Reminiszenz von Maginisha ================================================================================ Kapitel 12: Abschied -------------------- Die Tür gleitet vor ihm zur Seite und er betritt den Raum, in dessen Mitte die Leiche von Berger, dem Anführer des Rosenkreuz-Teams, liegt. Seine eigene Gegnerin, Leyla, eine Telekinetin, die ihm in ihren Fähigkeiten durchaus ebenbürtig war, hat er tot auf dem Dach zurückgelassen. Ein Blitzschlag hat ihr Leben beendet. Er ist froh, dass sie seinen Plan nicht früher durchschaut hat, sonst würde er jetzt vielleicht nicht hier stehen.   Eine Blutspur führt von dem toten Körper zu Crawford, der mit geschlossenen Augen an die Wand gelehnt dasitzt. Auch er ist blutüberströmt. Als Nagi zu ihm tritt, sieht er auf. „Ich habe mich schon gefragt, wann du kommst.“ „Konntest du das nicht sehen?“, gibt Nagi zurück. Ein schmales Lächeln erscheint auf Crawfords Lippen. Seine Haare sind inzwischen vollständig ergraut. Als Nagi ihn verlassen hat, war es noch nicht ganz so schlimm. „Dieser Witz wird wohl niemals alt. Das Los eines Precogs.“ Nagi reicht ihm eine Hand, aber Crawford schlägt sie aus. Mit ein wenig Mühe kommt er alleine auf die Füße. „Was ist mit Schuldig?“ Nagi hält nur schwer ein Augenrollen zurück. „Er beschwert sich immer noch darüber, dass seine Lieblingsjacke verbrannt ist. Er würde Geisel dafür gerne noch einmal töten.“ Crawford schüttelt den Kopf. „Er sollte froh sein, dass der Pyrokinet ihn nicht erwischt hat. Wie ich ihn kenne, hat er wieder viel zu lange herumgespielt, bis es fast zu spät war.“ Nagi erwidert nichts. Crawford mustert ihn aufmerksam. „Die Uniform gehört zu Weiß?“, fragt er. Nagi verneint. „Ich arbeite für Mamoru Takatori, aber...das hast du gewusst, oder? Bevor du mich hergeschickt hast.“ „Es gab Anzeichen dafür. Ohne deine Mithilfe wäre Weiß vermutlich gescheitert.“ „Und welchen Vorteil hat das für uns?“ Crawford blickt nach oben und sieht aus, als würde er etwas lauschen. „Sie sind momentan noch dabei, den Rest dieser Eszett-Basis zu vernichten. Wenn sie es tun, müssen wir es nicht selber tun. Außerdem hat es schon einmal Vorteile gehabt, sich zumindest eine Zeit lang auf die Seite eines Takatori zu stellen. Diese Familie ist äußerst ambitioniert.“ „Weiß Schuldig davon?“ Nagi lässt offen, was er meint. Crawford macht ein indifferentes Gesicht. „Wenn er es jetzt noch nicht weiß, wird es er sicherlich erfahren. Du weißt, wie das mit Schuldig und Geheimnissen ist.“ Er legt den Kopf schief und scheint weiterhin zu lauschen. „Wir sollten gehen. Es wird bald eine zweite Explosion geben. Ich würde ungern austesten, ob wir heute noch eine weitere Katastrophe überleben.“   Während sie zum Ausgang gehen, sieht Nagi, wie ungewohnt schwerfällig die Bewegungen des Mannes an seiner Seite sind. Er hat Crawford bisher noch nie so gesehen. Die Erkenntnis trifft ihn wie ein Blitzschlag. „Wie lange noch?“, fragte er plötzlich. Crawford gibt sich nicht einmal die Mühe, überrascht über die Frage zu erscheinen. „Noch eine ganze Weile“, antwortet er. „Lange genug, um Schuldig darauf vorzubereiten.“ „Er weiß es noch nicht?“ Crawfords Gesichtsausdruck ist mehr als selbstgefällig. „Der Vorteil davon, der Anführer zu sein, ist es, nicht immer jedem Rechenschaft ablegen zu müssen. Nicht einmal dir.“ Nagi sieht ihn einen Augenblick lang an, bevor er den Blick senkt. „Wie du wünschst.“   Sie verlassen das Gebäude, in dessen Tiefen irgendwo noch die Mitglieder von Weiß um ihr Leben kämpfen. Nagi fühlt den eigenartigen Drang, sich zu ihnen zu gesellen. Aber er bleibt, wo er ist. Er ist keiner von ihnen und hat kein Recht, sich einzumischen. Außerdem kriecht langsam, aber sicher die Aufregung seinen Rücken hinauf. Nicht mehr lange und er wird wieder vor Schuldig stehen. Er stellt fest, dass er sich auf das Wiedersehen freut. Es wird das zweite innerhalb weniger Tage sein.             Es erstaunte Nagi, wie wenig sich an dem Grundstück verändert hat. Sicherlich, die Trümmer waren entfernt, ein neues Haus gebaut worden, aber trotzdem hatte er das Gefühl wieder genau an jenen Ort zurückzukehren, an dem er vor einigen Jahren mit einem Loch in seinem jungen Herzen zusammengebrochen war. Langsam ging er durch die parkähnliche Landschaft, auf der Dutzende von Kirschbäumen standen. Die Blütezeit war bereits vorbei. Nur noch wenige Bäume wurden von einzelnen, rosafarbenen Blütenblättern geziert. Der Rest der Pracht waren bereits zu Boden gesunken und teilweise vom Winde verweht worden. Ein wenig wehmütig betrachtete er die am Boden liegenden Blätter. Von irgendwo glaubte er ein lange verblichenes Lachen zu hören.   “Du bist ein wenig spät, um die Kirschblüte anzusehen”, erklang plötzlich eine helle Stimme hinter ihm. Nagi fuhr herum und erstarrte. Sie trug ihr Haar jetzt anders, zu einem einzelnen Pferdeschwanz zurückgekämmt, zwei bunte Spangen bändigten einzelne Strähnen. Sie sah erwachsener aus, der Saum ihres Kleides länger, die Farben gedeckter. Aber ihre Augen leuchteten immer noch so wie damals. “Ich komme im Frühling oft her, um zu zeichnen. Leider sind meine Bilder nicht besonders gut. Mama sagt zwar immer, das wird noch, aber Papa meint, ich sollte doch lieber einen anderen Beruf wählen. Mit Kunst könne man kein Geld verdienen.” Sie lächelte und zog dabei die Nase kraus. Er wurde sich bewusst, dass er noch immer nichts gesagt hatte. Es war einfach so eigenartig, sie wiederzusehen. Das letzte Mal, als er sie sah, hatte er sie tot in seinen Armen gehalten. “Lebst du hier?”, fragte sie jetzt und wies auf das große Anwesen hinter sich. “Dann müsste ich dich wohl um Erlaubnis bitten, ob ich weiter hierher kommen kann, um zu malen.” Er schüttelte den Kopf. “Nein, ich bin nicht von hier. Ich kam nur vorbei und...wollte mir den Garten ansehen. Wohnst du hier in der Nähe?” Sie nickte so heftig, dass ihr Pferdeschwanz auf und ab wippte. “Ja, ein paar Minuten die Straße runter haben meine Eltern ein kleines Haus. Also eigentlich sind sie nicht meine Eltern. Sie haben mich vor ein paar Jahren aufgenommen. Ein Fremder hat mich nachts zu ihnen gebracht. Er sagte, er habe mich am Straßenrand gefunden und kenne sich in der Gegend nicht gut genug aus. Mama und Papa waren erst skeptisch, weil er ein sehr seltsam aussehender Ausländer war, aber dann haben sie mich doch da behalten. Leider haben wir nie herausfinden können, woher ich wirklich komme. Ich habe mein Gedächtnis verloren, weißt du.”   Nagi konnte fast nicht glauben, was er da hörte. Sollte Schuldig tatsächlich...? Das war nicht möglich! Und doch... Er musste an die komischen Andeutungen denken, die Farfarello gemacht hatte. Hatte er davon gewusst? Warum hatten sie Nagi nichts davon gesagt?   Tot sah ihn immer noch an und wurde auf einmal rot um die Nase. “T-tut mir leid”, stotterte sie. “Ich bin sehr unhöflich, stehe hier herum und quassele dich mit meiner Lebensgeschichte voll. Es ist nur so, hier kommt nicht oft jemand vorbei. Das Haus steht schon ewig leer. Ich weiß gar nicht, warum sie so ein großes Haus überhaupt gebaut haben, wenn doch niemand kommt, um darin zu wohnen.” “Ich kannte mal jemanden, der hier gewohnt hat“, rutschte es ihm heraus. Ihre Augen wurden groß. ”Tatsächlich? Ein Freund oder eine Freundin von dir?” Sie wurde wieder rot. “Entschuldige. Das geht mich eigentlich schon wieder gar nichts an. Mama sagt auch immer, ich habe fürchterliche Manieren.” Er lächelte leicht. “Nein, kein Problem. Es war...eine Freundin. Wir haben uns aus den Augen verloren.” “Wie schade”, sagte sie ehrlich betrübt. “Ich hätte gerne Freunde. Vielleicht finde ich ja welche, wenn ich bald auf die Schule komme. Weißt du, mein Vater ist Tierarzt und er hat gesagt, ich solle eine Ausbildung machen und dann bei ihm in der Praxis arbeiten. Ich werde mich sehr anstrengen müssen, um das hinzubekommen, aber ich glaube, ich könnte es schaffen.”   Er sah wieder das Leuchten in ihren Augen und wusste plötzlich, dass er gehen musste. Das hier war nicht mehr das Mädchen, das er einst gekannt hatte. Sie war...gesund geworden. Wie auch immer das passiert war. Jetzt hatte sie ein neues Leben mit einer neuen Familie und war glücklich. Sie würde einen normalen Beruf lernen und einen normalen Mann kennenlernen mit dem sie normale Kinder haben würde. Ein Leben, in dem für ihn kein Platz mehr war. Sie lächelt noch einmal. „Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Oh aber...ich habe gar nicht nach deinen Namen gefragt.” “Das macht nichts”, antwortete er. “Ich weiß deinen ja auch nicht.” Er drehte sich um, bevor sie noch etwas sagen konnte und ging mit schnellen Schritten zur Straße zurück. Er sah nicht zurück, obwohl er ihren Blick auf sich fühlen konnte. Er merkte, wie es mit jedem Schritt ein kleines bisschen weniger wehtat. Die erste ist wohl immer etwas Besonders, hatte Schuldig zu ihm gesagt und er hatte recht gehabt. Tot, oder wie immer sie jetzt auch hieß, war etwas Besonders und würde es immer bleiben. Und er würde sie nie wiedersehen.                 Um sie herum erzittert das Gebäude. Trümmerstücke fallen von der Decke. Omi stützt Ken an seiner Seite. Die Stelle, an der Ayas Katana seinen Freund durchbohrt hat, blutet stark. Er hat sich geopfert, damit sie den von Tsuji erschaffenen Übermenschen töten konnten. Die gleiche Waffe hat gerade auch die Schöpferin dieser abnormalen Kreatur gerichtet; dieses Mal in der Hand von Yoji. Schwer atmend stützt sich der blonde Mann auf das Schwert. Das Blut seiner Gegnerin bedeckt den Boden um ihn herum. Er geht in die Knie.   „Yoji-kun! Nein!“ Omis Stimme ist schrill und dünn. Er spürt Panik in sich aufsteigen. „Geht!“, ruft der andere ihnen von unten herauf zu. „Lasst euch von mir nicht aufhalten! Ihr müsst hier raus.“ „Das geht nicht“, schreit Omi zurück. „Du gehörst zu uns. Wir können dich nicht hier zurücklassen.“ Er ringt mit sich, würde am liebsten über die Trümmer nach unten klettern, um seinen Freund zu retten. Aber er hat Ken und Aya... Aya steht da und sieht zu Yoji hinab. Die beiden haben noch vor Kurzem miteinander gekämpft. Yoji wollte alles hinter sich lassen, seine Erinnerungen auslöschen lassen und ein neues Leben beginnen. Omi kann es ihm nicht verdenken. Die blutige Leiche zu seinen Füßen ist ein weiterer Strich auf der Liste seiner Sünden. Er leidet und Omi sieht es in seinem Blick. Er fühlt Tränen in seinen Augen aufsteigen. Er will Yoji nicht verlieren. Er will sie alle nicht verlieren.   Yoji Lächeln ist dünn auf seinem zerstörten Gesicht. „Du musst nicht weinen, Omi. Ich...bin gleich da.“ Ken hustet und hält sich seine schmerzende Seite. „Dann schwing deinen faulen Hintern hier hoch. Lass uns zusammen nach Hause gehen.“ Yojis Blick ist abwesend. „Nach Hause...“ Er sieht auf das Schwert in seiner Hand. „Aya, ich denke, du wirst das hier wiederhaben wollen. Also schön. Ich kehre zurück. Dorthin wo ihr seid, meine Freunde.“ „Yoji-kun!“ Omi fühlt die Tränen auf seinem Gesicht, sein Hals ist wie zugeschnürt. Yoji sieht zu ihnen hinauf. Neue Zuversicht scheint ihn zu erfüllen. „Ich bin Weiß.“ Ein kleines Lächeln erscheint auf Ayas Gesicht. „Wir warten auf dich.“   In diesem Moment explodiert der Raum, in dem Yoji kniet. Die fallenden Trümmer und die Staubwolken nehmen ihnen die Sicht und verschlingen ihren Freund vor ihren Augen. Omi hört seinen eigenen, unmenschlichen Schrei. Danach verschwimmt alles zu einem wirren, verwaschenen Kaleidoskop von Bilder, Farben und Tönen. Irgendjemand zerrt ihn mit sich, während er sich an Ken festklammert. Sie laufen, rennen, Trümmer fallen um sie herum zu Boden. Dazwischen hören sie die Stimme von Epitaph, dem Computersystem von Eszett mit dem künstlichen Bewusstsein. Es zählt einen Countdown herunter, an dessen Ende es sich selbst und alles um sich herum zerstören wird. Omi selbst hat dafür gesorgt, indem er das System mit einem Virus infiziert hat. Und jetzt läuft ihnen auf einmal die Zeit davon. Aber er gibt nicht auf. Er wird Ken hier raus schaffen und wenn es das Letzte ist, was er tut.   Seine Gedanken irren kurz zurück zu Sena. Die Leiche des Jungen liegt jetzt irgendwo in der Tiefe vergraben an der Seite seiner toten Mutter. Epitaph hatte sie als menschliche Marionette benutzt, um mit der Außenwelt zu kommunizieren. Auf seinen Befehl hin hat sie ihre gesamte Familie ausgelöscht. Er hofft, dass ihre Seelen im Tod den Frieden finden, der ihnen im Leben verwehrt wurde. Dass sie endlich wieder vereint sein können. Ihr Blut klebt an seinen Händen.     Irgendwann erreichen sie die Oberfläche. Die Crashers erscheinen, nehmen Ken in Empfang, bringen ihn und Omi zu einem Hubschrauber. Aya ist zurückgeblieben. Er will versuchen, Yoji ausfindig zu machen. Hat sich nicht aufhalten lassen und ist gegangen. Das letzte, was Omi von ihm sah, ist seine Silhouette, die irgendwo zwischen Rauch und Feuer verschwand.   Omi funktioniert. Er ruft Rex an, während er neben Knight am Fenster steht und auf das Inferno hinab starrt, das sich unter ihnen ausbreitet. Er informiert seine Sekretärin über den Stand der Mission, ordert einen Platz im Krankenhaus für Ken. „Perser, ist alles in Ordnung?“ Rex' Stimme klingt besorgt. „Ja, ich... Aya und mir geht es gut. Es ist nur...“ Ken hebt den Kopf von der Krankenliege, auf der Pawn sich um eine erste Versorgung der Wunde kümmert. „Keine Sorge, Omi. Aya wird Yoji nach Hause zurückbringen.“ Omi zwingt ein Lächeln auf sein Gesicht. „Ja...ja das wird er.“   Er hofft es. Er hofft wirklich, dass Aya Yoji findet. Dass er ihn rettet und sie beide...er bricht den Gedanken ab. Kann ihn nicht beenden. Er weiß, dass die Stunde der Wahrheit gekommen ist. Der Moment, an dem er endgültig Abschied von seinen Freunden nehmen muss. An dem er Omi für immer auslöschen muss, diesen elenden, kleinen Feigling, der nichts alleine schaffen kann. Der seine Freunde wieder in den Kreislauf aus Mord, Blut und Gewalt gezogen hat, weil er sich eingebildet hatte, damit etwas Gutes schaffen zu können. Es kann nichts Gutes geben, wenn dafür Menschen sterben müssen.     Er wird nicht wieder zu seinem Großvater gehen. Der Mann hat ihnen die Crashers auf den Hals geschickt, um ihre Mission zu sabotieren; hat den Tod von Weiß und somit auch seinen billigend in Kauf genommen. Der alte Mann hat versucht, ihn zu benutzen und nun ist es an ihm, den Gefallen zu erwidern. Er wird seinen Namen nehmen und ihn verwenden, um seine einzig wahre Familie zu beschützen.   Um sie zu retten, muss er Mamoru Takatori werden. Er muss sein Herz und seine Gedanken verschließen und die Maske aufsetzen, die er selbst gewählt hat. Denn wenn er sie wissen lässt, was er fühlt, werden sie bleiben. Sie werden Weiß bleiben und er wird sie nicht beschützen können. Um das zu tun, muss er sie so weit von sich wegtreiben, wie er kann. Muss das Band durchtrennen, dass sie noch an ihrem Platz hält. Muss sie freigeben. Sie ersetzen und den Platz in seinem Herzen für immer leer lassen. Er wird ihre Spuren verwischen und dafür sorgen, dass nie wieder jemand, nicht einmal er, sie finden kann. Dann werden sie endlich frei sein und er für immer allein.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)