der Suite aufgerissen wurde und ein ziemlich angefressen aussehender Schuldig ihm entgegenstob. Er wurde kurz langsamer, als er Nagi sah, als wolle er etwas zu ihm sagen, dann aber presste er die Lippen zusammen und ging mit langen Schritten an ihm vorbei. Nagi sah ihm einen Augenblick lang nach, bevor er das Zimmer betrat, in dem Crawford sich seine Brille abgenommen hatte und mit einem gequälten Gesichtsausdruck seine Nasenwurzel massierte. Als er Nagi bemerkte, setzte er die Brille wieder auf und atmete einmal tief aus. „Gibt es Probleme?“, fragte Nagi überflüssigerweise. Er wollte Crawford nicht die Gelegenheit geben, den Raum einfach ohne eine Erklärung zu verlassen. „Eine kleine Meinungsverschiedenheit“, antwortete der Mann und Nagi schüttelte ob der offensichtlichen Lüge innerlich den Kopf. Für wie dumm hielt Crawford ihn eigentlich? Crawfords Blick glitt an ihm vorbei zur Tür, die immer noch offenstand. Nagi wollte sie gerade schließen, als der Mann ihn aufhielt. „Tu mir einen Gefallen, Nagi, und geh ihm nach. Ich glaube, wir sollten Schuldig in diesem Zustand nicht alleine auf die Welt loslassen. Ich würde ungern größer Mengen unseres Etats dafür verwenden müssen, eine seiner Dummheiten zu vertuschen.“ „Du hast Angst, dass er jemanden umbringt?“, präzisierte Nagi die Aussage. „Nein, nicht wirklich. Das ist nicht Schuldigs Stil. Aber für Aufsehen sorgen, schon. Also sieh zu, dass du ihn im Auge behältst, bevor er etwas Dummes anstellt.“ Nagi hob eine Augenbraue. „Dir ist schon klar, dass ihr die Erwachsenen hier seid, oder?“ Die Bemerkung weckte ein schmales Lächeln bei Crawford. „Der Grad des Erwachsenwerdens hat nicht unbedingt etwas mit dem Alter zu tun. Du hast sehr viel früher als Schuldig damit angefangen und bessere Fortschritte gemacht. Also bitte, suche ihn und bring ihn in einem Stück wieder zurück.“   Nagi nickte nur und beeilte sich, Schuldig zu folgen. Er sprach den Gedanken, den er im Kopf hatte, nicht aus. Wenn er hätte raten sollen, dann hatte Schuldig so etwas wie eine Kindheit nie gehabt hatte. Sicherlich, Nagis eigenes Leben war bei Weitem kein Zuckerschlecken gewesen, aber er hatte erfahren dürfen, was Liebe und Geborgenheit bedeutete, bevor man ihn aus diesem warmen Kokon wieder zurück in die Wirklichkeit gerissen hatte. Immer zu wissen, was in den Köpfen der anderen vorging, egal ob man dafür bereit war oder nicht, musste ein schweres Los für ein Kind sein. Vielleicht übte es deswegen auf Schuldig so eine große Faszination aus, andere zu manipulieren und zu belügen. Weil es etwas war, das er nie erlebt hatte. 'Hast du vergessen, nach dem Sex mit deinem Lover zu kuscheln, oder woher kommt deine plötzliche Besorgtheit um meinen Gemütszustand?' Nagi schrak hoch und sah sich instinktiv in der Aufzugkabine um, als er Schuldigs Stimme in seinem Kopf hörte. Er hatte gedacht, dass der Telepath schon längst über alle Berge wäre. 'Hotelbar', war das Einzige, was er noch hörte, bevor Schuldig wieder aus seinen Gedanken verschwand.   Nagi trat aus dem Aufzug und suchte den Eingang zu den luxuriös eingerichteten Räumen, die genau wie der Rest des Hotels ein geschmackvoll abgestimmtes Bild aus Gold, Kristall und edlen Hölzern bildeten. Inmitten des Prunks saß Schuldig an der auf Hochglanz polierten Bar, vor sich ein halb geleertes Glas mit einer goldbraunen Flüssigkeit. Die anderen Gäste hielten einen respektvollen Abstand zu ihm und die angeregten Gespräche der elegant gekleideten Männer und Frauen schienen um den vor sich hin brütenden Deutschen herum leiser zu werden. Nagi glitt auf einen Barhocker neben Schuldig. „Was trinkst du?“, fragte er. „Das Teuerste, was es auf der Karte gab“, antwortete Schuldig. „Na, nicht wirklich. Es hätte auch noch Champagner gegeben. Ich hatte schon überlegt, ob ich die schnuckelige Kleine dahinten dazu einlade, aber dann kam ihr Bulle von einem Mann dazu und ich hatte keine Lust auf Streit.“ „Sagte der Fuchs, dem die Trauben zu hoch hingen“, stichelte Nagi. Schuldig schoss ihm einen genervten Blick zu. „Ich wusste, ich hätte dir keine Märchen vorlesen sollen, als du noch kleiner warst.“ „Märchen?“, prustete Nagi los. „Du hast mit mir indizierte Splatterfilme geguckt und gemeint, das wäre Schulfernsehen.“ „Farfarello haben sie gefallen“, behauptete Schuldig und stürzte den Rest seines Drinks hinunter. „Gar nicht. Er hat gemeint, er könnte das viel besser“, konterte Nagi und war froh, den Anflug eines Lächelns auf Schuldigs Gesicht zu sehen. Sein eigenes hingegen gefror, als er die Schlüssel in der Hand seines Gegenübers erblickte. Den Anhänger daran zierte das weltbekannte schwarze Pferdelogo auf gelbem Grund. „Wem gehören die?“, wollte er wissen. Schuldig zuckte nur mit den Schultern: „Irgendeinem Typen, der jetzt nach Hause läuft. Lust auf eine Spritztour?“ Nagi wusste, er sollte Nein sagen. Sollte Schuldig dazu überreden, wieder mit ihm in die Suite zurückzukehren. Aber irgendwelche komischen Hormone tanzten gerade in seinem Magen Polka, so dass er nicht anders konnte, als zu nicken.     Als er auf die Sitze des roten Sportwagens glitt und den Geruch des teuren Leders um sich herum wahrnahm, musste er unwillkürlich grinsen. Er machte sich eigentlich nichts aus Autos, aber dieser Wagen war mehr als nur ein Auto. Er war... „Es isse eine eckte Mikaele Schumacker Ferrari“, näselte Schuldig und steckte den Schlüssel ins Schloss. „Bereit oder nicht, jetzt geht’s los.“   Sie verließen die Stadt auf dem schnellsten Wege, denn so schön Venedig auch sein mochte, zum Auto fahren war die Stadt der tausend Brücken einfach nur eine Katastrophe. Als sie Häuser um sie herum weniger wurden, ließ Schuldig den Motor aufheulen und sie schossen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Landschaft. Nagi lehnte sich tiefer in den Sitz und genoss das Gefühl, der an ihm vorbeirasenden Gefahr. Er wusste, im Falles eines Falles würde ihn seine Fähigkeit vor dem Schlimmsten bewahren können. Außerdem wusste er, dass Schuldig ein guter Fahrer war. Er blickte zu dem rothaarigen Telepathen hinüber, der seine Augen für einen Moment von der Straße löste und auf Nagi richtete. Das helle Blau schien in der hereinbrechenden Dunkelheit zu leuchten. Nagi wendete schnell den Kopf ab und starrte wieder aus dem Fenster. Schuldigs Blick hatte ihn an das Gespräch erinnert, das sie hatten, als sie im Hotel angekommen waren. Er zwang sich, nicht über irgendetwas nachzudenken, aber die innere Unruhe, die von ihm Besitz ergriffen hatte, war ein mehr als deutliches Anzeichen dafür, was tief in ihm vorging. Der Rest der Fahrt verlief schweigend und irgendwann nickte Nagi ein. Als er wieder zu sich kam, lenkte Schuldig den Wagen gerade auf einen Parkplatz. „Wo sind wir?“, fragte Nagi verschlafen. „Am Meer“, antwortete Schuldig nur und stieg aus. Nagi gähnte und streckte sich. Er fühlte sich merkwürdig steif, als hätte er lange geschlafen. Als er auf die Uhr sah, erschrak er. Es war bereits früh am nächsten Morgen. Sie waren die Nacht über durchgefahren. Wo zum Teufel hatte Schuldig sie hingebracht? Er beeilte sich, dem Telepathen zu folgen und stand kurz darauf neben ihm am Rand einer Strandpromenade. Die Sonne wärmte Nagis Rücken, aber seine Vorderseite fror trotzdem im frischen Wind, der vom Wasser her zu ihnen herüber wehte. Auf den blauen Wellen tanzten weiße Schaumkronen. Er legte die Arme um den Körper, um sich wenigstens eine Illusion von Wärme zu erschaffen. „Wo sind wir?“, wiederholte er seine Frage und Schuldig zuckte nur mit den Schultern. „Bin einfach gefahren. Ich musste mal ein bisschen den Kopf freikriegen.“ Er sah sich um. „Komm, da hinten hat schon ein Café auf. Lass uns was frühstücken.“   Frische Cornetti, Kaffee aus Styroporbechern und den noch kühlen Sand zwischen den Zehen saßen sie einfach nur da und sahen auf das Meer hinaus. Irgendwann begann sich der Strandabschnitt mit Leben zu füllen. Als Erstes kamen die alten Leute, die mit hochgekrempelten Hosen durch die Gischt wateten, bevor sie Posten unter dem gemieteten Sonnenschirm bezogen. Es folgten die Familien mit ihren lärmenden Kleinkindern, die sich gegenseitig die Schaufeln über den Kopf zogen und einstimmig heulten, wenn es hieß, dass es heute kein Eis mehr gäbe, wenn sie nicht sofort damit aufhörten. Schließlich kamen die Strandschönheiten mit den winzigen Bikinis, die sie zu Schuldigs Begeisterung und um Bräunungsränder zu vermeiden, noch weiter auf ihren Hintern nach oben schoben und ihre Liegen nach dem aktuellen Sonnenstand ausrichteten. Und ganz zum Schluss folgten die muffeligen, immer noch von der vergangenen Partynacht müden Teenager, die sich ihre Kopfhörer in die Ohren steckten und den Rest der Welt ignorierten, soweit es ihnen möglich war. Dazwischen liefen in weiten, bunten Gewändern die meist farbigen Strandverkäufer herum, die ihre Waren anboten. Schuldig winkte einen von ihnen heran und erstand ein schreiend buntes Badehandtuch. „Was willst du denn damit?“, fragte Nagi müde. Ihm schien die Sonne auf den Kopf und die kurze Nacht hatte auch bei ihm ihre Spuren hinterlassen. „Schwimmen gehen. Kommst du mit?“ Nagi verzog das Gesicht. „Ich hab keine Badehose.“ „Na und? Ich auch nicht“, grinste Schuldig und warf ihm das Handtuch zu. „Wer zuletzt im Wasser ist, ist eine lahme Ente.“   Nagi rollte nur mit den Augen und folgte Schuldig langsam zum Wasser. Er hatte nicht vor, sich auszuziehen. Ein Fehler, wie er kurz darauf feststellen musste, als Schuldig ihn in voller Montur ins Wasser schmiss. Sie balgten eine ganze Weile herum, bis sie sich schließlich nass und müde auf einer der Liegen wiederfanden. Nagi hatte sich in das Handtuch gewickelt, während Schuldig sich mit geschlossenen Augen zurücklehnte, um seinen Körper von der Sonne trocknen zu lassen.   Vorsichtig ließ Nagi seinen Blick über den Mann neben sich gleiten, immer bemüht, keine verräterischen Gedanken zu haben. Wassertropfen rannen in glitzernden Bahnen über seine Brust und der auffrischende Wind zeichnete eine Gänsehaut dazwischen. Der andere bewege sich und ihre Knie stießen aneinander. Nagi zuckte unwillkürlich zusammen und seine Augen wanderten tiefer. Er fühlte, wie sich sein Puls beschleunigte und sah aus den Augenwinkeln, wie Schuldig anfing zu grinsen. „Was gefunden, dass dir gefällt?“, fragte er amüsiert. Nagi schluckte. Da fiel sein Blick plötzlich auf eine lange Narbe auf Schuldigs Oberschenkel. „Wie ist das passiert?“, fragte er eilig, um sich abzulenken. „War nicht schnell genug und mich hat eine Kugel erwischt. Hat geblutet wie ein abgestochenes Schwein. Ich hatte Glück, das Crawford mich rausgehauen hat.“ „Ihr kennt euch schon lange, oder?“ „Mhm“, war die unbestimmte Antwort. „Verbluten ist bestimmt ne Scheißart zu sterben“, meinte Nagi, mehr um das Gespräch am Laune zu halten. „Auf jeden Fall“, stimmte Schuldig zu. „Aber Verbrennen finde ich noch schlimmer.“ Nagi nickte. Er hatte inzwischen schon mitbekommen, dass Feuer nicht unbedingt Schuldigs Favorit war. „Was wäre deine schlimmste Art zu sterben?“, wollte Schuldig wissen. Nagi überlegte. Er musste plötzlich an das Gefühl denken, tief in dunkle Wasser gezogen zu werden, die Oberfläche immer weiter und weiter über sich verschwinden zu sehen, den zunehmenden Druck auf seinen Brustkorb, den Schwindel des beginnenden Sauerstoffmangels, das Stechen der protestierenden Lungen, die er nur mit Mühe davon abhalten konnte, sich statt mit lebensrettender Luft mit Salzwasser zu füllen. „Ertrinken“, antwortet er leise. „Ich glaube, das wäre das Schlimmste.“ Schuldig schnaubte nur. „Da gibt es noch viel interessantere Sachen. Vor allem Dinge, die viel länger dauern und dich vorher vor Schmerzen verrückt werden lassen.“   Sie unterhielten sich noch eine Weile darüber, wie man wohl am besten von der Welt abtreten könnte, bis Nagi schließlich sagte: „Wir müssen langsam zurück. Und Crawford anrufen.“ Schuldig öffnete nur ein Auge. „Aber vorher müssen wir noch ein Eis essen. Und zwar in der besten Eisdiele, die es hier gibt.“ „Ach, ich dachte, du kennst dich hier nicht aus“, meinte Nagi misstrauisch. Schuldig grinste nur breit und wackelte mit den Augenbrauen. „Das nicht, aber ich kann Gedanken lesen.“     Die Eisdiele war nahezu leer, als sie dort ankamen. Staunend betrachtete Nagi die schier endlose Reihe der Container, in denen die Eissorten aneinander gereiht waren. Riesige Berge verschiedenfarbiger Köstlichkeit mit Nüssen, Früchten, verschiedenen Soßen und Unmengen von Schokolade. Er hatte keine Ahnung, was er nehmen sollte. „Dann lass mich das übernehmen“, bot Schuldig an und zwinkerte ihm zu. „Ich weiß, was du magst.“ Kritisch betrachtete Nagi kurze Zeit später die riesige Eisportion in seiner Hand. „Wie soll ich das denn essen?“ „Schnell“, meinte Schuldig und leckte einmal der Länge nach über sein eigenes Eis. „Sonst schmilzt es nämlich.“ Nagi probierte und musste zugeben, dass das Eis wirklich gut war. Nicht zu vergleichen mit dem, was er bisher gegessen hatte. „Ja, Italien ist toll“, bestätigte Schuldig, den Mund voller Eiscreme. „Die Sonne, das Essen, die hübschen Italienerinnen und glutäugigen Gigolos. Davon verstehst du ja inzwischen auch etwas.“ „Luca ist kein Gigolo“, knurrte Nagi. Er hatte keine Lust, jetzt mit Schuldig darüber zu reden. „Ach, aber er könnte einer sein. Talent hat er ja offensichtlich dazu, nach allem, was ich so in deinen Gedanken gesehen habe.“ Nagi ballte die freie Hand zur Faust. Er hatte es gewusst. Dieser Tag war zu schön, zu harmonisch gewesen. Jetzt hatte er wieder den alten Schuldig am Hals, der nur darauf aus war, irgendjemanden zu quälen. Ihm graute jetzt schon vor der Rückfahrt. „Halt dich doch einfach da raus“, fauchte Nagi, während er seine Schritte beschleunigte. Der Wind war kalt geworden und die unzähligen bunten Sonnenschirme flatterten im Wind. Inzwischen war der Strand menschenleer. Dunkle Wolken zogen am Horizont auf. „Ah, das kann ich aber nicht“, antwortete Schuldig ein wenig verspätet, als er endlich zu ihm aufschloss. Er leckte sich mit einer obszön anmutenden Zungenbewegung das schmelzende Eis von den Fingern. „Ich muss doch auf dich aufpassen, Nagilein. Das bedeutet, ich muss jederzeit wissen, wo du steckst, und zwar jeder Teil von dir.“   Nagi hatte genug. Er warf sein Eis von sich und funkelte Schuldig wütend an. „Wenn du so großes Interesse an mir hast, dann zeig es doch endlich. Du schleppst mich hierher nach ich-weiß-nicht-wo, verbringst mit mir den Tag am Strand, machst andauernd dumme Andeutungen, flirtest mit mir, gehst mit mir Eis essen und dann...puff. Nichts mehr. Kalt wie eine Hundeschnauze. Ich habe es so satt, Schuldig. Hör endlich mit deinen Spielchen auf.“   Der Telepath musterte ihn mit steinerner Miene. „Ich bin nicht an dir interessiert.“ Nagi schnaubte nur. „Rede dir das nur weiter ein. Das Lügen ist dir schon so zur zweiten Natur geworden, dass du dich inzwischen sogar selber belügen kannst. Aber lass mich in Zukunft da raus, Schuldig. Ich hab's satt für dein Amüsement herzuhalten und selbst nichts dabei herauszubekommen. Also zieh es endlich durch oder halt die Klappe.“ Schuldig wandte sich gelangweilt seinem Eis zu. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Nagi...“ Er wollte noch weiter reden, aber das Wort blieb ihm im Halse stecken, als Nagi ihn unversehens gegen die Wand einer der vielen gemauerten Umkleidekabine schubste, die Reihe an Reihe den Strand säumten. Schuldig mochte größer sein als er, aber die Wut und ein kleines bisschen seiner Kräfte reichten aus, um den arroganten Bastard an seinem Platz zu halten. Das Eis entglitt Schuldigs Händen und landete mit einem dumpfen Platschen auf dem Boden.   Über dem Meer begannen sich, die Wolken zu verdichten. Der Wind zerrte an Nagis Haaren. Erste, schwere Tropfen klatschen auf die aufgeheizten Gehwegplatten und der scharfe Geruch von heißem, nassem Stein mischte sich in das süßliche Aroma der Eiscreme. Schuldig hob eine Augenbraue. „Kein Grund gleich so emotional zu werden.“   Nagi fühlte die Wut in seinem Bauch, den Regen auf seinen Schultern, die Wärme von Schuldigs Körper unter seinen Händen. Es war alles zu viel. Zu viel! Mit einem verzweifelten Laut riss er Schuldig nach vorn und presste seinen Mund auf den des Telepathen. Blitze zuckten über dem Meer und der Donner rollte über sie hinweg. Er spürte, wie sich die Arme des anderen um ihn schlossen, ihn hochhoben und ihn nun seinerseits gegen die steinerne Wand drückten.   Der Himmel öffnete seine Schleusen und ertränkte die Welt in einem dumpfen Rauschen. Nagi spürte sein Herz schlagen, den harten Körper, der sich gegen ihn presste, und Schuldigs Lippen, die sich hungrig auf seine stürzten. Er öffnete den Mund und gewährte der Zunge des anderen Einlass, während er seine Beine um dessen Hüfte schlang. Er keuchte, als er die harte Erregung zwischen Schuldigs Beinen spürte, die seiner eigenen in nichts nachstand. Blind griff er in Schuldigs Nacken, verkrallte seine Hände in den nassen Haaren und zog ihn noch weiter an sich. Ihre Münder drängten sich so hart aneinander, dass es schmerzte, aber er konnte den Kuss nicht beenden. Die angestaute Leidenschaft brach sich mit brutaler Gewalt ihren Weg und das Einzige, was sie in diesem Moment auch nur ansatzweise stillen konnte, war der mitleidlose Tanz ihrer Lippen und Zungen, die in einem immer schneller werdendem Takt aufeinander prallten. Als Schuldig sich schließlich schwer atmend von ihm löste, blieb sein Geschmack auf Nagis Lippen zurück, die wund und roh im Takt seines rasenden Herzens pulsierten. Zögernd öffnete er die Augen und blickte in Schuldigs Gesicht, dessen Blick fiebrig auf ihm ruhte. „Du hast mich ganz schön warten lassen“, wisperte der Telepath so leise, dass seine Stimme sich fast im Rauschen des Regens verlor. „Idiot“, murmelte Nagi, bevor er ihn in einen neuen, nicht enden wollenden Kuss zog.           Als ihm Omi das Eis in die Hand drückt, schrickt er hoch. Der andere sieht ihn besorgt an. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, ist es“, nickt er und betrachtet das Eis, das langsam anfängt zu schmelzen. „Ich musste nur gerade an etwas denken.“ Omi sagt nichts dazu, lässt sich neben ihn fallen und starrte auf den See hinaus, während er abwesend an seinem Eis leckt. Nagi beobachtet ihn und sieht, dass auch Omi schon wieder sehr weit weg ist. In einer anderen Zeit, bei einer anderen Person. Im Gegensatz zu Omi hat er allerdings eine Ahnung, an wen der andere denkt. „Du denkst schon wieder über ihn nach“, sagt er und versteht den Ärger in seiner Stimme nicht so ganz. „Huh?“ Omi schaut ihn an und lächelt dann entschuldigend. „Ich... Ja du hast recht. Ich frage mich die ganze Zeit, ob ich das Richtige getan habe.“ „Das ist sinnlos. Du hast es getan. Jetzt lebe mit den Konsequenzen. Es hat keinen Sinn sich ständig in einem was wäre wenn zu ergehen. Du kannst die Vergangenheit nicht ändern.“ Omi nickt und Nagi sieht die Distanz, die seine Ansprache zwischen ihnen aufgebaut hat. Er weiß, dass er die Wahrheit gesagt hat, und dass es notwendig ist, dass Omi...das Mamoru sie hört. Aber gleichzeitig wünscht er, dass er es nicht getan hätte. Er atmet tief ein und fragt: „Weiß er, was du für ihn empfindest?“   Das ist eigentlich nicht, was er sagen wollte, aber irgendwie hat sich die Frage auf seine Zunge geschlichen. Zu seiner Überraschung wird Omi ein wenig rot um die Nase. „So ist das nicht“, nuschelt er und schielt auf sein halb gegessenen Eis. „Früher mal, da fand ich ihn toll. Also toll toll, wenn du verstehst, was ich meine. Ich glaube, das war mit ein Grund, warum ich damals bei Weiß geblieben und nicht zu meiner richtigen Familie zurückgekehrt bin. Ich hätte es nicht ertragen, wenn er mich gehasst hätte, weil ich ein Takatori bin. Er war...er war alles, was ich auch sein wollte. Aber das ist so lange her und ich bin nicht mehr der einfältige Junge, der ich damals war. Ich weiß, dass ich keine Chance bei ihm habe, und es ist gut so, wie es ist.“   Er stöhnt plötzlich, legt seinen Hinterkopf gegen den Baumstamm und presst die Augen fest zu. „Oh man, es tut mir so leid! Da sitze ich und quassele von irgendwelchen alten Geschichten und Teenager-Schwämereien. Das willst du bestimmt alles gar nicht hören und...“   Er will noch etwas sagen, aber Nagi lässt ihm keine Chance dazu. Er lehnt sich vor und drückt seine Lippen auf Omis. Sie sind weich und warm und schmecken nach Eiscreme. Für einen kurzen Augenblick zögert Omi, bevor er den Kuss erwidert. Es ist nicht atemberaubend, kein Feuerwerk, nur ein warmes, gutes Gefühl, das sich von Nagis Magen aus durch seinen ganzen Körper ausbreitet. Langsam zieht er sich wieder von dem anderen zurück. „Nagi-kun...“, flüstert Omi, bevor er dieses Mal derjenige ist, der den Kuss beginnt. Für einen Augenblick scheint alles vergessen und die Welt reduziert sich auf das Gefühl auf seinen Lippen, die Hände an seiner Seite, den pulsierenden Herzschlag in seinem Inneren, bis ein nahes Hundebellen sie wieder in die Wirklichkeit zurückholt. Richtig, sie sind immer noch in einem öffentlichen Park. „Wir...wir sollten das nicht hier tun“, sagt Omi und schluckt sichtbar. Sein Mund steht offen und Nagi kann seinen süßen Atem riechen. Er nickt. Wahrscheinlich sollten sie das gar nicht tun, aber es fühlt sich gut an und er sieht in den großen, blauen Augen vor sich, dass es Omi nicht anders geht. Trotzdem sollten sie jetzt nichts überstürzen, was einer von ihnen später bereut.   Als sie sich trennen, kommt er an einer Telefonzelle vorbei. Für einen Augenblick keimt in ihm der Wunsch auf, eine ganz bestimmte Nummer zu wählen. Aber er tut es nicht. Er geht vorbei und hört dabei noch einmal Omis Worte. Ich bin nicht mehr der einfältige Junge, der ich einmal war. Es muss toll sein, das sagen zu können, denkt er bei sich und weiß, dass er diesen Satz nie sagen könnte, ohne zu lügen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)