Zwischen Molotowcocktails und Shakespeare von Curupira ================================================================================ Kapitel 4: Kapitel 3. --------------------- Leise vor mich hin fluchend pfeffere ich mein Chemiebuch und das Formellbuch gemeinsam mit meinem Hefter und der Federmappe in meine Tasche. Dabei fällt mein Blick auf mein Smartphone und ich muss, wie so oft, an Dancing Juliet denken und frage mich, ob sie noch auf eine Antwort wartet. Drei Wochen sind seit ihrer Frage ins Land gezogen. Drei Wochen in denen weder ich noch sie etwas geschrieben haben. Drei Wochen, in denen ich auch nichts von meinen Freunden und Kameraden zu Hause, gehört habe. Und drei Wochen, seit der Ohrfeige. An meiner Situation im Internat und in der Schule hat sich nichts zum Guten verändert. Eher hat sich alles verschlechtert. Die Lehrer haben ihren Unterrichtsstoff angezogen und die ersten Leistungskontrollen, die ich vergeigt habe, wurden auch schon geschrieben. Dabei habe ich mein Heimwochenende extra auf das kommende Wochenende gelegt, damit ich noch einmal für Mathe lernen konnte. Geholfen hat es mir gestern allerdings nicht, weil ich am Wochenende den falschen Stoff gelernt hatte. Von den Schülerinnen und Internatsbewohnerinnen werde ich geschnitten und hinter meinem Rücken tuschelt man über mich. Weshalb ich die meiste Zeit für mich bin, mich in meinem Zimmer vergrabe, außer die Ordensschwestern, die im Internat für uns zuständig sind, zwingen mir irgendwelche Gruppenaktivitäten auf, an denen alle teilnehmen müssen. Das einzig positive an Heute ist, dass wir erst nach dem Wochenende wieder Chemie haben. Ich schultere meine Tasche und ärgere mich über meine Unfähigkeit. Als die große Schultür hinter mir ins Schloss fällt und mir die warme Luft sanft über den Rücken streicht, bin ich überrascht, als ich höre, wie jemand meinen Namen ruft. Auf dem großen Parkplatz, der uns in den Pausen als Pausenhof dient, steht ein klapprig aussehendes Auto und Uschi mit Ralf, die mir zuwinken. Mein Herz macht einen freudigen Hüpfer und ich eile zu ihnen. »Seit ihr meine Fluchthelfer?«, frage ich Uschi, als ich ihr in die Arme falle und auch Ralf kurz in die Arme nehme. »Wie habt ihr mich denn gefunden?« »Wir haben am Ende deine Eltern gefragt«, grinst Uschi mich an und Ralf spricht für sie weiter: »Erst haben wir es selbst versucht und uns um ein Auto gekümmert, aber die vom Jugendamt geben ja niemanden Auskunft.« »Und die Anderen, Paul?«, frage ich und bemerke den seltsamen Blick, den sie sich zuwerfen und ich fühle, wie meine Freude einen Dämpfer bekommt. »Seit ihr jetzt eigentlich zusammen?«, schiebe ich hinterher, als ich keine Antwort auf die erste Frage erhalte. Uschi nickt, sieht mich einen Moment verträumt an, bevor ihr Gesicht einen ernsten Ausdruck annimmt. »Du hast viel verpasst, Romy. Es ist einiges zu Hause passiert, dass nicht gut ist. Vielleicht setzen wir uns ins Auto und reden da weiter?«, schlägt Ralf zögernd vor und blickt in die Ferne zum Schulgebäude. Ich folge seinem Blick und sehe einige Schülerinnen aus meiner Klasse in unsere Richtung blicken. Ich kann nicht erkennen, um wen es sich handelt, könnte aber auch keine Namen nennen, wenn ich sie erkannt hätte, weil ich mir die Namen meiner Mitschülerin noch immer nicht eingeprägt habe. Uschi und setzen uns auf die Rückbank von Ralfs kleinen Ford und Ralf setzt sich ans Steuer, startet den Motor und fährt vom Parkplatz runter. »Es hat einige Hausdurchsuchungen gegeben«, beginnt Uschi ohne Wischiwaschi zu erzählen. Ich wende meinen Blick vom Fenster ab, schaue sie überrascht an und spüre, wie sich meine Härchen an den Armen aufstellen, als sie weiter spricht. »Die Bullen waren erst bei Schubi und Paul. Danach bei mir und Ralf und einigen Anderen. Soweit wir wissen, waren sie nicht bei dir zu Hause. Sei froh, dass du mit dieser Scheiße nicht in Verbindung gebracht wirst. Jedenfalls wurden bei Paul und Schubi unregistrierte Schusswaffen gefunden, weshalb sie seit gestern in U-Haft sitzen, wegen illegalen Waffenbesitz und weil mit einer der Waffen, vor zwei Wochen, fünf Türken erschossen wurden.« Sprachlos starre ich Uschi an und bekomme kein Wort heraus, während wir im Schritttempo über die Straße tuckern und Ralf mir über den Rückspiegel immer wieder einen besorgten Blick zuwirft. Erinnerungen flackern in Szenen durch meinen Kopf. Szenen von der Nacht beim Asylantenheim, wie Schubi und Paul schreiend die Molotowcocktails geworfen haben. Wie wir unsere Hassparolen rezitiert haben. Szenen, wie wir alle lachen und deutlich alkoholisiert, die Punker am Bahnhof oder Randomausländer in der Stadt verprügeln. Mir ist immer bewusst gewesen, dass Paul und Schubi besonders von den Türken in unserer Stadt genervt sind. »Für mich geht das zu weit«, unterbricht Uschi meine Gedanken. »Ich steige aus dieser Nummer aus. An deiner Stelle solltest du froh sein, dass du von dort weg bist, Romy.« »Aussteigen?«, frage ich tonlos und starre nach vorn, direkt in Ralfs dunkle, stahlblaue Augen. »Aus der Szene? Spinnst du, Uschi? Das ist dein Todesurteil. Hast du vergessen, was wir auf die Fahne geschworen haben? Ewige Treue bis zum Schluss, Uschi«, flüstere ich erstickt und greife nach ihrer Hand. »Es waren doch nur Türken«, sage ich und bin selbst nicht überzeugt von diesen Worten. Eigentlich wollte ich sagen, dass sie mich nicht alleine lassen soll, aber das auszusprechen, dazu bin ich zu feige. Uschi drückt meine Hand und sieht mir ernst in die Augen. »Romy, ich bin zwanzig Jahre alt und habe vor ein paar Tagen erfahren, dass ich schwanger bin. Vermutlich ist Paul der Vater. Ich möchte nicht, dass mein Kind in so einer gewalttätigen Gesellschaft aufwächst.« Schwanger von Paul? Darf ich jetzt lachen, weil wir uns bei Verstehen Sie Spaß befinden? Das ist nicht mein erster Gedanke, den ich habe, aber einer der besseren Gedanken. Die anderen Gedanken drehen sich um Verrat und Hass. Ich entreiße ihr meine Hand und spüre, wie der Hass mein Herz umhüllt und die Wut in mir hochkocht. »Du und Paul? Wie lange lief das, zwischen euch?«, presse ich zwischen meinen Lippen hervor und balle meine Fäuste in meinem Schoß. Nicht weil ich Uschi boxen will, sondern um mich von so einer Tat abzuhalten. Denn die Fingernägel, die sich in meine Haut graben, beruhigen mich, halten mich im Hier und Jetzt. »Eine Weile«, murmelt Uschi und sieht beschämt auf ihre Hände. »Tut mir Leid, Süße.« »Nach mir oder während er noch mit mir zusammen war? Weißt du eigentlich, dass ich am Tag vor meiner Abreise mit ihm geschlafen habe und er am Abreisetag mit mir Schluss gemacht hat?« Nun ist es an Uschi mich schockiert anzusehen, obwohl sie weiß, dass er sich an diesem Tag von mir getrennt hat. »Nach dir«, haucht sie und sieht mich traurig an. »Hätte ich gewusst, dass er dich so ausgenutzt hat«, beginnt sie, doch ich unterbreche sie mit einem: »Spar es dir«, und sehe zu Ralf, der mich durch den Rückspiegel ansieht und einen Moment später am Straßenrand parkt. »Und du? Willst du auch«, beginne ich und spucke das Wort förmlich aus, »Aussteigen? Deinen Treueeid brechen?« »Ich will für Uschi und das Kind da sein«, sagt Ralf mit fester Stimme und dreht sich zu mir um. »Ich bin schon länger am Zweifeln gewesen, ob ich noch hinter dem stehe, was Paul und die Anderen vertreten. Ich habe meine Eltern kontaktiert. Wir ziehen nach Bayern, Romy. Scheiß auf diesen Eid, zehn Menschen sind gestorben, bei der dämlichen Aktion im Frühling. Wer weiß, wie viele Leben Paul und Schubi noch auf dem Gewissen haben.« »Ihr seit also gekommen, um euch zu verabschieden? Das hättet ihr euch sparen können«, zische ich und öffne die Autotür. Uschi hält mich am Arm zurück. Ich reiße mich los und sehe sie an. »Das war ein lebenslänglicher Treueeid, den man nicht einfach so bricht, wenn es ein bisschen ernster wird.« »Romy, in erster Linie waren die Asylanten und ermordeten Türken Menschen. Wie du und ich, aus Fleisch und Blut. Stört es dich nicht, dass du Mittäterin bist, dass man dich zur Beihilfe anzeigen kann, dir vorwerfen kann, dass du diese Asylanten ermordet hast? Das ganze Gerede vom Nationalstolz und was wir alles verändern können in Deutschland, wenn wir Deutsche uns nur zusammenschließen, ist gut und schön, aber mit Mördern möchte ich nichts Zutun haben. Als ich das mit dem Asylantenheim erfahren habe, wollte ich schon aussteigen, aber damals hatte ich zu viel Angst. Merkst du nicht, wie gefährlich Leute wie Paul und Schubi sein können?« »Ich habe genug gehört«, schnappe ich und steige aus und werfe die Tür zu, bevor Uschi mir auch nur nachrutschen kann und starre durch die Scheibe zu ihr und sehe, wie sich mich traurig ansieht. »Romy«, erklingt Pauls Stimme neben mir und blicke zu seiner heruntergekurbelten Fensterscheibe. »Denk vielleicht einmal darüber nach. Für die Szene oder Paul im Knast zu landen oder schlimmer, dein Leben zu verlieren, das ist es nicht wert. Wir haben Angst um dich, Kleine, du hast dein ganzes Leben noch vor dir.« Ich sehe ihn abfällig an, wende mich ab und gehe am Straßenrand in die Richtung, in der ich das Internat vermute. »Wenn du uns brauchst, zögere nicht und schreibe mir oder Uschi bei Facebook, Romy. Wir sind immer deine Freunde und als solche raten wird dir, auch auszusteigen, bevor es zu spät ist«, höre ich Ralf mir hinterherrufen. Ich gehe stur weiter, und bin überrascht Tränen an meinen Wangen zu spüren. Ich hasse die Beiden. Ich hasse Ausländer. Ich hasse mich. Hasse es, dass der Zweifel in mir gesät ist. Ich wische mir mit dem Handrücken über die Augen, als ich höre, wie Ralf den Motor startet und wegfährt. Ich fühle mich verlassen und einsam. Die Freude, die ich empfand, als ich Uschi und Ralf vorhin gesehen habe, liegt gefühlt, Jahre in der Vergangenheit.   Weit nach dem Nachmittagsgebet und Vesper tragen mich meine Füße auf das Internatsgelände und in das Foyer des Internats, wo Frau Kramer schon bereitsteht und auf ihr Büro deutet. Wortlos nicke ich und betrete das Büro mit gesenktem Kopf und falle unaufgefordert in den Sessel vor dem Schreibtisch. Ah, endlich Sitzen. Welch Wohltat. Seufzend strecke ich meine Beine aus und kreise meine Fußgelenke um den Füßen, die endlich aus meinen dreckigen Stiefeln raus wollen. Ich habe mich zwei Mal verlaufen, dementsprechend viel Strecke habe ich heute gemacht, obwohl ich schwören könnte, dass Ralf nur gerade aus gefahren ist. »Wie du weißt«, beginnt Frau Kramer, als sie sich mir gegenüber, hinter ihren Schreibtisch gesetzt hat. »Haben wir in unserem Haus feste Zeiten. Eigentlich dachte ich, dass du diese Zeiten mittlerweile verinnerlicht hast. Gibt es einen Grund dafür, dass du heute das Nachmittagsgebet verpasst hast?« »Ich wurde aufgehalten«, antworte ich, obwohl mir eigentlich ein klares ›Nein‹ auf den Lippen lag. Ich starre auf meinen Schoß und balle meine Hände zu Fäusten. Frau Kramer sieht mich abwartend an, als ich kurz einen Blick zu ihr riskiere, bevor ich den Kopf wieder senke. »Zwei Freunde«, setze ich an und stocke. »Zwei ehemalige Freunde, haben mich nach der Schule abgefangen und mir einige Dinge mitgeteilt, die ich nicht gut finde. Für dieses Gespräch sind wir ein Stück in der Gegend herumgefahren. Ich bin irgendwo in der Pampa ausgestiegen und habe mich auf dem Weg hierher zwei Mal verlaufen. Deshalb die Verspätung.« »Möchtest du darüber reden?« »Über Verräter gibt es nichts zu reden«, presse ich zwischen meinen Lippen hervor und sehe Frau Kramer ernst an. »Okay. Wenn du reden willst, du weißt, wo ich bin. Für das verpasste Gebet muss ich dir aber eine Strafe geben. Du wirst heute Abend nach dem Abendgebet den Speisesaal und die Kapelle wischen. Geh jetzt und kümmere dich um deine Hausaufgaben. Falls du Hilfe brauchst, Schwester Ingrid ist im Speisesaal, wo sich die meisten zum gemeinsamen Studium treffen. Schwester Ingrid teilte mir indes mit, dass du noch nie dort anzutreffen warst.« »Ich wusste nichts davon«, erwidere ich trotzig und stehe auf. Meine Füße protestieren. »Die Utensilien, findest du im Besenschrank neben dem Speisesaal«, ruft Frau Kramer mir noch hinterher, bevor ich die Tür hinter mir ins Schloss ziehe.   Als meine Zimmertür hinter mir ins Schloss fällt und ich meine Tasche achtlos von meiner Schulter rutschen lasse, sehe ich einen Zeitungsausschnitt zu meinen Füßen liegen. Ich bücke mich danach und denke, dass mir den wohl jemand unter der Zimmertür hindurchgeschoben hat. Die Schlagzeile lässt mich taumeln und um Luft ringen, weil mir ein dicker Kloß im Hals das Atmen erschwert. Fünf Tote - gezielter Anschlag von Rechts, auf eine Dönerbude. Der Zeitungsausschnitt rutscht aus meiner Hand. Mit Schnappatmung gehe ich zum Fenster und reiße es auf, in der Hoffnung, besser atmen zu können, mit etwas extra Sauerstoff. Es ist das Vibrieren meines Smartphones, dass mich beruhigt, dass mich den Anruf achtlos entgegennehmen lässt. »Süße«, erklingt es und ich erstarre beim Klang der vertrauten Stimme und muss an Uschi und Ralf denken. »Nicht auflegen, bitte. Ich habe nur ein paar Minuten Zeit.« »Was willst du?«, frage ich kratzig, weil der Kloß in meinem Hals noch nicht ganz verschwunden ist. »Ich brauche ein Alibi, Romy. Du musst für mich aussagen. Den Leuten von der Polizei sagen, dass ich an dem Tag, wo die Kerle abgeknallt wurden, bei dir war.« »Ein Alibi? Nach allem was du mir angetan hast?«, frage ich ihn ungläubig und spüre wieder diese Wut und den Hass in mir. »Du hast mich missbraucht und nachdem ich dir gegeben habe, was du wolltest, wie ein Stück heiße Kohle, fallengelassen. Vergiss es, Paul. Ruf mich nie wieder an! Sonst zeige ich dich bei der Polizei, wegen sexuellen Missbrauch an. Du vergisst, dass ich im Gegensatz zu dir, noch minderjährig bin.« »Bitte«, höre ich ihn noch flehen, dann ist alles still, weil ich aufgelegt habe und das Smartphone mit unglaublicher Wut, im Bauch, auf mein Bett schleudere. Statt auf der Matratze zu landen, kracht es gegen die Wand und ein ekliges Splittern erklingt, als es auf dem Boden aufkommt. »Scheiße«, stoße ich aus, schreie mit all meiner Wut und ramme meine Fäuste in die Kleiderschranktür, bis das Holz splittert und ein stechender Schmerz durch meine rechte Faust fährt. Ich taumle gegen das Waschbecken in meinem Rücken, drehe mich um und starre mich im Spiegel an. Sehe mich und sehe mich doch nicht. Ich erkenne mich nicht wieder. Mir steigt der metallische Geruch von Blut in die Nase und ich beobachte fasziniert, wie mein Blut, von meiner Hand, ins Waschbecken rinnt. Ich zucke erschrocken zusammen, als es an meiner Zimmertür klopft. Streife ein letztes Mal mein Spiegelbild mit Verachtung, bevor ich meinen Kopf wende, weil die Türklinke hinab gedrückt wird. Wieso vergesse ich ständig, meine Tür abzuschließen? »Romy, ist alles Okay? Martha und ich haben dich schreien gehört.« »Nichts ist okay«, entfährt es mir laut, bevor ich es verhindern kann, als ich sie erkenne und die Ohrfeige auf meiner Wange spüre, als wäre es nur Sekunden her. Ich halte mich fester als nötig am Waschbeckenrand fest und starre sie an. Sehe, wie sie lässig am Türrahmen lehnt und mit ihren Augen in die Meinen sieht. »Verpiss dich«, zische ich und atme keuchend, ob des Schmerzes, aus, weil ich aus Versehen einen Holzsplitter tiefer in meine Haut getrieben habe. Ihr Blick huscht von meinen Augen hinab zu meinen Händen, die sich noch immer ans Waschbecken klammern, obwohl ich den Splitter dabei noch tiefer in mein Fleisch drücke und zurück nach oben. Die Emotionen, die sich auf ihrem Gesicht abzeichnen sind erstaunlich und ich kann all die Ausdrücke gar nicht einordnen, nicht benennen, bin aber ziemlich überrascht, als sie einen Schritt auf mich zu macht, mich an meiner gesunden Hand greift und aus dem Zimmer zieht. »Du musst die Hand ausspülen und die Splitter ziehen, sonst entzündet sich das. Komm schnell, im Badezimmer hängt ein Erste-Hilfe-Kasten.« Ich reiße mich los und stolpere mit klopfendem Herz rückwärts in mein Zimmer. Was fällt der ein, mich anzupacken? Ich will die Tür ins Schloss werfen, habe aber nicht mit ihren schnellen Reflexen gerechnet und finde einen Moment später ihren Fuß zwischen Tür und Rahmen, der effektiv verhindert, dass ich die Tür abschließen kann. Ich ziehe die Tür wieder auf, sehe ihr Grinsen und lasse die Tür kräftiger gegen ihren Fuß prallen, doch weicht sie mit ihrem Fuß keinen Millimeter zurück. Verzieht noch nicht einmal ihre Miene dabei, wenn die Tür ihren Fuß zum wiederholten Mal quetscht.  »Hör zu«, zische ich, halte mit der Tür inne und sehe an ihr vorbei an die Wand, um diese Augen nicht noch einmal ansehen zu müssen. »Ich brauche keine Hilfe von Deinesgleichen. Ich kann mich sehr gut selbst versorgen.« Mit diesen Worten gehe ich an ihr vorbei, remple sie grob mit meiner Schulter an und stürme ohne einen Blick zurück, ins Badezimmer. Wo ich die Holzsplitter mit einer Pinzette, die ich im Erste-Hilfe-Kasten gefunden habe, unter starken Schmerzen entferne, das frische Blut von meiner Hand spüle und sie dann vorsichtig trocken tupfe. »Du musst die Hand noch desinfizieren«, erklingt hinter mir eine dunkle Stimme, die ich nicht kenne. Ich drehe mich der Stimme zu und sehe die Besitzerin flüchtig an, bevor ich mich wegdrehe. Groß, schlank und dunkelblonde Haare. Auf den ersten Eindruck wirkt sie nicht ausländisch auf mich. »Und du bist?«, knirsche ich und gehe auf den Erste-Hilfe-Kasten zu. »Martha. Juli hat mich hergeschickt.« »Aha«, entweicht es mir unintelligent, weil ich nicht weiß, von wem sie spricht und durchwühle den Kasten nach dem Desinfektionsspray, was mit einer Hand und ziemlich viel Zeug in dem Kasten, nicht so einfach ist, wie es klingt. »Du weißt schon, die, die du eben so unhöflich angezischt hast«, grinst Martha mich schwach an, als sie neben mir steht und durchwühlt den Kasten ihrerseits. Nach einigen Augenblicken reicht sie mir das Spray und sieht mich abwartend an. »Ah, die Ohrfeigen-Olle«, kommentiere ich für mich und Martha nickt. Juli also. Wie der Monat? Oder eine Kurzform? Ich schließe meine Augen und halte die Luft an, als das Desinfektionsmittel auf meiner Hand zu brennen beginnt. Scheiße, ist das unangenehm. »Bitte, kannst der berichten, dass meine Hand versorgt ist und nicht abfallen wird«, brumme ich und lasse Martha einfach im Badezimmer stehen. Sie ruft mir hinterher, dass ich das Juli selber sagen kann, weil sie in meinem Zimmer auf mich warten würde. Als ich mein Zimmer wieder betrete, ist sie tatsächlich da, sitzt auf dem freien Bett und hält den Zeitungsartikel in ihren Händen. »Freut dich so etwas?«, fragt sie leise und blickt mit einem unlesbaren Gesicht zu mir auf. Ich reiße ihr den Artikel aus der Hand und wir beobachten stumm, wie er zwischen uns auf den Boden segelt. »Raus«, sage ich und stelle mich mit dem Rücken zu ihr, an den Schreibtisch, damit sie nicht sieht, wie ich mit meinen Tränen hadere. »Und nimm diesem verdammten Artikel mit dir.« Ich höre, wie sie aufsteht und sich nach dem Zeitungsausschnitt bückt. »Geh«, zische ich, weil ich ihre Hand für eine Sekunde oder so auf meiner Schulter spüre und kämpfe darum, nicht unter meinen Emotionen einzuknicken. Als die Tür ins hinter ihr ins Schloss fällt, drehe ich mich um, stolpere zur Tür und schließe ab. Ich sacke gegen das Holz und rutsche langsam dran hinab und kann meine Tränen nicht länger zurückhalten. Heiß rollen sie an meinen Wangen hinab und fallen auf meine Beine, die ich dicht an mich gezogen habe und fest umarme.   Meine Augen sind vom Weinen geschwollen. Jeder wird also sehen können, dass ich eingeknickt bin und nicht so stark bin, wie ich vorgebe zu sein. Zynisch denke ich, dass bestimmt schon Wetten abgeschlossen wurden, wann ich denn zusammenbreche. Am liebsten will ich das Abendessen schwänzen, aber ich habe Hunger und bin nicht scharf auf eine weitere Strafe. Mit gestrafften Schultern und erhobenem Haupt gehe ich durch den Speisesaal und sinke neben Rati und Uma auf meinen Platz. Ich sehe, wie Rati mit sich kämpft und etwas sagen will, weshalb ich ihr meine Hand auf den Arm lege und sie ansehe. Ich weiß, realistisch gesehen, dass man nicht stirbt, wenn man Menschen anderer Herkunft berührt, bin aber dennoch überrascht, dass nichts passiert, wo Paul mir immer eingeredet hat, das sonst was passiert, wenn die Berührungen nicht durch Gewalt geschehen. Wenn Rati meine geschwollenen Augen und meinen Gemütszustand registriert hat, dann bestimmt auch andere. Lachen sie sich nun ins Fäustchen? »Spar dir deine Worte. Du und ich wissen, dass du sie nicht ernst meinst«, sage ich leise, lasse ihren Arm los und starre auf meinen Teller. »Woher willst du das wissen?«, flüstert Rati und klingt seltsam traurig. »Weil ich Augen im Kopf habe und sehe, dass hier alle nur darauf warten, dass ich zusammenbreche und irgendetwas Dummes tue«, erwidere ich ebenfalls flüsternd und bin wenig überrascht, dass Rati darauf nichts erwidert und fühle mich bestätigt. Nach dem Tischgebet greife ich nach meiner obligatorischen Brotscheibe und zucke zusammen, als mir Uma sanft auf den Rücken klopft und mich eindringlich ansieht, als ich ihr einen fragenden Blick zuwerfe. »Dann lass die, die darauf warten, nicht gewinnen, Romy. Zeig ihnen, dass du stärker bist. Zeig ihnen, dass du nicht so bist, wie sie dich einschätzen. Wenn es dir hilft«, flüstert Uma und tauscht einen Blick mit Rati, »dann lass mich dir sagen, dass wir hinter dir stehen. Rati und ich.« Ich denke an all die Beleidigungen, mit denen ich die Beiden in meinen Gedanken schon bedacht habe. Beschämt starre ich auf meinen Teller und umfasse mein Buttermesser fester als nötig, als ich Uma ansehe. »Danke«, hauche ich erstickt und wende meinen Blick sofort wieder meinem Teller zu. »Nicht dafür, Romy«, erwidert Uma bestimmt. »Shiva gibt allen Menschen eine zweite Chance, wenn sie denn wollen. Du musst sie nur endlich nutzen und nicht wegwerfen.« »Shiva?«, frage ich überrascht und sehe Uma an, die mich anlächelt. Ist das nicht eine hinduistische Gottheit? »Was überrascht dich daran?« »Ich dachte, wir sind hier in einem katholischen Internat?« Rati neben mir lacht leise und Uma grinst breit. »Glaubst du echt, wir wären hier, wenn Fremdgläubige unterdrückt werden?« »Aber, ihr geht doch auch zu den Gebeten«, frage ich völlig irritiert und habe mein Brot völlig vergessen, nachdem ich es mit Butter bestrichen habe. »Man toleriert uns hier, wenn wir uns der Lebensweise anpassen, so lange wir hier sind und uns gegenüber anderem Glauben offen zeigen. Toleranz heißt das Zauberwort, Romy. Vielleicht versuchst du es auch einmal damit?« Mit diesen Worten ist unser Gespräch, wenn man es denn so nennen kann, vorerst zu Ende und wir essen in Eintracht unser Essen. Ich sollte die Beiden beschimpfen, dass sie es gewagt haben, mich anzusprechen, das weiß ich. Umso irritierter bin ich, dass ich fast ein bisschen traurig bin, dass die Beiden nicht in meine Klasse gehen. Ich weiß, dass Rati und Uma eine Stufe unter mir sind und vermute, dass sie mit Marina in einer Klasse sind. Als Rati und Uma gemeinsam aufstehen und ihr Geschirr auf den Beiwagen stapeln, der neben unserem Tisch steht, sehe ich zu ihnen auf und sehe in Ratis ernstes Gesicht, mit dem sie mich mustert. »Was?«, rutscht es mir ungewollt barsch raus. Rati grinst schief und hält mir ihre Hand hin. »Freunde?« Ich überrasche mich selbst und ergreife Ratis Hand nach einem Augenblick und denke, dass ich es einmal mit Toleranz versuchen will. Muss ja von den Kameraden vorerst keiner wissen.   An diesem Abend, beim Gebet, versuche ich mich erstmals an einem inneren Zwiegespräch mit Wem auch immer, der mir dabei zuhört. Mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen bete ich, dass Uschi und Ralf nichts geschieht, nur weil sie vom rechten Weg abgekommen sind. Die restliche Zeit denke ich darüber nach, was dieser Versuch aus meiner Gesinnung macht. Lässt sich Toleranz überhaupt damit vereinbaren? Ich verlasse als eine der Letzten die Kapelle und kehre zum Speisesaal zurück, wo das Geschirr schon verschwunden ist. Den besagten Besenschrank finde ich sofort und sammle mir daraus meine Utensilien zusammen. Eimer, Wischmob, Lappen und Reinigungsmittel. Nach nicht einmal zwanzig Minuten bin ich mit dem Speisesaal fertig und finde, dass es eine milde Strafe war, schließlich hätte sie mich auch alle Gänge und die Bäder wischen lassen können. Die Kapelle dauert etwas länger, aber auch damit bin ich kurz vor Neun fertig und schleiche mit aufgedunsenen Fingern nach oben in mein Zimmer, nachdem ich alles dorthin zurückgestellt habe, wo es hingehört. Als ich den Gang betrete, auf dem mein Zimmer liegt, entdecke ich Martha, die lässig neben meiner Zimmertür an der Wand lehnt und auf mich zu warten scheint. »Hey«, grüßt sie und stößt sich von der Wand ab. »Was gibts?«, frage ich argwöhnisch und stecke den Schlüssel ins Schloss meiner Zimmertür und schließe auf. Martha hebt beschwichtigend ihre Hände. »Frau Schwarz meint, du würdest häufig Bücher ausleihen. Ich wollte gleich mit einigen rüber gehen. Lust, mitzukommen?« Nachdem ich kurz überschlagen habe, wie viele Bücher ich ausgelesen habe, nicke ich. »Gerne, gibst du mir einen Moment?«, frage ich, warte aber nicht auf ihre Reaktion und sammle die Bücher zusammen, die ich zurückgeben will. Als ich alle Bücher habe, lächelt Martha mich an und gemeinsam gehen wir nach unten und durch die schwere Holztür des Foyers nach draußen, wo die Anderen schon auf Martha warten. Auf dem Weg zur Schule ruhen meine Augen auf der Rückansicht von Juli, wie sie es in fast jeder Unterrichtsstunde taten, wenn ich versuche zu ergründen, wo ich diese Augen schon einmal gesehen habe. Ich fühle mich zwiegespalten, besonders als ich ihren Hintern anstarre und feststelle, wie gut ihre Jeans diesen betonte. Ob Juli wirklich eine Art Kurzform war? Bevor ich darüber weiter nachdenken kann und hinterfragen kann, warum ich gerade so viel Interesse an ihrem Hinterteil habe, haben wir die Bibliothek erreicht. Ich scanne die Bücher für die Rückgabe ein und lege sie danach auf einen Wagen, wo alle Bücher landen, die zurückgegeben wurden. Frau Schwarz und Martha würden sich ihrer annehmen, sobald sie Zeit zum Einsortieren fanden. Danach streife ich einige Minuten, tief in meinen Gedanken versunken durch die Gänge der Bibliothek und leihe mir erstmals auch einige Romane, neben den Lehr und Sachbüchern aus. Nach zwanzig Minuten gehen wir als Gruppe gemeinsam zurück ins Internat. Weil ich nicht reden möchte und auch nichts zu dem Weibergeschwätz über Jungs zu sagen habe, lasse ich mich nach einem Moment zurückfallen und gehe ihnen langsam hinterher.  »So, Toleranz, also?«, fragt mich Juli, kurz vor dem Internat, als ich wieder etwas zu der Gruppe aufgeschlossen habe. »Der Buschfunk funktioniert hervorragend«, kommentiere ich und wir gehen den restlichen Weg, schweigend, nebeneinanderher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)