A Hunter's Supernatural Guide to Disastrous Dating von Platypusaurus (Don't cry, Miss American Pie!) ================================================================================ Kapitel 1: Was vor dem Date geschah ----------------------------------- Sam erwachte nach vier wohlverdienten Stunden Jägerschlaf mit ausgesprochen guter Laune. In aller Frühe machte er sich zu seiner üblichen Laufrunde auf, genoss den Sonnenaufgang über dem Waldrand und das kühle Prickeln des Morgentaus, wenn das hohe Gras am Wegesrandes seine Schienbeine streifte. Der Tagesanbruch war frisch und klar, doch bereits so warm, dass er den Bunker wohlweislich in Shorts und T-Shirt verlassen hatte. Die Bewegung an der frischen Luft vertrieb schnell Müdigkeit und Muskelschmerzen aus seinen Gliedern und für 45 köstliche Minuten konzentrierte Sam sich ganz und gar auf seinen Lauf und die Natur um sich herum. Er überquerte die Landstraße, die die Abgeschiedenheit des Bunkers nach einigen Meilen mit fast so etwas wie Zivilisation verband, und folgte ihrem Verlauf in östlicher Richtung. Als er ein gutes Stück zurückgelegt hatte und die nächste Ortschaft in Sicht kam, fielen ihm die Plakate auf, die seit dem gestrigen Morgen und seiner letzten Laufeinheit am Straßenrand errichtet worden waren: Sie bewarben eine Art Festival oder einen Jahrmarkt und auf den meisten von ihnen waren Clowns abgebildet. Sam unterdrückte ein Schaudern und vermied für den Rückweg den Blick zum Straßenrand. Abgesehen davon war seine morgendliche Runde deutlich unbeschwerter als üblich, denn es gab keinen Fall, keine Arbeit, die ihm Sorgen bereitete. Aber vielleicht sollte gerade das ein Grund zur Sorge sein? Merkwürdig ruhig war es dieser Tage in der Welt des Übernatürlichen. Obwohl Sam pflichtschuldig die Nachrichten auf ungewöhnliche Aktivitäten verfolgte, hatte sich in den letzten Wochen kein Fall für die Brüder ergeben. Selbst seine Tracking Software, mit der er Ereignisse fern der Norm in den Staaten überwachte, meldete nichts. Ebenfalls seitens anderer Jäger gab es keine Neuigkeiten. Keinerlei Anrufe um Rat oder Unterstützung, von niemandem. Lediglich Eileen Leahy hatte sich gemeldet – bei Sam. Die Verspannungen und Schlaflosigkeit der vergangenen Nacht verdankte er den Stunden an seinem Laptop, auf dem er sich Lehrvideos über Gebärdensprache angesehen hatte, bis ihm die Augen zufielen. Denn am Nachmittag war er mit Eileen zum Kaffee verabredet. Ihr Videoanruf hatte ihn erfreut, ihre Einladung genug überrascht, so dass er, ohne groß darüber nachzudenken, zugesagt hatte. Das war vor drei Tagen gewesen; genug Zeit also, um sich wegen eines harmlosen Kaffees so verrückt zu machen, dass Sam am Ende nicht einmal mehr wusste, ob Eileen einen Anlass für die Verabredung genannt hatte oder ob es tatsächlich als das gemeint war, wonach es sich für ihn anfühlte. Allerdings waren dies herrlich irdische, menschliche Sorgen und Sam empfand es fast als Wohltat, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Verschwitzt und zufrieden mit sich, zumindest für den berauschenden Moment des Läuferhochs, kehrte er zum Bunker zurück, der sich in angenehmes Schweigen hüllte. Sam war dankbar dafür, als er nach ein paar abschließenden Dehnübungen die Küche betrat, um Kaffee aufzusetzen. Er hatte niemandem etwas davon erzählt, dass er heute (möglicherweise) ein Date hatte. Dazu fühlte sich die ganze Sache einfach viel zu unsicher, die Ruhe zu flüchtig für ihn an.   Ein freier Nachmittag, so verführerisch die Vorstellung auch noch nach wochenlanger Arbeitspause sein mochte, konnte schnell in einem Vampirnest oder einem Hexenzirkel enden. Oder schlimmer: Eine Andeutung zu viel konnte Dean zu gnadenlosen Sticheleien herausfordern. Alles Dinge, denen Sam natürlich mehr als gewachsen war. Er kannte die Hebel seines Bruders, um ihn in dessen wohlverdiente Schranken zu weisen. Und mit ein paar Vampiren oder Hexen nahm er es genauso mit links auf. Aber darum ging es ihm nicht. Er wünschte sich etwas Frieden, ein kleines, unschuldiges Geheimnis, nur für sich allein. Allzu gut wusste er um die Zerbrechlichkeit von Normalität, die sein Alltag nahezu nie für ihn bereit hielt. Andererseits war er noch nie mit einer Jägerin ausgegangen und vielleicht war dies ein großer Vorteil, dass sie die Welt und das Leben des jeweils anderen kannten. Dass sie beide ein ganz ähnliches Schicksal miteinander teilten. Man konnte sich auf einer Ebene kennenlernen, die sich vielleicht für fünf Minuten wie diese Normalität anfühlen mochte, nach der er sich sein Leben lang sehnte. Wenn da bloß nicht diese Zweifel blieben, ob es denn überhaupt ein Date war. Er wischte sich gerade mit dem Saum seines Shirts den Schweiß aus den Augenwinkeln, als er hinter sich eine vertraut tiefe, ruhige Stimme sagen hörte: „Guten Morgen, Sam.“ Die Sohlen seiner Laufschuhe quietschten leise, als er sich auf den Ballen herumdrehte und er sah sich Castiel gegenüber, der ihn mit schief gelegtem Kopf und üblich fragendem Ausdruck musterte.   Castiel steckte in einer dunklen Jogginghose, die, der annähernd passenden Größe nach zu urteilen, wohl Dean gehörte. Um seinen Oberkörper schlotterte ein alter College Sweater von Sam, dessen Saum ihm bis zu den Oberschenkeln reichte; ein ausgewaschenes graues Ding, mit dem Emblem von Standfords Basketballteam über der Brust. Ein weiteres Erinnerungsstück an die Normalität, die er nicht haben durfte. Sam schob die wehmütigen Gedanken von sich, schenkte Cas ein freundliches Lächeln und erwiderte die Begrüßung mit einem Nicken. „Du bist schon auf?“, fragte er, während er sich die Hände im Spülbecken wusch und holte anschließend zwei Tassen aus dem Schrank, die er zwischen sich und den Engel auf den Küchentisch schob.   Einige Monate waren vergangen, seitdem Castiel sein Mojo eingebüßt hatte. Diesmal schien es endgültig. Es war ein hartes Stück Arbeit für alle Beteiligten, den Engel erneut an seine unfreiwillige Menschlichkeit zu gewöhnen. Nicht, dass dieser davon nach außen hin viel Aufhebens gemacht hätte. Ein wenig half es, Cas daran zu erinnern, was er beim letzten Mal an der veränderten, eingeschränkten Wahrnehmung zu schätzen gewusst hatte. Und viel war davon nicht übrig geblieben, da nahezu jede seiner vereinzelt positiven Erfahrungen getrübt worden war, befleckt durch Verrat, Enttäuschung und Verluste. Geblieben waren ihm lediglich bescheidene Dinge, Kleinigkeiten. Menschlicher Geschmacks- und Geruchssinn. Netflix. Träume, Gefühle. Und gerade diese beiden konnten dafür sorgen, dass er den unkontrollierbaren, so viel kleineren Geist seines menschlichen Daseins als Last empfand.   Nächte gestalteten sich, wie früher oder später für jeden, der das Leben eines Jägers führte, als besondere Herausforderung. Entweder hielt er sich stundenlang vom Schlafen ab, flüchtete sich in unzählige Folgen dramatischer Fernsehserien oder zwischen die staubigen Seiten alter Schriftsammlungen. Oder er gab sich den Eindrücken von Dunkelheit und Sternenhimmel hin, gegenüber derer er sich als Mensch winzig und unbedeutend vorkam, obwohl sie doch nur ein schwaches Echo dessen waren, was er als Engel in irdischen Nächten wahrgenommen hatte. Wenn er Glück hatte, schlief er vor Erschöpfung ein. Manchmal legte Castiel sich besonders früh zur Ruhe, um seinem schwachen Körper und mickrigen Geist Regeneration zu verschaffen. Nur, um dann besonders früh aufzustehen und den Sonnenaufgang und das Erwachen der Natur zu beobachten. Zu jeder Tageszeit konnte es schmerzlich sein, Gottes Schöpfung aus einem Blickwinkel zu bewundern, für den er nicht geschaffen war.   Castiel schien seine Antwort einen Moment abzuwägen, bevor er sagte: „Ich habe nicht geschlafen.“ Die dunklen Ringe unter seinen großen tiefblauen Augen sprachen definitiv dafür und Sam seufzte mitfühlend. „Gewollt oder weil du nicht konntest?“ Die Kaffeemaschine fauchte hinter ihnen und stieß heißen Dampf und verführerischen Duft aus. „Das eine führte zum anderen und plötzlich war es sieben Uhr“, sagte Cas, während sein Blick sehnsüchtig dorthin wanderte, wo schwarzes Glück geräuschvoll in die Kanne aus Edelstahl tröpfelte.   Auch hierfür hatte Sam mehr als Verständnis und er drückte kurz Castiels Schulter. „Dann wird es heute Nacht sicher besser!“, sagte er, aufmunternd zwischen Kaffee, Tassen und Cas gestikulierend. „Bedien dich! Ich gehe erst mal duschen. Aber dann können wir zusammen frühstücken, wenn du möchtest?“ Ein kaum merkliches Lächeln ließ die Mundwinkel des übernächtigten Engels zucken und er nickte dankbar. „Das würde mich sehr freuen, Sam.“ Als Sam tropfend und nur in ein Handtuch gewickelt die Dusche verließ, erwartete ihn eine Nachricht auf seinem Smartphone. Eilig trocknete er sich die Hände ab, um das Display zu entsperren. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sah, dass die SMS von Eileen stammte. Eileen L. [07:04AM]: Guten Morgen! :) Bleibt es bei unserer Verabredung oder funkt die Arbeit dazwischen?  Sam konnte nicht verhindern, dass ihn eine ungeahnte Vorfreude ergriff. Diese simple Nachricht erschien so unkompliziert und gleichermaßen vielversprechend. Vielleicht interpretierte er zu viel in die wenigen Worte hinein, aber er las daraus sowohl Verständnis für den Job, als auch Eileens Wunsch, ihn tatsächlich und vor allem darüber hinaus zu sehen. [07:36AM]: Guten Morgen! :) Grünes Licht für unser Treffen und sollte der Job uns noch in die Quere kommen, würde ich mich sehr über Teamwork freuen! ;) Er tippte euphorisch auf Senden, das Lächeln noch im Gesicht, während er sich anzog. Als er sich die Haare mit einem Handtuch trocken rubbelte, überkamen ihn aber erneut Zweifel. War das vielleicht zu viel des Guten gewesen? War es aufdringlich, respektlos, dass er erwartete, sie würden schlimmstenfalls gemeinsam jagen? Bei ihrem Telefonat hatten sie noch darüber gesprochen, wie übernatürlich ruhig es zurzeit in der Welt des Übernatürlichen war … Sam hatte keine Zeit, sich in Grübeleien zu verlieren, denn sein Handy summte, nun aus der Hosentasche der frischen Jeans heraus, in die er soeben geschlüpft war, und nahm ihm mit Eileens Antwort schnell die Bedenken. Eileen L. [07:48AM]: Ein Date ganz nach meinem Geschmack! :P Ein echtes Date. Die Vorfreude kehrte zurück und mit ihr wieder diese lästige Unsicherheit. Wenn Sam ehrlich war, hatte er seit dem College keine Verabredung dieser Art mehr gehabt. Dates und das Dasein als Jäger – beides wollte einfach nicht zusammen passen, so sehr er es auch drehte und wendete. Dates bedeuteten, dass man einander kennenlernen wollte, um zu entscheiden, ob es, nun ja ... passte. Das war zumindest Sams Definition von ihnen und selbst Dean würde ihm da nur zustimmen können. Nicht, dass sein Bruder bei Frauen die gleichen Absichten verfolgte, aber der Prozess des Abgleiches von Kompatibilität (ob nun fürs Bett oder für eine Beziehung) wies eine erstaunliche Überschneidung auf. Und wenn man einmal davon absah, dass Dean die Information, dass Sam sich mit Eileen traf, nicht wie ein normaler Mensch würde verarbeiten können, sondern vielmehr kindische Witze riss – auf einen brüderlichen Rat baute er nicht. Dean wusste unter keinen Umständen mehr über Dates als Sam, obwohl der ältere Winchester als Teenager zweifelsohne massenhaft Verabredungen gehabt haben musste. Seit des Lebens als Vollzeitjäger zählte auch dieser bisweilen recht ungemütliche gesellschaftliche Tanz nicht mehr zur Routine Deans, wenn er eine unverbindliche Nummer schieben wollte.   Sam war über 30 und es war lächerlich, dass er sich über etwas so Harmloses dermaßen den Kopf zerbrach – oder nicht? Andererseits ... Gleichgültig, welches Ziel man bei der Partnerwahl als Jäger verfolgte: Jeder Erfolg war kurzweilig, mehr oder minder intensiv und endete unter Garantie schmerzhaft für alle Beteiligten. Mit Amelia hatte Sam überhaupt erst keine Dates gehabt. Sie waren nicht großartig ausgegangen, bevor sie miteinander im Bett gelandet waren, hatten aber schnell festgestellt, dass ihr jeweiliges Leid miteinander kompatibel war. Ähnlich, wie bei Dean und Lisa, wie Sam annahm. Diese Frauen waren zufällig zum richtigen Zeitpunkt zur Stelle gewesen und hatten sich, so verrückt es auch klingen mochte, zu Beziehungen mit ihnen bereiterklärt. Wussten nicht in vollem Maße, worauf sie sich mit ihnen einließen. Hatten für die Dauer der jeweiligen Verbindung ein wenig Schmerz lindern können; etwas weniger vielleicht, als Sam und Dean ihnen im Endeffekt zufügten. Nicht wirklich ein fairer Austausch, und am Ende war beiden Männern nichts anderes übrig geblieben, als sie zurück zu lassen, um sie – und vermutlich noch viel mehr sich selbst – zu schützen. Sollte Eileens Einladung eine neue Chance sein? Sam wusste nicht, was er mit einer solchen anfangen sollte. In seinem Kopf hatte er bereits zu viele Chancen erhalten, sie nicht ergriffen oder schlicht und ergreifend versagt und plötzlich fühlte er sich winzig in den tristen Gängen des Bunkers, als er sich mit feuchten Haaren auf den Weg zurück in die Küche machte. Der Anblick eines einfach, aber liebevoll gedeckten Tisches, als er dort ankam, brachte ihn für den Moment auf andere Gedanken: Cas hatte ihm die Packung seines Lieblingsmüslis zusammen mit der Milchflasche und einem frischen Apfel an seinen Platz gestellt. Der Engel selbst hing bereits wie ein nasser Sack auf dem gegenüberliegenden Stuhl, vor sich die Plastiktüte Sandwich-Scheiben und Schraubgläser mit Erdnussbutter und Gelee.   Je mehr Zeit verstrich, seitdem Cas seine Gnade eingebüßt hatte, desto mehr verlor er an seiner steifen Haltung. Nichts bewahrte seine menschliche Hülle nun vor Schmerzen und Verschleiß. Eine durchwachte Nacht bedeutete für ihn nicht mehr Normalität, sondern Belastung für Kreislauf und Gliedmaßen. Jimmy Novaks Körper entsprach nicht Castiels wahrem Erscheinungsbild, aber seitdem Jimmy verstorben war und er dessen verlassenes Hirn allein und auf einer nahezu menschlichen Ebene bewohnte, hatte sich einiges für den Engel geändert. Die humanoide Gestalt fühlte sich nun nicht mehr zu klein und marionettenhaft unter seinem Willen an. Er hatte vielmehr das Gefühl, in diesem Körper zu schwimmen, der immer mehr zu seinem eigenen wurde.   Castiel sprach es niemals in dieser Deutlichkeit aus: Engel zu sein und zugleich Mensch zu werden, verunsicherte ihn zutiefst, erschütterte ihn in seinem Dasein, aus dem er so unbarmherzig verdrängt worden war, sich nun mit einer neuen Form der Existenz auseinandersetzen musste. Sam wusste im Groben vom Kummer seines Freundes. Manchmal, wenn sie sich in einer allzu langen und einsamen Nacht zufällig in der Bibliothek über den Weg gelaufen waren, war der Engel ein wenig ins Erzählen gekommen. Hatte seine Sorgen mit Sam darüber geteilt, wenigstens angedeutet, dass er spürte, wie die Kapazitäten seines ehemals himmlischen Geistes immer mehr in sich zusammenfielen. Verblassende Erinnerungen, die stark auf Menschlichkeit zusammengeschrumpfte Wahrnehmung. Der Schmerz des Verlustes seines wahren Selbst. Einen Rat hatte Sam dafür natürlich nicht, aber ein offenes Ohr und seine Zeit schenkte er Cas gern; beides Dinge, die dieser nahezu nie für sich selbst einforderte. Tiefe Zuneigung breitete sich warm in seinem Inneren aus, als er den müden Cas und dessen kleine Geste betrachte. Mit einem dankbaren Lächeln setzte er sich zu ihm an den Tisch und schenkte sich Kaffee ein. „Wie sieht's mit etwas Schlaf nach dem Frühstück aus?“, schlug Sam über das Klimpern der Cerealien in seiner Schüssel hinweg vor. Cas schüttelte den Kopf und verteilte sparsam und bedächtig Erdnussbutter auf seinem Brot. „Ich bin heute mit Dean verabredet“, antwortete er als Erklärung, als er reichlich unbeholfen mit dem Deckel des Gelee-Glases kämpfte. „Er nimmt mich mit zum Einkaufen. Dean ist der Meinung, ich brauche eigene Kleidung und ich habe ihn gebeten, mich anschließend in einen Baumarkt zu begleiten.“ Sam beobachtete Cas' erfolglose Versuche mit dem Deckel einen Moment lang schmunzelnd und konnte nicht umhin, ein wenig Anerkennung für seinen Bruder zu empfinden. Dass Castiel seine eigene Garderobe bekam, wurde höchste Zeit und dass Dean sich außerdem die Mühe machte, dem Engel den schlichten Wunsch nach einem Besuch im Baumarkt zu erfüllen, war darüber hinaus eine nette Aufmerksamkeit. Bevor Sam danach fragen konnte, ob Cas etwas Bestimmtes aus dem Baumarkt wollte, hielt der ihm mit leichter Verzweiflung und unausgesprochener Bitte in den übernächtigten Augen das Glas unter die Nase. Sam ergriff es über dem Tisch und öffnete es mit einer einzigen, kurzen Handbewegung. „Danke, Sam“, seufzte Cas und bediente sich am Traubengelee, seiner ungeschlagenen Lieblingssorte. „Wie sehen deine Pläne für den Tag aus?“ Die Frage war nett gemeint und aus unverfänglichem Interesse heraus gestellt, dennoch zögerte Sam bei der Antwort. So sehr er seine Verabredung als kleines Geheimnis für sich hatte bewahren wollen, desto ungern wollte er Castiel anlügen. Irritierenderweise spürte er trotzdem, wie sich Verlegenheit auf seine Wangen legte und er kam sich plötzlich wie ein dummer Teenager vor, der seinen Eltern die erste Schwärmerei beichten sollte. Ein Glück, dass Dean sich noch nicht hatte blicken lassen!   „Ich bin nachher zum Kaffee verabredet“, sagte er also wahrheitsgemäß. „Mit Eileen. Leahy. Der Jägerin.“   Castiel hielt bei dieser Antwort damit inne, sein Sandwich sorgfältig in Dreiecke zu halbieren und musterte die Röte in Sams Gesicht mit mildem Interesse. „Eine Verabredung?“, fragte er unumwunden und etwas von seiner Müdigkeit schien sich in Luft aufzulösen. „Wie ein ... Rendezvous?“ Sam zog ertappt die Schultern ein. Verblüffend, wie schnell der Engel ihn inzwischen durchschauen konnte. Metatrons Nachhilfe in Popkultur und die eigene Sucht nach Kultserien hatten ihn in kurzer Zeit so viel über die Feinheiten der menschlichen Kommunikation gelehrt, dass man bisweilen dazu neigte, ihn in seiner Auffassungsgabe zu unterschätzen. „Ich glaube schon“, gab Sam zu. „Aber, ähm ... es wäre sehr nett, wenn das hier unter uns bleiben könnte!“ Fast flehend sah er Cas über seine Kaffeetasse hinweg an. „Ich war noch nie mit ihr aus, ich hatte seit Ewigkeiten kein Date mehr und es ist wirklich keine große Sache. Ich möchte nicht, dass Dean ... dass er es missversteht.“ Castiel betrachte Sam noch einen Moment länger, bevor er zustimmend den Kopf neigte. „Hast du Angst, dass Dean es nicht ernst nimmt oder davor, dass er es zu ernst nimmt?“, fragte er schlicht. Sein Ausdruck verwandelte sich in ungewohnte Glückseligkeit, als er herzhaft in sein Sandwich biss und bedächtig zu kauen begann. Sam musste tatsächlich schlucken, ohne etwas von seinem Müsli im Mund zu haben. Mit dieser einfachen Frage hatte Cas den Nagel in jeder Hinsicht auf den Kopf getroffen und einmal mehr bewiesen, dass er beide Brüder bis auf die Nieren durchschaut hatte.   „Vielleicht beides ein bisschen“, gestand er dem Engel. „Ich erzähle es ihm, aber ich möchte erst abwarten, wie es wird ... Und mich nicht vorher schon deshalb verrückt machen, verstehst du?“ Castiel hatte soeben zum zweiten Mal die Zähne genüsslich in seinem Sandwich versenkt und gab nur ein gedämpftes „Hmm!“ von sich, aber es klang zustimmend.   Erleichtert, dass sie das Thema nicht weiter vertiefen mussten, widmete sich Sam seinem Müsli und genoss die vertraute, unkomplizierte und doch außergewöhnliche Gesellschaft beim Frühstück. Wie auch immer sich zu Hause anfühlen mochte – möglicherweise kam es diesem Gefühl schon recht nahe.   Es dauerte nicht lange, bis fernes Türenknallen und kurz darauf ein Schlurfen auf dem Gang ankündigten, dass Dean den Tiefschlaf besiegt hatte. Nun, zumindest die erste Runde hatte er gegen ihn gewonnen. Er erschien in nachlässig gebundenem Morgenmantel, unter dem Shirt und Boxershorts hervorblitzten, in denen er wohl die Nacht verbracht hatte. Sein kurzes Haar stand schlafzerzaust in allen Richtungen ab und das gepresste Grummeln aus seinem Mund ließ sich nur als unausgeschlafener Morgengruß übersetzen. Runde zwei: Dean versus Schlaf, auf in den Ring!, dachte Sam kopfschüttelnd. In nahezu übermenschlicher Geschwindigkeit hatte Cas sein Frühstück Frühstück sein lassen und Dean einen Becher dampfenden Kaffee in die Hände gedrückt, den dieser fast blind entgegen nahm. Mit zusammengekniffenen Augen nippte Dean daran, nuschelte einen unverständlichen Dank und ließ sich schwer auf den einzigen freien Hocker an den Tisch fallen. Obwohl er es inzwischen zu Genüge kannte, war Sam beeindruckt. Sein Bruder und der menschliche Engel besaßen eine schier unheimliche Dynamik, derer sie sich nicht im Geringsten bewusst zu sein schienen. Er hatte es aufgegeben, diesbezüglich etwas aus ihnen herauskitzeln zu wollen.   „Lange Nacht?“, fragte Sam und musterte die blutunterlaufenen Augen Deans, der den Eindruck erweckte, als gäbe es auf der ganzen Welt nur ihn und seinen Kaffee. „Mh, kurz“, widersprach er gedämpft und Sam beschloss, die Kommunikation mit seinem Bruder einzustellen, bis etwas mehr Leben in ihn zurückgekehrt war. Er warf einen amüsierten Blick zu Castiel, doch zu seiner Überraschung lächelte dieser eher gequält als belustigt zurück und er zuckte die Achseln. Dean war alt genug und selbst schuld, wenn er nächtelang um die Häuser zog, als wäre er noch in den Zwanzigern. Mitleid konnte er von Sam keines für seinen Kater erwarten.   Er beendete sein Frühstück schweigend und hatte sein benutztes Geschirr bereits zur Spüle getragen, als Dean genug zu sich gekommen war, um sich auf der Suche nach Essbarem tapsig zum Kühlschrank zu begeben. „Wann brechen wir auf, Dean?“, fragte Castiel, der ebenfalls zu spüren schien, dass Sams Bruder wieder unter den Lebenden weilte. „Nachmittag“, sagte Dean nur, ein Paket Frühstücksspeck und eine Schachtel Eier in beiden Armen zum Herd balancierend.   „Willst du mit, Sam? Baumarkt, Klamotten für Cas …?“ Sam verschluckte sich halb an seinem letzten Schluck Kaffee. Wieso hatte er eigentlich nicht damit gerechnet, dass Dean ihm anbieten würde, mitzukommen? Es war schließlich nicht so, dass er und Cas ihn, Sam, ausschlossen. Obwohl er sich mit ihnen schon manchmal wie das dritte Rad am Wagen fühlte … Akzeptiert, willkommen sogar, aber – überflüssig. „Ach nein, vielen Dank!“ Andererseits musste sich Cas mit beiden Brüdern gegenüber oft ähnlich fühlen. Wie man es auch drehte und wendete: Das Bindeglied zwischen ihnen in diesem seltsamen Dreiergespann, Team freier Wille, das war und blieb immer Dean.   Dean zuckte gleichgültig die Achseln, während er sich am Herd zu schaffen machte. Offensichtlich ohne eine richtige Antwort darauf zu erwarten, fragte er: „Schon was Besseres vor?“ Sams Blick suchte ertappt den von Castiel, nicht ganz sicher, ob er von diesem Unterstützung, Ablenkung oder Verplappern erwartete. Der Engel musterte sein Gesicht nur interessiert, die Fältchen um seine Augen kräuselten sich im Anflug eines Lächelns. „Könnte sein, ja ...“, probierte Sam es geknickt mit der Wahrheit.   Man musste Dean sehr gut kennen, um das winzige Innehalten seiner Bewegungen zu bemerken, das aufkommende Stirnrunzeln im von Müdigkeit noch verquollenen Gesicht. Zu ihrer beider Pech kannte niemand Dean besser als Sam, dessen Magen einen nervösen Satz machte. Er wollte nicht diskutieren, nicht streiten. Nicht darüber. Nicht mit Dean. Schon gar nicht jetzt.   „Fall oder Frau?“ Wie beiläufig eine Frage klingen konnte, von der alle Anwesenden wussten, dass sie es nicht war. Hatte einer der Brüder vor dem anderen ein Geheimnis, verhieß das niemals Gutes. Gute Stimmung schon gar nicht. „Eine Frau. Ein … Date“, presste Sam hervor und wappnete sich innerlich gegen Sticheleien. Von Cas erntete er ein beifälliges Kopfnicken. Der Engel schätzte Ehrlichkeit, nach wie vor.   Bitte versau es mir nicht, Dean, bitte lass mir das …   „Hm ...“ Dean schien sich auf sein Rührei zu konzentrieren. „Viel Spaß.“   „Viel Spaß? Das ist alles?“   „Was erwartest du von mir? Bleib anständig, tu nichts, was ich nicht auch tun würde? Schützt euch, Kinder?“   Dean lachte unanständig, aber Sam merkte, dass es aufgesetzt war. Er schnaubte.   „Fahrt nicht zu früh. Cas hat auch nicht geschlafen und sollte sich vorher ausruhen!“   Er hatte es gut gemeint, obwohl Cas‘ hochgezogene Schultern andeuteten, dass er sich offenbar irgendwie verraten fühlte. Das tat Sam leid, aber erwiesenermaßen war niemand im Bunker in der Lage, angemessen für sich selbst zu sorgen. Manchmal musste man sich dafür eben gegenseitig in die richtige Richtung schubsen. Sam sah zu, dass er sein Geschirr spülte und bekam gerade noch mit, wie ein missgelaunter Dean Castiel zwischen eigenen unterdrücktem Gähnen eine Standpauke über die Notwendigkeit von genügend Schlaf hielt. Destruktivität und Doppelmoral. Herrlich.   Beinahe aus Gewohnheit vertrieb sich Sam die Zeit bis zu seiner Verabredung in der Bibliothek. Nachdem er erneut Nachrichten und Überwachungsprogramme überprüft hatte, kam er zu dem Schluss, dass die Ereignislosigkeit eigentlich nur das Luftholen vor der nächsten Apokalypse bedeuten konnte. Ob Himmel, Hölle oder etwas dazwischen – irgendjemand (oder etwas) steckte vermutlich bis zur abstoßenden Fratze in Herrschaftsplanungen oder zog die Fäden für den neuen Weltuntergang. Was blieb ihm anderes übrig, als Augen und Ohren offen zu halten und darauf zu warten, dass etwas in der Welt passierte, das noch verdächtiger war, als diese Episode erzwungener Untätigkeit? Es gab keinen Hinweis darauf, wonach er Ausschau halten sollte.   Mehr oder minder beruhigt vergrub sich Sam erneut hinter Lehrvideos und gab sich Mühe, die Gebärden aller Höflichkeitsfloskeln, die in einer Unterhaltung auftauchen konnten, zu perfektionieren. So verging die Zeit recht schnell und während er sich für seine Verabredung frisch machte und sich penibel die Zähne putzte, überlegte er, wie er am besten zum Café käme. Da Dean und Cas selbst Pläne hatten, fiel der Impala, auf den er insgeheim spekulierte hatte, definitiv weg, aber es war nicht so, dass die Garage des Bunkers nicht genug Alternativen inpetto gehabt hätte. Wobei die meisten davon vielleicht ein wenig zu sehr nach Oldtimer-Fanatiker schrien. Und er befürchten musste, ohne Extragenehmigung zum Fahren bei einer Kontrolle in Schwierigkeiten zu geraten. Andererseits beherbergte die Garage inzwischen nicht nur den 67er Chevrolet Impala und die Autos und Zweiräder der Men of Letters, sondern auch den rostigen alten Pickup Truck, den Cas vor einiger Zeit aufgegabelt hatte. Zusätzlich zu dessen goldenem 78er Continental Mark V Lincoln, doch dieses Auto, das den Namen nicht einmal verdiente, stand für keinen der Winchesters als akzeptables Transportmittel zur Diskussion. Missmutig kaute Sam auf den Innenseiten seiner Wange herum, während er mit einer schnellen Handbewegung sein Haar vor dem Spiegel ordnete. Vermutlich sollte er sich nicht so anstellen und Dean einfach um sein Auto bitten.   Er hatte gerade den Entschluss gefasst, sich auf die Suche nach seinem Bruder zu machen, als er laute Stimmen aus dem Strategiezimmer hörte. „So nehm‘ ich dich nicht mit, Cas, vergiss es!“, beschwerte Dean sich lautstark. Sam beeilte sich, dazuzustoßen und als er sie erreichte, konnte er ein Losprusten gerade noch als Räuspern tarnen.   Dean hatte es wohl in der Zwischenzeit geschafft, zu duschen und sich anzuziehen. Jeans, schwarzes Shirt, Flanell (Karos in rot-weiß), Schnürboots – alles wie immer. Cas hingegen … sah nicht wie immer aus. Weder trug er den alten Trenchcoat, den er seit Beginn seiner neuen Menschlichkeit immer häufiger ablegte, noch das schlabberige Outfit vom Morgen. Er steckte in verwaschenen Jeans, schweren Schnürstiefeln und einem schwarzen Shirt unter einem rot-weiß-karierten Flanellhemd. An sich nicht außergewöhnlich, wenn man mit zwei Winchesters unter einem Dach lebte und sich aus ihren Kleiderschränken bediente. Das Problem dabei war nur, dass er aussah, als hätte er versucht, Dean zu imitieren.   „Aber wenn du es trägst, ist es in Ordnung“, stellte Castiel irritiert fest und zupfte fragend an Deans Hemdsärmel herum. Sam musste sich zusammennehmen, um nicht laut loszulachen. Dean machte ein Gesicht, als hätte er in die sauerste aller Zitronen gebissen und riss sich aus Cas‘ Griff los. „Es ist in Ordnung, wenn nur ich es trage, Cas!“, zischte er und vermied es offensichtlich, in Sams Richtung zu sehen. „Der Twin-Look war schon bei Britney und Justin out! Und. Wir. Gehen. So. Nicht. Zusammen. Raus!“   Sams Augen schwammen vor unterdrücktem Lachen in Tränen, die Muskeln in seinen Wangen ziepten vor Anstrengung, die Kontrolle über seine Züge zu wahren. Die tiefen Augenringe des Engels waren etwas verblasst. Anscheinend hatte er sich seit dem Frühstück etwas erholen können. Auch Deans derzeit rot angelaufenes Gesicht wirkte weniger verquollen und übernächtigt. Bereit für ihren Ausflug schienen die zwei trotz allem nicht gerade. Cas sah so zerknirscht und ratlos aus („Wer sind Britney und Justin?“), offensichtlich besorgt, der Grund dafür zu sein, dass Dean wütend war und … sich schämte? Mitleid überkam Sam; der Drang zu lachen, verebbte. Es war schwer, mitanzusehen, dass Deans Reaktion auf Cas ihm Kummer bereitete.   „Geh dich umziehen!“, forderte Dean mit vor der Brust verschränkten Armen. Mit hängenden Schultern schlurfte Castiel den Gang entlang Richtung Deans Zimmer, um das Hemd gegen ein anderes zu tauschen und Sam nutzte die Gelegenheit, mit seinem Bruder allein zu sein.   „Meinst du nicht, du bist ein bisschen zu hart zu ihm? Er gibt sich solche Mühe“, begann er vorsichtig. Dean verzog das Gesicht, schien aber zuzuhören. „Sieh mal, Cas freut sich wirklich, dass du ihn mitnimmst … Er verbringt gerne Zeit mit dir und ist so dankbar, dass du ihm hilfst. Verbock‘s nicht.“ Ein Augenrollen und ein genervter Seufzer, allerdings kein bissiger Kommentar und das hieß schon eine ganze Menge. Es war genau das, was Sam sich gedacht hatte: Cas war und blieb eben immer Deans wunder Punkt, das, was den Jäger sanft werden ließ, wenn man ihn richtig damit erwischte.   „Ich versuch‘s. Aber das war so bescheuert … Wieso rafft er das denn nicht?“   „Er bewundert dich eben, Dean! Er will dir gefallen und er glaubt, wenn er das tut, was du magst, erreicht er das.“   Die Verbindung zwischen Dean und dem Engel war nicht mit der der Brüder zu vergleichen, das hatte Sam längst begriffen. Sie beruhte weniger auf blindem Verständnis für die Denkweise des anderen. Nicht darauf, das letzte Bruchstück von Familie und Zuhause füreinander zu sein, nicht darauf, die Grenzen zwischen Eltern, Brüdern, Gegnern, Einheit immer wieder verwischen und einreißen zu lassen. Vielmehr befanden Castiel und Dean sich in einem gänzlich anderen emotionalen Spektrum zueinander. Vermutlich in einem, das man nur betrat, wenn einer von beiden die Seelenbruchstücke des anderen aus der Hölle zog und wieder zusammenfügte. Wenn man sich gegenseitig oft genug verließ, enttäuschte, tötete, heilte, verlor, rettete. Wenn man genug getrauert hatte, gemeinsam oder umeinander, auf eine Art wie es Brüder nicht taten. Wenn man gemeinsam dem Fegefeuer entkommen war. Sam hatte das vor langer Zeit verstanden. Und so, wie er und Dean sich kannten, eben auf eine gänzliche andere Weise, wusste Sam, dass sein Bruder nicht bereit war, diesen Unterschied zu akzeptieren. Vielleicht war es einfacher für ihn, Cas oberflächlich als einen zweiten Bruder zu sehen. Schließlich hatte er gelernt, dass sein Bruder der einzige war, den er niemals ganz und gar verlor.   „Gut, dass er endlich was eigenes zum Anziehen bekommt!“, unterbrach Sam Deans Schweigen möglichst diplomatisch. Er rechnete sich immer noch eine geringe Chance auf den Impala aus und die wollte er sich auf keinen Fall verspielen. „Apropos. Wenn ihr danach in den Baumarkt wollt, wäre es dann nicht einfacher, wenn ihr Cas‘ Pickup nehmt?“ Er atmete tief durch, sich des Misstrauens, das unmittelbar nach der Frage über Deans Gesicht flackerte, wohl gewahr.   „Du willst Baby“, stellte Dean trocken fest und löste die verschränkten Arme. Nein. Sie konnten einander definitiv nicht überraschen. Sam schloss kurz die Augen, legte sich die nächsten Worte in seinem Kopf zurecht. Überraschenderweise kam Dean ihm zuvor. „Kenne ich sie?“, fragte er, bevor Sam den Mund aufmachen konnte. Seine Stimme klang erstaunlich ruhig, leise, fast schon behutsam für seine Verhältnisse.   „Dein Date?“   Sam zögerte. Er hatte sich nach diesem kleinen Geheimnis gesehnt, hatte abwarten wollen, wie sich alles entwickelte. Befürchtet, dass Dean zu kindisch reagieren würde, als dass er diese Information mit ihm teilen konnte. In diesem Moment fühlte es sich allerdings nicht so an, als wäre die Neuigkeit bei ihm in den falschen Händen. Was sich natürlich noch jederzeit ändern konnte. Dean war launisch.   „Eileen hat mich gefragt, ob ich mit ihr Kaffee trinken gehe“, gestand Sam schließlich. Erstaunlicherweise war es eine kleine Erleichterung, es nicht weiter vor seinem Bruder verheimlichen zu müssen. „Eileen?“, wiederholte Dean überrascht und Sam konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Zusammenhänge, Erkenntnisse … und am Ende wirkte der Blick, den er ihm schenkte, nahezu sanft und er nickte, so als wäre Sams Verabredung die logischste Sache der Welt.   „Die Regeln für Baby?“   Sam blinzelte perplex, lächelte dann aber dankbar.   „Keine Tiere oder kleine Kinder im Wagen. Kein Sex in oder auf dem Auto. Keine Lebensmittel, die Flecken machen können. Keine Kratzer oder Dellen, keine Unfälle. Nicht unter blühenden Bäumen parken, nicht falsch parken, nicht blitzen lassen. Niemand anderen außer mir ans Steuer lassen …“, betete Sam mit nicht ganz ernst gemeintem Augenrollen herunter und zählte dabei die einzelnen Punkte an den Fingern ab.   „Habe ich was vergessen?“ Dean hatte zu jedem Punkt nachdrücklich genickt. Als Sam sich unterbrach, starrte er ihn entrüstet an. „Fast das Wichtigste! Nicht die falsche Musik hören! Kapitel 2: Warum ein Winchester kein Date haben sollte ------------------------------------------------------ Sam ließ das Radio auf dem Weg zum Café wohlweislich ausgeschaltet. Zwei Meilen gegen den Wind witterte Dean, wenn man den Sender im Auto verstellte, und wenn es nur für die Dauer eines Songs war. Dafür hatte Sam jetzt wirklich keinen Nerv. Die Nervosität und Vorfreude über seine Verabredung beschäftigten ihn mehr als genug – und die Plakate am Straßenrand. Die clownträchtige Veranstaltung in der Gegend, die auf seinem Weg so massenhaft beworben wurde, hatte er am Morgen mit etwas größerem Erfolg ignoriert; nun konnte er in der Ferne ein Riesenrad ausmachen.   Sam war vor Dean und Cas abgefahren und hatte den Festumzug, der zum Jahrmarkt gehörte, um Haaresbreite verpasst. Warum sollte er nicht auch einmal Glück haben dürfen? Er schüttelte beim Fahren den Kopf, um das Bild der viel zu fröhlichen, überschminkten Gesichter aus seinem Kopf zu vertreiben und wählte schließlich zur Ablenkung das Tape von Dean, das noch im Rekorder des Autos steckte. Don‘t Cry von Asia schallte ihm viel zu laut entgegen und er fuhr kurz zusammen, bevor er mit den Schultern zuckte und lediglich die Lautstärke etwas herunter drehte.     Hard times you had before you I knew, when I first saw you You, girl, you've always been mistreated, cheated So leave it all behind you It took so long to find you I know that we can last forever, ever and more     Sam unterdrückte ein Schaudern. Unbewusst verband er nichts Gutes mit dieser Art von Musik, obwohl er nicht behaupten konnte, das Lied nicht zu mögen. Wenigstens Dean wäre davon begeistert, dass er Asia hörte und seltsamerweise fühlte er sich durch den Gedanken ermutigt. Dass sein Bruder ihm Baby überlassen hatte, war wie die stillschweigende Befürwortung der Verabredung und das Gefühl von familiärer Unterstützung tat gut. Nicht, dass Sam etwas darauf gegeben hätte, wenn Dean anders auf sein Date mit Eileen reagiert hätte. Niemandes Meinung war ihm wichtiger, aber es gab durchaus Grenzen!   Als er den Refrain mitzusummen begann, fing es draußen an zu regnen. Ein warmer, schwacher Sommerregen in sich allmählich abkühlender Luft. Erneut zuckte er die Achseln und schaltete die Scheibenwischer auf der niedrigsten Stufe ein. Jetzt konnte ihm nichts mehr so schnell die Laune verderben.   *   Sie waren kaum fünf Minuten unterwegs, als Deans ohnehin unterirdische Laune erneut auf die Probe gestellt wurde. Die letzte Nacht machte ihm schwerer zu schaffen, als ihm lieb war. Weil keine Uhrzeit vereinbart worden war, hatte er sich den Wecker stellen müssen, um nicht ausgerechnet den Tag zu verschlafen, an dem er mit Cas verabredet war. Drei auch noch unterbrochene Stunden Schlaf waren selbst für einen Jäger zu wenig, Dean war keine 20 mehr! Entgegen Sams unausgesprochenem Vorwurf hatte er seine Nachtruhe stattdessen allerdings weder durchzecht, noch in weiblicher Gesellschaft verbracht.   Dean stieß ein missmutiges Schnauben aus. Den Impala hatte er Sam gern überlassen, schließlich gönnte er seinem kleinen Bruder die Auszeit. Und Eileen war großartig. Stark, unabhängig, klug. Gut für Sammy.   Trotzdem war er manchmal ein echtes Miststück. Außerdem fühlte Dean sich grundsätzlich unwohl, wenn er auf ein anderes Auto angewiesen war und nicht einmal selbst hinters Steuer durfte. Cas fuhr – immerhin war es sein Truck – und Dean hatte bereits seit der Abfahrt damit zu kämpfen, dass der Engel ihn knochentrocken zitiert hatte, als es an die Auswahl der Musik während der Fahrt ging: „Der Fahrer sucht die Musik aus. Der Beifahrer hält die Kuchenluke.“   Das Problem dabei war weniger Cas' Musikgeschmack (um ehrlich zu sein, waren Sams gelegentliche Geschmacksverirrungen deutlich schlimmer), sondern vielmehr Deans Trotz. Nein, da sie Cas' Auto nahmen, konnte er nicht damit argumentieren, dass sein Baby Schäden durch die falsche Musik davon trüge und in seinen Ohren war nun einmal fast alles falsch, was er nicht selbst ausgesucht hatte. Don McLean schepperte in bittersüßer Ohrwurm-Manier aus dem in die Jahre gekommenen Autoradio und Dean war verbissen damit beschäftigt, sich von „Bye, bye, Miss American Pie …“ nicht zu rhythmischem Fingertrommeln hinreißen zu lassen. Das fehlte gerade noch!   Seitdem er Cas dazu verdonnert hatte, sich umzuziehen, war die Stimmung insgesamt etwas ungemütlich. Oder vielmehr lag es an dem, was Sammy ihm beim Abschied mit auf den Weg gegeben hatte: „Sieh nicht zu vielen Frauen hinterher, wenn du mit Cas unterwegs bist. Konzentrier dich ein bisschen auf ihn!“   Das waren seine Worte gewesen, sobald er Dean den Autoschlüssel aus den Fingern gezogen hatte. Ein unwirsches Prusten, das er nicht zurückhalten konnte, ließ ihn sein finsteres Schweigen durchbrechen.   Womit Sam sich die Nächte derzeit um die Ohren schlug, wusste Dean nicht, da es nun mal keine Fälle gab, in deren Recherche er sich, wie üblich, verlieren konnte. Er selbst investierte seit einigen Wochen den Großteil seiner abendlichen Freizeit in die verbissene Suche nach Informationen über ... gefallene Engel. Wege zu finden, wie man Castiel, einem Engel des Herrn, der zu einem menschlichen Leben mit den Winchesters verdonnert war, helfen konnte. Oder ihm besagtes Leben wenigstens so angenehm wie möglich machte. Aber davon musste Sam nicht unbedingt wissen und bevor er nicht zu anständigen Ergebnissen gekommen war, wollte er es auch vor Cas geheim halten.     Did you write the book of love And do you have faith in God above If the Bible tells you so?     Egal, wie zu Hause Dean sich im Bunker fühlte, manchmal war es leichter, sich mit dem Laptop in die Anonymität eines Pubs zu verkriechen. Wie konnte man Sam die Annahme verübeln, Dean übertreibe es mit dem Ausgehen? Die Bibliothek hatte Sammy ohnehin quasi als sein Eigentum deklariert; ganz ähnlich, wie Dean die Küche. Also war die einzige unbeobachtete Zeit, die ihm für eine ungestörte Recherche blieb, nur, wenn sein Bruder den Bunker unmenschlich früh zum Laufen verließ und Cas sein nächtliches Rumoren endlich beendete. Was frühes Aufstehen trotz langen Aufbleibens bedeutete.   Do you believe in Rock and Roll? Can music save your mortal soul? And can you teach me how to dance real slow?     Deans Finger zuckten unfreiwillig. Er war auf einmal unbeschreiblich zappelig, denn noch nie in seinem ganzen Leben hatte er „Do you believe in Rock and Roll? Can music save your mortal soul?“ hören können, ohne diese Zeilen aus tiefster Überzeugung mitzuschmettern. Er kam nicht dazu, sich weiter darüber zu ärgern, dass sein Protest gegen die Der-Fahrer-entscheidet-über-die-Musik-Regel ihn zu selbstverschuldetem Schweigen verdonnerte. Neben sich hörte er eben jenen Fahrer, der just in diesem Moment die Lautstärke aufgedreht hatte, selbst die Worte mitsingen, die unbändig, aber ungesungen, auf Deans Zunge zu tanzen schienen. Ein beschämtes und sehr leises Mitsingen, zwar, aber Dean war sich fast sicher. Ein schneller Seitenblick zu Cas verriet ihm, dass eine ungewohnte Röte dessen blasses Gesicht befallen hatte, doch der Engel hielt die Augen ungerührt auf die Straße gerichtet und verzog keine Mine.   Großartig! Sollte er doch singen! Woher kannte Cas überhaupt den Text so gut? Er würde jedenfalls nicht einknicken und zugeben, dass er das Lied auch mochte.     ... Drove my Chevy to the levee but the levee was dry And them good ole boys were drinking whiskey and rye …     Cas bremste urplötzlich unsanft ab, was Dean aus seinem eisernen Schmollen riss. „Was-?“ „Der Jahrmarkt“, antwortete Cas nur, als würde das in etwa so viel erklären wie Adams' verfluchte 42. Dean runzelte die Stirn und sah ihn schräg von der Seite an. „Jahrmarkt?“ „Ja. Hast du die Schilder nicht gesehen? Du hast vorhin aus dem Fenster geschaut.“ Das hatte Dean tatsächlich (Wie konnte Cas das eigentlich wissen, wenn er doch so aufs Fahren und die Musik konzentriert war?), aber mit den Gedanken war er natürlich vollkommen woanders gewesen. Auf gar keinen Fall bei dem tiefen, melodischen Wispern neben sich, das eben noch kaum hörbar „Singing this‘ll be the day that I die“ mitgemurmelt hatte. Wie ironisch. Vielleicht drehte einer von ihnen dem anderen heute noch den Hals um, wenn sie sich weiter so auf die Nerven gingen. Cas interpretierte das Schweigen natürlich richtig und fügte gelassen hinzu: „Heute findet hier in der Nähe ein Jahrmarkt statt. Es gibt einen Festumzug zur Eröffnung. Das stand auf den Schildern.“   „Aah.“ Mehr sagte Dean nicht dazu, starrte nur auf das Ende des Staus vor ihrer Stoßstange, das Cas eben zum Bremsen und schließlich zum Stehen veranlasst hatte. Vom Auto aus konnten sie eine Absperrung auf der Landstraße erkennen und sogar zwei Beamte in Warnwesten, die den Verkehr zu regeln schienen. Cas drehte das Radio leiser und tatsächlich konnten sie in der Ferne allmählich die typische Marschmusik einer Blaskapelle ausmachen, die schnell näher kam. Wie schade, dass der Fahrer nicht auch Einfluss darauf hatte, dass ihnen diese Art von Musik erspart blieb! Dean lachte entnervt auf, als Cas fragte: „Wie lange wird das wohl dauern?“ „Glaub mir, ewig!“   Leider sollte er recht behalten. Es dauerte noch einige Minuten, bis der Umzug überhaupt in Sicht kam und im Anbetracht der Tatsache, dass der Jahrmarkt unmöglich besonders groß sein konnte, herrschte überraschend viel Gedränge. Eine Parade Pompons schwingender Kinder zog mit der Kapelle voraus, dicht gefolgt von einem Festwagen mit Artisten. Hinter ihnen trotteten einige geschmückte Pferde, auf deren glänzenden Rücken Kunstreiter ihre Verrenkungen präsentierten. Cas hatte die Stirn in Falten gelegt und Dean sah, dass er den Tieren besorgt mit den Augen folgte. „Es ist sehr laut“, sagte er überflüssigerweise über den Lärm hinweg, der sie sogar im Auto wie ungefiltert bedrängte. „Pferde haben sehr gute Ohren ...“ „Das sind Showpferde“, unterbrach Dean seufzend und knuffte ihm aufmunternd in die Seite. „Die sind das gewohnt. Wurden dafür trainiert und so. Ist ihr Job.“ Selbst für ihn klang sein Tonfall außergewöhnlich beruhigend. Albern. Er verzog über sich selbst das Gesicht. Cas nickte kaum merklich, schien aber nicht sonderlich überzeugt, obwohl er Dean einen vertrauensvollen Blick zuwarf. Aus Dean platzte ein freudloses Lachen, als die Clowns auftraten; Sammy wäre hellauf begeistert. Er hatte noch nie in seinem Leben so viele Clowns auf einmal gesehen. Allein ihre bloße Anzahl grenzte ans Lächerliche: Nach dem zwanzigsten hatte er den Überblick verloren und gab das Zählen auf. Selbst Cas neben ihm beobachtete das bunte Spektakel mit zusammengebissenen Zähnen. „Vielleicht sollten wir Sam eine Nachricht schicken? Damit er sich von dem Jahrmarkt fernhält.“ Dean zuckte nur die Achseln. „Sie wollen Kaffeetrinken. Wie, zur Hölle, sollten sie da landen?“ Cas Ausdruck wurde ein wenig schmallippiger. „Sam ist sehr romantisch, Dean. Ein Jahrmarkt kann mitunter romantisch sein. Es wäre nicht abwegig.“ Dean schnaubte nur in das erneute Kippen der Stimmung hinein. „Seit wann verstehst du schon was von Romantik?“   Cas schien darauf nicht antworten zu wollen, denn er schwieg. Die eigentlich vollen Lippen hatte er immer noch seltsam dünn und menschlich nach innen gesogen, auf der unteren kaute er sogar herum. Trotz des unglaublichen verkniffenen Ausdrucks war es kein unschöner Anblick. Dean wandte die Augen von ihm ab, sobald ihm aufging, dass er … starrte?   Dean Winchester starrte Castiel an.   Wer von ihnen hielt sich jetzt plötzlich nicht mehr an den persönlichen Freiraum?   Scham breitete sich in ihm aus, gepaart mit einer gehörigen Portion Frust. „Ich guck‘ mir zumindest nicht nur Chick Flick auf Netflix an“, brummte er undeutlich und erntete ein ungläubiges Stöhnen aus Richtung des Fahrersitzes. „Es würde dir möglicherweise manchmal nicht schaden!“, und für Castiels Verhältnisse kam diese Antwort schon fast einem Fauchen gleich. „Klasse. Einfach großartig“, schnappte Dean zurück. Verbissenes Schweigen war die Antwort darauf und obwohl es vermutlich so am besten war, sehnte er sich plötzlich nach Don McLean und dem schüchternen Gesang neben sich zurück.   Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie weiterfahren konnten und das einzige, was Deans Laune nun noch hätte heben können, wäre ein kühles Bier gewesen oder zumindest die beruhigend vertrauten Töne von Led Zeppelin aus dem metallisch dröhnenden Autoradio. Beides blieb ihm verwehrt und als die Verkehrspolizisten sie gerade durchwinken wollten, starrte Dean so finster aus der Wäsche, dass sie auch noch für eine spontane Kontrolle angehalten wurden. Mit ausdruckslosem Gesicht reichte Cas seinen falschen Führerschein durch das heruntergekurbelte Fahrerfenster und Dean warf dem verschwitzten Beamten ein süßliches und ebenso falsches Lächeln zu. Als sie endlich weiterfahren durften, herrschten dicke Luft und anhaltend eisiges Schweigen. Der Fahrer hatte sich nun ganz und gar gegen Musik entschieden und kaute stattdessen intensiv auf den Innenseiten seiner Wangen herum. Wäre Dean nicht so unwahrscheinlich angepisst gewesen, wäre er vielleicht erneut ins Starren geraten. Insofern konnte üble Laune auch durchaus ihre guten Seiten haben.   *   Als Sam das Café betrat, sah er Eileen schon von weitem. Sie saß an einem Tisch für zwei in der Ecke am Fenster. Man hatte von dort aus einen hervorragenden Überblick über den gesamten Innenraum und er registrierte auf den ersten Blick, dass der Platz für eine gehörlose Jägerin die beste Wahl sein musste und gleichzeitig ein nettes Ambiente für ein lauschiges Treffen am Nachmittag bot. Gedämpfte Radiomusik untermalte die gemütlich-rustikale Atmosphäre des Cafés und Sam fühlte sich sofort wohl. Ihre Blicke trafen sich und er lächelte, als sie ihm zuwinkte. Mit großen Schritten ging er zu ihr herüber und stellte im Näherkommen fest, wie hübsch sie war. Ihre helle Haut schimmerte gesund rosig und bildete einen warmen Kontrast zu den glänzenden dunklen Haaren und ihren großen, braunen Rehaugen. Eileen wirkte so ... frisch, lebendig. In ihrer Nähe zu sein, war unbeschwert. Trotz ihres Lebens und Schicksals war sie nicht von ihnen gezeichnet.   Es fühlte sich plötzlich so an, als würde ihm allein ihr Anblick und das Wissen, dass sie sich ihn für ein Date erwählt hatte, eine Auszeit von seinem Alltag bescheren. Ihre Augen funkelten freudig, als er sie in Gebärdensprache begrüßte und sogar ihren Namen flüssig zustande brachte. Hallo, Sam!, antwortete sie ihm und sagte dann laut: „Du hast geübt!“ Er grinste ertappt, während er sich ihr gegenüber setzte und freute sich darüber, dass sie für einen Moment ihre Hand auf seine legte.   Ein bisschen, gestand er und sie nickte anerkennend. Als sie sich das letzte Mal persönlich getroffen hatten, war sein Collegewissen immer noch ziemlich eingerostet gewesen und in den seltenen Fällen, in denen sie per Videoanruf miteinander sprachen, verzichtete er meist auf Gebärdensprache, weil er sich dabei zu unbeholfen vorkam. Eileen hatte dafür immer Verständnis gezeigt, jeden noch so kläglichen seiner Versuche zu schätzen gewusst. Auch das mochte er an ihr, ihre Freundlichkeit, ihr großes Herz. Und vor allem war sie herrlich unkompliziert.   „Wie geht es dir, Sam? Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen!“ Sam nickte zustimmend. Er freute sich wirklich, sie zu sehen! Gut, antworte er daher, aber sie legte kritisch den Kopf schief. Ihr Blick war aufmerksam und auf seine Lippen gerichtet, als sie fragte: „Du siehst gestresst aus! Kommt dir unsere Verabredung ungelegen?“   Sam schüttelte eilig den Kopf und fragte sie, wie es ihr ginge und was sie in die Gegend verschlagen hätte. Dass Eileen eine scharfe Beobachterin war, der kaum entging, was sich auf seinem Gesicht abspielte, hätte ihm klar sein müssen.   Eine junge Frau kam zu ihnen an den Tisch und fragte nach ihren Wünschen. Abgesehen von dem intensiven Geruch nach Zimt und Zuckerwatte, der sie umgab, wirkte sie unscheinbar. Ebenso wie ihr Name, Maria Om, der in die kleine Metallplakette über ihrer Brust graviert war. Sie bestellten beide die Kaffee-Spezialität des Tages, einen großen Vanilla-Moccachino, obwohl das für Sams Geschmack schon beinahe etwas zu süß klang. Aber wieso nicht einmal etwas riskieren? Als ob er das nicht ohnehin regelmäßig tat. Im Gegensatz zu Eileen verzichtete er auf die Sahne.   Maria nahm die Bestellung mit einem breiten Lächeln entgegen, bei dem Sam, der die höfliche Geste erwidern wollte, einen knallpinken Kaugummi zwischen ihren Zähnen hervorblitzten sah. Etwas irritiert wandte er sich wieder Eileen zu, die auf seine vorige Frage antwortete:   „Es ist im Moment ziemlich ruhig und es gibt kaum etwas zu tun.“ Damit griff sie ihr Telefonat von vor drei Tagen auf, bei dem sie sich verabredet hatten. Natürlich hatte auch sie bemerkt, dass die Fälle ausblieben. „Und ich dachte, es wäre nett, darüber von Angesicht zu Angesicht zu sprechen.“ Also doch kein Date …?   Das nächste Lied begann, ein tröstlich vertrautes Stück, doch sein Geist registrierte es nur am Rande. Es war beinahe so, als würde das Radio einen fast vergessenen Ohrwurm aus seinem Kopf abspielen. Eileen lachte, offenbar amüsiert über seinen betroffenen Gesichtsausdruck. Sei nicht traurig!, zeigte sie und sagte laut: „Ich wollte dich vor allem sehen, Sam!“ Sam signalisierte Dankbarkeit.   „Nimm mir die Frage nicht übel“, begann er und grinste verlegen, „Aber haben wir ein Date oder nicht? Ich … bin davon ausgegangen, dass es eins ist, wenn ich ehrlich bin, aber zeitweise bin ich mir nicht ganz so sicher.“ Eileen lächelte auf seine unsichere Frage hin, wobei sich niedliche Grübchen auf ihrem Gesicht abzeichneten.   „Wenn ich jemanden privat auf einen Kaffee einlade, ist das für mich normalerweise ein Date“, sagte sie verschmitzt, „Auch, wenn ich mit ihm vielleicht ein paar Worte über die Arbeit wechseln will. Es tut gut, nicht verheimlichen zu müssen, was wir tun. Oder wie siehst du das?“ Erleichterung fiel Sam wie ein Stein vom Herzen. Wie sehr sie ihm damit aus der Seele sprach! Er nickte und hob die Hände, um ihr etwas zu antworten, bei dem er sich sicher war, es in Gebärdensprache ausdrücken zu können.     Don't cry! Now that I have found you Don't cry! Take a look around you Don't cry! Took so long to find you Do what you want But lil‘ darling, please, don't cry   Sam hielt in der Bewegung inne und lauschte stirnrunzelnd den Klängen des vertrauten Refrains. Der Regen draußen vor dem Fenster war zu einem schwachen Tröpfeln verklungen und als seine Augen den Spuren an der Scheibe vor ihnen folgte, dämmerte es ihm plötzlich.   Asia …?   Zweimal am selben Tag das selbe Lied zu hören, war ein bloßer Zufall. Alarmglocken schrillten dennoch in seinem Kopf los, seine Nackenmuskulatur verhärtete sich, wie auf ein unbekanntes Kommando hin.   Keine Panik, beruhige dich, tief durchatmen!   Eileen musterte ihn fragend, konnte ihm offenbar ansehen, dass er etwas gehört hatte, was Unheil verhieß. Schnell ging er in Gedanken die Ereignisse der letzten Stunde durch. Beim ersten Mal hatte er das Lied im Auto gehört, auf einer von Deans Kassetten. Hier, im Café, spielte ein Radiosender eben zufällig denselben Song. Wenn es nicht Asia gewesen wäre, hätte er es wirklich einfach als Zufall abgetan. Doch dazu dieser süßliche Geruch, der ihn entfernt nach Jahrmarkt erinnerte …   Der Jahrmarkt.   Überall Clowns.   Der pinke Kaugummi.   Eileens große, dunkle Augen waren noch immer abwartend auf sein Gesicht gerichtet. „Ein Fall“, formte Sam mit den Lippen, ohne seine Stimme zu benutzen, „Wir haben einen Fall. Wir sind mittendrin!“   *   Vor sich hin brütend bekam Dean kaum mit, dass Cas den Wagen am Rande des nächsten Ortes auf den Parkplatz eines Fast Food Restaurants lenkte. Erst das Knirschen der Handbremse holte ihn zurück in die Realität. „Was machen wir hier?“, fragte er dümmlich und starrte missmutig auf seine staubigen Schuhspitzen im Fußraum des Wagens. „Ich habe Durst“, erklärte Cas schlicht und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, der leise in seinen schlanken Fingern klimperte. „Und du bekommst einen Burger, wenn du möchtest.“ Dean ließ die unausgesprochene Frage mit hochgezogenen Brauen im Auto stehen. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und benetzte die Wagenfenster in trägen Schlieren. „Es ist sehr warm, Dean. Wir müssen ausreichend trinken, um nicht zu dehydrieren. Du hast schlechte Laune. Hunger und Durst können der Auslöser dafür sein. Dein Lieblingsessen hebt deine Laune manchmal und ich möchte, dass du netter zu mir bist. Und vor allem zu dir selbst. Ich möchte nämlich den Tag mit dir genießen.“ Cas' durchdringende Augen musterten ihn von der Seite, während Dean nach diesem kleinen Vortrag tatsächlich mit der Sprachlosigkeit zu kämpfen hatte.   „Also begleitest du mich?“ Dean konnte nur nicken und protestierte nicht einmal, als Cas ihm im Inneren des schäbigen Restaurants ohne Umschweife ein Menü mit einem labberigen Cheeseburger und einer Cola bestellte, von dem er sich selbst die Portion Fritten mopste.   Sie saßen sich gegenüber in einer viel zu engen Nische, an einem viel zu kleinen, quadratischen Tisch, dessen Platte man nicht annähernd als ‚sauber‘ bezeichnen konnte, aber keiner von ihnen verlor ein Wort darüber, während sie aßen und tranken. Zufrieden aß Castiel die Pommes zu seiner eigenen Cola, als wären sie ein besonderes Highlight für ihn.   Verrückterweise hatte der Engel, der seit Jahren den Körper eines Menschen bewohnte und erst jetzt wirklich lernte, was es bedeutete, wahrhaftig einer zu sein, recht gehabt: Die kalte, süße Flüssigkeit und etwas zwischen die Zähne zu bekommen, hoben Deans Laune wirklich. Genug zumindest, um über den Rand seines eigenen Plastiktabletts zu schauen: Mehrmals ertappte er sich dabei, wie er über den seligen Gesichtsausdruck des Engels beim Essen den eigenen Mund mit dem Burger verfehlte.   Merkwürdigerweise war das Schweigen plötzlich nicht mehr unangenehm und Dean beschwerte sich nicht einmal darüber, dass Cas' Knie unter dem Tisch gegen seines drückte. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, erwiderte er den Druck mit seinem Bein und irgendwie schien der Körperkontakt als Entschuldigung für seine schlechte Laune von vorher auszureichen. Cas' Bitchface war restlos verschwunden, sein Mund nicht mehr verbissen zusammengekniffen, auch wenn man an der Unterlippe noch den verräterischen Abdruck seiner Schneidezähne ausmachen konnte. Dean erwischte sich ein weiteres Mal, wie er fasziniert einige Salzkörner betrachte, die in Cas' Mundwinkel hängen blieben. Er kaute etwas energischer bei dem Versuch, sich zusammenzureißen und verschluckte sich fast, als Cas ihm eines seiner seltenen, aber herzensehrlichen Lächeln schenkte.   Es kam noch schlimmer.   Cas hielt inne, das faszinierend unergründliche Lächeln vielleicht noch eine Nuance heller. Zog er dabei eigentlich immer so den Nasenrücken kraus? Dean konnte sich nicht erinnern, schließlich lächelte Castiel auch nicht allzu oft.   Er sah gebannt und mit aufkeimender Beklemmung, wie der Engel die Hand nach ihm ausstreckte, über den Tisch reichen wollte und kurz davor war, Deans Wange zu berühren, dessen Gesicht plötzlich in ungeahnter Intensität brannte.   Stopp! Nein, was…?   Was hatte Cas vor?   Sein Puls schoss so schnell in die Höhe, dass er keine Kontrolle über seine nächste Handlung hatte, als der Jägerinstinkt in ihm die Überhand nahm. Oder war es vielmehr der Instinkt, niemanden an sich heranzulassen, der so wichtig war, so viel bedeutete? Mit einem erstickten Geräusch hob er abwehrend die Hände, bevor Cas‘ Finger seine Haut streifen konnten. Dabei fegte er seine noch fast volle Cola vom Tisch, die sich eiskalt über seine Hose ergoss. Dean entwich vor Schreck ein viel zu hohes Quietschen. Eiswürfel kullerten über seine Schenkel und landeten auf dem Boden. Cas starrte ihn mit erhobener Hand und leicht geöffnetem Mund an, Deans hilflosen Blick nahezu gequält erwidernd. „Du hast Ketchup an der Wange“, murmelte er, deutlich verunsichert, und nahm die Hand zurück.   Oh.   Cas erhob sich wortlos von seinem Platz und verschwand aus Deans Blickfeld. Er kam sich so unbeschreiblich dämlich vor, wie er mit nasser Hose, die ihm kalt und schwer an Schenkeln und Schambein klebte, und spürbar dunkelrot angelaufenem Gesicht hier saß. Er vermied es, sich nach Cas umzusehen, wollte gar nicht wissen, wer sein Missgeschick außerdem alles mitbekommen hatte und sich jetzt auf seine Kosten köstlich amüsierte.   *   Stift! Schreiben!, zeigte Sam unbeholfen und hatte keine Zeit, sich darüber zu schämen. Eileen verzog keine Mine, reichte ihm einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche über den Tisch, schob ihm eine Papierserviette mit dem Logo des Cafés zu. Er nickte hastig zum Dank und kritzelte zwei Worte auf einen Zipfel des grobporigen Tuches, das Smartphone am Ohr.   „Dean geht nicht an sein Telefon!“, murmelte Sam halblaut in die frustrierende Ansage hinein, wohl wissend, dass Eilen ihn anhand seiner Lippenbewegungen problemlos verstanden hatte. „Er ist in einem Funkloch oder so etwas ...“ Was beim Kleiderkauf eigentlich eher selten passierte. Schreib ihm!, antwortete Eileen sofort und versuchte, ihm begreiflich zu machen, dass sie die Menschen im Café im Auge behielt, während Sam weiter versuchen sollte, seinen Bruder zu erreichen. Sam nickte, unterbrach den Anruf und öffnete das Nachrichtenmenü auf seinem Handy.   Es hatte nicht viel gebraucht, um sie davon zu überzeugen, dass er sich nicht in Hirngespinsten verrannte. Natürlich konnte er ihr nicht erklären, wen oder was er hier am Werk vermutete; er konnte ihr ja kaum begreiflich machen, was genau ihn in Alarmbereitschaft versetzt hatte.     I knew, I'd never doubt it I was so sure about it Don't think of all that's been before I'll hear you, when you're calling I'll catch you, when you're falling Don't worry! I will always be there, like never before     Eileen stupste sein Schienbein unter dem Tisch mit dem Fuß an und Sam sah Maria mit einem Tablett und ihren Getränken darauf auf sie zusteuern. Er schluckte, legte eilig das Telefon zur Seite und knüllte die beschriebene Serviette mit einer Hand zusammen, verbarg sie in der geballten Faust vor der Kellnerin.   „Zweimal der Vanilla-Moccachino, einer mit Sahne, bitte sehr! Lasst es euch schmecken.“ Mit ihrem Kaugummilächeln stellte sie die Gläser vor ihnen auf die Tischplatte und zwischen sie einen kleinen Teller mit Kaffee-Gebäck.   Eileen lächelte Maria wachsam zu; Sam hatte kein Wort darüber verloren, dass er sie verdächtigte, etwas anderes zu sein, als sie vorgab. Er war dankbar für Eileens schnelle Auffassungsgabe – wohl die Vorteile einer Verabredung mit einer Jägerin …   Maria entfernte sich von ihrem Tisch und er tippte zügig eine kurze SOS-Nachricht an Dean, in der er seinen Bruder bat, er solle sich umgehend bei ihm melden. Eileen schien darauf gewartet zu haben, dass er aufsah, denn sobald sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher war, begann sie, in Gebärdensprache auf ihn einzureden.   Sie tat es deutlich langsamer, sprach einige Worte zur Unterstützung laut aus und trotzdem verstand er nicht einmal annähernd die Hälfte von dem, was sie sagte. Sam konnte und „Warten“ und „Gehen“ ausmachen, aber der Zusammenhang, den sie in seinem Kopf ergaben, schien nicht das zu sein, was Eileen mit ihnen ausdrücken wollte. Er schüttelte verlegen den Kopf, um ihr zu signalisieren, dass er nicht verstanden hatte. Sie lächelte nachsichtig, was erneut dieses aufregende Funkeln in ihre Augen zauberte, das ihm so gut gefiel.   Eileen langte über den Tisch, ergriff seine locker zur Faust geballten Hand und zog die grob zusammengeknüllte Serviette daraus hervor. Sie breitete sie vor sich auf dem Tisch aus, das dünne Material behutsam glatt streichend. Stirnrunzelnd las sie die Worte, die Sam darauf gekritzelt hatte und ließ sich von ihm ihren Kugelschreiber reichen.   Sie schrieb etwas auf das knittrige Papier und schob es so zu Sam, dass er es lesen konnte. Während sie seine Reaktion beobachtete, nahm sie sich einen Keks und stippte ihn behutsam in die Sahne auf ihrem Vanilla-Moccachino.   Maria Om, hatte Sam selbst in krakeliger Eile auf der Serviette notiert. Eileen hatte einen kleinen Pfeil hinter den Namen gesetzt und in überraschend geschwungenen Lettern dazu geschrieben: Verdächtige? Darunter stand in derselben Handschrift: Es fällt auf, wenn wir sofort gehen!   Sam sah wieder auf und nickte zustimmend als Antwort auf beide Anmerkungen. Vermutlich sollte er unruhiger sein, noch wachsamer, in noch höherer Alarmbereitschaft. Er hatte Eileen immer noch nicht gesagt, was er hier am Werk vermutete und um ehrlich zu sein, war er sich auch nicht hundertprozentig sicher. Seine bisherigen Erfahrungen beliefen sich schließlich nur auf einer Imitation, der Illusion einer Illusion …   Wochenlang war es ruhig gewesen; er hatte den Bunker fast täglich verlassen, für seinen Sport oder zum Einkaufen und nie war er in einen Fall geraten – wieso sollte sich das ausgerechnet heute ändern, die zermürbende Ruhe ausgerechnet heute vorbei sein?   Nun, weil er Sam Winchester war. Sam Winchester hatte kein Glück.   Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas gewaltig faul war, aber nach einem weiteren Blick in die schokoladenbraunen Tiefen, wie ihn so warm und vertrauensvoll anschauten, musste er sich fragen, ob er nicht allmählich paranoid wurde. Eileens gelassene Wachsamkeit hatte einen seltsam beruhigenden Effekt auf ihn.   Nachdem er sich mit ihr darüber verständigt hatte, Maria im Auge zu behalten, probierte er einen Schluck von seinem Vanilla-Moccachino, der ihn das Gesicht verziehen ließ. Wie er befürchtet hatte, war das Zeug wirklich unverschämt süß. Eileen lachte über seinen Gesichtsausdruck und er grinste. Mehr aus Höflichkeit leerte er das Glas bis zur Hälfte und sah Eileen fast andächtig dabei zu, wie sie genüsslich die Sahne von ihrem Kaffee löffelte. Sie war – und ihm fiel wahrhaftig kein anderer Ausdruck dafür ein – einfach niedlich. In Gedanken trat er sich selbst dafür und gab sich mehr Mühe, sich auf den Ernst der Lage zu konzentrieren.   In der nächsten halben Stunde sprachen sie wenig, weder verbal, noch mit den Händen, was keineswegs bedeutete, dass sie nicht miteinander kommunizierten. Blicke, Lächeln, eine kurze, aber zärtliche Berührung an Hand oder Unterarm über dem Tisch. Unauffällig atmete Sam tief durch und kam sich schon wieder wie ein verknallter Teenager vor. Nein, das Date war ganz sicher nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte, aber das Ambiente und die Gesellschaft waren auch schon einmal deutlich bescheidener gewesen.   Maria, die ihren Kaugummi inzwischen gegen ein Bonbon ausgetauscht hatte (sie kam noch einmal an ihren Tisch, um sie nach weiteren Wünschen zu fragen), befand sich die meiste Zeit im Raum hinter seinem Rücken und bewegte sich eher in Eileens Blickfeld. Das machte es für Sam zu einer Herausforderung, sich stattdessen nicht im konzentrieren Gesicht seiner Verabredung zu verlieren. Zumindest bekam er so direkt mit, dass etwas nicht stimmte; das war ihr deutlich anzusehen, weshalb diesmal er ihre ihre Hand nahm.   „Sie ist weg. Ich glaube, sie hat Feierabend!“, antwortete Eileen mit zusammengezogenen Brauen und erwiderte den Druck seiner Finger ermutigenderweise. „Sie hat zu ihrer Kollegin etwas von ‚Jahrmarkt‘ gesagt. Kann das sein?“   Sam schloss die Augen. Natürlich. Eine clownträchtige Veranstaltung in der Nähe, wenn er nur ein einziges Mal in all diesem Wahnsinn ein Date hatte, den er sein Leben nannte. Und natürlich wurde er bei besagtem Date direkt von etwas Übernatürlichem belästigt, das nichts Besseres zu tun hatte, als mit ihm Katz‘ und Maus zu spielen und ihn zu diesen verfluchten Clowns zu locken!   Als er die Augen wieder öffnete, sah er Eileens besorgten Blick auf sich ruhen, doch er winkte die unausgesprochene Frage nach seinem Befinden ab und antworte stattdessen: „Ja, das kann sein. Seit heute ist hier in der Gegend ein Jahrmarkt und anscheinend ist das eine ziemlich große Sache. Es waren überall Plakate.“   Vielleicht war das die Strafe dafür, dass er vorhin nicht in größerer Alarmbereitschaft gewesen war. Immerhin war das, was er hinter Marias Erscheinung vermutete, keine Kleinigkeit.   „Sie hat gesagt, dass sie dorthin will. Wir sollten uns das ansehen!“, fand Eileen und leider musste Sam ihr Recht geben.   *   Aus den Augenwinkeln sah Dean ein weißes Flattern. Seine Hand zuckte automatisch zu seiner Waffe im Hosenbund, hielt jedoch inne, als er das energische Tupfen an seiner Wange spürte. Cas war mit einem Stapel Papierservietten zurückgekommen, hatte ihm einen Großteil davon in den pitschnassen Schoß fallen lassen und mit einer restlichen Hand voll davon behutsam den Ketchup von seiner Wange gewischt. Dabei hatte er sich zu ihm herunter gebeugt, befand sich beinahe auf Augenhöhe mit Dean, der sich der klebrig-nassen Kälte in seinem Schritt plötzlich erneut unangenehm bewusst wurde.   Ihre Gesichter waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Cas' Zunge schnellte hervor und fing träge das Salzkörnchen in seinem Mundwinkel ein, dessen Anblick Dean noch vor wenigen Minuten verrückt gemacht hatte. Wäre das hier ein kitschige Komödie und sie nicht beide durch und durch an Frauen interessiert, hätte das der Moment sein müssen, in dem sie sich küssten. Theoretisch Frauen, natürlich, denn Cas‘ bisherige Erfahrungen beinhalteten – unfreiwillig – einen Dämon und einen Sensenmann, die beide zufällig ein weibliches Erscheinungsbild bevorzugt hatten.   Zwei sind ein Zufall, drei ein Muster.   Dean grinste abwesend, ohne sich erklären zu können, weshalb. Er sollte sich vielleicht lieber später Gedanken über Castiels vermeintliche Heterosexualität machen. Und vor allem über seine eigene. Immer noch fasziniert starrte er auf den Mund vor sich. Die Augenlider des Engels flatterten, als ihre Lippen sich einander unaufhörlich näherten. Er konnte den menschlichen Atem an seiner vom Ketchup befreiten Wange spüren und das Herz hüpfte sehnsüchtig in seiner Brust, als er für den Bruchteil einer Millisekunde in Erwägung zog, den Sprung nach vorn zu wagen. Mutig zu sein und das Salz auf Cas‘ Lippen zu kosten. Sein Magen machte einen Salto, als sein Herz sich zu dem Ja entschloss: Zum Teufel mit all den Zweifeln, Denken war jetzt so fehl am Platz …   Dean nahm innerlich Anlauf und – sprang. Er fiel unsanft, landete bitter auf dem harten Boden der Realität, als in diesem Moment laut und unbarmherzig Cas' Handy los schrillte. Das Geräusch ließ diesen erschrocken den Kopf herumreißen und Deans Mund streifte nur flüchtig den Rand von Cas' Ohrmuschel. Cas erschauerte bei dem unvorhergesehenen Kontakt sichtlich und Dean zuckte erschrocken zurück.   Mit diesem Absturz prasselten Erkenntnisse der Besinnung auf ihn nieder, wie zuvor die Eiswürfel aus seinem Pappbecher. Sie waren in der Öffentlichkeit.   Seine Hose fühlte sich an, als hätte sich ein Geist in seinem Schoß übergeben.   Cas war sein bester Freund.   Cas war ein Engel!   Cas war ... nicht wirklich im engeren Sinne des Wortes ein Mann, aber auch definitiv keine Frau und das alles waren genug Gründe, um auf die bestmögliche Dean Winchester Art den Kopf zu verlieren.   Was er tat, als Cas den Anruf abwesend entgegen nahm. Dean klaubte die Servietten in seinem Schoß zusammen und floh zur Toilette. Kapitel 3: Date-Desaster ------------------------ „Woher kommt der Name 'Om' eigentlich? Hast du den schon mal gehört?“ Sie saßen im Impala; Eileen hatte Deans Laptop auf den Schoß genommen, der den ganzen Tag über unbemerkt von Sam im Fußraum des Wagens gelegen hatte.   "Es klingt... Asiatisch? Könnte das sein?" Wie nachlässig von Dean... Und verhältnismäßig untypisch. Wohin war er mit dem Laptop gefahren und wieso hatte er vergessen, das Gerät mit in sein Zimmer zu nehmen? Das letzte Mal war Dean, Sams Wissen nach, vor zwei Tagen mit dem Auto unterwegs gewesen. Normalerweise hielt er es doch keinen Tag lang ohne Netflix aus und was er sonst noch in regelmäßigen Abständen im Internet trieb, wollte Sam lieber gar nicht so genau wissen … Eileen neigte nachdenklich den Kopf und strich mit dem Zeigefinger über die Kante des heruntergeklappten Computerbildschirms. „Wir sollten versuchen, etwas über sie herauszufinden. Vielleicht wird sie vermisst! Sie könnte ein Formwandler sein.“   Sam nickte. Solange sie nicht bloß eine Illusion ist, dachte er im Stillen, zögerte aber noch immer, Eileen in seinen tatsächlichen Verdacht einzuweihen. „Darf ich?“ Sie deutete in höflicher Zurückhaltung auf den Laptop und er nickte erneut, sagte aber: „Er gehört Dean, lass mich ihn hochfahren.“ Sie reichte ihm das Gerät, das er etwas unbeholfen auf seinen Knien vor dem Lenkrad abstellte. Überrascht stellte Sam fest, dass sein Bruder den Laptop mit einem Passwort gesichert hatte. Nicht, dass das eine große Herausforderung darstellen sollte - es war nur eine vierstellige Zahlenkombination und er hatte drei Versuche. 1967. - Nicht der Impala. 0503. - Nicht Sams Geburtstag. Sam überlegte kurz, war sich ziemlich sicher, dass Dean niemals sein eigenes Geburtsdatum als Passwort benutzen würde und gab dann ‚6783‘ ein. Volltreffer!   Seit einigen Vorfällen mit Sams Laptop war Dean etwas sorgfältiger geworden, was seine … privaten Recherchen im Internet anging. Schließlich hatte er sich seinen eigenen zugelegt, was die Summe an auf Technik basierenden Streitereien zwischen den Brüdern gemindert hatte. Sam hatte nahezu ewig gebraucht, Dean einzutrichtern, dass es Gründe gab, wieso man Tabs schloss, Suchbegriffe nicht speichern ließ und den Browserverlauf regelmäßig löschte. An seinem eigenen Laptop schien sich Dean nicht unbedingt an die soeben erst erlernte Raffinesse der Internetnutzung zu halten …   Als Sam versehentlich die Browserfenster maximierte, die noch im Hintergrund liefen, kniff er reflexartig die Augen zusammen, in der Erwartung, dass ihn automatisch startende Videos von halbnackten asiatischen Schönheiten zu besonders sinnlichen Cybererfahrungen einluden. Peinlich berührt drehte er den Bildschirm auf seinen Knien ein Stück von Eileen weg.   Vollkommen unnötig, wie sich herausstellte – zumindest gab er sich und seinem Bruder vor seinem Date nicht die Blöße mit dessen unersättlichem Pornokonsum. Stattdessen machte das, was Sam in sage und schreibe 15 offenen Tabs entdeckte, Dean verletzlicher, als es jede Offenbarung seiner sexuellen Vorlieben gekonnt hätte. Dean hatte allem Anschein nach drei Antiquariate für antike Schriften kontaktiert, die angeblich altertümliche henochische Texte über himmlische Krieger besaßen. Er verfolgte eine Versteigerung auf ebay über ein Buch aus der Renaissance, das sich mit den Existenz-Zyklen von Engeln beschäftigte (und unbeschreiblich abgedroschen klang – aber Sam verstand die Botschaft). Ein anderer, nahezu noch beschämenderer Tab beinhaltete einen Wikipedia Artikel über gefallene Engel, der sich wie der Ausschnitt eines Teenie-Romans las. Die nächsten zwei Registerkarten offenbarten wissenschaftliche Artikel und waren deutlich beeindruckender: Einer stammte von einem Archäologen, der für ein ägyptisches Museum arbeitete und halbwegs überzeugend behauptete, Teile fossiler Engelsschwingen am Nil gefunden zu haben; der andere war von einem buddhistischen Mönch, der sich damit auseinandersetzte, wie man auf spirituelle Weise in Einklang mit der eigenen Wiedergeburt als andere Existenzform käme. Die anderen acht Tabs beinhalteten nahezu alles, was man auch nur annähernd mit Cas' aktueller Situation in Verbindung bringen konnte. Eine eher fruchtlose Suche nach ‚Engelsgnade‘, die halbherzige Recherche nach Meditationstechniken gegen Angst und Alpträume. Eine erstaunlich ausgefeilte Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Umgang mit Personen, die ihren Wurzeln entrissen wurden‘. Selbst ein Bericht über Traumata bei Soldaten und Kriegsüberlebenden war dabei. Sam war sprachlos. Sein Gesicht fühlte sich seltsam heiß an, als er sich mit offenem Mund zu Eileen herumdrehte, der wohl aufgefallen war, dass Sam sich etwas Privatsphäre für seinen Bruder erhoffte und den Kopf taktvoll abgewandt hatte.   „Ist alles in Ordnung?“, fragte Eileen besorgt, als sie seinen Blick spürte und sein Gesicht sah. Sam nickte abwesend. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das sage, aber manchmal überrascht mich Dean. Positiv.“ Eileen lächelte ein wenig ratlos, bohrte aber glücklicherweise nicht nach. Sorgfältig minimierte er die Fenster mit Deans Herzensgeheimnis und hackte sich in die polizeilichen Datenbanken auf der Suche nach Maria Om.   *   Dean brauchte drei Anläufe, bis er sich genug zusammenreißen konnte, um das Klo endlich zu verlassen. Seine Jeans hatte er in beschämter Panik unter den Handtrockner gehalten, bis der schwere Stoff nur noch eine schwache Färbung und klebrige Klammheit im Schritt aufwies. Was übrigens bedeutete, dass er die Schuhe hatte ausziehen müssen, um aus der Hose zu kommen. Und um nicht in Socken auf dem schmuddeligen Boden zu stehen, hatte er die Schuhe in Unterwäsche – die immer noch klatschnass und kalt an seinen Schenkeln haftete – wieder angezogen und auf einer öffentlichen Herrentoilette seine Hose trocken geföhnt.   Dean Winchester, begnadeter Jäger von Monstern und Dämonen, die wahre Hülle des Erzengels Michael, der rechtschaffene Mann, ehemaliger Träger des Kainsmals, bot mit brennenden Wangen, in pitschnassen Boxershorts und offenen Schuhen ein Bild für die unbarmherzigsten aller Götter.   Natürlich ließ es das Schicksal nicht dabei bewenden und schickte in dieser Zeit insgesamt vier Männer mit vollen Blasen zu ihm in die Hölle (Wenn jemand das Recht hatte, etwas als ‚Hölle‘ zu bezeichnen, dann wohl er!). Mit zusammengebissenen Zähnen ignorierte er die Blicke und Kommentare. Und verbot sich jeden Gedanken daran, was vorhin beinahe passiert wäre, mit Cas und ihm … Nein, wenn er so tat, als wäre nichts gewesen, dann würde das vielleicht alles rückgängig machen!   Sobald er allein war, entledigte er sich in der einzigen Toilettenkabine seiner nassen Unterhose, stopfte sie in seine Jacke und schlüpfte in die Jeans, die sich in diesem Zustand beeindruckenderweise noch widerlicher anfühlte.   Durchatmen.   Du bist ein Soldat, sei keine Memme!   Er schickte ein erleichtertes Stoßgebet an niemand bestimmten (Gott sicher nicht!), als er feststellte, dass sich das Restaurant deutlich geleert hatte. Mit etwas Glück war niemand mehr hier, der Zeuge seiner unzähligen Blamagen in diesem Gebäude geworden war?   Castiel hielt immer noch das Telefon an sein Ohr; das Ohr, mit dem sein eigener Mund eben noch ‚Hasch mich!‘ gespielt hatte. Zugegeben, es war ein sehr nettes Ohr, und Dean ertappte sich dabei, wie sein Blick der Kurve der Ohrmuschel nach unten folgte, über die Kante eines starken Kiefers mit Bartschatten, bis hin zu einem Paar unverschämt voller, rosiger Lippen, als er sich zu Cas an den Tisch setzte.   Neben ihn.   Auf der Sitzfläche der Bank gegenüber glitzerte eine unschuldige Cola Pfütze.   Dean saß also direkt neben Cas und starrte ihn an. Cas, der sich halb zu ihm herumgedreht hatte, erwiderte das selbstvergessene, nicht allzu glückliche Starren des Jägers mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln.   „Geht es dir gut Dean?“   Die Frage rüttelte ihn aus seiner Trance und er bemerkte, dass der Engel das Telefonat beendet hatte und sein Handy ein wenig ratlos in der offenen Handfläche wog.   Dean lachte leise und humorlos.   „Naah, das war furchtbar. Lass uns gehen, ja?“   Cas legte den Kopf schief und wartete geduldig. Die Frage war nur, worauf. Auf eine Erklärung von Dean? Darauf, dass sie darüber sprachen, was vorhin beinahe passiert wäre? Cas war so unbeholfen, was Zwischenmenschlichkeit anbelangte. Trotzdem war Dean sich ziemlich sicher, dass er genug Zeit mit Menschen verbracht hatte, um einen sich anbahnenden Kuss als solchen zu erkennen, selbst wenn er unterbrochen wurde.   Kuss.   Er hatte das Wort gedacht, das Wort, das Tabu war in Verbindung mit Cas! Dean wand sich peinlich berührt auf seinem Platz, was sich als weniger gute Idee herausstellte, denn es erinnerte ihn unangenehm daran, dass er ohne schützende Unterwäsche in einer klebrigen, dreckigen Jeans steckte. Besagte Unterwäsche durchweichte derweil übrigens das dünne Innenfutter seiner Jacke.   Er stieß ein Schnauben durch die Nase aus, um sich von dem Druck der nächsten Worte zu befreien. Es funktionierte nicht wirklich.   „Cas … Ich klebe. Ich muss duschen. Und ich hab die Schnauze voll von dem Tag. Nimm‘s mir nicht übel, aber lass uns das alles verschieben, ja?“   Der treuherzige Blick aus den tiefblauen Augen versetzte seinem Herzen einen kleinen Stich.   „Ich verstehe, Dean.“   Das Schlimme daran war, dass Cas vermutlich wirklich Verständnis dafür hatte. Für einen Moment wünschte er sich zur Toilette zurück. Die Schmach dort war leichter zu ertragen gewesen, als ein Versprechen an Cas brechen zu müssen.   Dean grinste gezwungen und nickte zum Handy in Cas‘ offener Hand.   „Wer hat angerufen? War das Sam?“   Er zog sein eigenes Handy aus der Jackentasche, das er inzwischen schon seit einigen Stunden ignoriert hatte, und stellte fest, dass es ausgeschaltet war. Wie seltsam. Normalerweise ließ er es immer an und achtete auf einen vollen Akku und Erreichbarkeit – für die üblichen Notfälle im Leben eines Jägers.   „Nein, das war nicht dein Bruder. Es war … einer von meinen.“   Sein Finger schwebte über dem Power Button; Dean hielt in der Bewegung inne, vollkommen aus dem Konzept gebracht von Cas‘ Worten.   „Wie meinst du das? Wer?“   Cas schien seine Antwort genau zu bedenken. Er betrachtete das dunkle Display einen Moment lang intensiv, als würde es ihm beistehen. Dann ließ er das Handy in seiner Hosentasche verschwinden.   „Einer meiner Brüder wollte mich davon in Kenntnis setzen, dass er lebt und gern in der nächsten Zeit mit mir in Verbindung treten würde. Obwohl ich jetzt … menschlich bin. Ich habe ihn für tot gehalten. Dass er lebt, ist eine gute Nachricht, Dean.“   Dean nickte perplex. Dass jemand aus Cas‘ Vergangenheit zu ihm Kontakt aufnahm, bedeutete vermutlich etwas Gutes. Ein anderer Engel, der Deans besten Freund nicht dafür verstieß, dass er keine Gnade mehr besaß.   Cas‘ kühle Hand legte sich plötzlich auf seine, in der er das eigene Smartphone hielt.   „Kannst du mir einen Gefallen tun, Dean?“   Die Berührung sandte ein leichtes Prickeln seinen Arm hinauf.   „Kommt drauf an, welchen!“   Was, genau genommen, absoluter Schwachsinn war. Einen Gefallen für Cas? Natürlich würde er ihm den erfüllen! Nachdem er ihnen beiden und vor allem Cas den gemeinsam geplanten Tag ruiniert hatte, weil er ein unsäglicher Trottel war – nein, im Ernst. Es gab nicht besonders viel, was er nicht für den Engel tun würde.   „Lass dein Telefon aus, bis wir zu Hause sind. Wenn Sam etwas braucht, kann er mich erreichen.“   Dean runzelte die Stirn, suchte nach einer Erklärung auf dem Gesicht des Engels, das plötzlich wieder gefährlich nah schien.   Es war eine verhältnismäßig kleine Bitte und obwohl Dean ihren Hintergrund nicht ganz verstand, bereute er seine genickte Zustimmung nicht im Geringsten, als er das winzige Lächeln von Cas vor sich sah.   *   Maria Om existierte nicht. Zumindest wurde sie nicht vermisst, hatte in ihrem Leben noch keine Straftat begangen, besaß keinen Führerschein, kein Auto, nicht einmal einen Facebook-Account. Entweder handelte es sich bei der unscheinbaren jungen Frau mit Oralfixierung (auch Eileen waren Kaugummi und Bonbon aufgefallen) um ein Phantom oder um eine hochmoralische Person, die ein altmodisches Leben fern der sozialen Medien führte.   Eileen war ein wenig hartnäckiger bei der Suche als Sam und hatte den Laptop übernommen, während er nervös an der zerknüllten Serviette herumfummelte, die sich allmählich in Fasern aufzulösen begann. Die Jägerin filzte selbst die Homepage des Cafés auf Fotos der Mitarbeiter, jedoch ohne Erfolg.   Maria Om.   Der Name war wirklich merkwürdig.   „Ich glaube, ich kann nicht mehr denken, Sam“, sagte Eileen plötzlich und kicherte verlegen. Tatsächlich wirkte sie allmählich müde, auch wenn das wache Funkeln in ihren Augen nie an Intensität verlor. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass sie fast eine Stunde im Auto verbracht hatten.   „Bisher scheint nichts in der Gegend passiert zu sein“, sagte Sam langsam und fingerte mit der serviettenfreien Hand am Schlüssel im Zündschloss herum. „Wir könnten eine Pause machen und zusammen abendessen? Wenn du möchtest?“   Dann wäre das Date zumindest kein kompletter Reinfall gewesen. Innerlich kreuzte er die Finger und hoffte.   Eileen lächelte Sams Lieblingslächeln.   „Was hältst du davon, wenn wir vorher an dem Jahrmarkt vorbeifahren, von dem du erzählt hast? Maria ist vielleicht noch da!“   Es widerstrebte ihm ungemein. Sam vermutete den Jahrmarkt inzwischen längst als Teil des übernatürlichen Spiels, in das sie geraten waren. War es klug, sich mit Eileen kopfüber hinein zu stürzen, ohne Dean oder Cas vorher darüber zu informieren?   Vermutlich nicht.   Sam konnte nicht anders, als dieses Lächeln zu erwidern und sich ihm hinzugeben. Er startete den Motor und lenkte das Auto vom Parkplatz des Cafés. Auf ins Verderben!, dachte er grimmig, doch irrsinnigerweise fühlte es sich nicht halb so bedrohlich an, wie es das seiner lebenslangen Erfahrung nach hätte müssen.   „Ich habe übrigens eine ziemlich heftige Clown-Phobie“, sagte er beiläufig, als er merkte, dass Eileen ihn ansah und seine Lippen lesen konnte. „Die Plakate für den Jahrmarkt sahen vielversprechend aus, was das angeht.“   Er spürte plötzlich eine Hand auf seinem Oberschenkel. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Eileen die Papierserviette von seinem Bein klaubte, als sie zu Boden flattern drohte. „Keine Sorge, ich bin ja bei dir“, lachte Eileen gutmütig. Sam schluckte. Sie hielt die Serviette zwar fest, ließ die Hand aber wo sie war.   Vor dem Jahrmarkt war eine große Rasenfläche als Parkplatz für die Besucher ausgewiesen. Sam hielt den Impala ein Stück abseits davon, um bei Bedarf schnell wieder verschwinden zu können. Misstrauisch sah er aus dem Wagenfenster auf das bunte Treiben vor ihnen. Tatsächlich schien die Veranstaltung recht gut besucht, aber zum Glück konnte er auf die Schnelle kein einziges fröhlich geschminktes Gesicht unter einer schrillen Perücke entdecken und er atmete auf.   Eileen verpasste ihm einen aufmunternden Klaps auf das Bein und drückte ihm die in Mitleidenschaft genommene Serviette wieder in die Hand. Beim Aussteigen verstaute sie Deans Laptop im Fußraum des Beifahrersitzes, wo sie ihn gefunden hatte.   Der unverwechselbare Geruch nach Zuckerwatte, gebrannten Mandeln, Bratäpfeln, Pferdeschweiß und -Mist schlug Sam entgegen, als er die Wagentür hinter sich schloss. Vermutlich war das hier eine recht stimmungsvolle Kulisse für eine romantische Verabredung, aber sie trug dennoch nicht dazu bei, dass er sich entspannen konnte. Wenn der Jahrmarkt etwas mit dem Fall zu tun hatte, waren sie hier noch weitaus weniger sicher, als im Café.   Vielleicht hätte Sam Eileen mit in den Bunker nehmen sollen. Sie hätten Essen bestellen können, vielleicht hätte Dean sogar etwas für sie gekocht. Eileen und Cas kannten sich noch nicht. Es wäre viel für ein erstes Treffen außerhalb des Jobs gewesen, aber immerhin nett. Sicher.   Nur leider waren sie nicht außerhalb des Jobs.   Maria Om.   Sam seufzte tief und schenkte der Serviette in seiner Faust einen letzten frustrierten Blick. Als er sie achtlos in seiner Hosentasche verschwinden lassen wollte, hielt er inne.   M A R I A O M.   „Eileen!“, rief er gedankenlos und fuhr peinlich berührt zusammen, als ihm sein Faux Pas auffiel, den Eileen zum Glück ja gar nicht bemerkt haben konnte. Er wollte ausholen, um mit den Händen wedelnd ihre Aufmerksamkeit zu erregen, doch sie stand schon vor ihm. Erneut schreckte er zusammen und sie grinste belustigt.   „Ja, Sam?“, fragte sie und legte auf anbetungswürdige Weise den Kopf in den Nacken, um zu ihm aufzusehen. Er musste sich einige Male räuspern, bevor er sprechen konnte, obwohl es Schwachsinn war. Wenn er wirklich respektvoll sein wollte, sollte er definitiv versuchen, mehr Gebärdensprache für Eileen zu benutzen!   Nun endgültig verlegen, bat er sie in fast mustergültiger Gebärdensprache erneut um ihren Kugelschreiber, den sie ihm mit einem Strahlen reichte.   Er presste das zerfledderte Stück Papier ans Wagenfenster des Impalas und begann, darauf herumzukritzeln, Buchstaben des merkwürdigen Namens zu streichen und sie in eine neue Reihenfolge zu bringen.   „Es ist ein Anagramm“, sagte er, als er sich wieder zu Eileen umdrehte, die ihm gespannt über den Arm hinweg zugesehen hatte. „Kein besonders gutes, aber es erklärt, warum der Name so seltsam ist.“   I AM AMOR.   Eileen begann zu kichern.   „Nein, das ist wirklich nicht geistreich“, stimmte sie zu, aber in ihrem Ausdruck lag dennoch eine Spur von ehrlicher Bewunderung.   „Haben wir es hier mit Cupido zu tun, einem Amor? Sollen wir verkuppelt werden?“   Sam sah verlegen auf die Lösung des Anagramms in seiner Hand.   „Na ja, streng genommen wurde bisher niemand verletzt oder getötet. Eigentlich ist nichts weiter passiert, außer, dass Maria keine reale Person ist. Und mehr Clowns in meinem Umfeld sind, als mir guttut.“   Sie lachten beide und obwohl die Erklärung Sam nicht gerade zufrieden stimmte, schien sie der ganzen Situation doch etwas Anspannung zu nehmen.   Mit Engeln und ihresgleichen war sicher nicht zu spaßen, aber vielleicht hatte Amor sie aus einer guten Absicht heraus von jedem tatsächlichen Fall ferngehalten? Wie gern würde er das glauben, wie sehr hoffte er auf das Gute im Himmel …   Eileen riss ihn aus seinen Grübeleien, in dem sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihn behutsam, aber bestimmt zu sich herunterzog. Überrascht ließ er es zu, dass sie sein Gesicht mit beiden Händen umfasste und ihm einen nicht unsanften, aber verspielten Kuss auf die Lippen drückte.   „Amors Wille“, sagte sie, ohne ihn loszulassen und da war wieder dieses Funkeln. Einen Kuss mit Eileen hatte er sich irgendwie anders vorgestellt. Weniger … forsch. Trotzdem war es schön gewesen und er bereute es bestimmt nicht. Er hätte nichts gegen eine Wiederholung einzuwenden gehabt.   „Gehst du mit mir aus?“, fragte Sam, dessen Knie sich seltsam weich anfühlten.   „Das tue ich doch schon!“   „Jetzt. Der Fall ist abgeschlossen. Lass uns … lass uns essen gehen.“   Eileen tat, als müsse sie überlegen, legte den Kopf schief und er verdrehte gespielt die Augen.   „Einverstanden! Für eine Portion Zuckerwatte gehe ich mit dir heute Abend essen!“   Diesmal machte er den ersten Schritt, überbrückte die Distanz zwischen ihnen und küsste Eileen. Sie kicherte in den Kuss hinein, bis er gegen ihre Lippen grinste und sie lösten sich voneinander.   „Warte im Auto, ja? Ich bin gleich wieder da. Mit Zuckerwatte.“   *   Allmählich war Dean an das Schweigen in Cas‘ Auto gewöhnt. In gewisser Weise war es ungemütlicher als noch auf dem Hinweg, was zweifelsohne an allem liegen mochte, was an diesem Tag zwischen ihnen geschehen war. Andererseits war es auf der Rückfahrt nicht annähernd so eisig wie am Nachmittag und irgendwann begann Dean tatsächlich, die stille Zweisamkeit mit Cas zu genießen, als sie durch die glühende Abendsonne Richtung Bunker fuhren. Eigentlich war es sogar ganz hübsch.   Kitschig.   Cas‘ Profil war in einen fast überirdischen, goldenen Schimmer getaucht und Dean musste schlucken. Der Engel bemerkte seinen Blick und erwiderte ihn sanft, so lange er die Augen von der Straße entbehren konnte.   „Möchtest du Musik aussuchen, Dean?“, bot er an, als er wieder geradeaus und durch die Frontscheibe schaute.   Ein lästiges Kitzeln fuhr durch seinen Magen und brachte von dort aus etwas in seiner Brust zum Flattern.   „Hmm“, brummte er als Antwort, grinste aber in sich hinein.   Dean streckte in dem Moment die Hand nach dem Autoradio aus, als Cas dasselbe tat und ihre Finger stießen auf halbem Wege in der Luft zusammen.   „Sorry“, nuschelte Dean.   „Mein Fehler, entschuldige“, sagte Cas.   Keiner von ihnen zog seine Hand zurück. Niemals beim Fahren Händchenhalten, schoss es Dean durch den Kopf. Doch was sollte schon passieren? Die Straße war eben, führte immer geradeaus, weit und breit war kein anderes Auto in Sicht. Er verzog nicht einmal das Gesicht darüber, dass er ‚Händchenhalten‘ gedacht hatte.   Cas‘ Hand lag auf seiner. Das war kein Händchenhalten, es war nicht kitschig. Es war … leicht.   Dean führte ihre in der Luft verschränkten Finger zum Radio und schaltete es ein.     I knew, I'd never doubt it I was so sure about it Don't think of all that's been before I'll hear you, when you're calling I'll catch you, when you're falling Don't worry! I will always be there, like never before     Asia. Hey, gar nicht mal so übel!   Er lächelte stumm in sich hinein, erwiderte den Druck der kühlen starken Finger mit einer nie gekannten Sorglosigkeit. Wie machte Cas das? Wohin war diese Panik auf einmal verschwunden? Panik wovor eigentlich? Es war ihm seltsam gleichgültig.   Bis es plötzlich einen lauten, sehr vertrauten Knall unter ihnen gab und ein heftiger Ruck durch den Truck fuhr, der ihn ins Schlingern brachte. Dean ließ Cas‘ Hand augenblicklich los, der das Steuer umklammerte, um sie nicht von der Straße abkommen zu lassen. „Lenk dagegen!“, rief Dean und Cas schaffte es.   Dean schloss die Augen, als sie zum Stehen kamen und ließ den Kopf mit heftig pochendem Herzen gegen die Lehne sinken. „Na, wenn das mal kein geplatzter Reifen ist!“   Diese Schicksalsgötter, an die er nicht glaubte, waren heute wirklich außergewöhnlich sadistische Miststücke!   *   Als Sam (unbehelligt von Clowns, aber mit anhaltend mulmigem Gefühl in der Magengegend) mit einer großen Portion Zuckerwatte in der Hand auf den Parkplatz zurückkehrte, ließ er in Gedanken die Ereignisse des Tages Revue passieren. Alles ist gut, sagte er sich immer wieder. Doch irgendetwas hinderte ihn daran, zur Ruhe zu kommen.   Die Innenbeleuchtung des Impalas brannte und er lächelte unweigerlich, als er Eileen auf dem Beifahrersitz sah, wie sie auf ihn wartete. Es fühlte sich gut an. Normal. Fast schon eine Spur zu normal.   Eileen hatte ihn noch nicht entdeckt, lachte unbekümmert wegen etwas, was er auf die Distanz nicht sah, aber sie fröhlich zu sehen, hob seine Stimmung noch mehr. Sie war wirklich sehr hübsch, und so unbeschwert, wenn auch ein wenig anders, als er erwartet hatte.   Eileen nahm ihr Handy vom Ohr und schien einen Anruf zu beenden. Sam schmunzelte, beschleunigte seine Schritte – und ließ die Zuckerwatte fallen. Er brauchte dreißig Sekunden, um sich zu sammeln. Eine junge Familie mit Kinderwagen ging am Impala vorbei. Er musste dringend hier weg! Kein guter Platz für ein Showdown. Sam biss die Zähne zusammen. Dann öffnete er die Autotür und stieg ein.   „Entschuldige. Sie hatten Schwierigkeiten mit der Zuckerwatte-Trommel“, sagte er, ohne sie anzusehen.   Eileen Leahy, die gehörlose Jägerin, war es nicht, mit der er den Tag verbracht hatte. Das Wesen neben ihm schaltete den Kassettenrekorder des Autos mit ungeahnter Selbstverständlichkeit an. Sam startete den Motor und fuhr los.   Hard times you had before you I knew, when I first saw you You, girl, you've always been mistreated, cheated So leave it all behind you It took so long to find you I know that we can last forever, ever and more Don't cry! Now that I have found you Don't cry! Take a look around you Don't cry! Took so long to find you Do what you want But lil‘ darling, please, don't cry I knew, I'd never doubt it I was so sure about it Don't think of all that's been before I'll hear you, when you're calling I'll catch you, when you're falling Don't worry! I will always be there, like never before     Sam parkte den Impala am Straßenrand. Bis zum Bunker waren es noch fast drei Meilen. Obwohl er sich ausrechnen konnte, dass ihr Versteck längst nicht mehr geheim war, wollte er den Feind nicht unbedingt direkt vor der eigenen Haustür abladen.   „Wieso halten wir?“, fragte Eileens Stimme neben ihm mit einem Unterton, bei dem ihm sich die Nackenhaare sträubten. Er holte tief Luft und drehte sich in seinem Sitz herum.   „Ich weiß, was du bist“, sagte Sam kalt und starrte fest in die tiefbraunen, leuchtenden Augen, die er über den Tag hinweg viel zu liebgewonnen hatte. Sie gehörten nicht der Person, für die sie sich ausgab, was ein ungeahntes Gefühl von Verletzlichkeit in ihm zurückließ. Er kam sich so betrogen vor. Benutzt.   Eileens Lächeln war ungetrübt, wenn auch eine Spur zu hart, zu schelmisch. Es schien nicht ganz zu ihrem Gesicht zu passen, so als lächelte eine fremde Seele aus ihrem Körper zu ihm heraus.   „Und was genau bin ich deiner Meinung nach, Samshine?“, flötete sie mit gespitzten Lippen.   Sam straffte die Schultern. In seinem Hosenbund steckte seine Pistole, mit der er nichts ausrichten konnte. Was er hier vor sich hatte, war zu mächtig, um sich von einer Silberkugel beeindrucken zu lassen. Er trat dem Gegner mit nichts gegenüber, als der Wahrheit. Was war er doch für ein Idiot.   „Trickster“, sagte Sam rau und ohne den Blick abzuwenden. „Es passt alles … Du musst ein Trickster sein!“   Die Gier nach Süßigkeiten und Zucker. Die bescheuerte Musik, die ihn schon den ganzen Tag über verfolgte. Das Spielen mit seinen Ängsten, diese lächerliche Masse an Clowns. Der bitterböse Humor, der dem Ganzen dennoch irgendwie anhaftete. Die unverschämt große Macht, die ein übernatürliches Wesen nicht haben sollen dürfte.   ‚Eileen‘ seufzte und schüttelte den Kopf. Sie wirkte nahezu enttäuscht.   „Ich habe mehr von dir erwartet, Sam!“, sagte sie und schnippte lässig mit dem Finger.   Die Erscheinung veränderte sich, ihre Züge verschwammen, wie durch die Kaskade einer klaren Substanz hindurch. Die Schultern wurden breiter, das Haar kürzer. Tiefbraune Augen leuchteten nun hell, nahmen einen fast goldenen Karamellton an, umrahmt von einer dunkleren Korona. Volle Lippen wurden schmal, kräuselten sich in einem raubtierartigen Grinsen in einem Gesicht, auf dem plötzlich Bartschatten wuchs. Das alles geschah im Bruchteil von Sekunden und doch kam es ihm wie eine Ewigkeit vor, bis sein Gehirn die Information richtig verarbeitete, wen er da vor sich hatte.   Es war keine fremde Seele gewesen, die ihm wie eine andere Persönlichkeit aus Eileens Augen heraus zugezwinkert hatte. Es war die Gnade eines Erzengels.   „Gabriel?“, keuchte Sam und starrte perplex in das vertraute Gesicht der menschlichen Hülle. „Ich dachte, du bist tot!“   Gabriel kicherte leise und wedelte mit dem Zeigefinger tadelnd vor Sams Nase herum. „Na, na, man fragt doch Leute nicht so einfach, ob sie tot sind! Das ist sehr unhöflich, Samantha!“ Sein Finger umkreiste Sams Nasenspitze wie eine besonders nervtötende Fliege und landete schließlich einen nicht minder lästigen Stupser.   Sam kniff missbilligend die Augen zusammen, wagte aber nicht, die Hand vor seinem Gesicht wegzuschlagen. Immerhin legte sich gerade ein Erzengel mit ihm an – vermutlich das mächtigste Wesen (abgesehen von Gott), das der Himmel zu bieten hatte. Auch, wenn Gabriel wohl die Schnauze voll vom Himmel hatte, so wie er sich auf der Erde ins Zeug legte. Oder vielmehr der Himmel von ihm? Wer könnte ihm das verübeln.   „Außerdem: Ich bin der Trickster. Was hast du erwartet?“   Sam schluckte hart. „Nicht das hier“, gab er mit dünner Stimme zu. Wenn Eileen die ganze Zeit über Gabriel gewesen war – hatte er dann wirklich und wahrhaftig mit einem Erzengel herumgeknutscht? Zu welchem Zweck?   Dieser schien seinem Gedankengang problemlos folgen zu können, denn er sagte: „Ah, du bist enttäuscht! Das verletzt mich tief, Sammyboy.“ In seiner gespielten Gekränktheit nahm er zumindest die Hände weg.   Sam stieß etwas Luft durch die Zähnen, von denen er nicht gemerkt hatte, wie fest er sie zusammenbiss. „Ich gebe zu, du lernst dazu und warst schlauer als die letzten Male!“ Gabriel nickte in milder Anerkennung und für einen kurzen Moment schien das aus seinem Lächeln zu verschwinden, was Sam als so bedrohlich empfand.   „Etwas, zumindest.“   Sicher, der Erzengel hatte sich als große Hilfe im Kampf gegen Lucifer, seinen eigenen Bruder, erwiesen. Hatte sich für die Menschen und die Erde entschieden, Sam sogar bei einer der schwerwiegendsten Entscheidungen seines Lebens unter die Arme gegriffen. Auf eine Art, die Sam niemals in seinem ganzen Leben würde gutheißen können und die er Gabriel unter keinen Umständen jemals verzieh. Er hatte heute noch manchmal Alpträume von all den Dienstagen, an denen er Dean hatte sterben sehen. Aber so spielten Engel nun einmal und in gewisser Weise wusste er die Bemühungen Gabriels auch zu schätzen.   „Ich hätte nie damit gerechnet, dass du so schnell Lunte witterst! Auch, wenn du dann erstaunlich lange gebraucht hast. Im Café dachte ich erst, du hättest mich! Warum warst du so gestresst, als du zu unserem Date kamst?“   Sam verdrehte die Augen über diese Formulierung, vermied es aber, Gabriel zu korrigieren. Wenn es nach ihm ginge, erklärte er das Date rückwirkend für ungültig und die Erlebnisse des Tages als ausradierbaren Alptraum.   „Na komm schon, Sam. Mir kannst du es doch sagen!“, schmeichelte Gabriel und Sam zuckte ergeben die Achseln. Wozu sollte man etwas vor einem Engel verheimlichen, der die Wahrheit sowieso mit einem Fingerschnippen aus einem herausbekam?   „Das Date, von dem ich dachte, es sei mit Eileen, hat mich nervös gemacht“, gestand er kühn und betonte ihren Namen mit Nachdruck. „Ich war mir nicht ganz sicher, wie sie zu der ganzen Sache steht, außerdem wollte ich sie mit Gebärdensprache beeindrucken. Dazu kommt, dass mich seit Wochen die Arbeit stresst, denn es gibt keine Arbeit und – Oh.“   Sam unterbrach sich, als er das selbstzufriedene Grinsen Gabriels sah, das ihm im Halbdunkel des Wagens entgegen funkelte. „Das warst du.“   „Der Kandidat erhält 100 Gummipunkte und einen Preis für den klügsten aller Idioten!“, zwitscherte Gabriel vergnügt.   „Was hast du gemacht, Gabriel?“   Er erwartete nicht wirklich, darauf eine befriedigende Antwort zu bekommen, rechnete außerdem höchstens mit der Halbwahrheit. Aber aus irgendeinem Grund schien der Erzengel wahnsinnig stolz auf sich zu sein und noch dazu in Plauderstimmung.   „Ich habe euch für eine Weile ins Off geschickt“, erklärte er, als sei dies die einfachste Sache der Welt. „Ins Monster-Off. Abgesehen von meiner Wenigkeit“, er zeigte ausholend auf sich selbst, „Habe ich keine übernatürlichen Einflüsse zu euch durchgelassen. Was glaubst du, wie viel Arbeit es war, eure Telefone, die Nachrichten und vor allem das blöde Internet vor euch zu filtern?“ Er seufzte und wenn Sam nicht das Zwinkern in seinen Augen bemerkt hätte, hätte er ihn tatsächlich für erschöpft gehalten.   „Für den Rest der Welt haben natürlich weiter übergriffige Monster gewütet und Menschen sind auf mysteriöse Weise gestorben oder verschwunden!“ Sam riss empört den Mund auf, aber Gabriel unterbrach seinen stummen Protest mit einer Handbewegung. „Es gibt andere Jäger auf der Welt, Samshine. Viele von ihnen haben sich um Fälle gekümmert, die normalerweise ihr übernommen hättet. Und gib es zu: War es nicht eigentlich genau das, was du dir wünschst? Ein ruhigeres und normaleres Leben, weniger Übernatürliches, weniger Weltretten, mehr Sesshaftwerden?“ Er lachte kehlig; ein erstaunlich wohlklingender, tiefer Laut für diese nervige kleine Menschenhülle. Sam schloss den Mund wieder. „Keine Sorge, ihr wart absolut sicher in eurem Vakuum!“   „Ich mache mir keine Sorgen!“, widersprach Sam und das stimmte sogar. Gabriel war eine Landplage, aber dass er ihm oder Dean ernsthaft schaden wollte, bezweifelte er. Ungenutzte Gelegenheiten dazu hatte er jedenfalls unzählige verstreichen lassen. „Aber was war außerhalb? Es ist nicht so, als hätten wir je groß eine Auszeit gehabt! Irgendeine Lilith oder ein Crowley, eine Abbadon – Lucifer! Dieser ganze Mist endet niemals!“   Bei der Erwähnung Lucifers flackerte eine seltsame Mischung aus Schmerz und Bedauern über die spöttische Fassade des Tricksters.   „Mach dir keine Gedanken, Sam-Sam.“ Gabriel klang sanft. „Kein Endboss wartet zu Hause auf dich. Was ich vor euch versteckt habe, ging vorher hierdurch.“ Er tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. „Und glaube mir, die Welt ist noch genauso verkorkst, wie sie es immer war. Aber zumindest plant gerade niemand zu offensichtlich, seine post-ödipalen Krisen an ihr auszulassen.“   Sam nickte. Wieder konnte er nicht anders, als dem verrückten Engel Glauben zu schenken. „Dann verrat‘ mir jetzt, warum du es getan hast? Du musst doch irgendeinen Grund dafür gehabt haben!“   Lachfältchen bildeten sich in Gabriels Augenwinkeln, was ihm einen ungewohnt herzlichen Ausdruck verlieh. „Oh, der Grund wird dir gefallen! Zumindest wirst du ihn nachvollziehen können. Es war nämlich!“ Er machte eine dramatische Pause und hob den Zeigefinger schon wieder gefährlich nah vor Sams Gesicht. „Bruderliebe, Samoose. Nichts als Bruderliebe!“   Sam runzelte verständnislos die Stirn. Was hatten andere Engel damit zu tun? Waren nicht alle Erzengel – offensichtlich außer Gabriel – nun ja … tot oder in einem unerreichbaren Käfig weggesperrt?   Die Gedanken mussten ihm ins Gesicht geschrieben stehen oder Gabriel las nach Engelart in seinem Geist wie in einem offenen Buch, denn er sagte unumwunden: „Du denkst zu kompliziert, Sammy!“ Erneut war sein Tonfall erstaunlich sanft, fast liebevoll und ging Sam, in Verbindung mit dem Namen, von dem ausschließlich Dean Gebrauch machen durfte, gehörig gegen den Strich.   Moment … Bruderliebe. ‚Sammy‘ … Dean? Nein –   „Castiel? Es geht um Cas?“   Gabriel nickte zufrieden. „Und nochmal den Preis für den weltklügsten aller Idioten“, schnurrte er.   „Ihr Winchesters, Castiel und euer Versteck seid ziemlich engelsicher. Glaub mir, es war ein hartes Stück Arbeit, euch zu finden, als ich erfahren habe, dass Cassie die Existenz wieder einmal aus der darwinschen Perspektive genießt. Und es scheint diesmal unumkehrbar zu sein.“   Sam lauschte mit gemischten Gefühlen. Es gefiel ihm gar nicht, dass Gabriel, ob Erzengel oder nicht, trotz aller Sigillen, Schutzzauber, Tattoos und Sicherheitsvorkehrungen in der Lage gewesen war, den Bunker aufzuspüren. Über seine Zweifel entging ihm fast der Hauch von Wehmut, den der Trickster überraschenderweise vor ihm offen legte.   „Cassie wird altern und sterben wie ein Mensch. Er ist immer noch ein Engel, ein Seraphim, aber seine Gnade ist zu einer Art engelhaften Seele geworden. Seine menschliche Hülle, sie gehört jetzt zu ihm. Mehr als je zuvor. Das ist für einen Engel ein unbeschreiblicher Verlust. Es gibt keine Worte dafür.“   Sam schwieg. Zu ähnlichen Schlüssen war er aufgrund von Cas‘ Erzählungen selbst schon gekommen, obwohl er nicht ganz sicher war, wie viel der gefallene Engel selbst über seinen Zustand wusste. Hatte er sich mit dem dauerhaften Verlust seiner Gnade abgefunden? Sam schluckte betroffen. Seine eigenen Gefühle zu diesem Thema würde er vorerst zurückstellen müssen.   „Keine Worte in keiner Sprache, nicht einmal in Henochisch.“   Gabriels Sanftheit kam überraschend; der Erzengel hatte keine abschätzigen Bemerkungen über die menschliche Spezies fallen lassen und es verwunderte Sam, dass er derart großen Anteil am Schicksal des besten Freundes der Winchesters nahm. Soweit der Jäger wusste, hatte Cas im Himmel keinen guten Ruf mehr – und das war noch eine gewaltige Untertreibung.   Der Trickster aller Trickster lächelte traurig. „Ich wollte Cassie etwas Ruhe gönnen, eine kleine Auszeit, nenn es Urlaub, wenn du willst. Ich wusste, dass er sich nicht lange davon abhalten lassen würde, mit euch auf die Jagd zu gehen, aber er ist dazu noch nicht bereit. Er braucht Zeit, um das Leben zu lernen. Danach kann er sich immer noch mit euch zwei Trotteln“, er zwickte Sam in die Seite, der zusammenfuhr und sich ein gutes Stück von Gabriel weg lehnte, „die Köpfe einschlagen gehen.“   Sam räusperte sich und strich sein Hemd an der Stelle glatt, an der Gabriel ihn gekniffen hatte.   „Schön, ich seh‘ ein, warum du uns ins ‚Vakuum‘ geschickt hast, Gabe.“ Der Erzengel stutzte bei dem Spitznamen und Sam musste den Drang unterdrücken, ihm triumphierend die Zunge herauszustrecken. Der jahrelanger Einfluss eines zu Streichen aufgelegten Bruders. Was der Erzengel konnte, konnte er auch.   „Aber wieso musstest du mich dazu auf ein Date mit dir selbst schicken? Im Ernst, es war furchtbar! Womit habe ich die Clowns verdient?“   Gabriels schallendes Lachen durchbrach die schwere Stimmung wie erfrischender Sommerregen.   „Weil du geschnüffelt hast und neugieriger bist, als dir gut tut! Ich musste dich ablenken und auf andere Gedanken bringen. Es hat eine Weile gebraucht, aber ich habe etwas – jemanden – gefunden, der dich genug beschäftigt, um dich vom Offensichtlichen wegzulocken.“   Sam errötete, was ihm im Zusammenhang mit Eileen, der echten Eileen, in der letzten Zeit entschieden zu oft passiert war.   Gabriel betrachtete ihn einen Moment lang aus unergründlich blitzenden Augen, bis er unruhig auf dem Fahrersitz herumzurutschen begann.   „Es hat zwar Spaß gemacht, mit dir auszugehen. Aber ich hoffe, du lernst daraus etwas, Samshine! Nimm dein Glück in Zukunft etwas mehr selbst in die Hand. Ohne Clowns.“   Die Lehre des Tricksters. Schmerzhaft, bösartig, auf moralisch fragwürdigste Art und Weise urkomisch.   Sam räusperte sich abermals. „Das werde ich. Ich versuche es. Aber sag mal … Dean ist normalerweise derjenige, der vom Jagen nicht genug bekommt. Wieso hast du nichts getan, um ihn davon abzulenken, dass nichts passiert?“   Gabriel kicherte vergnügt. „Dein närrischer Bruder hat sich meinen Plänen gefügt, ohne dass ich etwas dafür tun musste. War mit dem Herzen genau an der richtigen Stelle, auch wenn sein Kopf manchmal zu tief in seinem Hintern steckt. Oder in deinem.“   Sam dachte an den Browserverlauf auf Deans Laptop. Die Bereitwilligkeit, Cas einen Wunsch zu erfüllen und mit ihm in den Baumarkt zu fahren. Die Verbindung zwischen den beiden, deren Ausmaße er selbst nur erahnen konnte. Sam nickte.   „Eine Frage hab‘ ich noch, Gabe.“   „Nur diese eine? Dad, heute muss mein Glückstag sein – Sam Winchester gehen die Fragen aus!“   Dafür bekam Gabriel ein Augenrollen.   „Was ist mit Maria Om? Ihr Name ist ein Anagramm, das habe ich verstanden, aber ist sie oder ihre Hülle eine reale Person? Wird sie vermisst und ich konnte aus dem Monster-Vakuum nur nichts über sie finden?“   „Die gute Maria“, seufzte Gabe und ließ sich tiefer in den Beifahrersitz sinken, als habe er an sie besondere Erinnerungen, in denen er in diesem Moment nur allzu gern schwelgen würde. „Maria ist eine Illusion von mir gewesen, sollte deinen hübschen Kopf eine Weile beschäftigt halten. Sie steht symbolisch dafür, dass Amor noch eine ganze Menge von mir zu lernen hat!“   *   Als Sam den Bunker durch die Seitentür der Garage betrat, fühlte er sich wie erschlagen und außerdem irgendwie … klebrig. Schmutzig. Die Ziele des Erzengels mochten (gegenüber Cas) noch so ehrenhaft gewesen sein – seine Spielregeln waren es nicht. Sam sehnte sich nach einer heißen Dusche und überlegte sogar, ob er seinen Bruder um eine Flasche Whiskey bitte sollte. Wie sich herausstellte, waren Dean und Castiel aber noch nicht zurückgekehrt, weshalb Sam sich zum zweiten Mal an diesem Tag ausgiebig der Körperpflege widmete.   Als er nach einer halben Ewigkeit mit krebsroter Haut und in frischer, bequemer Kleidung in die Küche des Bunkers zurückkam, traf er auf Castiel, der einsam und, wie es schien, etwas ratlos in der Gegend herumstand. Besonders auffällig war dabei, dass er wieder in den schlabberigen Sachen der Winchesters vom Morgen steckte.   „Hey, Cas!“, begrüßte Sam den Engel und kämpfte seine Erschöpfung mit dem Versuch eines Lächelns nieder. „Was soll der Aufzug? Wart ihr nicht einkaufen?“ Er deutete der Länge nach auf Cas‘ Körper.   „Hallo, Sam. Es kam nicht dazu“, antwortete der Engel knapp. Sein Tonfall war schwer zu deuten.   „Das Auto ist auf dem Rückweg liegen geblieben – es ist eine lange Geschichte.“   Sam hob eine Braue, doch Cas hob nur die Schultern.   „Dean hat gesagt, er bestellt mit mir zusammen etwas zum Anziehen im Internet. Ich darf mir alles selbst aussuchen.“   Sam lächelte. Das klang tatsächlich sehr nett und Cas schien sich darüber zu freuen.   „Wart ihr wenigstens im Baumarkt?“   „Oh … nein. Das haben wir auch nicht mehr geschafft. Es ist viel passiert.“   Sam beschloss, seine Verwirrung hinunterzuschlucken. Castiel beantwortete zwar bereitwillig all seine Fragen, schien von sich aus aber nicht allzu viel erzählen zu wollen und für ein Verhör war er entschieden zu müde.   „Wie war deine Verabredung mit Eileen Leahy?“   Mist.   „Ja … Es war ein anstrengender Tag. Was hältst du von einer Runde Netflix? Ich wollte gerade Bier holen. Irgendwo haben wir noch Nachos. Ich suche sie, du holst Dean?“   Castiel lächelte leicht und überraschte wieder einmal mit einem größeren Maße an Empathie, als man es ihm zutraute: Er bohrte nicht weiter. „Ich sage Dean Bescheid, wenn er aus der Dusche kommt.“   *   Irgendwie ergab es sich, dass sie sich im Schlafzimmer Nummer 15, in Cas‘ Zimmer, trafen. Er hatte den meisten Platz, weil sein Raum nach wie vor nur mit dem Nötigsten eingerichtet war, und er beschwerte sich nicht schon vorab über Krümel im Bett (Sam) oder darüber, dass fremde Hintern die Memory Foam Matratze ruinierten (Dean).   Es war ein wenig seltsam, wie sich drei erwachsene Männer so auf dem Bett arrangieren konnten, dass niemand die Füße oder Ellenbogen der anderen im Gesicht hatte, aber irgendwie passte es: Dean, am Fußende, lag rücklings auf der Matratze, ließ Kopf und Beine über den Rand hinaus hängen und lauschte eher, als dass er zusah, während er sich geräuschvoll und kopfüber Nachos in den Mund schaufelte. Die Schüssel balancierte er auf seinem Bauch; sein Bier hielt er leichtsinnigerweise zwischen den Knien, so als habe er noch nie in seinem Leben unangenehme Erfahrungen mit Getränken auf seiner Hose gemacht. Sam lehnte aufrecht am Kopfende, die Beine im Schneidersitz verschränkt, die Bierflasche in den Händen drehend und sein Smartphone im Schoß, dem er ab und an einen unsicheren Blick schenkte. Castiel saß mit ausgestreckten Beinen zwischen den Brüdern, den Laptop so auf seinen Knien balancierend, dass er und Sam der Serie folgen konnten, da Dean sich offensichtlich gegen den visuellen Reiz entschieden hatte.   Aus den Augenwinkeln bekam Sam mit, dass Cas‘ linke und Deans rechte Hand sich des Öfteren beim Angeln in der Nachoschüssel trafen, bis sie sich stattdessen irgendwann gezielter, aber immer noch schüchtern auf Deans Bauch anstupsten. Die Hände verschwanden zwischen Cas und Dean auf der Matratze und aus Sams Blick, aber er war sich sicher, dass sie ihre Finger miteinander verschränkt hatten; insbesondere dem ungewohnten Leuchten auf Castiels Gesicht nach zu urteilen und dem, was er von Deans Zügen in dessen unmöglicher Position erkennen konnte, grinste dieser peinlich berührt vor sich hin.   Sam konnte im Stillen nur den Kopf schütteln und sich fragen, was den Engel zu diesem Mut und seinen Bruder zur Überwindung seiner Ängste bewegt haben mochte. Er würde sich hüten, die beiden allzu bald darauf anzusprechen – es wurde endlich Zeit, dass sie diese Angelegenheit geregelt bekamen und Sam würde das sicher nicht verhindern, in dem er sie unnötig in Verlegenheit brachte.   Eine gehörige Portion Stolz auf seine Familie und auch etwas Wehmut mischten sich in die Erschöpfung des Tages. Wenn man es genau nahm (Und Sam war ein sehr detailversessener Mensch!), hatte er heute kein Date gehabt und, so betrachtet, hatte sich nicht das Geringste für ihn geändert. Er war nach wie vor allein.   Er würde Dean und Cas früher oder später von seinem … Abenteuer mit dem Erzengel erzählen. Er musste ihnen sagen, was es mit dem Ausbleiben der Fälle auf sich hatte. Musste sie beide darauf ansprechen, was es bedeutete, dass Cas nun für immer ein menschlicher Engel war und mit ihnen lebte und starb.   Nur nicht heute Abend. Zum ersten Mal seit langem fühlte sich der Frieden auch tatsächlich friedlich an.   Mit einem leisen Seufzen aktivierte er das Display seines Telefons, entsperrte es und öffnete die Kontaktliste. Als er eine Nachricht zu tippen begann, merkte er, dass das Handy auf ‚laut‘ gestellt war und die visuelle Tastatur wie eine Schreibmaschine klapperte.   Das Geräusch erregte Deans Aufmerksamkeit, der sich mit einem Ächzen in eine sitzende Position bequemte und dabei nur knapp mit der freien Hand die Nachoschüssel vor dem Absturz bewahrte. Er rutschte näher an Cas heran, so dass ihre Schultern aneinander stießen, sein neugieriger Blick galt jedoch Sam.   „Wem schreibst du?“, fragte er und starrte schamlos auf das Handy in Sams Händen, obwohl er quer über das Bett unmöglich etwas erkennen konnte. „Eileen? Wie war euer Treffen eigentlich?“   Sam wand sich innerlich, wünschte sich den Frieden und Deans geräuschvoll kauendes Schweigen von vor zwei Minuten zurück.   „Dean, ich möchte das sehen“, sagte Castiel plötzlich unerwartet und nickte mit dem Kopf Richtung Laptop. „Wir können uns morgen über den Tag unterhalten.“   Dean öffnete den Mund, wollte sichtlich widersprechen, doch ein Blick in Cas‘ Gesicht und er schloss ihn wieder. Stattdessen fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen, als zögere er vor einer Entscheidung. Schließlich zuckte er ergeben die Achseln und rutschte mit einer Art gezwungenen Selbstverständlichkeit noch ein Stück näher an den Engel heran, bis sich nicht nur ihre Schultern, sondern auch ihre Arme und Beine der vollen Länge nach berührten.   Sam schenkte Castiel ein dankbares Lächeln, was Cas erwiderte, bevor er seinen Kopf behutsam auf Deans Schulter sinken ließ. Dean nahm es mit einem leisen Brummen hin, das überraschenderweise nicht allzu sehr nach Protest klang.   Mit einem eigenartigen Gefühl in der Magengegend (Rührung? Neid?) wandte Sam sich wieder der angefangenen Nachricht zu und tippte sie – diesmal geräuschlos – zu Ende:   [09:03PM]: Hi, Eileen! Wann bist du das nächste Mal in der Gegend? Ich würde dich gerne wiedersehen. Sam   Er drückte auf ‚Senden‘, bevor er es sich anders überlegen konnte.   Nimm dein Glück selbst in die Hand, hatte Gabriel gesagt. Vielleicht war es dumm, ausgerechnet auf den Trickster zu hören, aber was sollte schon schief gehen? Schlimmer, als dieses Date mit ihm konnte es unmöglich werden, oder? Epilog: Bonus-Kapitel: Prise Erzengel zum Desaster gefällig? ------------------------------------------------------------   Cas' Augen folgten Deans Flucht, als er den Anruf von einer fremden Nummer entgegen nahm. Die Bewegungen des Jägers waren ungewohnt hölzern, als er sich eilig aus seiner Bank und an der Tischkante vorbei quetschte, die Hände schützend über den Wust Papierservietten in den Schritt gepresst.   Das statische Rauschen an seinem Ohr ließ ihn beinahe vergessen, dem unbekannten Anrufer zu signalisieren, dass er zuhörte.   „Hallo?“   Das Knistern erreichte eine schmerzhafte Intensität, dann wurde die Verbindung besser. Castiel erhaschte noch einen Blick in sein Gesicht, bevor Dean mit hochgezogenen Schultern Richtung Herrentoilette hoppelte; es war unnatürlich rot und wie versteinert. „Cassie!“ Das Rauschen verebbte. Die Stimme am anderen Ende kam ihm verstörend vertraut vor und sein menschliches Selbsterhaltungssystem befahl Jimmys – Meinem! – Körper augenblicklich die Ausschüttung von Adrenalin.   Ein schlechter Scherz?   Es gab nur eine einzige Person, die ihn ‚Cassie‘ nannte, ohne ihn damit herabsetzen zu wollen. Auch jetzt hatte diese unverkennbare Stimme nahezu liebevoll, wenn auch neckend geklungen. Das letzte Mal, als er sie gehört hatte, war er in der Lage gewesen, das Echo des engelhaften Originals durch die menschlichen Hülle wahrzunehmen. Und beim letzten Mal hatte Metatron seine Finger im Spiel gehabt und Cas mit einem Hirngespinst sprechen lassen. Misstrauen kräuselte sich tief auf seiner Stirn, als er möglichst kühl fragte: „Wer ist da?“ Die Stimme lachte amüsiert; ein Lachen, so scharf und klar wie Glas und es sorgte dafür, dass er eine Gänsehaut bekam. Auch ohne engelhafte Wahrnehmung hatte es eine eigenartige Wirkung. „Der einzig wahre Trickster, kleiner Bruder!“ Cas' Augen huschen ziellos umher, suchten nach einem Fokus, der ihm Halt gab, nach einer optischen Bestätigung in dem heruntergekommenen Fastfood Laden für das eben Gehörte .   „Gabriel“, stieß er halblaut aus.   Dean war immer noch verschwunden. Das altbekannte Bedürfnis, ihn in seiner Nähe zu wissen, ihn zu warnen, ihn abschirmen zu wollen, meldete sich passenderweise mit dem Gedanken an ihn.   „Ist das ein Scherz?“ „Was sonst, wenn es von mir kommt?“ Das vergnügte Zwinkern war förmlich durchs Telefon greifbar. „Gabriel – live und in Stereo! In Farbe vielleicht ein andermal.“ „Wie kann ich sicher sein, dass du es bist?“, fragte Castiel, jegliche aufkeimende Freude in sich niederringend. Alle Erzengel waren auf ihre eigene Art eine Plage, aber Gabriel hatte er immer gemocht. Er teilte seine eigene Liebe zu den Menschen, auch wenn er ihnen viel zu gern morbide Streiche spielte. Sein Tod hatte Castiel zutiefst mitgenommen. „Der Gabriel, den ich kenne, lebt schon lange nicht mehr. Wenn du tatsächlich er bist, wie du vorgibst, wieso offenbarst du dich mir erst jetzt? Von den anderen Erzengeln droht seit Jahren keine Gefahr mehr. Du hättest dich nicht verbergen müssen.“   Ein lautes Schnauben. „Cassie, Cassie! Eine Verbindung zu dir ist nicht gerade das, was ich als besonders lebensförderlich bezeichnen würde! Außerdem habe ich die Auszeit gebraucht. Ich war jahrelang undercover und der Moment, als ich mich entschieden habe, Partei in der Familie zu ergreifen, war mein Ende! Nimm es mir nicht übel, meine Sympathien zu dir sind groß, Cassiekins! Mein Selbsterhaltungstrieb ist größer. Mein Wunsch nach Bequemlichkeit am allergrößten." Castiel musste zugeben, dass der Anrufer überzeugend war. Sehr. Halb erwartete er das Aufflackern des gottgegebenen Respekts vor einem Engel der höchsten Ordnung. Seine jahrelange Rebellion hatte ihn niemals um das Bewusstsein seiner wahren Natur gebracht. Er wollte Gabriel gern glauben, dass er echt war, und das vertraute Gefühl von Zugehörigkeit, das Verlangen nach Gehorsam würden ihm endgültige Sicherheit verschaffen. Er horchte in sich hinein und spürte ... nichts. Bloß ernüchternd menschliche Zweifel. „Wie hast du überlebt?“ Frustration,so nannte sich das Gefühl, das ihm mit der Frage entwischte. Er kannte es bereits seit langer Zeit; man konnte nicht Seite an Seite mit einem Winchester auf Erden wandeln, ohne gelegentlich eine gehörige Portion davon zu empfinden.   „Aah, nicht jetzt, Cassie. Ich habe wenig Zeit, obwohl ich zu gern mit dir plaudern würde! Es ist schwer, einen Bruder ohne Engelsfunk zu erreichen.“ Das war nicht weiter verwunderlich. Da Gabriel gewillt gewesen war, Castiels Mobilnummer in Erfahrung zu bringen, wusste er natürlich längst um den Verlust seiner Gnade.   „Schön, was willst du dann, Gabriel? Da du weißt, dass ich sterblich bin – wie kann ich dir helfen?“ Dem zufriedenen Geräusch nach zu urteilen, hatte Cas den wahren Grund für Gabriels Anruf gestreift: Der Erzengel wollte etwas von ihm. „Zum einen mit dem Versprechen, niemandem zu sagen, dass ich nicht in der großen Leere versauere. Ich wollte dich wissen lassen, dass es mich noch voll funktional gibt, um dir eine Freude zu machen. Also, zum anderen: Freu dich darüber, dass ich lebe!“ Cas unterdrückte den ersten Anflug von Gereiztheit. Natürlich war es eine wunderbare Nachricht, dass Gabriel nicht tot war. Unausstehlich konnte er trotzdem sein – lebendig eben deutlich effektiver als tot.   „Natürlich freut es mich, dass du wohlauf bist, Gabe!“ Ein Kichern, wohl ob des Kosenamens. „Halt, ich war noch nicht fertig! Ich muss dich darum bitten, dafür zu sorgen, dass Dean Winchesters Smartphone ausgestellt bleibt. Zumindest, bis ihr wieder zurück im Bunker seid.“ Ratloses Schweigen. Das Adrenalin befand sich noch immer in seinem Blut und Nervosität brachte sein schrecklich menschliches Herz zum Flattern. Ja, Gabriel war vertrauenswürdig. Aber trotzdem wusste er entschieden zu viel. Dazu kam die dringliche Frage, was er mit all diesen Informationen anzufangen gedachte: Dass Cas und Dean unterwegs waren, wo sie lebten, Cas‘ Telefonnummer, dass Deans Handy nicht eingeschaltet war.   „Was hast du vor?“ Cas‘ Tonfall klang lächerlich drohend, ein Knurren beinahe. Sein Beschützerinstinkt hatte sich eingeschaltet, bevor sein Verstand ihn daran erinnern konnte, dass er in seinem jetzigen Zustand eine Schmeißfliege war, die sich mit einem Adler anzulegen versuchte. Eine Fliege, der man die Flügel geraubt hatte.   Erstaunlicherweise schien Gabriel Castiels spürbare Verteidigungshaltung zu respektieren, zumindest blieb der Spott aus.   „Mach dir keine Gedanken!“ (Wie eigenartig, dass Gabriels Worte genauso gut „Brich in Panik aus, es geht alles den Bach runter!“ hätten lauten können, um einen vergleichbaren Effekt bei Cas auszulösen.) „Deinem kleinen Jäger geht es gut. Kümmere dich um ihn und alles wird seinen Lauf nehmen, glaube mir!“ „Was meinst du damit? Drück dich klarer aus, Gabriel!“   Gabe gluckste. „Weißt du, dass Sam heute eine Verabredung hat?“ „Ja, natürlich weiß ich davon...?“ „Sagen wir mal so: Mir liegt sehr viel am persönlichen Glück des Elchs. Ich habe mit vielen kleinen und auch nicht ganz so kleinen Zufällen dafür gesorgt, dass es überhaupt erst zu dieser Verabredung kam.“ Castiel holte Luft, um nach Details dieser ‚kleinen Zufälle‘ zu fragen, doch Gabriel plapperte einfach weiter: „Ich übernehme Amors überfällige Arbeit, Cassie! Und meine zwei persönlichen Turteltäubchen dürfen auf keinen Fall gestört werden, verstehst du mich?“ Nein. Castiel verstand überhaupt nicht. Die Arbeit eines Cupidos war weit unter der Würde eines Erzengels. Dazu kam das merkwürdige und viel zu große Interesse am Liebesleben von Sam. Das einzige, was Cas daran verständlich schien, war, warum er Dean aus der Angelegenheit heraushalten sollte, indem er dafür Sorge trug, dass der Jäger sein Handy ausgeschaltet ließ. Dean wäre alles andere als begeistert davon, wenn er erführe, dass sich ein Engel aus einer puren Laune heraus in die Herzensangelegenheiten seines kleinen Bruders einmischte. „Nein. Ich verstehe nicht im Geringsten, was du damit bezweckst!“ Gabriel seufzte. Es klang erstmals etwas ungeduldig. „Ich habe wirklich nicht viel Zeit, Castiel. Ich verspreche hoch und heilig, dass ich dich bald treffen werde, und dann plauschen wir zwei über alles Weitere! Und ich schwöre dir bei meiner Trickster-Ehre, dass deinen beiden Lieblingsmenschen nicht ein Haar gekrümmt wird! Samshine kriegt höchstens etwas mehr Zucker als sonst!“ Das unverkennbar dreckige Lachen ließ Cas überlegen, ob der Erzengel soeben einen anzüglichen Witz gemacht hatte, dessen Bedeutung sich ihm nicht erschloss. Bevor er danach fragen konnte, erschien jedoch Dean in seinem Blickfeld. Offenbar war er die Papierservietten losgeworden und seine Jeans wirkte erstaunlich trocken. Nichtsdestotrotz war sein Gang nicht annähernd so lässig und selbstbewusst, wie Castiel es von ihm gewohnt war. Jeder Schritt sah aus, als ginge er auf heißen Kohlen und die Krümmung seiner O-Beine fiel noch deutlicher als üblich ins Auge. Cas fühlte bei diesem unbeholfenen Anblick etwas Warmes in sich aufsteigen, das er zum Teil als Mitgefühl identifizieren konnte, zum Teil mit dem in Verbindung brachte, was er empfand, wenn er sich im Internet Videos von tapsigen Tierjungen anschaute. Dean näherte sich ihrem Tisch, vermied es aber, Cas ins Gesicht zu sehen. „Es tat gut, dich zu hören, Cassiekins, aber ich muss jetzt auflegen. Ein Auge auf die Liebe haben, du verstehst. –„Nein.“ – Kümmer dich gut um deinen Winchester. Ich achte auf den anderen. Bis bald!“ Ein Tuten in der Leitung verriet Castiel, dass Gabe aufgelegt hatte. Cas wog das Handy ein wenig ratlos in der Hand und unterdrückte das Verlangen, sich in Deans persönlichen Freiraum zu lehnen, als dieser überraschend neben ihm Platz genommen hatte.   Gabriel war also wirklich zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)