Verliebtsein macht kurzsichtig von Whiscy (1) ================================================================================ Kapitel 3: Das Glück der Erde ----------------------------- »Anna Marbach, ist bekannt als Schulschönheit, Klassensprecherin, Präsidentin der Schach AG, regionale Meisterin im Springreiten und ... seit kurzem als diejenige, die Tassilo angeblich abserviert hat.« Soviel hatte Charlotte bereits über Tassilos Schwarm herausgefunden. Über das Mädchen, das sie von allen am meisten beneidete – und dem sie nicht ganz abkaufte, dass sie wirklich nichts von Tassilo wollte. Den halben Schultag über war Charlotte der Schülerin mit den dunklen, schwarzen Haaren gefolgt, um an all die Informationen zu gelangen. Dabei hatte Anna es ihr nicht einfach gemacht: Diese blieb gern aus heiterem Himmel stehen und warf den Hals zurück, wie bei dem Kinderspiel Opa-liest-die-Zeitung. Nur, dass Charlotte dabei keine Zeitung, sondern ein Buch über Quantenphysik in der Hand hielt. Es dauerte genau zwei Pausen, bis ihre Beschattung aufflog. »Warum verfolgst du mich?!«, stellte Anna sie im Schulflur zur Rede. Die ebenfalls Sechzehnjährige war mit der perfekten Figur gesegnet worden: Schlank aber vollbusig. In der Größe übertraf Charlotte sie um einiges, ein Laufstegmodel könnte Anna damit nie werden. Aber warum sollte man das auch werden wollen, wenn einem auch so schon alle Männerherzen zu Füßen lagen? »Verfolgen? Ich? Ich les hier nur ... «, beteuerte Charlotte, während sich bereits kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. »Ach ja? Dafür zitterst du ganz schön ... « Diese Anna war nicht nur bildhübsch, sondern auch scharfsinnig. Innerlich vermerkte Charlotte, dass ein weiterer Charakterzug nötig sein würde, um Tassilos Herz zu erobern. »Das ist ... weil ... äh ... ich ... «, gab das Brillenmädchen weniger schlagfertig von sich. »Spar's dir und sag mir, was du von mir willst. Immerhin verfolgst du mich schon den ganzen Tag.« Charlotte schluckte. »Das hat sie gemerkt?!« »Du hättest das Buch weglassen sollen. Mal abgesehen davon, dass du es verkehrt herum hältst, ergibt es an manchen Orten einfach keinen Sinn, ein Buch zu lesen«, entlarvte die dunkelhaarige Schönheit mit den Mandelaugen Charlottes Spionage-Aktion. In der Tat hätte das Mädchen mit dem Kupferdutt die Verfolgung sein lassen sollen, nachdem sie in der Bibliothek zum ersten Mal einen Blick auf das Äußere der sagenumwobenen Schulschönheit hatte werfen können. Aber nein, sie hatte ihr unbedingt noch in die Aula, Mensa und auf den Schulhof folgen müssen. »Vor allem auf den Gängen nicht! Also?«, hängte Anna noch an. Charlotte versteckte ihr erschrockenes Gesicht hinter dem Quantenphysikschmöker. »Was mache ich nur, was mache ich nur?! Ich kann ihr doch nicht einfach ins Gesicht sagen, dass ich mich vergewissern wollte, ob das Gerücht wahr ist?! Was, wenn es gar nicht stimmt ... und sie und Tassilo doch ... « Da rannte plötzlich eine Schülerin direkt auf die beiden zu.   -o-o-   »Anna Marbach, ist bekannt als Schulschönheit, Klassensprecherin, Präsidentin der Schach AG, regionale Meisterin im Springreiten und ... seit kurzem als diejenige, die Tassilo angeblich abserviert hat.« Soviel hatte Charlotte bereits über Tassilos Schwarm herausgefunden. Über das Mädchen, das sie von allen am meisten beneidete – und dem sie nicht ganz abkaufte, dass sie wirklich nichts von Tassilo wollte. Den halben Schultag über war Charlotte der Schülerin mit den dunklen, schwarzen Haaren gefolgt, um an all die Informationen zu gelangen. Dabei hatte Anna es ihr nicht einfach gemacht: Diese blieb gern aus heiterem Himmel stehen und warf den Hals zurück, wie bei dem Kinderspiel Opa-liest-die-Zeitung. Nur, dass Charlotte dabei keine Zeitung, sondern ein Buch über Quantenphysik in der Hand hielt. Es dauerte genau zwei Pausen, bis ihre Beschattung aufflog. »Warum verfolgst du mich?!«, stellte Anna sie im Schulflur zur Rede. Die ebenfalls Sechzehnjährige war mit der perfekten Figur gesegnet worden: Schlank aber vollbusig. In der Größe übertraf Charlotte sie um einiges, ein Laufstegmodel könnte Anna damit nie werden. Aber warum sollte man das auch werden wollen, wenn einem auch so schon alle Männerherzen zu Füßen lagen? »Verfolgen? Ich? Ich les hier nur ... «, beteuerte Charlotte, während sich bereits kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. »Ach ja? Dafür zitterst du ganz schön ... « Diese Anna war nicht nur bildhübsch, sondern auch scharfsinnig. Innerlich vermerkte Charlotte, dass ein weiterer Charakterzug nötig sein würde, um Tassilos Herz zu erobern. »Das ist ... weil ... äh ... ich ... «, gab das Brillenmädchen weniger schlagfertig von sich. »Spar's dir und sag mir, was du von mir willst. Immerhin verfolgst du mich schon den ganzen Tag.« Charlotte schluckte. »Das hat sie gemerkt?!« »Du hättest das Buch weglassen sollen. Mal abgesehen davon, dass du es verkehrt herum hältst, ergibt es an manchen Orten einfach keinen Sinn, ein Buch zu lesen«, entlarvte die dunkelhaarige Schönheit mit den Mandelaugen Charlottes Spionage-Aktion. In der Tat hätte das Mädchen mit dem Kupferdutt die Verfolgung sein lassen sollen, nachdem sie in der Bibliothek zum ersten Mal einen Blick auf das Äußere der sagenumwobenen Schulschönheit hatte werfen können. Aber nein, sie hatte ihr unbedingt noch in die Aula, Mensa und auf den Schulhof folgen müssen. »Vor allem auf den Gängen nicht! Also?«, hängte Anna noch an. Charlotte versteckte ihr erschrockenes Gesicht hinter dem Quantenphysikschmöker. »Was mache ich nur, was mache ich nur?! Ich kann ihr doch nicht einfach ins Gesicht sagen, dass ich mich vergewissern wollte, ob das Gerücht wahr ist?! Was, wenn es gar nicht stimmt ... und sie und Tassilo doch  ... « Da rannte plötzlich eine Schülerin direkt auf die beiden zu.   -o-o-   »Anna! Du musst mir helfen! Es ist ein Notfall ... meine Eltern wollen mich sonst auf ein Internat schicken!«, schrie sie verzweifelt. Das Mädchen, das der Kleidung nach zu urteilen in Annas Klasse ging, schlug bittend die Hände zusammen. Dabei fielen ihr die kurzen, hellblonden Ponysträhnen ins Gesicht. Klar, natürlich gingen Anna und ihre Freundin in die Begabtenklasse der Kopernikus-Gesamtschule. Eine Klasse, die den bildungspolitischen Flausen irgendeiner Ministerin entsprungen war. Die Begabtenklasse schrieb eine gewisse Kleiderordnung vor, deshalb trugen beide Mädchen weiße Blusen, einen hellgrauen Blazer und eine schwarze Krawatte. Ob Rock oder Hose war den Schülern freigestellt worden, darum zierte Annas Beine nur eine schlichte, schwarze Skinnyjeans. Im Gegensatz zu dem fremden Mädchen, das die femininere Variante, einen hellgrau-schwarzkarierten Faltenrock gewählt hatte. »Ohje. Wobei denn genau, Bente?«, wollte Anna wissen und klemmte sich eine ihrer langen, schwarzen Haarsträhnen hinter das Ohr. Die Freundin namens Bente hielt ein offenes Mathebuch vor Annas Nase und zeigte mit dem Finger auf eine Aufgabe. Anna las sie sich durch und erschrak. »Das kann nicht sein! Das ist doch gar kein Schulstoff mehr ... Das muss unser Mathelehrer was verwechselt haben ... Wieso musst du sowas überhaupt machen?« »Der Brückner meinte, dass ich nur in der A-Klasse bleiben darf, wenn ich diese Aufgaben löse. Er hat was von ‚Man sollte sich Wissensinhalte selber erarbeiten können' gefaselt, du weißt schon, wegen meinem letzten Mathetest ... das ist jetzt die letzte Chance für mich, nicht durchzufallen. Hilf mir, Anna! Mathe ist mein einziges Problemfach, ich bin nur wegen dem Sprachangebot in die A-Klasse gegangen! Und jetzt haben meine Eltern gedroht mich auf ein Internat zu schicken, wenn ich aus der Begabtenklasse fliege ... Aber ich will nicht weg von hier ... « Die arme Bente. Mitleidig studierte Anna die Problemaufgaben nochmals. »Ich würde dir wirklich gern helfen, aber ich habe auch keine Ahnung von der vollständigen Induktion ... « Charlotte horchte auf. »Vollständige Induktion? Darf ich mal sehen?« Unsicher reichten die Mädchen das Buch an sie weiter und beobachteten verwundert, wie konzentriert sie sich die Fragestellungen durchlas. »Also im Grunde ist es gar nicht so schwer ... wenn du davon ausgehst, dass der Beweis durch das Einsetzen von eins oder null ... dann behauptest du ... und dann löst du die Gleichung nach n plus eins ... und das ist es im Prinzip«, meinte sie schließlich in der Kurzfassung. Anna und Bente staunten. »Du kannst das?! Wahnsinn!« »Du musst mir unbedingt helfen, ich bitte dich!«, bettelte Bente und rüttelte sanft an Charlottes Oberarm. »Ich ... also ... äh ... wobei denn?«, entgegnete diese. Anna sah erst Bente an, dann Charlotte und wendete sich an sie: »Denkst du ernsthaft, wir hätten das jetzt kapiert ... ?« Weil Charlotte sich ihres Mathegenies nicht bewusst war, versuchte Bente ihr Anliegen anders zu verpacken: »Würdest du mir das nochmal langsamer erklären können? In der Bibliothek oder so? Ich wäre dir sehr, sehr dankbar!« »Äh, ja klar!«, sagte Charlotte ohne Hintergedanken. Da passierte, worauf sie niemals gekommen wäre – Anna verkündete: »Ich komme mit, wenn es euch nichts ausmacht. Mich würde die Lösung auch interessieren.«   -o-o-   In der Bibliothek war um die Mittagszeit kaum etwas los. So konnten sich die drei Schülerinnen ungestört mit Bentes teuflischem Matheproblem beschäftigen. Das Lehrbuch, Hefte und ein Collegeblock lagen ausgebreitet auf dem Tisch in der Mitte des Bücherzimmers, in das sie sich zurückgezogen hatten. Bente kaute grübelnd auf ihrem Bleistift herum, während Charlotte versuchte ihr die Aufgabe zu erklären. »Beim Induktionsbeweis musst du zunächst den Induktionsanfang machen – das heißt, du stellst klar, dass die Formel für null oder eins gilt. In dem Fall hier eins ... « Bentes Gesicht verriet ihr Unbehagen, doch Anna folgte Charlottes Erklärung aufmerksam. »Jedenfalls stellst du, wenn du die kleinste Zahl eingesetzt hast, erst einmal die Behauptung auf. Dazu schreibst du eigentlich nur die Aufgabenstellung ab.« »Was ist überhaupt meine Aufgabenstellung ... ?«, winselte Charlottes neuer Mathefittich deprimiert. »Hier. Beweisen Sie, dass für alle natürlichen Zahlen gilt ... «, klärte sie Bente auf. »Achso! Dann muss man das einfach nur abschreiben«, verstand Anna. »Genau! Die Aufgaben hier sind auch nicht so schwierig zu beweisen, keine Angst.« »Ich versteh immer noch nur Bahnhof!«, warf Bente ein. Deshalb fing Charlotte ganz von vorne an: »Ok, dann sagen wir es mal anders ... was natürliche Zahlen sind, weißt du?« Derweil schaltete Anna ab und betrachtete die Mädchen ohne ihnen weiter zuzuhören. Ihr fiel ein, woher sie Charlotte kannte – natürlich! Sie war die Siegerin der letzten Matheolympiade gewesen. Nie im Leben hätte Anna es dem Mädchen geglaubt, von ihrem Verhalten her. Aber jetzt wurde ihr einiges klar ... Da schwang die Tür auf und ein bekanntes Gesicht trat herein. Freundlich winkte Anna Klaus zu, den wohl die Suche nach einer Lernhilfe her verschleppt hatte. Er stellte sich gut gelaunt neben sie, was die anderen allerdings nicht bemerkten – zu sehr waren sie in der Welt der Zahlen versunken. »Nanu, was macht ihr denn zusammen hier?«, fragte Klaus neugierig. »Charlotte hilft uns freundlicherweise in Mathe«, erklärte Anna ihm. »Also war das neulich doch keine Einbildung ... «, murmelte er daraufhin. Da schaute Charlotte vom Blatt auf und entdeckte ihren Mitschüler. »Moment! W-wa – Klaus!? Du kennst Anna?« Sie war fassungslos. Klaus eher weniger: »Klar kenne ich Anna. Seit über zehn Jahren, stimmt's?« Grinsend sah er zu Anna, die leicht errötete. Ja, sie kannten sich schon lange. Sehr lange. Aber es gab etwas, das Anna störte. »Die Frage lautet eher, woher du ihn kennst«, wandte sie sich an die Intelligenzbestie mit dem Knödel auf dem Kopf und lächelte dabei zuckersüß. Bevor diese antworten konnte, erläuterte Klaus: »Charlotte geht in meine Klasse.« »Achso«, meinte Anna daraufhin schulterzuckend. Wenn es nur das war, war es ihr recht. Charlotte wurde dadurch allerdings neugierig. »Und woher kennt ihr euch genau?«, wollte sie wissen. »Wir reiten zusammen.« Kaum, dass Klaus den Satz ausgesprochen hatte, bereute er ihn. Denn: Charlottes Augen begannen zu glitzern und ihr ganzes Ich drehte auf wie bei einem Fünfjährigen auf Zuckerwatte. »Reiten? In einem Reitstall? Hier in der Nähe?«, sprudelten die Fragen aus ihr heraus. »Jaa ... «, antworteten Anna und Klaus ganz, ganz vorsichtig. Sahen einander unsicher an. »Darf ich mal mitkommen ... ? Bitte, bitte, bitte!«, flehte das Mädchen mit der kreisrunden Brille. Ratlos beugte Klaus sich zu Annas Ohr und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Was machen wir jetzt?« »Ich versuche ehrlich gesagt schon den ganzen Tag sie loszuwerden ... ohne Erfolg, wie man unschwer erkennen kann«, flüsterte sie zurück. Auf einmal rief Bente einen Jubelschrei aus: »JA! Ich hab's! Ich hab's kapiert! Tausend Dank, Charlotte, ohne dich hätte ich das nicht geschafft! Der Brückner kann mich jetzt mal! Gerade noch gerettet!« Mit den Armen veranstaltete Bente einen kleinen Freudentanz, bewegte die Fäuste in einem nur für sie hörbaren Rhythmus nach links und rechts. »Haha, keine Ursache. Du hättest das bestimmt aber auch ohne mich gepackt!«, behauptete Charlotte, was die Mädchen nur zum Stirnrunzeln brachte. Anna dachte sich stumm ihren Teil. »Schwachsinn! Das ist Mathematik auf Uniniveau. Was hast sie eigentlich noch auf einer staatlichen Schule zu suchen?« Mit einem Grinsen im Gesicht lauschte Klaus dem Geschehen, bis er irgendwann ganz leise, sodass es nur Anna hören konnte, wisperte: »Charlotte ist viel bescheidener, als ich dachte ... «   -o-o-   Am selben Nachmittag standen sie schließlich zu dritt in stalltypischen Klamotten auf dem Reiterhof. Das hieß, Klaus und Anna. Charlotte trug dasselbe wie am Vormittag: Ein sommerliches Top, süße Shorts und eine gemusterte Strumpfhose, dazu Sneakers. Was das Mädchen mit dem Kupferdutt hier zu suchen hatte? Auch Klaus und Anna wussten es nicht. »Warum nochmal haben wir sie jetzt mitgenommen?«, zischte sie dem blonden Lockenkopf zu. »Weil sie nicht locker gelassen hat ... « Klaus dachte wehmütig an den Vormittag zurück. Die Matheolympiadesiegerin hatte solange darum gebettelt, den Hof besuchen zu können, bis sie schließlich nachgegeben hatten. »Und, weil sie es sich ja irgendwie verdient hat. Findest du nicht?«, fiel ihm dazu noch ein, wobei Bentes glückliches Gesicht in seinen Gedanken aufblendete. »Stimmt. Aber nach heute will ich sie nicht mehr hier sehen – sonst bekommen wir noch Ärger mit den Besitzern«, wandte Anna ein. »Ja, ich weiß. Aber ich glaube nicht, dass Charlotte sonderliches Aufsehen auf sich ziehen wird ... das werden die eh nicht bemerken ... Halt Charlotte! Nicht anfassen, das ist ein Elektrozaun!« Prompt spurtete er der Intelligenzbestie hinterher, die wohl hatte testen wollen, wieviel Volt genau durch den silbernen Draht flossen. »Ohje. Ich muss jetzt allerdings zum Training ... «, sagte Anna zu sich selbst und marschierte zu den Stallungen.   -o-o-   Klaus trat näher an Charlotte heran, die eben die Bekanntschaft mit 3000 Volt gemacht hatte. »Ich würde mich jetzt um meine Reitbeteiligung kümmern. Du kannst mitkommen, wenn du willst.« Als wäre nichts gewesen, funkelte sie ihn an: »Oh jaa! Unglaublich gern!« Nun gut, die Stromstärke des Zauns war vermutlich nicht besonders hoch. Während sie zu den Stallungen laufen, konnte Klaus nicht anders, als zu fragen: »Sag mal, wenn du so pferdebegeistert bist, warum gehst du dann nicht einfach irgendwo reiten?« Charlottes Mundwinkel wanderten nach unten. »Das würde ich gerne, aber ich könnte nicht einmal die Ausrüstung bezahlen, um überhaupt Reitstunden zu nehmen ... « Da dachte er an die hundert Euro, die sie ihm als Schadenersatz zugesteckt hatte. »A propos: Hundert Euro waren etwas viel. Aber mal abgesehen davon, hatte ich dir ja gesagt, dass du es stecken lassen kannst.« Reuevoll schüttelte sie den Kopf. »Nein, du hattest Recht. Ich habe deine Sachen ruiniert, mich nicht mal dafür entschuldigt und bin anderen mit meinen Problemen auf die Nerven gegangen. Außerdem hast du mir die Woche davor das Leben gerettet. Jetzt sind wir quitt.« Jetzt war Klaus baff. »Wow. Mit der neuen Brille sieht sie nicht nur klüger aus, sondern benimmt sich auch gesitteter! Wer hätte das gedacht!« »Welche Box ist es?«, riss sie ihn aus den Gedanken, als sie die Stallungen betraten. Anna war längst weg, sie hatte sich bereits zum Reitplatz begeben. »Da vorne ... Aber renn nicht hin, sonst erschrickt ... « Bevor er den Satz beenden konnte, nahm Klaus wahr, dass Charlotte bereits losgeschlichen war und sich bedacht an die Box heranpirschte. »Nanu, sie weiß es.« Als Charlotte die Box erreichte, streckte ein Falbe mit Klecks auf der Stirn seinen Kopf heraus. Ein kleines Hallo. Sofort schloss das Mädchen das Pferd ins Herz und andersherum – nach kurzem Beschnuppern ließ sich der Falbe mit Charlottes Streicheleinheiten verwöhnen. Dabei warf sie einen kurzen Blick auf das Boxenschild. »Morgenstern heißt du also? Jaa, mein Lieber! Du bist ein ganz Lieber!«, quiekte sie ganz vernarrt. Klaus musste bei dem Anblick schief lächeln. »Ist ja süß.« »In der Futterkiste da drüben findest du Äpfel, du kannst ihm gern einen geben«, teilte er ihr mit. »Au ja! Jetzt gibt's ein Leckerli für dich, Morgenstern!« Charlotte holte sich den Apfel und hielt ihn Morgenstern vor die Nase, der ihr Angebot schmatzend annahm. Nochmals musste Klaus schmunzeln und schüttelt dabei lächelnd den Kopf. Er ließ seine Mitschülerin noch ein wenig Morgenstern verhätscheln, bis ihm eine Idee kam: »Anna trainiert jetzt dann gleich. Hast du vielleicht Lust, zuzusehen?« Charlotte schaute ihn fragend an. »Was ist das für ein Training?« »Springreiten.«   -o-o-   Draußen auf dem Springplatz ritt Anna geradewegs mit ihren Pferd auf ein Hindernis zu. Der große Schecke legte einen majestätischen Galopp hin, flog über den Sand, über die Stangen, über die Welt. Gleich danach flitzten sie weiter zur nächsten Herausforderung. Anna wirkte hochkonzentriert, ihre Haltung war einwandfrei. »Wohaa! Das ist wirklich beeindruckend!«, bewunderte Charlotte sie aus der Ferne. Sie und Klaus hatten sich an den hölzernen Außenzaun des Springplatzes gelehnt. Er hatte Charlotte wohl richtig eingeschätzt. »Irgendwie wusste ich, dass es ihr gefällt ... « »Nicht nur schön und klug, sondern auch noch so eine tolle Reiterin ... «, lobte das Brillenmädchen sie weiter. »Anna ist wirklich talentiert!« Klaus runzelte die Stirn. »Also Talent würde ich das nicht nennen.« »Warum?« »Anna ist der ehrgeizigste Mensch, den ich kenne. So viel Zeit, wie sie mit Training verbracht hat, ist es kein Wunder, dass aus ihr eine fabelhafte Springreiterin und Trainerin geworden ist.« »Trotzdem gehört doch ein wenig Talent dazu, oder?« Klaus sah eingeschnappt zu Boden. »Ansichtssache.« Darum, und weil sie neugierig war, wechselte Charlotte das Thema: »Sag mal ... kennt ihr euch wirklich schon so lange? Ihr habt ja vorhin was von zehn Jahren gemurmelt ... « »Ja. Wir haben zusammen reiten gelernt, als wir Kinder waren.« »Wow! Sei mir nicht böse, aber ... bei Anna verstehe ich es ja, dass sie früh reiten gelernt hat ... aber als Junge ... äh.« »Schon gut. Ich wurde oft damit aufgezogen, ich bin das gewohnt und es macht mir nichts aus. Meine Mutter ist eine Pferdenärrin und hat mich, sobald ich alt genug war, auf ein Pony gesetzt. Und mir hat das gefallen. Deshalb habe ich nicht damit aufgehört.« Klaus verschränkte die Arme und stützte sich auf der obersten Zaunlattenkante ab. »Und deshalb ist es mir egal, was andere denken.«   -o-o-   »Das heißt, Klaus wurde bestimmt auch gehänselt. Aber er ... stand einfach darüber ... im Gegensatz zu mir ...  « Langsam schwappten Charlottes Gedanken in die Vergangenheit über. In eine Zeit der Einsamkeit. Der Trauer. Eine Zeit, die sie hatte vergessen wollen. »Früher hatte ich keine Freunde. Die meiste Zeit meines Lebens verbrachte ich allein, oder mit meinem Vater, als er noch da war.« Die kleine Charlotte saß allein Zuhause nach der Schule. Sie malte, löste Rätselhefte, lernte. Lernte, lernte und lernte. Der Stift war ihr Freund. Wenn sie fleißig war, wurde sie von ihrem Vater beachtet. Ihre Mutter war untertags fort, sie hatte zu arbeiten. Tag für Tag. »In der Schule nannten sie mich ... Wischmopp-Charlotte. Es lag an meinen Haaren. Sie kräuselten sich, bildeten einen dichten Urwald. Vielleicht wäre ich nicht so empfindlich gewesen, wenn ich Geschwister gehabt hätte. Wenn meine Sachen nicht zerknüllt in der Ecke gelegen wären ... wenn Stifte nicht verschwunden wären  ... wenn die Papierkügelchen mich nicht getroffen hätten ... Vielleicht wäre ich nicht so wehleidig gewesen, wenn mein Vater uns nicht verlassen hätte. Aber vermutlich hätte ich so oder so ... jeden Tag ... in Strömen geweint.« Die kleine Charlotte mit den Kupferlocken wusste nicht, was sie tun sollte, außer zu antworten. Auf die Fragen, die die Lehrer ihr in der Schule stellten. »Die anderen Kinder sagten, ich wäre ein Streber. Weil ich die richtigen Antworten wusste. Aber auf die meisten meiner eigenen Fragen wusste ich nie eine Antwort. Warum. Warum tun sie das. Warum tun sie mir das an. Verdammt, warum hassen sie mich. Warum hassen mich alle?« Es wurde schlimmer. Sie stellten ihr das Bein. Oft. Die kleine Charlotte küsste den Boden. Die Kinder klauten ihre Sachen, um sie im Dreieck herumzuwerfen. Um ihr zu zeigen, wie schwach sie war, die Streberin. Und noch schlimmer. Eines Tages fand sie ihr Mathebuch im Mädchenklo. In der Schüssel. Durchtränkt mit Urin. »Streber sind scheisse!« stand darauf mit Edding gekritzelt. Die kleine Charlotte war überzeugt davon, dass es immer schlimmer werden würde. Bis in jenem Moment ein Mädchen aus ihrer Klasse die Toilette betrat. Sie hatte kinnlange, schwarze Haare, von denen zwei Strähnen links und rechts abgezweigt und zu Zöpfchen gebunden waren. Binnen Sekunden bemerkte sie, was ihre Klassenkameraden Charlotte angetan hatten. Sie ging langsam zu ihr herüber, holte wortlos ein Taschentuch aus ihrem Schulranzen hervor und reichte es dem aufgelösten Mädchen. Mitfühlend lächelte sie Charlotte an. Diese biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszuheulen. Tapfer wandte sie sich ihrer Klassenkameradin zu und nahm das Taschentuch an. Putzte sich die Nase. Währenddessen glitten die Hände des dunkelhaarigen Mädchens an ihre Zöpfe. Sanft entfernte sie ihre beiden Haargummis, legte sie auf ihre rechte Handfläche und streckte sie vor Charlotte aus. Sie waren Milous Geschenk. Von da an gab es keine Wischmopp-Charlotte mehr. Keine Streberin mehr. Aus dem Mädchen mit den Kupferlocken wurde das Mädchen mit dem Kupferdutt. Der Haarknollen bot keine weitere Angriffsfläche mehr, genau wie Charlottes Verhalten. Sie meldete sich nicht mehr. Stellte sich dumm. Oder rebellierte, zickte herum. Antworten auf Fragen von Lehrern? Kannte sie nicht. Grundsätzlich nicht. Nur auf dem Papier, da spiegelte sich wieder, was sie die meiste Zeit ihres Lebens getan hatte.   -o-o-   In der Gegenwart lehnten Charlotte und Klaus noch immer am Zaun. Sie seufzte. »Ich habe mich immer versucht anzupassen. Aber Klaus sieht heute noch belämmert aus. Er ist viel stärker als ich ... « Dann sah sie rüber zu Anna. »Und Anna erst. Zu hören, dass sie sich ihre Anerkennung selbst verdient hat  ... macht mich noch viel trauriger. Wie kann ich ... mit so jemandem mithalten? Wie kann ich jemand werden, den du gern hast, Tassilo?« Dass Klaus sie musterte, bekam Charlotte erst mit, als er das Wort ergriff. »Komm mit!« »Eh? Wohin?« Er versetzte ihr einen kleinen Stoß in den Arm und lief einfach los. Aus Mangel an Alternativen folgte sie ihm zurück zum Stall. Dort fing er an, Morgenstern zu putzen. Sorgfältig kratzte er seine Hufe aus und entfernte groben Schmutz aus seinem Fell mithilfe einer Wurzelbürste. Danach ging er kurz raus, in eine andere Kammer, und kam mit Sattel- und Zaumzeug wieder. »Wir machen einen Ausritt«, verkündete Klaus knallhart. »Was?! Wir? Aber ... ich habe doch keine Ahnung vom Reiten!«, stellte Charlotte goldrichtig fest. »Keine Sorge, ich hab genug Ahnung für uns beide. Allerdings musst du dich sehr gut an mir festhalten.« Mit diesen Worten verschwand er aus der Box, bis er wiederkam und ihr einen Reithelm zuwarf, den sie ungeschickt auffing. »Sonst geht es nicht. Ist das okay für dich?« Charlotte starrte den Helm an, dann den gezäumten Morgenstern und zuallerletzt Klaus. »Du willst mich wirklich ... auf Morgenstern mitnehmen?«, fragte sie ungläubig. »Brauchst du jetzt auch noch ein Hörgerät?« Jetzt schüttelte sie den Kopf und begann glücklich zu strahlen. »Ich komme mit!« Dann rückte sie ihren Haarknödel so zurecht, dass sie den Reithelm problemlos aufsetzen konnte. Klaus half ihr beim fest machen. Dabei kam er ihr sehr nahe – für einen kurzen Moment fragte Charlotte sich, ob er zu allen Mädchen so nett war. Sie führten Morgenstern raus auf den Hof, dann machte der Brillenträger es ihr vor und stieg auf. Mehr oder weniger begabt stellte sich Charlotte an, aber schließlich saßen sie beide auf dem Pferd. »Am besten schlingst du so deine Hände um mich ... Lass auf keinen Fall los und lehne dich immer vor, nicht zurück«, wies er sie an. Charlotte errötete leicht. »Ich war noch nie einem Jungen so nah ... « »Denk jetzt bitte nichts Falsches, ich will bloß nicht, dass du unter die Hufe gerätst«, fügte er noch hinzu, nachdem ihm selbst eingefallen war, was er da von seiner Mitschülerin verlangte. »Pah! Lockenköpfe sind eh nicht mein Typ, also mach dir da keine Sorgen!«, stellte sie daraufhin trotzig klar. »Gut«, meinte Klaus nur und sie ritten los. Also, sie schritten los. »Wir machen erst mal langsam. Wichtig ist, dass du die Beine zumachst, also mit den Innenseiten deiner Oberschenkel dicht dran bist. Und pass ja auf, dass du die Hacken nicht reinhaust!« »O-ok ... « »Ich kann es nicht fassen ... ich reite zum ersten Mal richtig auf einem Pferd! Es ist endlich der Tag gekommen!« Charlotte konnte weinen, vor so viel Glück. »Dann: Auf, auf!«, meinte Klaus abenteuerlustig. Sie erreichten den nahegelegenen Waldeingang und trabten endlich los. Die holprige Fortbewegungsart war ungewohnt, aber Charlotte kam damit klar – immerhin erfüllte sich gerade ihr Kindheitstraum. Im Handumdrehen gelangten sie in das Herz des Waldes. Vereinzelte Sonnenstrahlen brachen durch die Decke, die frische Frühlingsluft kitzelte sie. Lud ein zum Draußensein. Die Bäume, die Blüten, das Licht: All das spiegelte sich in Charlottes runden Brillengläsern wider. Sie genoss es.   -o-o-   Zurück im Stall reinigte Klaus gerade das Gebissstück, als Charlotte sich dezent vor ihm verbeugte: »Danke, Klaus! Ich habe mir schon immer mal gewünscht, eines Tages zu reiten ... « »Kein Ding. Hab ich mir gedacht.« »Was?! Sieht man mir das etwa an?!« »Man müsste schon ziemlich blind sein, um das nicht zu peilen«, erwiderte er trocken. »Trotzdem, hab vielen, vielen Dank! Ich freue mich sehr!« Charlotte lächelte ihn überglücklich an. »Klaus?« Es war Anna, die nun frisch umgezogen hereinspazierte. »Ach hier seid hier. Wo wart ihr denn? Mein Training ist jetzt aus ... « »Hi Anna! Wir waren nur etwas im Gelände unterwegs. Aber wir haben dir auch zugeschaut! Spitzenleistung!« Klaus zeigte ihr ein Daumenhoch und grinste sie fröhlich an. Annas Blick schweifte zu dem benutzen Zaumzeug. »Im Gelände?«, fragte sie. »Kleiner Ausritt«, erwiderte er. Da änderte sich ihre Stimmung schlagartig. »Ich hoffe, du weißt, was dir blüht, wenn Laura das rausfindet – Du kannst nicht einfach irgendwelche Stümper auf Morgenstern drauf setzen!« »Keine Sorge, ich hab aufgepasst.« »Aber ...!« »Vertraust du mir etwa nicht?« Anna nahm sich zusammen. »Doch ... « Klaus lächelte erneut und legte ihr zur Beruhigung eine Hand auf ihren Unterarm. »Ich versichere dir, dass alles okay ist. Laura ist außerdem die Woche im Urlaub.« »Trotzdem, denk bitte daran, dass Morgenstern nicht dein Pferd ist. Du wärst auch nicht begeistert als Besitzer ... « Charlotte, die die Zeit über stumm daneben gestanden hatte, mischte sich nun ein: »Also ... es tut mir Leid! Ich hätte nicht herkommen sollen ... « Bedröppelt sah sie zu Boden. »Quark! Das hat damit nichts zu tun. Anna, du hast schon Recht ... der Ausritt war gegen die Abmachung«, wandte er sich an diese, welche leicht die Lippen kräuselte. Ein »Aber« wollte ihr gerade entfleuchen, da hob Klaus den erhobenen Zeigefinger an die Lippen. »Bitte verrat uns nicht!« Er lächelte richtig süß, kniff dabei ein Auge zu. »Es geht mich eigentlich nichts an ... also ... «, erwiderte Anna schließlich. Dafür erntete sie Klaus Strahlen. Und Charlottes Bewunderung. »Anna ist ein sehr sorgfältiger Mensch. Sie beachtet Regeln, Ordnung ... ist diszipliniert und ehrgeizig. Irgendwie kein Wunder, dass die beiden enge Freunde sind ... « »Übrigens ... Charlotte? Kann ich dich kurz mal sprechen?«, sprach die Ordnungshüterin sie nun ernst an. »Mich? Ja klar!« Anna winkte sie raus vor den Stall. Die Nervosität holte Charlotte, sie begann zu zittern. Was die Schönheit wohl von ihr wollte? »Du hast mir noch nicht erzählt, warum du mir den ganzen Tag gefolgt bist.« »Äh!« Irgendwie hatte Charlotte gehofft gehabt, dass sie es vergessen hatte. Pustekuchen. »Hatte das einen besonderen Grund?«, hakte Anna weiter nach. »Ich ... äh ... « »Mist! Diesmal gibt's keinen Ausweg ... « So rang sich das Mädchen mit der kreisrunden Brille zur Wahrheit durch: »Also um ehrlich zu sein ... weil ich gehört habe, dass du Tassilo einen Korb gegeben hast ... stimmt das denn, überhaupt?« Annas Mundwinkel wanderten nach oben. »Achso! Die Gerüchteküche also!« »Gerücht? Bedeutet das etwa, Anna ist mit Tassilo etwa doch ... « Sie bemühte sich, ihr schmerzverzerrtes Gesicht vor ihrer Mitschülerin zu verbergen. Schirmte ihre Augen mit der rechten Hand ab. »Ich hätte dich gar nicht als Ratschkaddl eingeschätzt ... «, fuhr Anna fort. »Moment, das bin ich auch nicht! Auch wenn ich nicht weiß, was das sein soll!«, wehrte Charlotte im Piepston ab. »Ghihi! Leugnen ist zwecklos! Du kannst ruhig rumerzählen, dass es wahr ist.« »Wahr...? Moment ...? Du hast Tassilo also wirklich einen Korb gegeben?!« »Jup.« »Aber ... warum?« Charlotte konnte nicht fassen, was Anna sagte: »Ganz einfach: Ich bin in jemand anderen verliebt.«   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)