Der letzte Schnee von Calafinwe (Vernon Roche vs. Sigismund Dijkstra) ================================================================================ Kapitel 2: ----------- „AUA!“ Der Lakai zog schnell den Kopf weg, um nicht einen Schlag mit der fleischigen Rechten zu kassieren. Sigi Reuven konnte verdammt fest zuschlagen und war für seinen Körperumfang viel zu flink. Jetzt aber trübten seine Blessuren seine Schnelligkeit ein. „Wenn du noch einmal so dran ziehst ...!“, drohte der Dicke. „Aber Herr Reuven ...!“, stammelte dieser. „Wenn ich die Wunden versorgen soll, muss ich hier und da ziehen ...“ „Mach’s schmerzfrei!“ „Aber ...“ Es knallte. Der beleibte Spion hatte dem Mann blitzschnell den Weinkelch ins Gesicht geschmissen, den sie ihm zuvor zur Beruhigung seiner Nerven gebracht hatten. Innerlich war Sigi Reuven, der in Wahrheit Sigismund Dijkstra hieß, noch immer aufgewühlt. Roche und seine Bande von Möchtegernusurpatoren war ihm durch die Lappen gegangen, just in dem Augenblick, als er sie in die Ecke getrieben hatte. ‚Ach, vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, Geralt zu involvieren‘, dachte er niedergeschlagen. Der Hexer war von Anfang an skeptisch gewesen, was ihren Plan, König Radovid V. von Redanien zu ermorden, betraf. Nicht nur hatte er das Attentat generell abgelehnt, nein, er hatte einer Beteiligung seinerseits erst dann zugestimmt, nachdem Roche ihn zum fünften Mal darauf hingewiesen hatte, dass irgendwann auch Hexer auf den Scheiterhaufen des nördlichen Königreichs brennen würden, wenn niemand dem wahnsinnigen Monarchen Einhalt gebot. Erst, als Dijkstra ihm eine stattliche Belohnung zugesichert und sich dann noch auf fünfhundert Kronen hat hochhandeln lassen, war Geralt bereit gewesen, sie bei ihrem Vorhaben zu unterstützen. „Und dann stellt sich dieser Hurensohn auf Roches Seite ...“ „Mein Herr?“, fragte der Lakai, der ihm den blutenden Kopf verbunden hatte. „Ach, verschwinde! Ich will dich nicht mehr sehen!“ Der Mann suchte schleunigst das Weite. Dijkstra sah sich in dem Freilufttheater um. Aus einer Gewohnheit heraus räumten die Darsteller und ihre Helfer die Sitzgelegenheiten abends nach der letzten Vorstellung weg. Die Bänke standen an die Mauern der umliegenden Häuser gelehnt da. Vielleicht war es ihnen aus diesem Grund gelungen, seinem Netz zu entkommen? „Kann ich euch was bringen?“, fragte jemand, der hinter ihm auf der Bühne stand. „Ach, Yamurlak. Die Köpfe von Roche und dem Hexer wären jetzt nicht schlecht“, antwortete er. „Mit Verlaub, damit kann ich nicht dienen, fürchte ich.“ „Dann eine Trage und ein paar starker Hände.“ Sigis Gesprächspartner schwieg einen Moment. „Hat er euch tatsächlich das Bein gebrochen?“, erkundigte er sich dann ungläubig. „Ja, verdammt, siehst du das denn nicht?“, brauste Dijkstra auf. „Verzeiht ...“ Der Dicke saß auf der Bühne, hatte das linke Bein hochgelegt und stützte sich mit seinen massigen Armen ab. Er wusste sich nicht zu helfen. Äußerlich fehlte dem Bein nichts, aber es schmerzte höllisch. „Ein Schlafmohnelixier wäre wohl am besten ...“ „Sir? So etwas sollte sich doch sicher in eurem Badehaus finden lassen.“ „Und du willst mir was damit sagen, Yamur?“ „Dass wir von hier verschwinden sollten. Es dämmert schon, bald werden die ersten Schauspieler kommen, das wisst ihr selbst. Wir sollten dann nicht mehr hier sein, wenn ...“ „Schon gut, schon gut. Schau, ob du hier irgendwo eine Krücke findest. Anders kann ich mich hier nicht wegbewegen. Außer es gelingt dir, Berti aufzutreiben. Er ist der Einzige, der mich halbwegs stützen könnte.“ „Mit Verlaub, darauf könnt ihr lange warten.“ Der Spion zog eine Augenbraue nach oben. „Ich hab Berti in der Glorienstraße vor dem Chamäleon gefunden. Er ist wohl unglücklich über seine eigenen Füße gestolpert und hat sich den Hinterkopf gestoßen. Da lagen noch ein paar mehr Leichen herum, an denen sich schon die Aasgeier gütlich getan haben.“ „Auch das noch ...“, grummelte Dijkstra verdrossen. Er würde den Hünen vermissen, das wusste er jetzt schon. Nicht, dass sie eine Freundschaft verbunden hätte, aber Berti war figurmäßig noch korpulenter als der ehemalige Chef des Redanischen Geheimdienstes. Während es bei Dijkstra mehrheitlich Fettpölsterchen waren, versteckte Berti unter seiner Haut den ein oder anderen Muskelberg. Trotzdem hatte sich Dijkstra mit ihm auf eine gewisse Art verbunden gefühlt. „Kommt, ich helfe euch!“, erbot sich Yamurlak. „Dass ich nicht lache!“ Dennoch ließ er sich von dem Mann auf das eine Bein helfen. Yamur reichte ihm ein Holzruder, das er wohl aus einem der Lager des Theaters entwendet hatte. Reuven griff es mit beiden Händen, stellte es auf den Boden und schob sich langsam zum Rand der Bühne. Vorsichtig ließ er sich auf sein gesundes, rechtes Bein herab. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte, dass Geralt ihm das linke Bein gebrochen hatte. Dijkstra erinnerte sich an den Magierkonvent auf der Insel Thanedd von vor einigen Jahren zurück. Widrige Umständen hatten auch damals dazu geführt, dass der Hexer ihm ein Bein demoliert hatte. Damals war es das Rechte gewesen, seine Genesung hatte sich über Monate hingezogen und war erst mit Philippas Magie geglückt. Und das hatte ihn Stunden von Überredungskunst und zwei Kleider aus exquisiter Seide gekostet. Die Hexe, dessen war sich der Spion mittlerweile sicher, hatte ihn schon damals nur für ihre Zwecke benutzt. Ihn, sein Geld und seine Verbindungen. Letztenendes hatte sie ihm Attentäter auf den Hals gehetzt. In der Hinsicht unterschied sich Geralt von Philippa eindeutig. Geralt hatte bisher immer darauf geachtet, ihn außer Gefecht zu setzen, ohne ihn zu töten. Aber das an sich war auch schon schlimm genug. Der ehemalige Redanische Spion wusste zwar, sich zu Verteidigen und war geübt im Umgang mit einer zweischneidigen Axt. Trotzdem hielt er sich lieber aus den direkten Kampfhandlungen heraus, zog vorzugsweise im Hintergrund die Fäden und überließ es Leuten wie Berti, die Gegner nieder zu machen. Vielleicht war aber genau das der Fehler gewesen, den er in der Vergangenheit immer wieder gemacht hatte und der ihm jetzt ein zweites gebrochenes Bein eingebracht hatte. Er seufzte vernehmlich. „Geht es halbwegs?“, fragte Yamurlak, der sich seinen Arm um die Schulter gelegt und sein Stöhnen wohl fälschlicherweise als Reaktion auf Schmerzen interpretierte. „Ich halte mehr aus, als ihr mir zutraut“, versicherte Dijkstra. „Wo sind die anderen eigentlich alle?“, fragte Yamur. „Jagen Roche. Aber so lange, wie sie jetzt schon weg sind, befürchte ich, dass sie’s vermasselt haben.“ Gemeinsam hatten sie es zum nördlichen Ausgang des Theaters geschafft, doch dummerweise mussten sie den Weg über den Platz des Hierarchen einschlagen, um zu Dijkstras Badehaus zu kommen. Die Strecke war die Einfachste für den Verletzten. Kein abschüssiges Pflaster, keine Treppen, die es zu bewältigen gab. Jedoch war der Platz des Hierarchen einer der belebtesten Orte von Novigrad. Bereits vor Tagesanbruch machten sich die Bauern der umliegenden Gehöfte auf dem Weg, um rechtzeitig ihre Stände auf dem Platz aufgebaut zu haben. Zahlreiche Unbeteiligte, die für eine müde Krone gerne einige Informationen springen ließen, drohten Zeugen davon zu werden, wie sich Dijkstra in seinen Unterschlupf schleppte. „Dieser Hurensohn ...“, fluchte er. „Wie?“ „Nichts.“ „Vielleicht können wir unterwegs einen Wagen entwenden.“ „Hah!“ Dijkstra stolperte weiter. Schnell kamen sie nicht voran, denn Yamurlak tat sich schwer damit, seinen Dienstherrn zu stützen. Dem Mann stand bereits der Schweiß auf der Stirn, aber er beklagte sich nicht. „Vielleicht ist die Idee mit dem Wagen doch nicht so schlecht“, meinte der Dicke, als sie es nach einer gefühlten Ewigkeit gerade einmal drei Meter weiter geschafft hatten. Sie hatten die eine Ecke des Platzes des Hierarchen erreicht. „Eine Eingebung?“ Yamur half Dijkstra, sich an der nächsten Hauswand abzustützen und machte sich auf die Suche. Momentan war noch nicht viel los. Einige Bauern drapierten ihre Waren auf Holztischen, über die sie schmutzige Tücher als Sonnenschutz gespannt hatten. Vor dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite kehrte eine Magd. Verstohlen warf der Spion einen Blick auf die andere Seite des Platzes. Dort stand ein Gebäude mit einer reich verzierten Außenfassade. Nur etwas mehr Pomp und die künstlichen Balustraden, kleinen Säulchen und Fensterläden und -rahmen wären vergoldet. Aber Vimme Vivaldi, der Besitzer der gleichnamigen Bank, die in dem Haus untergebracht war, war nicht als Angeber bekannt. Er stellte seinen Reichtum lediglich an sich selbst zur Schau. Der Zwerg ließ sich üblicherweise nicht ohne seine über und über mit Goldfäden bestickte Jacke auf der Straße blicken. Gerahmt wurde diese in der Regel von sehr großzügig geschnittenen Westen, die wahlweise die Farbe Royalblau oder Karminrot hatten. Vor allem Letztere war ein Affront gegenüber allen gekrönten Häuptern der nördlichen Königreiche, da die Farbe eine verblüffende Ähnlichkeit mit königlichem Purpur besaß. Heute war der Zwerg mit seiner eigenen Ausstaffierung wohl noch nicht fertig. Dijkstra sah ihn nirgends, weder vor der Tür zu seinem Bankhaus, noch irgendwo auf dem Platz des Hierarchen. Stattdessen wurde er Yamurlak gewahr, wie er einem Bauern gerade etwas zusteckte und sich dann dessen Karren bemächtigte. „Das wurde aber auch langsam Zeit“, drängte Dijkstra, als Yamur das Gefährt zu ihm hingelenkt hatte. Es hatte vier Räder, sollte für den Mann also auch einigermaßen zu handhaben sein, wenn der frühere Geheimdienstchef sich darauf ausstreckte. Yamur half ihm taktvoll beim Hinaufklettern. Dijkstra streckte alle Gliedmaßen von sich, soweit damit keine Schmerzen verbunden waren, und winkte dann. „Das wollen wir aber nicht zur Gewohnheit werden lassen“, mahnte Yamurlak, als er den Karren einige Meter geschoben hatte. „Ach, ich könnte mich daran gewöhnen.“ „Vielleicht ein verstecktes Talent als Kutschführer?“ „Vielleicht. Herausfinden werden wir es nicht, wenn es nach mir geht.“ Yamur schwieg. Es war zu anstrengend, einerseits den Wagen mit Dijkstra drauf zu ziehen und andererseits mit eben jenem ein Gespräch zu führen. Weit hatte er es zum Glück nicht mehr. Vom Platz des Hierarchen waren es bis zum Badehaus etwa hundert Meter, die mit einem Wagen schnell zu bewältigen waren, für die Dijkstra aber in seinem Zustand mindestens eine Stunde gebraucht hätte. Der korpulente Spion stöhnte auf der Ladefläche. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Yamur. „Ja, fahr nur weiter und halt nicht an. Je schneller wir’s hinter uns haben, desto lieber ist’s mir.“   * * *   „Also was nun? Habt ihr sie entkommen lassen?“, polterte der Spion. Er brauchte keine Antwort von ihnen. An ihrer Mimik und Gestik konnte er ablesen, dass es so war. „Was für eine nichtsnutzige Bande ...“ Yamurlak hatte ihn ins Badehaus geschafft, wo Happen schon auf ihn gewartet hatte. Gemeinsam hatten sie ihren beleibten Chef in dessen Arbeitszimmer gebracht, welches sich gleich links vom Eingang befand. Dort befand sich eine stabil gebaute Chaiselounge, für die Philippa so einige ihrer Kleider gegeben hätte und auf der der Spion sein linkes Bein halbwegs ausstrecken konnte. Yamur war wieder gegangen, um die Truppe zusammenzutrommeln, wie Dijkstra ihm befohlen hatte. Danach hatte Happen sich daran gemacht, seine Wunden und Verletzungen soweit zu versorgen, dass er die Schmerzen halbwegs ertragen konnte. Letztenendes hatte er ihm ein paar verdünnte Tropfen Schlafmohnelixier verabreicht, damit er nicht benebelt wegdämmerte. Dem Eunuchen hatte Sigi Reuven die Verwaltung des Etablissements übertragen. Seit einiger Zeit ließ er sich selbst ebenfalls von dem Mann verwalten. Der Spion hatte es schätzen gelernt, sich von jemandem umsorgen zu lassen. Happen stellte sicher, dass er stets saubere Wäsche trug, dass er seine Mahlzeiten regelmäßiger einnahm und dass Dijkstra halbwegs vernünftig vorgewarnt wurde, wenn jemand, der nicht zu seinem innersten Zirkel von Beratern gehörte, etwas von ihm wollte. Nicht, dass er viele Berater gehabt hätte. Weniger erfreute ihn der Umstand, dass sein Verwalter auch auf seine Manieren achtete. Und dass die Portionen, die er ihm servieren ließ, kleiner ausfielen, als ihm lieb war. Ab und zu übertrieb es der Lakai mit seiner Fürsorge. Momentan war er gerade dabei, den Verband, den Yamur ihm um den Kopf gewickelt hatte, wieder abzunehmen und die Wunde gründlich zu säubern. Dijkstra hatte zunächst protestiert, als sein Diener ohne sein Einverständnis nach einem Heiler geschickt hatte. Doch nach viel gutem Zureden hatte er eingesehen, dass von seinen eigenen Männern wohl keiner die nötige medizinische Erfahrung besaß, ein gebrochenes Bein zu behandeln. Der korpulente Spion hatte Joachim von Gratz vom Vilmerius Krankenhaus zunächst jedoch wieder weggeschickt und ihm bedeutet, er solle später wieder kommen. Erst wollte er sich von seinen Leuten über den aktuellen Stand der Dinge informieren lassen. Dann war Reckham herein getorkelt. „Wir haben sie ja weiter verfolgt, nur können wir halt auch nicht viel gegen Erscheinungen machen“, fügte dieser seiner Entschuldigung grad hinzu. „Und deshalb lauft ihr schreiend wie aufgeschreckte Waschweiber davon?“, kam die prompte Anschuldigung. „Nicht wie schreiende Weiber ...“ „Ah, wie dann? Was Vögel von den Bäumen zwitschern, hat nicht selten mehr Wahrheitsgehalt als das, was mir meine eigenen Leute auftischen wollen.“ Dijkstra erhielt keine Antwort von ihm. „Sir, ich darf euch daran erinnern, dass ihr es vermutlich auch nicht mit Geistern und anderen Monstern aufnehmen könnt?“, warf Happen ein. „Jaja, schon gut. Hör bitte endlich auf, ihnen ständig zu Hilfe zu kommen ...“ „Danke!“, erwiderte der Eunuch. „Wofür?“ „Ihr habt ‚bitte‘ gesagt!“ Der Spion verdrehte die Augen, dass man fast nur noch das Weiß in ihnen sehen konnte. „Also was haben wir?“, fragte er dann an Reckham gewandt, um nicht länger über Happen und dessen Verhalten nachdenken zu müssen. „Wir haben die Gegend durchkämt, als es wieder halbwegs sicher war. Die Geister sind verschwunden, sobald die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume kamen.“ „Nachterscheinungen ...“, brummte Dijkstra. „Konkret konnten wir nur einer Spur folgen“, fuhr Reckham unbeeindruckt fort. „Einer von beiden schien das Bein nachzuziehen. Wenn ihr mich fragt, der Temerier. Dem Hexer war keine Verletzung anzusehen, als er quer über das Feld davon lief.“ „Hätte mich auch gewundert.“ „Jedenfalls, wir sind der Spur gefolgt. Sie führte uns geradewegs durch einen kleinen Wald und dann quer hinüber zum Sieben Katzen.“ „Habt ihr was aus den Gästen oder der Wirtin rausbekommen können?“ „Aus der Wirtin leider nicht. Sie war stur wie ein Esel“, erzählte Reckham. „Wären die Stadtwachen nicht gewesen ...“ „Schon gut“, beschwichtigte Dijkstra. „Besser ist es, dass ihr keine Aufmerksamkeit erregt. Wir können sie uns immer noch schnappen und zum Reden bringen.“ „Sigi!“, schalt Happen. „Was?!“ „Du kannst doch einer Dame nicht weh tun!“, mahnte der Eunuch und tupfte ihm mit einem Tuch über den Kopf. Der Spion wollte etwas erwidern, brüllte aber los, noch bevor er seine Verwünschungen im Kopf geordnet hatte. Happen kannte ihn mittlerweile zu gut. Deshalb war es ihm ein Leichtes, die Situation so zu drehen, dass Dijkstra nichts dagegensetzen konnte. Das Tuch war mit Branntwein getränkt. „Also schön“, säuselte er, nachdem der Schmerz etwas nachgelassen und sich seine Nerven beruhigt hatten. „Habt ihr sonst was rausfinden können?“ „Wir sind ja schon lang genug in euren Diensten“, versicherte Reckham. „Wallace hat einen der weniger betrunkenen Gäste bestochen. Der hat erzählt, dass die Tavernenwirtin mal für längere Zeit den Schankraum verlassen hatte. In der Zeit hat sich eines ihrer Mädchen um den Ausschank und die Bedienung der Gäste gekümmert.“ „Hm. Das kann was bedeuten, muss es aber nicht.“ Dijkstra beschloss, erst dann wieder näher auf das Thema Tavernenwirtin einzugehen, wenn Happen weg war. Jetzt wagte er es nicht einmal, seinem Diener einen verstohlenen Blick zuzuwerfen, aus Angst, er würde seiner Wunde noch einmal mit dem Alkohol auf die Pelle rücken. „Sie sind inzwischen über alle Berge“, schloss der Spion aus dem, was er gehört hatte. „Ihr Versteck nordöstlich von Oxenfurt werden sie geräumt haben. So dumm ist Roche nicht, als dass er so wie bisher weitermachen würde. Happen, hol Yamur her und dann mach dich bitte um Meliteles Willen irgendwo anders nützlich.“ Der Diener sah pikiert drein, gehorchte aber und verschwand. „Reckham, du bist nicht immer so ein Chaot, du hattest mal richtig Potential!“ „Potential?“, fragte der Angesprochene verschnupft. „Also bitte!“ „Ich will nur wissen, ob davon noch ein bisschen was übrig ist. Wenn Yamur mit den Anderen zurück ist, schnappst du dir ein paar und gehst in den Wald nordöstlich von Oxenfurt. Roche hatte dort seinen Unterschlupf und ich will, dass ihr alles dort auf den Kopf stellt.“ „Meintet ihr nicht, die seien längst abgezogen?“ „Ja, trotzdem könnte es sein, dass sie etwas übersehen haben, was uns einen Hinweis auf ihren Verbleib gibt“, erklärte Dijkstra entnervt. „Das Problem ist eher, dass Roche denkt wie ich. Er wird zweifelsohne erst einmal mit seinen Leuten untertauchen, bis er glaubt, dass genügend Gras über die Sache gewachsen ist.“ „Sir?“ „Verdammt, Reckham, was machst du noch hier?!“, bellte Dijkstra. Der Gescholtene zog den Kopf ein. „Ich werd‘ den Herrn Arzt holen gehen“, piepste er kleinlaut und flitzte so schnell aus dem Raum, dass der Hausherr nichts mehr erwidern konnte.   * * *   Marianna wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Es war ein vergleichsweise kühler Tag, doch sie stand vor einem geheizten Backofen. Mehrere Teiglinge lagen auf dem Holztisch und warteten darauf, in den Ofen geschoben zu werden. Die Bauersfrau war schon den ganzen Tag über mit Brot backen beschäftigt. Zutaten vorbereiten, Teig anrühren, gehen lassen, formen, backen. Und dann wieder von vorne. Und erneut. Solch eine Menge war für sie, ihren Mann und die zwei Kinder völlig überzogen. Marianna backte für das ganze Dorf. Frohnheim war ein kleiner Ort, seine Bewohner darauf angewiesen, dass sich jeder gegenseitig unterstützte. Diese Woche war ihr die Aufgabe des Brotbackens zugefallen, während sich andere Frauen um die Wäsche kümmerten, Hühner und Gänse rupften oder der Gartenarbeit nachgingen. Anders als in anderen Dörfern hatten die Leute hier gelernt, dass ein gegenseitiges Miteinander das Gemeinschaftsgefühl stärkte. Jeder war nur so stark wie das schwächste Glied in der Kette. Mit Brotbacken konnte Marianna leben. Die Arbeit war zwar anstrengend und nervenzehrend, aber wenigstens musste sie nicht in der Kälte draußen den Männern dabei helfen, die Ställe auszumisten. So wie Ingrid und Kateja. Außerdem reihten sich bereits zahlreiche Laibe im Raum nebenan auf einem Tisch am Fenster aneinander. Sie würde bald fertig sein, die jetzigen Teiglinge waren die letzten und Marianna vermutete, dass sie schon zu viel waren. Sie hoffte nur, dass sich die anderen nicht darum stritten. Zwei Laibe Brot für weniger gut gestellte Bauern, jene, die weder Kühe noch Schweine besaßen, sondern allenfalls vielleicht ein oder zwei Ziegen und ein paar Hühner, war nicht verwerflich. Auch jenen Familien mehr zu geben, die viele Mäuler zu stopfen hatten, war selbstverständlich. Trotzdem gab es immer Neider, die den anderen das Mehr nicht gönnten. Marianna schob die Teiglinge im Ofen zurecht. Etwa eine Stunde würden sie brauchen, um gut durchgebacken zu sein. Zeit für sie, ihre Hütte aufzuräumen. „Als Erstes muss der Sack Mehl aus dem Weg.“ Schnell hatte sie die Sachen, die sie nicht mehr brauchte, an ihre üblichen Plätze zurückgebracht. Mehlsack in die Ecke, das Glas Honig zurück ins Regal an der Wand. Das restliche Wasser aus dem Fluss, das sie nicht mehr benötigte, wollte sie zum Abwasch benutzen, also kam es in die große Eisenschüssel. Marianna ging mit der Kanne Wasser hinüber in die Stube und sah kurz auf die schon fertigen Brote, die da zum Auskühlen lagen. Und blieb verdutzt stehen. Beinahe wäre ihr die Kanne aus den Fingern gerutscht. Wo zuvor noch um die zwanzig Laibe Brot gelegen hatten, fehlte jetzt ein gutes Dutzend. Träumte sie, oder hatten ihre Brote Beine bekommen? Zur gleichen Zeit spielten sich drei Meilen nördlich von Frohnheim dramatische Szenen ganz anderer Art ab. Leif riss sich ein Stück ab und reichte den Laib Brot an den Mann neben ihm weiter. Es war noch warm, ganz frisch gebacken, wie er freudig festgestellt hatte. Genussvoll schnupperte er daran und biss dann hinein. Sein Bruder Victor war weit weniger zimperlich. Er hatte Kohldampf und hatte seinen Anteil schon fast verzehrt. Mit hungrigem Blick sah er sich um, ob es noch irgendwo etwas Essbares abzustauben gab. Von dem Käse und dem Schinken, den Athur und seine Truppe entwendet hatten, war bisher nichts bei ihnen angekommen. „Frisches Brot ist das Beste ...“, sagte Leif an niemand bestimmten gewandt. Um sie herum wurde fleißig geschmatzt. Die meisten der Temerischen Partisanen saßen auf dem Boden, um die geschundenen Beine zu entspannen. Ihr Anführer, Vernon Roche, hatte sich mit der Blondine, Athur und Hortensio zurückgezogen, um eine kleine Lagebesprechung abzuhalten. Victor hoffte, dass sie endlich eine Erklärung bekommen würden, warum sie in einem Gewaltmarsch bis nach Frohnheim gestapft waren. Athur, der Späher, der von ihnen am längsten unter Roche diente und der ihn und seinen Bruder Leif ausgebildet hatte, hatte ihnen nicht viel erzählt. Nur dass König Radovid V. von Redanien das Zeitliche gesegnet hatte. Endlich. Da waren sich alle einig. Ihr abrupter Aufbruch hatte wohl damit zu tun, dass bei dem Attentat nicht alles nach Plan verlief und Roche es für sicherer hielt, mit seinen Leuten abzutauchen. „Was hältst du von Athurs Plan“, fragte Leif. „Den, wenn wir bei unserem neuen Unterschlupf ankommen, den Dienst zu quittieren, sich eine Frau zu suchen und sesshaft zu werden?“ Victors Bruder nickte. „Nichts!“ „Ach komm schon, du tust ja gerade so, als sei das das größte Verderben der Welt.“ „Ist es das etwa nicht?“, wollte Victor wissen. „Den Rest des Lebens mit nur einer Frau verbringen, Kinder ausbrüten und das Land bestellen, bis einem das Rückgrat bricht? Das ist doch wirklich kein Leben.“ Leif grinste schief. Er hatte dieses typische Grinsen, bei dem ein Grübchen auf seiner linken Wange erschien, das aber trotzdem leicht zu durchschauen war. „Machst du dich etwa schon wieder über mich lustig?“ Victor schlug sachte nach seinem Bruder, ohne ihn ernstlich verletzen zu wollen. Leif zog schnell den Kopf ein. Niemand schenkte ihnen Beachtung. „So kann ich wenigstens in jedem Dorf, in jeder Stadt eine Freundin haben ...“ „Hah! Glaubst du wirklich, dass sich die Weiber damit auf Dauer zufriedengeben werden? Glaub’s mir, die wollen alle nur Heiraten und Kinder kriegen.“ „Oh, verschon mich damit! Es ist ja nicht so, dass du so viel Ahnung von Frauen hast.“ „Aber du hast sie?!“ „Ja! Ich bin immerhin drei Jahre älter als du.“ „Das heißt aber nicht, dass du drei Jahre intelligenter bist!“, keifte Victor. „Doch!“ Langsam begannen die Männer um sie herum, sie neugierig zu beobachten, aber die Brüder stritten einfach weiter. „Aha? Wie kommt es dann, dass Ves dich nach wie vor nicht beachtet?“ Leif lief puterrot an. Noch mehr Köpfe reckten sich in ihre Richtung. „Wieso fängst du jetzt mit ihr an?!“ „Für wie blöd hältst du mich?“, konterte Leifs Bruder. „Glaubst du, ich bekomm nicht mit, wie du ihr immer hinterherschaust, wenn sie vorbei geht? Oder dass du ständig irgendwelche absurden Gründe findest, dich in ihrer Nähe aufzuhalten?!“ „Spinnst du?!“, fragte Leif perplex. „Hör auf, das hier so breit herumzuposaunen!“ „Wieso sollte ich? Du hast mit dem Thema Weiber angefangen! Glaubst du wirklich, dass das keiner mitbekommt, wie du der kleinen Blonden immer hinterherstierst.“ Jemand neben ihnen kicherte verhalten. „Dumm nur, dass sie sich so gar nicht für dich interessiert!“, setzte Victor hinzu. „Mit Roche kannst du halt einfach nicht mithalten ...“ Sein Bruder starrte ihn mit offenem Mund an, während rundherum die Männer lachten. Victor machte eine obszöne Geste und zeigte ihm dann den ausgestreckten Mittelfinger, woraufhin jemand neben ihm scharf die Luft einsog. Leif sprang ihm aus einem Reflex heraus an die Gurgel und rang ihn zu Boden. Victor war zu überrascht, um reagieren zu können. Er versuchte, den Klammergriff an seinem Hals zu lösen, hatte aber keine Chance gegen seinen Bruder. Dieser saß auf seiner Brust mit irrem Gesichtsausdruck. „Leif ... ich ... kech ...!“ „AUSEINANDER, IHR ZWEI!!“ Die Männer neben ihnen hatten begriffen, dass der bis eben noch harmlose Streit zwischen Brüdern zu eskalieren drohte. Zwei waren aufgesprungen und zerrten Leif an seinen Schultern von Victor herunter. Der Jüngere schnappte hörbar nach Luft, zwischendurch hustete er. Victor hatte gar nicht mehr die Kraft, sich von selbst aufzurichten. Jemand griff ihm unter die Arme und brachte ihn in eine sitzende Position. „Das wird der Hauptmann erfahren!“, sagte jemand. Leif hatten sie einige Meter weggezerrt. Noch immer hielten sie ihn an den Oberarmen fest, aber er schien wieder soweit Herr seiner Sinne zu sein, dass er Victor nicht wieder angreifen würde. „Was zur Hölle ist in dich gefahren?!“, fragte der Mann, der ihn am rechten Arm hatte. Leif sah ihn trübe an, sah wieder zu seinem Bruder und schüttelte den Kopf. Es war unklar, wem die Geste galt. Victor sah hasserfüllt zurück, offensichtlich ging es ihm wieder besser. Von der anderen Seite des Lagers war ein kleiner Tumult zu hören, dann wurde schnell ein Gang gebildet und Roche kam hinzu. Athur war ihm auf den Fersen. „Was ist hier los?!“, verlangte der Hauptmann zu wissen. Niemand antwortete. ‚Gut, wenn das so ist ...‘, dachte er sich. „Leif! Victor! Zu mir!“, befahl er, machte kehrt und ging davon. Athur warf den beiden einen warnenden Blick zu und folgte dem Hauptmann. Er fand ihn abseits des Lagers hinter einigen Büschen. „Sir, ich ...“ „Still!“, gemahnte Roche. Es war offensichtlich, dass er nachdenken wollte. Der Späher hielt es für klüger, vorerst zu schweigen. „Weißt du, ich habe mir ihre Streitereien nun lange genug angesehen“, erklärte der Hauptmann und drehte sich zu ihm um. „Ich weiß ...“ „Ich frage mich inzwischen ernstlich, ob sie irgendwann auch erwachsen werden. Weißt du, Ves war ähnlich aufmüpfig, als sie zu uns kam, aber sie hat sich sehr schnell gefangen.“ „Sir! Ihr wisst selber, dass man sich auf die beiden verlassen kann, wenn es darauf ankommt. Leif und sein Bruder sind manchmal etwas ... übermütig, aber das gibt sich mit dem Alter“, versicherte Athur. „‚Übermütig‘!“, echote Roche. „Leif ist Victor an den Kragen gegangen, nach allem, was ich gehört habe!“ Der Späher machte ein verzweifeltes Gesicht. „Letztens hat Leif sich nach Oxenfurt geschlichen, obwohl meine Befehle klar anders lauteten! Und Victor hat sich nicht nur einmal an den Vorräten bedient“, fügte der Hauptmann hinzu. „Weißt du, was sich einige der Männer darüber erzählen? Ich frage mich, was als Nächstes passiert.“ „Sir ...“ Athur war blass geworden vor Hoffnungslosigkeit. „Lass mich mit ihnen sprechen.“ „Nein! Athur, ehrlich, wie lange kennen wir uns jetzt? Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass ich dich jetzt zum sonst vielten Male erneut mit ihnen reden lasse. Sie müssen endlich begreifen, dass ich keine Kinder in meiner Truppe brauche, sondern erwachsene Männer, auf die man sich verlassen kann und die nicht bei jeder Kleinigkeit in Streit geraten ... Ah, da sind sie ja. Hat lange genug gedauert!“ Die beiden Streithähne ließen die Köpfe hängen. Scheinbar hatten sie die letzten paar Sätze von Roche gehört. Victor blickte hilfesuchend zu dem Späher, der ihn ausgebildet hatte, aber dieser schüttelte nur den Kopf. Leif hob den Kopf und sah dem Hauptmann offen ins Gesicht. „Also? Worum ging es dieses Mal?“ Beide schwiegen. „Wollt ihr also nicht reden“, schloss Roche. „Euch ist schon klar, dass mein Geduldsfaden an einem Ende angelangt ist?“ „Sir!, Victor hat etwas Unschickliches über Feldwebel Ves gesagt!“, erklärte der Ältere der beiden trotzig. „Und? Da dachtest du, du musst zu ihrer Ehrenrettung antreten?“ „Sir ...“ Roche hatte das Gefühl, dass Leif noch etwas hinzufügen wollte. Er wartete einen Augenblick, zog dann die Augenbrauen hoch, als nichts weiter kam und seufzte. Victor schien beschlossen zu haben, lediglich physisch anwesend zu sein. „Glaubt ihr, mir macht es Spaß, mich mit zwei Chaoten wie euch herumschlagen zu müssen? Euch ist es vielleicht nicht ganz bewusst, aber wir sitzen hier alle in einem Boot, weil wir derselben Überzeugung anhängen. Jedoch macht euer Betragen gerade nicht den Anschein, dass wir für dasselbe Ziel kämpfen.“ „Für ein freies Temerien?“, fragte Leif abfällig. Es klang genauso widerspenstig wie zuvor. „Du meine Güte, Leif! Halt die Klappe, wenn dir dein Leben lieb ist!“ Doch Athurs Warnung kam zu spät. Roche stürzte in einem blitzschnellen Ausfallschritt nach vorne und schlug Leif mit der Faust ins Gesicht. Der junge Mann stolperte rückwärts und fiel der Länge nach hin. Der Hauptmann drehte sich zur Seite und massierte sich die Fingerknöchel seiner Rechten. „Mir scheint, dir ist nicht ganz bewusst, in welcher Situation du dich befindest“, schloss er. Dieses Mal hielt Leif den Mund, doch sein Blick sprach Bände. Roche sah es nicht. „Euer Glück ist, dass ich es mir momentan nicht leisten kann, mich um solche Lappalien zu kümmern“, sagte der Hauptmann unheilvoll. „Athur, du nimmst sie ab sofort in deinen Trupp.“ „Ja, Sir!“, erwiderte der Späher eifrig und half Leif auf die Füße. Roche drehte ihnen den Rücken zu. „Sollte so etwas noch mal vorkommen ...“ Doch anstatt den Satz zu beenden, ging der Hauptmann zum Lager zurück. Sie konnten sich selbst ausmalen, was ihnen bei einer erneuten Verfehlung blühte.   * * *   „Und? Alles geklärt?“, meinte Hortensio fröhlich, als Roche zurück war. Letzterer zog nur die Augenbrauen hoch. „Diese zwei Hitzköpfe bringen Athur noch irgendwann ins Grab, wenn du mich fragst. Wo ist Ves?“ Der Armbrustschütze schien verwirrt. „Ich dachte, sie treibt die Männer zum Aufbruch an?“ Roche stutzte. „Ich hab sie nirgends im Lager gesehen.“ „Hm, sie ist ’ne Frau. Vielleicht ist sie mal kurz weg“, brummte Hortensio vielsagend. „Aber unter uns, dein Plan hat sie nicht gerade begeistert, wie’s scheint.“ „Hat sie jemals ein Plan von mir begeistert?“, fragte Roche lapidar. „Nicht, dass ich wüsste. Aber mir gefällt er auch nicht ...“ „So? Und was genau gefällt dir daran nicht?“ „Sir! Wir haben erreicht, was wir wollten. König Radovid ist tot. Wir sollten uns weiter darauf konzentrieren, Temerien von den Nilfgaardern zu befreien ... Ist meine bescheidene Meinung.“ „Hortensio, genau das ist der Plan! Aber dir sollte ebenfalls klar sein, dass unsere Vereinbarung mit den Nilfgaarder Gesandten nicht zur Ausführung kommt, was wir einem gewissen Fettwanst zu verdanken haben.“ Der Armbrustschütze ließ die Schultern hängen. „Rache war bisher nie dein Ziel, weißt du?“ „Dijkstra wird nicht eher Ruhe geben, bis er hat, was er will. Seine Ziele stehen den unseren im Weg. Also muss er aus dem Weg geräumt werden.“ „Soweit komm‘ ich ja mit. Aber wieso willst du ihm nicht den Hexer auf den Hals hetzen?“ „Geralt? Ich hab so im Gefühl, dass er uns nicht helfen würde. Du kennst ihn nicht so gut wie ich. Er versucht immer, sich aus der Politik heraus zu halten. Und soweit ich weiß, verbindet ihn mit Dijkstra die ein oder andere Erinnerung. Der Dickwanst hat ihm in der Vergangenheit schon hin und wieder mit Informationen unter die Arme gegriffen. Gut möglich, dass Geralt sich aus Dankbarkeit bei unserem Kampf im Theater zurückgehalten hat. Weißt du, er hätte die Möglichkeit gehabt, ihm den Kopf abzuschlagen, aber er hat’s nicht getan“, erzählte Roche. „Ach so. Aber ich versteh nicht, warum er sich dann bereit erklärt hat, sich um Thaler zu kümmern. Der wird ihm auf die Nerven gehen und ihn mit Ideen zur Befreiung Temeriens terrorisieren.“ „Schon möglich, aber das stört mich nicht. Thaler ist uns in seinem Zustand nur eine Last. Sein Oberschenkel hat eine üble Wunde aus dem Kampf davon getragen. Ves musste ihn stützen, sonst hätte er es nicht bis zum Sieben Katzen geschafft.“ „Oh.“ „Nein, das hat schon so seine Richtigkeit, wie es jetzt ist. Geralt wird dafür sorgen, dass Thaler nichts geschieht. Und vor allem, dass Dijkstra ihn nicht findet. Der weiß, wie man hinter sich aufräumt.“ Hortensio sah ihn schief an. „Das klingt fast so, als würdest du ihn bewundern.“ „Aber nur fast. Wir sind beide Spione. Da werde ich ihm ja wohl noch zu Gute halten können, dass er seine Arbeit gut macht. Auch wenn wir auf verschiedenen Seiten stehen.“ „Aha. Vielleicht sollte ich doch mal Ves suchen gehen“, wechselte er das Thema. „Tu das. Wenn ihr zurück seid, brechen wir auf.“ Der Armbrustschütze verschwand und ließ den Hauptmann allein zurück. Roche genoss die wenigen Augenblicke der Ruhe, um sich zu entspannen. Die Streiterei zwischen Victor und seinem Bruder hatte ihn innerlich aufgewühlt. Man sah es ihm nicht an, aber der Hauptmann war beunruhigt. Ihn sorgte der Blick, den Leif ihm zugeworfen hatte, nachdem er den Burschen mit einem Faustschlag zu Boden befördert hatte. Roche fragte sich, woher die Abneigung des Jungen kam. Nicht, dass er so viel mit ihm zu tun gehabt hätte. Der Hauptmann war zwar derjenige, der die Mitglieder für seine Truppe von Freischärlern auswählte, aber letztendlich kümmerten sich andere um ihre Ausbildung und die Eingliederung in die Truppe. Die beiden Brüder waren vor etwa zwei Jahren zu ihnen gestoßen. Kurz vor dem Verhungern, ausgezehrt und bettelarm waren sie auf der Straße zum Anwesen der Vegelbuds von einigen seiner Leute aufgegriffen worden, bevor die Wachen der Adligen auf sie aufmerksam geworden waren. Sie hatten sie nicht gleich ins Versteck geschafft, sondern in eine etwas abgelegene Hütte in der Nähe von Caerstuen gebracht, wo sie sie über Nacht langsam hochgepäppelt hatten. Am nächsten Tag waren sie im Morgengrauen aufgebrochen. Roche ging kein ein Risiko ein. Landstreicher auf der Straße brachten selten Glück, weshalb der Hauptmann sie erst in sein Versteck lassen wollte, sobald er ihrer sicher sein konnte. Wie es der Zufall wollte, hatte einer seiner Männer sie als die Söhne eines entfernten Bekannten erkannt, mit dem er früher in Temerien des Öfteren zu tun gehabt hatte. Die Jungen erzählten, ihr Vater habe sein Brot ursprünglich als Bauer verdient, war jedoch in der Endphase es Nilfgaard Krieges als Angehöriger eines Landesaufgebots gefallen. Jedenfalls dachten sie das. Er war nie zurückgekehrt und sie erhielten auch keine Kunde von seinem Verbleib. Ihre Mutter ging vor Gram zu Grunde und die Söhne waren auf sich gestellt. Zunächst hatten sie den elterlichen Hof so gut als möglich weiter bestellt, doch als die Aggressionen zwischen Nilfgaard und den nördlichen Königreichen wieder aufflammten, beschlossen sie, vor der aus Süden anrückenden Übermacht nach Norden zu fliehen. Roche seufzte. Leif und Victor hatten sich schnell erholt, was in ihrem Alter nicht verwunderlich war. Auch das, was sie erlebt hatten, schien ihnen bald nichts mehr auszumachen, obgleich sie selten davon erzählten. Niemand drängte sie. Von den Temerischen Freischärlern hatte der ein oder andere bereits die menschlichen Abgründe ergründen können. Athur hatte sich ihrer angenommen und schnell zeigte sich ihr Verständnis für die Fähigkeiten eines Spähers. „Ich werd‘ Ves dazu befragen müssen“, schloss er. Der Hauptmann wurde einfach nicht schlau aus den beiden Hitzköpfen. Ves‘ Anwesenheit hatte anfangs für Irritation gesorgt. Diese Reaktion rief sie immer hervor bei neuen Mitgliedern. In der Regel legte sich die Verunsicherung über die einzige Frau in der Truppe schnell wieder. Doch hier schienen die Gründe komplizierter zu sein. Nicht, dass Roche großes Interesse an den zwischenmenschlichen Beziehungen seiner Leute gehabt hätte. Aber es wäre ihm aufgefallen, wenn sein attraktiver Feldwebel involviert gewesen wäre. „Ich muss sie das unbedingt fragen ...“, murmelte er erneut. „Wen was fragen?“ Roche zuckte zusammen. „VES! Wieso zur Hölle schleichst du dich an?“ „Entschuldige ... Ich dachte ... Warum guckst du so?“ „Wie warum guck‘ ich so? Wie guck ich denn?“ „Na, so ertappt?“ „Ves! Schleich dich gefälligst bei anderen an, aber nicht bei mir.“ Die Blondine wirkte beleidigt. „Ich hab mich ganz normal bewegt“, entgegnete sie. „Wo warst du überhaupt?“ Sie lief rot an. „Können wir das Thema wechseln?“ Roche zog eine Augenbraue nach oben, nickte aber. „Die Männer sind bereit für den Aufbruch.“ „Gut gut, wir sollten machen, dass wir endlich von hier wegkommen.“ Ves räusperte sich. „Du hast was zu sagen?“ „Ja, Hauptmann! Wegen unserem Ziel ...“ „Jetzt fang nicht wieder damit an. Wir haben das doch alles besprochen.“ „Ich versteh nur nicht, warum du unbedingt ein Versteck in Scoia’tael Gebiet haben willst.“ „Weil Dijkstra mich da am wenigsten vermutet“, erwiderte Roche. „Das ist doch nicht der einzige Grund ...“, murmelte sie. „Ves, stell meine Geduld nicht auf die Probe!“ „Ich würde nur gerne den Grund erfahren, warum wir und so weit nach Osten bewegen. Die Dimmehügel haben ...“ „... einen schlechten Ruf, ich weiß. Ves, denk nicht, dass ich keinen Plan habe. Genau genommen bin ich gerade dabei, ihn gedanklich auszuarbeiten und zu verfeinern.“ Sie schluckte. „Ich würde nur gerne an der Ausarbeitung eines Plans teilhaben. Ich denke, da geht es Hortensio und Athur nicht anders“, piepste sie kleinlaut. „Athur hat momentan ganz andere Sorgen.“ „Lenk nicht vom Thema ab!“ Der Hauptmann verdrehte entnervt die Augen. „Ves, ich werde dich, euch, einweihen, sobald ich mir sicher bin, dass mein Plan auch ausführbar ist. Vorher macht es keinen Sinn, euch darüber zu informieren. Vor allem wenn ich weiß, dass ihr wieder eine Diskussion anfangt. Wie bei meinem letzten Plan auch.“ „Und hatten wir nicht Recht?“ „Nein! Dass man Dijkstra nicht trauen kann, war mir schon vorher bewusst. Ich war mir nur nicht sicher, wann er uns betrügen würde.“ „Das hat sich im Sieben Katzen aber noch anders angehört.“ „Im Sieben Katzen war ich auch froh, dass wir es alle heil raus geschafft haben.“ „Geh aber bei deinem neuen Plan bitte nicht wieder so ein Risiko ein“, bat Ves. „Mach ich.“ Sie konnte ja nicht ahnen, dass Roches jetziger Plan und die Missionen, die sie dazu ausführen mussten noch waghalsiger waren, als die vorherigen. „Dann lass uns mal zu den anderen zurückgehen und aufbrechen. Und auf dem Weg erzählst du mir, was da zwischen dir und den Aubry-Brüdern läuft ...“   * * *   Yamurlak saß auf den Planken und ließ die Füße über dem kleinen Nebenlauf des Pontar baumeln. Es war weit nach Mitternacht, die Sterne funkelten am Firmament. Es war nicht ganz einfach für ihn, er war noch nie ein besonders guter Schauspieler gewesen. Meistens tarnte er sich als Kaufmann oder als Angehöriger der Redanischen Armee. Doch schon lange hatte er aufgehört, dem Redanischen Herrscher zu dienen. Seine Loyalität galt jetzt Sigismund Dijkstra, der in seiner neuen Rolle als Novigrader Unterweltboss bis Weilen mehr für Redanien tat, als dessen vor kurzem verblichener Herrscher. Dijkstra war durch und durch Patriot, eine Eigenschaft, die im heutigen Redanien selten geworden war. Radovid V. hatte das Reich in Angst und Schrecken versetzt. Der Spion musste ihm zugestehen, dass er sein Ziel, aus dem nördlichen Königreich einen Staat zu machen, der es mit Nilfgaard aufnehmen konnte, ziemlich nahe gekommen war. Es war nur die Art und Weise, wie Radovid V. vorging, die bei vielen sauer aufstieß und weshalb Dijkstra überhaupt erst auf die Idee gekommen war, den Monarchen zu beseitigen, der so gar nicht mehr empfänglich war für Ratschläge und dergleichen. Jetzt saß Yamur auf der Rückseite der Taverne Sieben Katzen und versuchte, so gut wie möglich einen Betrunkenen zu spielen. Wäre er tatsächlich besoffen gewesen, wäre ihm dies um einiges leichter gefallen. Doch die zwei Flaschen Wein, kostbarer Erveluce aus Toussaint, den er Dijkstra abgeschwatzt hatte, standen lediglich als dekoratives Beiwerk neben ihm. Der Agent durfte nicht zulassen, dass seine Sinne getrübt wurden. Er hoffte, dass Wotan, der sich gerade in der Schenke befand und mit ihm den Auftrag bekommen hatte, die Tavernenwirtin zu kidnappen, ebenfalls nüchtern blieb. Sie hatten vereinbart, dass Heiner in der Nähe mit einem Wagen warten würde, mit dem sie ihre Geisel zum Badehaus bringen würden, sobald sie sie geschnappt hatten. Wotan sollte als Zeichen einen Weinkelch aus dem Fenster werfen, sobald sich die Zielperson in dem Nebenraum befand, der nicht zum Gastraum gehörte. Seit geschlagenen drei Stunden wartete Yamurlak nun darauf, dass irgendwas geschah. So lange hatte er noch nie warten müssen und er beschloss, mit Wotan ein ernstes Wort über die korrekte Ausführung von Aufträgen zu führen. Es konnte schließlich nicht angehen, dass man die halbe Nacht warten musste, nur weil der Mann zu dämlich war, die Wirtin in den Nebenraum zu manövrieren. Yamur hörte, wie auf der anderen Seite des Gebäudes die Tür zur Taverne aufgestoßen wurde. Gelächter und sonstiger Lärm drangen in die Nacht und scheuchten eine Eule auf, die in der Eiche auf der Nordseite gesessen hatte. Der Spion gähnte. Wenn Wotan nicht bald zu Potte kam, würde er hier einschlafen und die Mission vermasseln. Und dann war der Teufel los. Eine ganze Servierplatte kam durch das Fenster geflogen und platschte auf die Wasseroberfläche. Gerade, als Yamurlak noch überlegte, ob das jetzt das Zeichen war, hörte er ein „Ihr verfluchte Wichser!“ aus der Taverne, gefolgt von etwas, das wie ein dumpfer Aufprall klang. Dann ein „Autsch!“ und ein „Euch Hurensöhne mach‘ ich fertig!“. Scheinbar bahnte sich eine Schlägerei an. Dahin war ihr toller Plan. Aus den Augenwinkeln nahm der Agent wahr, dass Heiner mit dem Wagen angerollt kam. Er sprang ebenfalls auf. Dann mussten sie sich halt den Tumult zu Nutze machen. Yamurlak wandte sich um und hebelte schnell die Tür zum Nebenraum auf. Dieser war nur spärlich mit einigen Kerzen beleuchtet, gerade genug, dass er nirgends dagegen stieß. Als er bei der Tür zum Schankraum angekommen war, wurde gerade etwas großes zertrümmert, woraufhin eine Frauenstimme kreischte. Vermutlich eines der Schankmädchen. Vorsichtig schob Yamur die Tür auf. Tatsächlich. Die Gäste prügelten sich. Er glaubte, sogar einige der Stadtwachen unter den Rabauken ausmachen zu können. Schnell verschaffte er sich einen Überblick.  „Die hat aber auch Nerven!“ Die Tavernenwirtin, von der er wusste, dass sie Eliza hieß, stand mitten im Gedränge, bewaffnet mit einer Bratpfanne und schrie, was das Zeug hielt. Scheinbar versuchte sie, die Raufbolde zum Verlassen ihres Etablissements zu bewegen. Yamur war sich nicht sicher, ob er ihr tatsächlich unbewaffnet gegenüber treten sollte. Sie schien geübt mit dem Umgang der Bratpfanne, ob vom Kochen her oder vom Leute verprügeln, wusste er nicht zu sagen. Er schob sich hinter dem Tresen hervor und die Wand entlang, näher zum Ausgang auf die Straße hinaus, der noch immer sperrangelweit offen stand. Eliza drosch gerade einer Stadtwache die Pfanne auf den Kopf. „Willst du nicht?“, fragte jemand leise neben ihm. Yamurlak schrak zusammen. „Himmel, Wotan, hast du mich erschreckt. Was um alles in der Welt ist hier los?“ „Das Übliche. Jemand hat einem der Schankmädchen unter den Rock gegriffen, ein anderer Gast, sturzbetrunken, sah sich genötigt, die Ehre des Mädchens zu verteidigen. Die dem Übeltäter zum Dank eins mit ihrem Servierteller übergebraten hatte.“ Er klang erstaunlich nüchtern. „Gut. Vielleicht können wir das Gedränge nutzen. Heiner steht schon draußen mit dem Wagen. Wenn wir’s richtig anstellen, bemerkt man ihr Verschwinden erst, wenn wir längst weg sind.“ „Ich von links, du von rechts?“ Yamur nickte. Gemeinsam näherten sie sich der Schlägerei. Zur Mitte hin wurde es ziemlich eng, betrunkene Zaungäste applaudierten oder feuerten ihre Kumpane an. Sie mussten trotz allem vorsichtig sein. In einer solchen Gemütslage reichte es vielen, aus Versehen angerempelt zu werden, um ebenfalls mit dem Austeilen von Fausthieben zu beginnen. Yamurlak schob sich unter einem massigen Arm hindurch und näher an Eliza heran. Er sah, dass Wotan schon in Greifnähe an die Frau herangekommen war und bedeutete ihm mit Gesten, ihr den Mund zuzuhalten, sobald er sie gepackt hatte.  Die Schankwirtin holte erneut mit ihrer Pfanne aus. Yamur konnte sich nicht mehr schnell genug wegducken, und wurde an der Stirn getroffen. Benommen taumelte er einen Schritt zurück und nahm nicht wahr, dass Eliza sich verdutzt zu ihm umgedreht hatte. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, jemand möglicherweise Unbeteiligten hinter sich zu treffen. Yamurlak kam erst wieder zu Sinnen, als die Bratpfanne mit einem Scheppern zu Boden ging, doch es schien sich niemand so recht darum zu kümmern. Die Schlägerei hatte mittlerweile auf den Rest der Taverne übergegriffen, und inzwischen setzten die Beteiligten auch das Mobiliar ein. ‚Eine schöne Bescherung‘, dachte der Agent. Er schüttelte sich, um die Benommenheit loszuwerden, und gewahrte, dass Wotan die Wirtin von hinten gepackt hatte, und zum Haupteingang schleifte. Nur mit Mühe gelang es ihm, ihr seine Hand auf den Mund zu drücken. Wohl auch, weil sie versuchte, hineinzubeißen und wie wild mit den Armen ruderte. Yamur setzte ihnen nach und schaffte es ebenfalls bis zur Tür, ohne noch einmal eins über den Kopf gezogen zu bekommen. Die frische Nachtluft wirkte belebend auf seine Sinne. Schnell lief er zu dem Wagen hinüber, griff sich eines der großen Päckchen und entfaltete es auf den Weg zurück. Wotan war mit seiner Last inzwischen stehen geblieben. Eliza setzte alles daran, sich zu befreien, hatte aber nicht viel Chance, da sie mit ihrem Hinterteil in der Luft hing. „Schnell, bind‘ ihr das Maul zu!“, bat er. Yamurlak tat, wie ihm geheißen, nahm ein Tuch aus dem Bündel und rollte es zusammen. Notgedrungen musste Wotan seine Hand nun doch von Elizas Mund nehmen und die Frau schrie, was das Zeug hielt. Doch niemand kam ihr zu Hilfe, als Yamur ihr den Knebel in den Mund schob und sie ihn mit Mühe zubanden. „Jetzt ihre Beine.“ „Halt still, Weib!“ Eliza dachte gar nicht daran. Jetzt, da sie geknebelt war, strampelte sie umso intensiver. Yamurlak bekam einen Tritt gegen den rechten Oberarm. „Au!“ Er stürzte sich auf ihre Beine und bekam sie nacheinander zu fassen. Auch sie waren schnell aneinandergebunden, sodass die Tavernenwirtin nur noch mit ihrem Hinterteil wanken konnte.  „Hilf mir, sie auf den Bauch zu rollen, dann können wir ihr die Hände zusammenbinden.“ Gemeinsam schafften sie es, die wild gewordene Katze zu bändigen. Nachdem sie so verschnürt auf dem Boden lag, griff Yamur sich den letzten Teil des Päckchens, ein sauberer, kleiner Sack aus Leinen, den er ihr überstülpte. „Wir wollen doch nicht, dass du siehst, wo die Reise hingeht.“ „Mmmmhhhh, mmmmhhhhhh!“ „Ja, das kannst du dann alles unserem Boss sagen“, antwortete Wotan lapidar auf die Verwünschungen. „Nun macht schon“, raunte Heiner. „Da hinten kommt eine Patrouille der Stadtwache!“ Schnell hatten sie Eliza auf den Wagen gehievt. Wotan sprang zu dem Fahrer auf den Bock, während Yamurlak selbst auf die Ladefläche kletterte. So, als wäre nichts gewesen, fuhren sie los, nicht zu schnell, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Yamur musterte die Patrouille aus den Augenwinkeln heraus. Erst, als ihm einer der Männer verstohlen zunickte, konnte er sich sicher sein, dass sie keine Gefahr darstellten. ‚Allesamt von Dijkstra bezahlt.‘ Unbehelligt setzten sie ihren Weg nach Novigrad fort.   * * *   „Meine Liebe, es würde viel einfacher vonstattengehen, wenn du uns einfach sagst, was du weißt“, wiederholte er. Eliza spuckte abfällig aus. Sie hatten sie weit in die Stadt hinein gebracht. So viel hatte sie anhand der Fahrgeräusche erahnen können. Der Ort, an dem sie den Wagen angehalten hatten, um sie abzuladen, war gepflastert. Doch wo genau sie sich befand, hatte sie nicht heraus hören können. Erst, als sie sie in das Gebäude trugen – einer der Männer hatte sich die Frau über die Schulter gelegt, als wäre sie ein Sack Kartoffeln – hatten ihr andere Sinneseindrücke verraten, wo sie sich befand. Die Luft war feucht und es war wärmer als draußen auf der Straße. Fast erinnerte es Eliza an heißen Wasserdampf aus einem Kochtopf, aber so extrem war die Hitze dann doch nicht. Nur in Verbindung mit der Feuchtigkeit etwas drückend. Dazu der Geruch. Es musste eine Wäscherei oder so etwas sein. Ihr gegenüber saß nun ein beleibter Herr, dessen Wams einen wohlhabenden Hintergrund verrieten. Offensichtlich hatte er vor einiger Zeit einen Unfall erlitten, denn sein linkes Bein war geschient und auf einen Schemel hochgelegt. Zwei Krücken lehnten in seiner Reichweite an der Wand. Wie alt er war, mochte Eliza nicht zu schätzen. Glatzen verrieten selten das Alter ihrer Träger. Sie selbst hatten sie an einen massiven Eichenstuhl festgebunden. Erst dann hatten sie ihr den Stoffsack abgenommen und erst dann erkannte sie, dass sie sich gar nicht in einer Wäscherei, sondern in einem Badehaus befand. In einen Alkoven hatten sie sie gesetzt, dessen Wände mit detailreicher Malerei von nackten und sich badenden Frauen verziert war. Abgesehen von dem Dicken und einem Mann, der hinter ihr stand und den sie nicht sehen konnte, war niemand zugegen. „Ich sagte doch schon, dass ich gar nichts weiß!“, wiederholte sie zum wer weiß wie vielten Male. „Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.“ Der Dicke nickte jemandem zu, der hinter ihr stand. Jemand trat in ihr Gesichtsfeld, ein Mann um die fünfzig mit dunklen kurzen Haaren und etwas, das einem Vollbart ziemlich nahe kam. Die weinrote Jacke wirkte bei weitem weniger edel, als die des Dicken, war aber gepflegt. Ein einfacher Mühlsteinkragen gab ihm ein strenges Aussehen.  Er schlug ihr mit der Faust ins Gesicht und trat wieder zurück. Eliza spürte, wie etwas Feuchtes ihr Kinn hinab lief. „Von mir erfahrt ihr gar nichts!“, heulte sie. „Siehst du? Genau dass ist der Fehler, den die Leute auf der Streckbank früher oder später immer machen. Irgendwann verplappern sie sich und geben doch zu, etwas zu wissen“, erklärte ihr Gegenüber neckisch. Nickte noch mal. Sie erhielt noch zwei weitere Faustschläge, der eine zielte erneut auf ihre Unterlippe, der andere ging ihr an die Nase. „Oder soll ich lieber gleich nach den Zangen schicken lassen?“ „Ich werd‘ doch nicht meine Freunde verraten?!“ Eliza war selbst erstaunt darüber, wie fest ihre Stimme noch klang. Sie hatte damit gerechnet, schon eher schwach zu werden und alles auszuplaudern. Nicht, dass sie so viel gewusst hätte. Sie erinnerte sich noch gut an die vergangene Nacht. Die Taverne war gut besucht, was nicht selten war für diese Jahreszeit. Handwerker aus der Stadt, Bauern der Umgebung, reisende Kaufleute, Mitglieder der Stadtwache und einige Hexenjäger. Die Gästeschar war jeden Abend die gleiche, die Stimmung ausgelassen, aber friedlich. Eliza hatte eines ihrer Mädchen ins Lager geschickt, um ein neues Fass Bier hereinzurollen. Erst, als sie einen spitzen Schrei aus ihrer Kehle dringen hörte, wusste sie, das etwas nicht stimmte. Die Wirtin war ebenfalls nach hinten gegangen und verdutzt stehen geblieben. Ves stand in dem kleinen Raum, bepackt mit einem hageren Glatzkopf mit Nietbrille, der stark aus einer Wunde am Oberschenkel zu bluten schien. Eliza hatte vor Schreck ihr Serviertablett fallen lassen. „Geh wieder nach vorn“ hatte sie ihrem Mädchen zugeraunt und sich dann um Ves und den Verwundeten gekümmert. Einige Augenblicke später war Roche zur Hintertür hereingehumpelt, gefolgt von einem verwegen aussehenden Vagabunden mit grauem Haar, den sie schon öfters in ihrer Taverne gesehen hatte. Sie hatte immer gewusst, dass er irgendwann kommen würde. Der Hauptmann der Temerischen Freischärler hatte ihr so manches Mal aus der Patsche geholfen. Nun war der Augenblick für sie gekommen, sich zu revanchieren. Ohne groß Fragen zu stellen, hatte sie ihnen was zu Essen und Verbandszeug gebracht, und war dann wieder im Schankraum verschwunden. Eliza hatte nicht gewagt, den Nebenraum noch mal zu betreten. Sie wollte gar nicht wissen, was sie da hinten taten oder besprachen. Für den Rest des Abends hatte sie nur noch Wein ausgeschenkt, was hier und da zu Verstimmung geführt hatte. Aber mit Wein ließen sich die Männer schließlich auch abfüllen. Am nächsten Tag, als der Hahn schon mehrmals gekräht hatte, hatte sie vorsichtig durch den Türspalt gelugt und festgestellt, dass das Zimmer leer war. Versteckt auf einem der Regale hatte sie ein abgenutztes Stoffsäckchen mit hundert Kronen gefunden. „Ich frag mich, ob das wirklich deine Freunde sind“, höhnte der Dicke. „Freunde helfen einander, weißt du? Ich seh‘ sie hier nirgends. Meinst du nicht, dass Freunde dich aus deiner verfahrenen Situation rausholen würden?“ Die Schankwirtin war sich ziemlich sicher, dass er wusste, dass sie sich nicht viel aus seinem Gerede machte. Jedenfalls hoffte sie, dass der gleichgültige Gesichtsausdruck, den sie trotz der schmerzenden Gesichtsmuskeln aufzusetzen versuchte, ihm das sagte. Er konnte ja nicht ahnen, dass Roche ihr ein für ihre Verhältnisse kleines Vermögen zurückgelassen hatte. „Was habt ihr mir im Gegenzug zu bieten?“, fragte sie dreist. Der Dicke bekam Schnappatmung, dann einen Schluckauf, zuletzt einen Hustenanfall. Er schüttelte den Kopf, um seine Nerven zu beruhigen. „Ich weiß, wer meine Leute sind, und wer nicht“, setzte Eliza hinzu, bevor er etwas erwidern konnte. Er musterte sie abschätzig. „Wenn das so ist ...“ Der Mann, der sie zuvor geschlagen hatte, verschwand. Die Frau fragte sich, mit welchem Werkzeug er zurückkommen würde. Ob es tatsächlich die Zangen waren? Und wofür er sie benutzen würde? Eliza versuchte, den Dicken mit Blicken zu durchbohren, aber es gelang ihr nicht. Letztenendes wandte sie sich ab. Sie wunderte sich, wo der andere so lange blieb. Ließ er sich vielleicht extra viel Zeit, damit sie sich im Geiste besonders viele Foltermethoden ausdenken konnte? Heimlich versuchte sie, den Baderaum in Augenschein zu nehmen. „Wo bleibt er denn so lange ...?“ Der Dicke beugte sich etwas nach links, um in die Richtung zu blicken, in die der andere Mann gegangen war. Eliza war zu fest gebunden, um seinem Blick zu folgen. Sie wagte nicht, etwas zu der Abwesenheit des anderen zu sagen. Der Dicke schien langsam ungeduldig zu werden, denn er säuselte für sie unverständlich dahin. Aber seltsam war das schon. Seit etwa zehn Minuten warteten sie nun darauf, dass der andere zurückkam. „Verdammt, wo bleibst du so lange?!“, schimpfte er, als der andere in dem Baderaum erschien. „Tut mir leid, Boss. Euer Diener ...“, beschwichtigte er. „Um den kümmern wir uns später. Jetzt bist erst einmal du dran, meine Liebe.“ Er nickte. Der andere Mann nahm ein Werkzeug in die Hand. Eliza konnte es an dem metallischen Geräusch erkennen. Als er damit in ihr Blickfeld kam, verlor sie allen Mut.“ „Also? Lieber erst die Fingernägel oder doch lieber die Zunge?“ „Die Fingernägel, du Idiot!“, schnauzte sein Boss. „Die Zunge braucht sie, um sich noch artikulieren zu können. „Ich weiß nichts, ehrlich nicht!“, heulte sie verzweifelt. „Doch nicht mehr so mutig?“, höhnte der Dicke. Die Schankwirtin wand sich auf dem Stuhl, doch er ließ sich nicht verrücken. Panisch machte sie Fäuste mit den Händen, sodass sie ihren Fingernägeln nur nicht mit der Zange zu Leibe rücken konnten. Der Bärtige klemmte sich die Zange zwischen rechten Oberarm und Oberkörper und mühte sich damit ab, die Finger ihrer Rechten wieder aufzubiegen. Beim kleinen Finger gelang es ihm nach einen Augenblick. Sie wand sich auf dem Stuhl, konnte der Prozedur aber nicht entkommen. Mit schreckgeweiteten Augen sah sie zu, wie sich die Zange langsam ihrem kleinen Finger näherte. Wandte sich ab, als der Nagel von dem Metall gefasst wurde, biss sich auf die Lippen. Tränen rannen ihr in Strömen über die Wangen. Ein gekonnter Ruck. Eliza schrie aus Leibeskehle. Der Schmerz, den sie fühlte, war unbeschreiblich. Ein dumpfes Pochen, als hätten sie ihr den halben Finger abgezwickt. Vielleicht war es auch so? Sie wagte nicht, auf ihre rechte Hand zu blicken. „Also? Sagst du mir jetzt, was ich wissen will?“ „Ich ... kech, weiß ... nichts ...“, heulte sie. „E-ehrlich!“ „Meine Liebe“, konterte er. „Du hast die Wahl. Entweder, du sagst uns alles, was du weißt, oder du verlierst einen weiteren Fingernagel. Ihr Peiniger machte sich daran, ihren Ringfinger zu fixieren. Dieses Mal hatte er leichtes Spiel, die Wirtin hatte jede Kraft in ihren Gliedmaßen verloren. Er setzte die Zange an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)