Zwischen Molotowcocktails und Shakespeare von Curupira ================================================================================ Kapitel 9: Kapitel 8. --------------------- Paul lässt sein T-Shirt fallen, schaut sich lässig um, ob ihn jemand gesehen hat und beugt sich nah an mein Ohr. »Für dich habe ich im Übrigen auch eine Überraschung. Hast du gleich ein bisschen Zeit für mich?« Würde ich Paul nicht mehr als ein Jahr kennen, wäre mir seine unterdrückte Wut definitiv entgangen. So starre ich ihn an und vergrabe meine Hände in meinen Hosentaschen, damit er das Zittern nicht wahrnimmt, welches immer schlimmer wird, mit jeder Sekunde, die verstreicht. »Ich«, setze ich an und stolpere über meine eigenen Worte wie ein verängstigtes Huhn. Genau das, was ich vermeiden wollte. Angst gegenüber Paul zu zeigen, war nie gut, besonders jetzt, ist es nicht gut. Julis nahe Präsenz ist es, die mir Kraft gibt. »Ich muss erst diese Sache erledigen, danach hätte ich Zeit. Meine Eltern haben mich gebeten, die Schulfreundin meiner Schwester zu eskortieren«, erkläre ich Paul und sehe ihn genervt an und hoffe inständig, dass meine Worte überzeugend klingen. »Mama ist ein bisschen ängstlich, seit ihr die Penner in dem Dönerladen abgeknallt habt.« »Wir begleiten euch«, lächelt Paul gönnerhaft und sieht zu seinem Kumpel. »Zwei so hübschen Frauen soll doch nichts zustoßen, oder Ben? Du hast recht, Romy, hier ist es seit einiger Zeit echt nicht mehr sicher. Willst du mir die Kleine, die du da versteckst, nicht vorstellen?« »Juliet, heiße ich«, erklingt Julis Stimme hinter mir überraschend fest mit seichter Aggression. Ich spüre ihre Hand auf meiner Schulter. »Ist schon okay, Romy. Ich schaffe es von hier auch alleine.« »Ja?«, fragt Paul definitiv Juli, sieht mich aber an und grinst süffisant. Allein das Grinsen lässt mich entsetzt fragen, ob er etwas weiß, dass ich nicht weiß und meine Alarmglocken läuten so laut in meinem Kopf, dass ich Kopfschmerzen davon bekomme. »Bist du dir sicher?«, frage ich Juli, ergreife ihre Hand, die noch immer auf meiner Schulter ruht und drücke sie fest, als ich mich halb zu ihr drehe und sie ansehe. »Sagst du meinen Eltern auch nicht, dass ich ihren Auftrag nicht ganz ausgeführt habe?« Juli schüttelt ihren Kopf und ich bin froh, dass sie das Schauspiel mit macht. Ihre Hand in meiner ist eiskalt, ich will sie nicht loslassen, doch leider muss ich es, als ich Pauls Blick in meinem Rücken spüre. In Julis Augen kann ich die nackte Angst sehen, auch wenn sie es gut verbergen kann. Ich erkenne die Angst nur, weil mich ihre Augen schon so lange verfolgen, dass ich beinahe alle Stimmungen in Julis Augen erkennen kann. »Wenn sie mich fragen, sage ich, dass du mich bis nach Hause gebracht hast«, verspricht Juli mir und ich sehe, dass sie mich zum Abschied in eine Umarmung ziehen will, es dann aber sein lässt und sich von mir wegdreht. Ich will nach ihr greifen, sie nah an mich ziehen und küssen. Stecke stattdessen meine Hand zurück in die Hosentasche und sehe zu, wie Juli, bevor Paul noch etwas sagen kann, an ihm und Ben vorbei geht. »Sag, Romy«, flüstert mir Paul ins Ohr und steht ganz dicht hinter mir, als ich erleichtert ausatme, weil ich Juli am Ende des Parks, über eine Straße eilen sehe. »Mit was für einem Abschaum gibst du dich dieser Tage ab?« Ein unbeschreiblicher Schmerz durchfährt mich, als Paul mir mit seiner großen Hand, grob in den Nacken packt und mich ernst ansieht. »Verkauf mich nicht noch einmal für dumm. Wir haben euch gesehen, wie ihr händchenhaltend durch die Straßen gegangen seid und euch mehr als einmal geküsst habt«, zischt er und spuckt mir vor die Füße. »Ich hab sie gehen lassen, weil ich heute meinen netten Tag habe. Lass dich nicht noch einmal mit solchem Abschaum erwischen. Jetzt komm, gehen wir und helfen deiner Erinnerung ein bisschen auf die Sprünge. Vielleicht weißt du dann wieder, was du damals auf die Fahne geschworen hast.« Paul nimmt mich grob bei der Hand, mit der ich vor wenigen Minuten noch Julis Hand gehalten habe und ich spüre, wie die Erinnerung an ihre Zärtlichkeit mehr und mehr verfliegt, je öfter er meine Hand beinahe zerquetscht. Er zerrt mich quer durch den Park und noch einige Kilometer weiter. Sein Kumpan Ben, immer hinter uns. Ich will etwas sagen, mich widersetzen, doch bevor ich genügen Courage gesammelt habe, stößt Paul mich in ein altes Lagerhaus, scheinbar ein neuer Unterschlupf, den ich noch nicht kenne. Ben verriegelt die schwere Stahltür hinter uns, von außen und steht vermutlich Schmiere, außer es gibt einen weiteren Weg in das Lagerhaus. Ich pralle gegen eine Wand, die mit rechten Graffitiparolen übersät ist. »Wo sind wir hier?«, frage ich und sehe mich in dem zwielichtigen Lagerhaus um. Es ist eine große Halle, die völlig leer steht und deren Fenster alle mit Dreck überzogen sind und kaum Licht hereinlassen. Paul ignoriert mich, geht zielstrebig in die Mitte der Halle, verschiebt einige Spanplatten, die ein Loch verdecken. Bevor ich fragen kann, was das Loch im Boden soll oder mich wundern kann, warum kein Staub aufwirbelt, packt er mich und schubst mich in das Loch. Ich stolpere eine alte, knirschende Holztreppe hinab. »Was soll das?«, frage ich Paul, der hinter mir die Treppen hinab kommt, als ich mich gefangen habe. Statt einer Antwort, finde ich mich plötzlich auf staubigem Boden wieder, um mich herum zahlreiche Beine und Füße und von oben das schwache Licht, einer einzigen, alten Glühbirne, die flackert. Ich spüre einen heftigen Schmerz an meinem Hinterkopf und ertaste eine Feuchtigkeit, die langsam meinen Nacken hinab rinnt. Es ist stickig und rieche den typischen, metallischen Geruch des Bluts, als ich auf meine Hand hinabsehe, die mit einer dunklen, klebrigen Flüssigkeit überzogen ist. Wären die Kopfschmerzen nicht so groß, würde ich versuchen zu verstehen, warum ich Blut an meiner Hand habe und nun auch Blut über meine Stirn, ins Gesicht rinnt. »Wie kannst du verraten, was unserer Großväter im Krieg verteidigt haben? Besonders nach allem, was wir für dich getan haben, Kameradin?« Pauls Stimme erklingt dröhnend laut, in einem Echo, das meinen Kopf noch stärker schmerzen und meine Synapsen in Schwingung versetzt. Mehrere Stimmen, stimmen ihm zu, verstärken das Echo und rufen: »Verrat! Verrat! Tod, allen Verrätern!« In meinem Mund hat sich Blut gesammelt, das ich ausspucke, als ich versuche, mich aufzurichten. Es bleibt bei dem Versuch, denn ein unbeschreiblicher Schwindel lässt mich den staubigen Boden schneller wieder aufsuchen, als dass ich hätte fallen können. Hat Paul mir hinterrücks etwas über den Kopf gezogen? »Ich bin mir keiner Schuld bewusst«, presse ich schwer atmend hervor und spucke eine weitere Ladung Blut auf den Boden. »Nicht? Was ist mit der Tatsache, dass du dich mit dieser Muselfrau herumtreibst? Ist das kein Verstoß, gegen unseren Eid, den du auf die Fahne geschworen hast? Wenn nicht das, was ist dann damit? Du küsst eine Frau, eine Muselfrau noch dazu, die heutzutage zum schlimmsten Abschaum zählt, den es in Deutschland gibt. Homosexualität ist wider die Natur. Habe ich dir nicht gut genug gezeigt, was du als Frau zu tun hast?« Ich will aufbegehren, sagen, dass Juli keine Muslima ist. Bevor ich jedoch etwas sagen kann, glaube ich, dass meine Lungen explodieren, als mir jemand brutal gegen den Brustkorb tritt. Ich spucke ungewollt abermals Blut und liege nun im Staub und stöhne unter Schmerzen, als weitere Füße auf mich eintreten. Mit meinen Armen versuche ich, Kopf und Bauch zu schützen, doch es hilft nicht viel, sie treten einfach an einer anderen Stelle weiter auf mich ein, bis ich Kopf und Bauch freigebe um die anderen Stellen zu schützen. »Bitte«, höre ich mich flehen, obwohl ich nicht nachgeben wollte. Doch am Rand der Ohnmacht ändern viele ihre Meinung, das habe ich selbst schon erlebt, als ich noch zu den Schlägern gehörte. »Bitte aufhören, ich bereue meine Tat. Bitte Paul, geb mir eine Chance, mich zu beweisen«, keuche ich und das Blut läuft mir aus den Mundwinkeln und am Kinn hinab, weil ich es Leid bin, ständig zu spucken. »Sie bedeutet mir nichts. Ich will genauso wie ihr, dass Deutschland wieder zu seinen Wurzeln findet.« »Stopp«, erklingt Pauls Stimme, als ob er genau weiß, dass ich eben nah an der Ohnmacht gekratzt habe. Seine Stimme hat einen amüsierten Touch. »Das ist genug. Ihr könnt euch etwas entfernen.« Die Füße weichen von mir zurück und ich atme tief die stickige, abgestandene Luft ein. Den Blutgeruch nehme ich schon lange nicht mehr wahr. Durch die Nase ziehe ich Schleim hoch und spucke Paul direkt vor die Füße, als er sich vor mich hockt und mein Kinn ergreift, damit ich ihm in die Augen sehen muss. Jetzt schon Erleichterung zu zeigen, wäre fatal, weshalb ich seinen Blick ausdruckslos erwidere und nur meine Miene verziehe, wenn der Schmerz zu viel wird. »Ich gewähre dir eine zweite Chance. Wir sind doch alle eine Familie und Kinder des alten arischen Volks. Und wie wir alle wissen, machen Kinder manchmal Fehler.« Er lässt mein Kinn los, zieht die Pistole unter seinem T-Shirt hervor, die er mir in einem anderen Leben gezeigt haben muss und legt sie vor mir auf den Boden. Meine Gedanken schweifen ab und ich frage mich, wie lange ich mich schon unterhalb des Lagerhauses befinde. Eine Ohrfeige holt mich zurück ins Diesseits. »Hey, schön fokussiert bleiben, Romy. Komm, steh auf und heb die Pistole auf, Süße.« Ich ertaste die Waffe, hebe sie auf und stehe unter großen Schmerzen, ächzend auf. Nur dank seiner schnellen Reaktion, falle ich nicht sofort wieder um. Er stellt sich hinter mich und stabilisiert mich. »Entsichere die Waffe und zieh den Schlitten zurück«, verlangt er von mir und ich tue, wie mir geheißen und erinnere mich, wie er mir das einmal gezeigt hat und weiß, dass nun eine Patrone im Lauf liegt und ich nur noch abdrücken muss. »Gut so«, haucht er mir ins Ohr. »Jetzt ziele nach rechts.« Ich hebe meine Arme, umfasse den Griff der Pistole auch mit meiner anderen Hand um mehr Stabilität zu erhalten und richte die Waffe aus. Gemeinsam mit Paul drehe ich mich nach rechts. Ohne ihn wäre ich auf meinen wackligen Beinen sicherlich schon längst zusammengeklappt. Ich ziele in eine dunkle Ecke und beginne, mich zu fragen, worauf ich ziele, als das Licht angeht. Ich blinzle gegen die plötzliche Helligkeit an und erstarre, als ich sehe, dass dort, ein paar Meter von mir entfernt, ein Mensch, mit verbundenen Augen, an einem Pfahl angebunden ist. »Nimm die Augenbinde von dem Abschaum ab, Lars«, befiehlt Paul und wir riechen es eher, als das wir sehen, dass sich der Mann eingepisst hat, als er sieht, dass jemand mit einer Waffe auf ihn zielt. Unsicher senke ich den Lauf und der Mann tut mir leid, als kurzzeitig Erleichterung in seinem Gesicht aufflackert, die vom Entsetzen weggewischt wird, als ich die Waffe wieder ausrichte und den Abzug betätige, weil Paul mich fester anpackt. Ich spüre die Tränen auf meinen Wangen, als sich der Schuss gelöst hat und verstehe im ersten Moment nicht, warum plötzlich alle lachen. Mord ist doch kein Grund, zu lachen. Wimmernd sacke ich auf den Boden zusammen, weil Paul mich losgelassen hat. »Das ist meine Romy«, dröhnt Paul hinter mir und zahlreiche Leute klopfen mir anerkennend auf die Schulter, die wie mein restlicher Körper, höllisch schmerzt. »Dein Ausrutscher, sei dir hiermit verziehen. Wäre es keine Platzpatrone gewesen, wäre der Muselmann nun ganz sicher tot«, lacht Paul und ich sehe verständnislos von ihm zu dem Mann am Pfahl, der wie ich weint und sich vor Erleichterung abermals bepisst hat. »Lass mich dich nicht noch einmal so innig mit diesem Pack erwischen«, zischt Paul mir zu und nimmt mir die Fakewaffe ab und dreht sich zu den anderen Anwesenden um, die ich nur schemenhaft wahrnehme. »Merkt euch, kein Umgang mit Abschaum und Aussteigen ist nicht. Wer geht, bezahlt mit dem Tod. Unsere ehemaligen Kameraden, Uschi und Ralf sind frei zum Abschuss. Denn unsere Ehre heißt Treue!« Mit diesen Worten und der uralten Losung, die wir nach ihm, alle raunen, lässt man mich allein. Allein mit dem Türken, der in Ohnmacht gefallen ist. Ich ziehe mein Smartphone aus meiner Hosentasche und bin überrascht, dass es noch funktioniert, nur leider habe ich in diesem Loch keinen Empfang. Als ich glaube, genügend Kraft geschöpft zu haben, schleppe ich mich unter großen Schmerzen, den Weg zurück, den ich mit Paul vor zehn Stunden gegangen bin. Also hatte ich definitiv mein Bewusstsein verloren, nachdem Paul mir, was auch immer, auf den Hinterkopf gezimmert hat. Als ich die Treppen ins Lagerhaus emporsteige, höre ich, wie der Mann erwacht und nach Hilfe schreit. Ich versuche, die Rufe zu ignorieren, weil ich ihm nicht helfen kann, helfen darf und bald schon bin ich so weit entfernt, dass ich ihn nicht mehr höre. Gierig atme ich die kalte Nachtluft ein, als ich aus dem Lagerhaus trete und stelle fest, dass Atmen wehtut. Ich vermute eine angeknackste Rippe und versuche den Schmerz so gut es geht, zu ignorieren. Mit langsamen Schritten schleppe ich mich durch die Dunkelheit und bekomme nur am Rande meines Bewusstseins mit, wie mein Smartphone vibriert. Im Park, wo ich Juli gehen gelassen habe, breche ich stöhnend zusammen und verliere den Kampf um mein Bewusstsein. »Romy«, flüstert Juli, als ich das nächste Mal meine Augen öffne und auf einem Bett liege. Juli? Überrascht schließe ich meine Augen für einen Moment und spüre, wie Juli sachte mit einem feuchten Tuch meinen Kopf abtupft, der immer noch dröhnt, als würde mich jemand mit einem Presslufthammer bearbeiten. Ein Glück, dass es ihr gut geht und sie ihr wirklich nichts angetan haben. Erleichtert atme ich aus und wäre wohl wieder in die Bewusstlosigkeit gedriftet, wenn Juli nicht an mir rütteln würde. »Hey, bleib wach, Romy«, haucht sie und ich sehe, wie sie besorgt auf mich hinabsieht, als ich meine Augen wieder öffne. »Papa hat die Polizei und den Notarzt schon alarmiert.« »Nein«, stöhne ich entsetzt, setze mich rasch auf und bereue die schnelle Bewegung sofort. Aber ich muss von hier weg. Wenn er herausfindet, dass ich mich schon wieder in ihrer Nähe befinde, dann bin ich tot, ist sie tot. Ich höre nicht, was sie sagt und ignoriere ihren Blick, mit dem sie mich bedenkt, als ich nicht auf ihre Worte reagiere. Unsanft stoße ich sie zur Seite und kämpfe mich mit Mühe in eine stehende Position. Als ich schließlich auf meinen zitternden Beinen stehe, wäre ich beinahe wieder umgefallen, doch ich kann mich an einem Schrank festhalten. Nach dieser Schrecksekunde stolpere ich mehr durch das unbekannte Zimmer, als dass ich gehe und falle halb gegen die einzige Tür, die mein Ziel darstellt. Ein unbekanntes, männliches Gesicht blickt erstaunt in das Meine. Nur an seiner Uniform erkenne ich, dass er ein Polizeibeamter ist. »Na wo wollen Sie denn so eilig hin?« Pah eilig, wenn er wüsste, wie lange ich vom Bett, bis zur Tür gebraucht habe, würde er mich das nicht fragen. Als der Mann meinen wackeligen Zustand erkennt, berührt er mich vorsichtig und schiebt mich behutsam zurück zum Bett, wo er mich mit etwas Nachdruck dazu bewegt, mich wieder zu setzen. »Ist sie vernehmbar?«, erklingt eine raue Stimme vom Flur und einen Moment später betritt ein zweiter Beamte den Raum. »Wissen Sie, Sie können mich auch gern direkt ansprechen, ich bin nicht auf den Mund gefallen«, knurre ich und stehe wieder auf, um mich von meinen Schmerzen abzulenken. »Vielen Dank für Ihre Besorgnis, aber ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich habe nichts auszusagen und möchte jetzt bitte einfach nur nach Hause gehen.« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Juli einen Schritt auf mich zu geht und nach meiner Hand greifen will. Ich trete zur Seite und schlage ihre Hand weg. »Romy bitte«, fleht sie mich an. »Du musst aussagen. Wer einen Menschen so zurichtet, muss bestraft werden.« Stoisch starre ich auf den Teppichboden und weiche noch weiter zur Seite, als Juli einen weiteren Versuch startet, mich zu berühren. »Fass mich nicht an«, zische ich sie an. »Sprich nicht von Dingen, die du und Deinesgleichen nicht versteht und halte endlich deinen Mund. Vielleicht solltet ihr dorthin zurückgehen, wo ihr ursprünglich herkommt, denn ohne dich wäre ich jetzt nicht in dieser Lage.« Es tut mir weh, diese Worte zu sagen, weiß ich doch, dass sie hier in Deutschland geboren ist. Doch wenn ich Paul überzeugen will, dass ich keine Verräterin bin, muss ich meine Fassade, bestehend aus Lügen, so fest wie möglich erbauen und daran festhalten. Er darf keine Sekunde merken, dass alles mittlerweile nur noch eine Farce ist und ich nur mein Leben nicht verlieren will. Und um diese Fassade nicht zu gefährden, muss ich immer und überall so tun als ob, denn wer weiß schon, wo er überall seine Kontakte hat, die für ihn spionieren könnten. Aus demselben Grund, aus dem ich gehen muss, darf ich auch niemanden von dem Türken erzählen, den ich im Lagerhaus zurückgelassen habe, obwohl ich damit vermutlich seinen Tod besiegel. Ich sehe den Beamten im Türrahmen direkt an und mache einen Schritt auf ihn zu. »Ich habe nichts zu sagen und werde jetzt nach Hause gehen. Sie dürfen mich nicht gegen meinen Willen festhalten.« »Nicht so schnell, junge Dame«, setzt der andere Beamte an und hebt beschwichtigend seine Arme, als ich ihn böse ansehe. »Sie müssen gar nichts, aber in diesem Zustand können wir Sie nicht gehen lassen. Der Notarzt sollte jeden Moment eintreffen.« Die beiden Beamten sind nicht davon abzubringen und als ich versuche, einen weiteren Schritt zu machen, verrät mich mein schwacher Körper. Nur weil Juli so schnell reagiert, lande ich nicht mit meiner Nase voraus auf dem Boden. Dort wo mich ihre Hände festhalten, meine Haut berühren, jagt ein elektrisierender Schauer den Nächsten über meinen Körper und ich bin mir nicht sicher, wie viel mehr ich noch aushalte, bevor ich meine Gefühle nicht mehr mit Lügen übertünchen kann. Juli zieht mich auf das Bett und hält mich fest, bis der Arzt eintrifft und egal wie sehr und wie schlimm ich sie beleidige. Meine Worte treffen sie, gehen ihr unter die Haut. Das kann ich in Julis Augen lesen und die stummen Tränen sehen, die an ihren Wangen hinabrollen, doch ihr Griff ist eisern. Nicht von der schmerzhaften Sorte, aber fest. Ich kann mich keinen Millimeter bewegen. Als der Notarzt eintrifft, lässt sie mich los, als hätte sie sich verbrannt und stürmt an den Männern vorbei, aus dem Zimmer. Ich kann Julis Berührungen noch spüren, als ich schon längst im Krankenwagen sitze und ins Krankenhaus gekarrt werde, nachdem ich eine kurze Diskussion mit dem Notarzt verloren habe. Wahrlich ein krönender Abschluss, für mein erstes Wochenende, zu Hause. In der Notaufnahme bekomme ich in einem Behandlungszimmer, meine Haare zum zweiten Mal in einem Jahr abrasiert, weil die beiden Platzwunden, die ich habe, genäht werden müssen. Eine zieht sich quer über meinen Hinterkopf und ist die längere, die Andere sitzt über meinem rechten Ohr und reicht bis zu meiner Augenbraue. In einem Anflug von Sentimentalität, beginne ich Paul innig dafür zu hassen, was er mir angetan hat und beginne, mir zu wünschen, tot zu sein. Wünsche mir, schon damals gestorben zu sein, als ich wegen den Kanaken im Krankenhaus lag. Wäre es anders gekommen, wenn ich das stetige, psychische Mobbing der Kanaken stillschweigend ertragen hätte, anstatt aufzubegehren? Weil es mir schwerfällt, tief ein und aus zu atmen, werden Röntgenaufnahmen angefordert, die gemacht werden sollen, wenn meine beiden Wunden genäht sind. Zum Klammern sind sie leider zu groß, wie mir eine der Krankenschwestern mitteilt. Der Arzt, ein Ausländer, so wie er spricht, vermutet eine Prellung, will aber mit den Aufnahmen sicher gehen. Für mich fühlt es sich an, als wäre definitiv eine Rippe angeknackst. Als er damit beginnen will, die Platzwunde zu nähen, starre ich ihn lange an und weiche immer zurück, wenn er beginnen will. »Holen Sie mir bitte einen deutschen Arzt, ich will nicht von Ihnen behandelt werden«, zische ich und sehe ihn angewidert an. Was folgt ist ein ewiges Hin und Her, zwischen mir und ihm. Erst nach mehreren Beleidigungen, in denen ich ihn gefragt habe, ob er schwul sei oder Schweinefleisch gegessen hat, weil er sich so anstellt, stürmt er aus dem Behandlungszimmer und ich bekomme tatsächlich meinen deutschen Arzt, der mich zwar wenig erfreut ansieht, aber behandelt. Sobald ich zusammengenäht bin, karrt mich ein unfreundlicher Pfleger, der unübersehbar, ebenfalls ausländischer Abstammung ist, in einem Rollstuhl zum Röntgen und eckt dabei gefühlt, mit purer Absicht, überall an, wo es eigentlich unmöglich sein sollte, anzuecken. Nach dem Röntgen werde ich in ein Zimmer, auf einer Station, deren Nummer ich vergessen habe, gebracht und vergessen. Jedenfalls fühlt es sich so an, denn es dauert ewig, bis endlich einmal jemand nach mir sehen kommt und mir eine Karaffe Wasser bringt. Scheinbar haben sich meine rechten Äußerungen herumgesprochen, denn ich werde äußerst mies behandelt. Wenn ich volljährig wäre, würde ich mich selbst entlassen, deswegen. Weil ich es nicht bin, muss ich auf meine Eltern warten, die vor einer Stunde informiert wurden und mich damit herumschlagen, dass sie nur noch ausländische Pfleger in mein Zimmer schicken. Als sich nach einer halben Ewigkeit erneut eine Krankenschwester in mein Zimmer traut, die nicht Deutsch aussieht, werfe ich das Telefon, welches auf meinem Nachtschrank steht, nach ihr. »Verpiss dich, Abschaum«, schreie ich ihr hinterher und breche in Tränen aus, als die Krankenschwester verschwindet. Weine, weil ich weiß, dass ich ab jetzt jeden so behandeln muss, damit Paul mir meine Einstellung abkauft. Damit Paul weder meiner Familie, noch Juli oder gar ihrer Familie etwas antut. Es kommt niemand mehr nach mir sehen und nach einer Weile glaube ich meinen Worten beinahe selbst, dass diese Menschen alle Abschaum sind, als ich Hunger bekomme und die Karaffe mit dem Wasser zur Neige geht. Je mehr Zeit verstreicht, desto ungeduldiger warte ich darauf, dass meine Eltern, im Krankenhaus eintreffen. Als es endlich so weit ist, wünsche ich, sie würden wieder gehen. Mama sieht mich nicht an und Papa weicht meinen Augen aus, wenn ich ihm beim Starren erwischt habe. Als Mama mich zum ersten Mal gesehen hat, wäre sie beinahe wieder rückwärts aus dem Zimmer gestolpert, hätte Papa nicht hinter ihr gestanden. Nun weint sie immer wieder leise und nachdem ich in einen Spiegel gesehen habe, kann ich Mama ein bisschen verstehen und will mich auch nicht unbedingt ansehen. Meine blank rasierte Kopfhaut ist gerötet und überall beginnen Hämatome, in den unterschiedlichsten Farben zu erblühen. Mein linkes Auge ist beinahe ganz zugeschwollen und meine Unterlippe heftig aufgeplatzt. Das Schlimmste an meinem Aussehen sind aber definitiv die beiden genähten Platzwunden. Unverständnis lese ich in Mamas Augen und aus Papa spricht die Wut. Wut gegen die, die mir das angetan haben. »Romy, Liebes«, beginnt Mama und fummelt an ihrer blöden Handtasche herum, damit sie mich nicht ansehen muss. »Dein Arzt meint, du müsstest noch ein paar Tage zur Überwachung hierbleiben.« »An diesem, mit Abschaum verseuchten Ort bleibe ich sicherlich nicht. Ihr werdet mich hier heraus holen, oder ihr seit nicht besser, als diese stinkenden, parasitären Ausländer da draußen.« »Wie sprichst du denn mit uns?«, empört sich Mama und lässt ihre Tasche, Tasche sein, als sie mich kurz ansieht und eilig wieder wegsieht. »Man sagte uns, dass du das Personal beleidigst. Drehst du jetzt völlig durch, nachdem Papa und ich schon akzeptiert haben, dass du vielleicht homosexuell bist?« »Lisa«, donnert Papa. »So nicht! Romy kann nichts für ihre Gefühle. Damit solltest du sie nie beschuldigen, Frau. Komm, wir schauen, ob wir den Arzt erwischen und sehen, was er dazu denkt, dass Romy nach Hause möchte. Romy, haben wir dich so unmanierlich erzogen?«, richtet Papa seine letzten Worte an mich. »Nein«, grolle ich und starre auf meine Bettdecke. Wenn ich hier raus will, sollte ich wohl meine Klappe halten, aber ich habe Angst, dass Paul mich beobachten lässt, deswegen wäre es fatal, meine Rolle jetzt abzulegen. »Stellt sicher, dass diese Ausländer nicht wieder hier hereinkommen, so lange ich hier liege.« Papa schiebt Mama ohne weitere Worte aus dem Zimmer und ich kann hören, wie sie sich beginnen zu streiten, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt und wie Mama anfängt zu weinen. Ich weine mit und die Tränen brennen auf meiner schmerzenden Haut. Es vergehen mehrere Stunden, bis ich auf der Rückbank von Mamas Mercedes sitze und wir nach Hause fahren. Erst als Papa mit der Klinikleitung gedroht hat, wurde ich weiter behandelt und für eine Woche krankgeschrieben, obwohl meine Rippe tatsächlich nur geprellt und nicht angeknackst ist. Ich starre hinaus in die langsam erwachende Welt und ignoriere meine Eltern, die penetrant versuchen, mit mir ein Gespräch zu führen. »Ich bin Müde«, rede ich mich heraus, als wir zu Hause angekommen sind und steige unter großer Anstrengung und Schmerzen, die Treppen zu meinem Zimmer empor, bevor Mama oder Papa mich zurückhalten können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)