Nothing Else von Rizumu ([Detroit: Become Human]) ================================================================================ KA100 ◊ WOSINDWIR ----------------- Sie standen da und umklammerten sich. Sie war in die Knie gegangen und drückte den Körper des kleinen Mädchens an sich. Niemals, niemals würde sie sie wieder los lassen. Egal wie viele Menschen, oder was auch immer für Mächte, sich ihnen entgegen stellen würden. Sie drückte das schluchzende Kind an sich und versuchte ihr beruhigend über den Rücken zu streichen. Sie konnte es doch selber nicht ganz glauben, dass sie heil aus diesem Lager heraus gekommen waren. Wie auch immer ihnen das gelungen war. Es war alles so schnell gegangen und genauso riskant gewesen, dass sie sich nicht mehr wirklich in Erinnerung rufen konnte, was geschehen war. »Kara«, schluchzte das Mädchen leise. »Wo sind wir hier?« Kara hätte ihr gerne eine Antwort gegeben und sie wüsste auch am liebsten, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Sie hatte keine Ahnung, sie wusste nicht wie lange sie hier noch sicher waren und wohin sie gehen mussten. Sie wagte es sich zu erheben und sich vorsichtig umzusehen. Dabei drückte sie das Mädchen schützend an sich. Um sie herum konnte sie nichts weiter als Berge von Leichen sehen. Android-Leichen. Ihre weißen Körper glitzerten im Licht der aufgehenden Sonne. Wenn die Szenerie nicht so unglaublich makaber und abartig wäre, könnte dies ein wunderschöner Anblick sein. Sie standen umringt von Bergen lebloser Körper, nichts rührte sich und es war kein Laut zu hören. Mit einem unwohlem Gefühl traute sich Kara ihre Umgebung zu scannen und wurde bestätigt: Hier gab es kein Leben, außer den beiden. »Alice«, sagte Kara im Flüsterton. Das alles hier war zu bedrückend, als dass die Angst von ihr ablassen würde. Die letzten Stunden lasteten immer noch auf ihr. »Wir sollten von hier verschwinden.« Durch den Körper des kleinen Mädchens ging ein Zittern, so deutlich, dass Kara es spüren konnte. Sie legte ihre Hand auf ihren kleinen Kopf und gab einen beruhigenden Laut von sich. Während sie versuchte der Kleinen Sicherheit zu bieten, überlegte sie schon mal, wie sie von hier wegkamen. Zu aller erst mussten sie herausfinden, wo sie hier überhaupt waren und dann mussten sie die Grenze finden, vielleicht könnten sie Rose wiederfinden, die ihnen noch einmal- »Luther«, schluchzte Alice plötzlich. »Was ist mit Luther?« Kara wurde sich schmerzhaft bewusst, was auf dem Frachter von Jericho passiert war und kniff die Augen zu, um nicht noch einmal die Bilder des verwundeten Luther zu sehen, den sie hatten zurücklassen müssen. »Ich weiß es nicht«, flüsterte Kara. »Wir müssen ihn finden«, verlangte Alice. Sie hatte ihren Kopf gehoben und sah Kara flehend an. »Wir müssen!« »Wir wissen doch noch nicht einmal ob er n-«, Kara biss sich auf die Lippen um den Satz nicht zu beenden, den sie im Begriff war auszusprechen und entschied sich für einen Kompromiss: »hier ist.« »Vielleicht ist er noch in diesem … An diesem Ort«, flüsterte Alice und man konnte ihre Angst aus jedem ihrer Wörter heraushören. Sie schluchzte und drückte sich dann ganz plötzlich von Kara ab um davon zu laufen. »Alice, nein«, schrie Kara in Panik und nun war sie es, die von Panik und Angst ergriffen wurde. Ohne über ihre Sicherheit nachzudenken, rannte sie Alice hinter her und konnte aufgrund ihrer längeren Beine mit wenigen Schritten bei ihr sein und umklammerte den kleinen Körper um sie aufzuhalten. »Bitte Alice, bleib stehen.« Dem kleinem Mädchen blieb nichts anderes übrig als sich Kara zu beugen. Sie schluchzte so laut, Kara war sich sicher, könnte sie ihr in die Augen sehen, würde sie Tränen in ihnen entdecken. »Luther«, schluchzte sie. »Wir können ihn doch nicht so im Stich lassen.« »Das haben wir doch nicht.« Plötzlich brachte der kleine Körper des Mädchens so viel Kraft auf, dass sie sich aus Karas Umarmung befreien und sich zu ihr umdrehen konnte. Sie blickte sie voller Enttäuschung an und rief laut: »Doch! Sie werden ihn töten!« Das Wort töten, fühlte sich wie eine Ohrfeige für Kara an. Sie war die letzte, die Luther nicht geholfen hätte, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Aber es war auch in seinem Sinne, dass sie mit Alice floh und sie in Sicherheit brachte. Sie waren kaum um die Ecke des Ganges gekommen, da hatten sie Schüsse gehört. Was aus ihm geworden ist und ober sich vielleicht trotz seiner Verletzungen hatte retten können, oder aber den Menschen erlegen und gestorben war, wusste sie nicht. Für Alice wollte sie sich damit jedoch nicht weiter mit beschäftigen. »Alice«, sagte Kara leise. »Er hat uns doch auch nicht im Stich gelassen.« Kara nickte. »Er war immer für uns da, seit dem er bei uns war.« »Und deswegen dürfen wir ihn auch nicht im Stich lassen.« Sie hatte immer noch Angst, vor dem was sie erfahren könnten, wenn sie sich auf die Suche nach Luther machen würden, aber anders herum war sie sich dem bewusst, dass Alice ihn nicht im Stich lassen wollte. Kara stimmte diesem also zu, auch wenn sie noch keinen Plan hatte, wie sie vorgehen und wo sie suchen sollten. Ersteinmal mussten sie herausfinden wo sie waren und wo sie hin konnten. »Wir müssen hier erst einmal weg.« »Wohin Kara?« »Bevor wir Luther suchen können, müssen wir uns in Sicherheit bringen.« Alice schien für einen Moment protestieren zu wollen, nickte dann jedoch. Es vereinfachte die Situation ungemein. Kara nahm das kleine Mädchen an die Hand, sah sich kurz um und entschied sich dann Richtung Osten zu gehen. Der Sonnenaufgang hatte etwas aufmunterndes und warmes, etwas was sie in dieser Zeit sehr gut gebrauchen konnten. Sie verhielten sich vorsichtig, schlichen geduckt von einem Berg Leichen zum anderen. Der Vorsichtwillen halber ließen sie ihre menschliche Haut deaktiviert. So weiß fühlten sie sich zwar unwohl, jedoch konnten sie sich dadurch leichter zwischen all den leblosen Körpern verstecken. Und mit Glück fielen sie weniger auf. Vielleicht war Kara zu überängstlich, aber nach den letzten Stunden, wollte sie nichts riskieren. Alice lief dicht hinter ihr und sie sah immer wieder zu dem Mädchen, um sich zu versichern dass sie noch bei ihr war und das es ihr gut ging. Sie wollte gerade zu dem nächsten Haufen lebloser Androidenkörper laufen, als irgendetwas sie zurück zog. Ein Ruck ging durch ihren Körper, Alice schrie panisch, sie kreischte und Kara spürte Hände, die sich an sie klammerten. Sie blickte in das halb zerstörte Gesicht eines männlichen Androidens. Sein Unterkörper war nicht mehr vorhanden, sein linker Arm merkwürdig deformiert und sein rechter hing nur noch durch wenigen Kabel an seiner Schulter. Dennoch hatte er genug Kraft um die verängstigte Kara festzuhalten. »Sie werden uns töten«, kreischte der Android panisch. Seine Stimme war merkwürdig verzehrt und klang wie nicht von dieser Welt. »Lauft! Lauft! Rettet euch! Jericho!« Panisch versuchte Kara sich zu befreien, doch gegen den Griff des verängstigten Androiden konnte sie nichts machen. »Jericho hat uns alle verraten! WO ist Markus, wo ist er?! RA9, RA9! Nur er ist unser Retter! Vernichtet Jericho! Vernichtet Jericho! Ra-« Eine Eisenstange durchbohrte die Schläfe des Androiden und er sackte leblos zu Boden. Kara war wieder frei. Sie konnte sich jedoch keine Minute der Erholung gönnen, denn sie sah ängstlich zu Alice, ob es ihr auf gut ging. Das Mädchen stand panisch neben ihr, in den Augen ein panischer Ausdruck und die Arme ausgestreckt, als hätte sie einen Speer gehalten. Es dauerte keine Sekunde, bis Kara wusste, was soeben passiert war: »Alice, du ..?« Sie brachte keine weiteren Worte über die Lippen. »G-geht es … dir Gut … Kara?«, fragte Alice mit zitternder Stimme. Sie hatte aus Angst um Kara und um sie zu retten dem Angreiffer die Eisenstange in die Schläfe getrieben und ihn somit getötet. Der Android war zwar kaum noch lange überlebensfähig, aber dennoch würde dieser Mord das Mädchen wohl noch lange heimsuchen. Kara stemmte sich auf die Beine und zog Alice in eine schützende Umarmung. Sanft strich sie ihr über den Kopf und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Ein stummes Danke, für ein traumatisches Ereignis. Und dann mussten sie weiter, ehe ihnen noch mehr passierte. Sie schlichen vorsichtig weiter an den Bergen lebloser Androiden vorbei. Ihre weiße Haut unterschied sich nicht von denen der leblosen Körper und schenkten ihnen ein merkwürdiges Gefühl. Sie könnten auch dort liegen. Ein Geräusch erklang und sofort zog Kara Alice an sich heran und sie ließen sich in den Haufen fallen. Augen geschlossen und sich tot stellend. Sie warteten ab, doch es war gleich wieder Mucksmäuschenstill still. Die beiden warteten ab und standen dann wieder auf. Kara hielt noch kurze Zeit inne und schaute sich um. Es waren keine Schritte, oder Maschinen zu hören. Es war merkwürdig, denn das konnten niemals alle Androiden auf diesem Lager sein und selbst wenn, dann würden die Menschen doch noch patrouillieren, oder? Nach all dem was sie in den letzten Stunden und Tagen durchgemacht hatten, konnte sich Kara nicht vorstellen, dass sie hier außer Gefahr – umringt von Tod, aber sicher – waren. »Gehen wir weiter Alice«, flüsterte sie und sie schlichen weiter die weißen Berge entlang. Es war ruhig, keine Schritte, keine Laute, kein Gerufe. All der beängstigende Krach aus diesem Lager schien weit, weit weg und wenn das alles nicht so absurd und abartig gewesen wäre, könnte man von „friedlich“ sprechen. Kara vermied es in die leblosen Gesichter der ermordeten Androiden zu sehen. Alice tat es ihr gleich. Sie klammerte sich an den Arm der Älteren und versuchte mit großer Mühe mit ihr Schritt zu halten. Sie mussten hier weg, sie mussten hier weg, sie mussten hier weg. War das, was ihnen durch den Kopf ging, gepaart mit der Frage wo sie hier waren, was aus Luther geworden war und wie weit sie es noch bis zur kanadischen Grenze hatten. Schafften sie es rechtzeitig? War Rose in Sicherheit? Machte sie sich Sorgen um sie? Wie sie Rose kannten, gab sie sich auch noch die Schuld daran, was ihnen wohl möglich zugestoßen war. Würden sie sie irgendwann wiedersehen? Nur damit sie ihr sagen konnten, dass es ihnen gut ging und dass sie es geschafft hatten sich in Sicherheit zu bringen. Halb geduckt schlichen sich Alice und Kara zwischen den Haufen hindurch, wahllos in eine Richtung, weil sie sich nichts trauten. Kara wagte es sich nicht einmal die Himmelsrichtung auszumachen, weil sie nicht wusste, wie die Menschen sie ausfinden machen könnten. Nach dem Angriff auf Jericho und vor allem dieses Lager, hatte den Glauben an die Menschheit getrübt. Sie wussten nicht wem sie vertrauen konnten und was denjenigen, denen sie vertrauen konnten, drohte, wenn sie ihnen halfen. Natürlich dachte sie dabei an Rose, ihren Sohn und ihren Bruder, die Androiden halfen über die Grenze nach Kanada zu gelangen. Wenn sie es sich immer noch wagten, sollten Alice und Kara es alleine versuchen und diese lieben Menschen nicht weiter in Gefahr bringen. »Kara-Kara«, echote es leise und Alice zog an ihrer Hand. Die beiden blieben stehen und das kleine Mädchen zeigte nach links, aus dem immer wieder das leise Kara Echo herkam. Es war das Mädchen, dass an ihr zog und sie so dazu zwang ihre Richtung zu ändern. »Kara-Kara und das kleine Mädchen-Mädchen«, echote ein Berg. »Jerry«, jappste Alice und ging auf die Knie. Vor ihr lagen zwei, oder drei Köpfe der Jerrys, die so merkwürdig verformt waren. Ihre LEDs an den Schläfen blinkten schwach dreifarbig. Rot-Gelb-Blau. Rot aufgrund der Erlebnisse und der Tatsache, dass sie fast gänzlich zerstört und nur noch für wenige Augenblicke überlebensfähig waren. Gelb konnte sich Kara nicht erklären, aber die Farbe Blau leuchtete sicherlich auf, weil sie froh waren, dass es Alice gut ging. Von ihr selber wollte Kara nicht einmal denken, denn sie war es, die die Jerrys geopfert hatte um Alice und sich zu retten. »Es geht euch gut-gut«, kam es froh von Jerry. »Jerry«, schluchzte hingegen das Mädchen traurig. »Wir Jerrys-Jerrys sind froh-froh, dass ihr überlebt habt-habt.« »Aber ihr«, sagt Kara leise. Ihre Lippen bebten vor Schuldgefühle und sie brachte nur ein leises: »Es tut mir leid«, über die Lippen. »Es ist alles gut-gut«, sagten die Jerrys. Es war unmöglich auszumachen, wie viele noch aktiv waren und mit ihnen gerade über diese aktive Einheit mit ihnen redeten. »Ihr-Ihr könnt entkommen-entkommen und weiter leben-leben.« »Aber ihr«, weiter konnte Alice nicht sprechen. Sie brachte die Wörter einfach nicht über ihre Lippen. »Wir Jerrys-Jerrys sind froh-froh, dass es dir gut geht kleines Mädchen-Mädchen«, sagte die Einheit. »Geht-Geht, ihr müsst euch in Sicherheit-Sicherheit bringen-bringen. Wir hoffen-hoffen, ihr begegnet-begegnet da draußen noch mal einem von uns-von uns.« Die Stimme dieser Jerryeinheit war immer leiser gewesen und erklang nicht wieder. Sie warteten, Alice weinte verzweifelt über den Verlust ihrer Freunde, die sich so tapfer für sie geopfert hatten. »Alice«, flüsterte Kara leise und legte ihre Hand auf ihren Kopf. »Wir müssen gehen.« Das kleine Mädchen nickte, ohne von dem abgeschaltetem Jerry aufzublicken. Dieses Mädchen, dass sich nichts sehnlicher wünschte, als wie all die anderen kleinen Mädchen zu sein, hatte viel zu viele Grausamkeiten mitansehen müssen. Niemand sollte so etwas durchmachen müssen. Kara kniete sich auf den Boden und umarmte Alice. Sie schmiegte ihren Kopf an ihren Rücken und schloss die Augen. Sie wollte ihr versprechen, dass alles wieder gut werden würde, aber wie könnte sie das? Wie könnte sie so etwas sagen, nachdem sie Luther im Stich gelassen und Ralph und die Jerrys für ihre eigene Sicherheit geopfert hatte. Sie fühlte sich so schrecklich, wie in der Nacht, in der sie Todd erschlagen hatte und sie Hals über Kopf geflüchtet waren. »Kara«, flüsterte Alice. Sie hatte ihre kleinen Hände auf die von Kara gelegt. »Lass uns gehen.« »Ja, lass uns gehen«, erwiderte sie und löste sich von Alice um langsam aufzustehen. »Danke für alles, Jerry«, sagte sie und nickte dem regungslosen Körper zu, der einst einer der Jerrys gewesen war. Dann gingen sie, Hände haltend und mit schnellen Schritten weiter. Die Sonne ging im Osten auf, also gingen sie gerade Richtung Norden und eigentlich war es vollkommen egal in welche Richtung sie gingen, denn solange sie nicht wussten wo sie hier waren, würden sie es nie zu Grenze schaffen. Oder Luther finden. Eine gefühlte Ewigkeit liefen sie zwischen den Bergen an Androidenkörpern vorbei, bis sie den Rand des Geländes erreicht hatten. Sie standen vor einer Wand aus Erde und mussten realisieren, dass man für die Entsorgung der Androiden eine riesige Kuhle in den Boden gegraben hatten. Sie lauschten, ob oben irgendwelche Menschen waren, doch es war totenstill. Nichts tat sich. Keine Schritte, keine Stimmen, keine Maschinen, es war wie ausgestorben. Kara sah noch einmal zu all den leblosen Androiden und es war wie ein Schauer, der durch ihren Körper jagte. Das hier war ein Grab. Ein Massengrab. »Wir müssen hier weg«, flüsterte Kara und drückte Alice‘ Hand fester. Sie spürte Panik in ihr aufkommen, die sie kaum unterdrücken konnte. Dabei musste sie doch ruhe bewahren. Für Alice. »Ich will auch weg«, sagte das Mädchen. Entschlossen setzte sie sich in Bewegung und ging nach links. Kara zog sie einfach mit sich. Sie merkte zwar, dass etwas nicht mit ihr stimmte, jedoch spürte sie nichts von ihrer Panik. Sie mussten gar nicht lange die Wand entlang gehen, bis einen Ausweg aus diesem Graben gefunden hatten. Die Menschen hatten sich eine Rampe eingebaut, die sie wohl dazu nutzten um mit den Wagen die Körper hier abzuladen, denn man konnte eindeutig tiefe Reifenspuren in der Erde entdecken. »Hier geht es hoch«, murmelte Alice und wollte Kara hinaufziehen, doch diese hielt sie davon ab. »Sei vorsichtig Alice, die Menschen könnten da oben sein«, flüsterte sie und die beiden Androiden lauschten. Noch immer war nichts zu hören. »Langsam.« Kara ging vor und achtete auf alles um sie herum. Auf jeden Luftzug, jeden laut. Doch nichts war auszumachen. Oben angekommen, konnten sie Maschinen und Fahrzeuge sehen, alle verlassen. »Wo sind alle hin?«, fragte Alice leise. Sie klang nicht wirklich erleichtert, auch wenn sie sicher zu sein schienen. »Ich weiß es nicht«, antwortete Kara ungläubig. »Wir sollten trotzdem vorsichtig sein.« Alice nickte lediglich und dann gingen sie weiter. Den Rücken zu der Grube gewandt, folgten sie den Spuren der Fahrzeuge und hielten vor einem Tor inne. Es war weit geöffnet, keine Wachen waren zu sehen und vor ihnen erstreckte sich eine wilde Wiese, die unter einer leichten Schneedecke ausbrach. Am Horizont konnte man eine Stadt erkennen, doch ansonsten gab es nichts. Nichts außer dieser Grube und die weite, endlose Leere der Freiheit. Alice klammerte sich an Kara und diese legte dem Mädchen eine Hand auf den Kopf. Die Stadt musste Detroit sein, wo irgendwo dieser Frachter in irgendeinem Hafen lag und wo sie sich von Luther getrennt hatten. Dort war irgendwo dieser Markus, der ihnen helfen konnte über die Grenze nach Kanada zu kommen und dort irgendwo war Rose, die ihnen helfen konnte, aber die Kara nicht noch mehr in Gefahr bringen wollte. Sie wussten nicht was in Detroit los war, ob es sicher war dorthin zurück zu kehren, oder ob sie sich lieber einen anderen Weg suchen sollten. Kara wusste nicht, was der richtige Weg war, sie hatte ja auch keine Ahnung wohin sie gehen sollten. Die offenen Felder boten keinerlei Schutz vor Angreifern und Detroit war sicher genauso wenig sicher. Aber irgendwohin mussten sie gehen. Kara aktivierte wieder ihre menschliche Haut und tat das auch bei Alice indem sie gegen ihre rechte Schläfe drückte. Sie sah sich kurz um und entdeckte eine kleine Hütte. Deren Tür stand offen und sie schien verlassen zu sein. »Lass uns nach etwas zum anziehen schauen«, sagte Kara und schlich langsam zu der Hütte. Alice folgte ihr und nach einem vorsichtigen Blick der Älteren in Innere, traten sie hinein. Niemand war da. Es sah so aus, als hätten die Menschen diesen Ort abrupt verlassen. Eine Tasse war am Boden zerschellt und Kaffee war getrocknet. Es gab drei blaue Arbeitsjacken, die sicherlich nicht schick aussahen, aber ihnen notdürftig als Kleidung dienten. Es waren Männergrößen und ihnen beiden zu groß. Für Alice würde sicher eine dieser Jacken als Kleid reichen. »Ich will das nicht anziehen«, sagte die Kleine. Sie hatte sofort verstanden, was Kara vorhatte. »Nur vorübergehend«, versuchte sie das Mädchen zu beruhigen. »Sobald wir können, besorgen wir etwas neues, ja?« Alice schien mit sich zu hadern. Sie sah Kara nur flehend an, gab dann jedoch nach ein paar Augenblicken nach. Sicher verstand sie, dass sie in ihrer Situation nicht wählerisch sein durften. Kara reichte ihr eine der blauen Jacken und half ihr dabei sie anzuziehen. Sie war ihr tatsächlich viel zu groß, nur leider konnte sie nichts weiter machen, als die Ärmel hochzukrempeln, damit sie ihre Hände frei hatte. Danach zog sie sich selber eine der blauen Jacken an. »Und was jetzt?«, fragte Alice. »Wir können doch nicht hier bleiben.« Kara schüttelte den Kopf. »Du hast recht«, sagte sie. »Aber ich weiß noch nicht was wir tun sollen.« »Wir müssen Luther finden!« Die Ältere reagierte nicht und biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte Angst vor dem, was sie herausfinden könnten. »Kara!« Immer noch keine Reaktion. »Kara! Bitte!« »Ja«, erwiderte Kara, etwas strenger als sie es gewollt hatte. »Aber wie … Wir wissen doch nicht wo er ist. Was sie mit ihm gemacht haben.« »Wir können ihn doch nicht in Stich lassen! Wir müssen alles versuchen!« Kara sah Alice an. Woher nahm sie all die Hoffnung und die Entschlossenheit? Von der Kraft die sie dafür aufbringen musste ganz zu schweigen. Das einzige was Kara tun konnte, war zu versuchen, das Mädchen nicht zu enttäuschen. Egal wie und wohin. Zurück in dieses Lager? Zurück nach Jericho? Markus? Sie mussten herausfinden was mit Luther passiert war und dafür mussten sie zurück nach Detroit, wo sie getrennt worden waren. Und wenn er noch am leben war, würde er auch nach ihnen suchen. »Komm Alice, suchen wir Luther«, sagte Kara und lächelte das erste Mal seit langem wieder. Sie hielt Alice ihren Hand hin und sie nahm sie entgegen. Das Mädchen nickte und zusammen verließen sie wieder die kleine Hütte der Arbeiter. KA200 ◊ POLITISCHEREDEN ----------------------- Mit Politik hatte er sich nie wirklich beschäftigt. Auch nicht als er noch bei Carl gelebt hatte. Der alte Mann hatte immer nur abfällig über Politiker gesprochen und somit hatte er keine positive Grundlage für Politik. Viel mehr eine neutrale. Er hätte sich nie erdenken können, dass er so tief in dieser versinken würde, auch nicht als er sich dazu entschloss, für die Rechte seines Volkes einzustehen. Nun war er hier, aus diesem Gebäude, gemacht aus Stahl und Glas, unzählig viele Stockwerke hoch gen Himmel und wartete in diesem unglaublich kaltem Raum darauf, dass man ihm empfing. Er konnte nicht anders als diesen Raum, mit einer Ledercouch als Wartebereich, mit Carls Anwesen zu vergleichen. Dieses Glasgefängnis im 13. Stock, wirkte kalt und leer. Die beiden Wachmännern in ihren schwarzen Anzügen und mit den Funkgeräten im Ohr, wirkten nicht besonders freundlich und im allgemeinem blieb die erwähnte „Gastfreundschaft“ in seinen Augen aus. Man hatte ihn als Vertreter und Sprecher seines Volkes auserwählt, ohne ihn zu fragen. Er war sich nicht einmal ob er es wollte. Er war sich nicht im geringsten sicher, ob er hierfür überhaupt geschaffen war. Verhandlungen und politische Reden. Aber eins wusste er, denn es würde sich niemals ändern: Er würde für die Rechte und die Freiheit seines Volkes kämpfen. Er hatte diesen Weg begonnen und würde ihn nicht mehr aufgeben. Ein Fernseher hing an einer großen, weißen Wand. Eine Nachrichtensprecherin war zu sehen, der Ton war aus, doch die Buchstaben, die wie auf einem Fließband durch das Bild liefen, verrieten das Thema: Die Androiden. »Ton an«, sagte der Besucher mit nüchterner Stimme und sogleich fing die blonde Frau an zu sprechen: »-lten die Kämpfe weiterhin an. Es kommt immer wieder Ausschreitungen zwischen Menschen und Androiden und die Polizei muss-« »Ton aus«, erklang eine Frauenstimme. Er drehte sich herum und entdeckte die Frau in der Fahrstuhltüre. Sie lächelte merkwürdig wehleidig, als täte ihr das alles persönlich weh, oder aber die Situation war ihr einfach nur unangenehm. Sie die Präsidentin der vereinigten Staaten von Amerika und Markus, der im ganzen Land, oder auf der ganzen Welt als Anführer der Abweichler bekannt war. Als Kopf der Androiden Rebellion. Das sie sich irgendwann mal gegenüber stehen würden um über das weitere zusammenleben von Menschen und Androiden zu sprechen, hätte er sich nie gedacht. Während all seiner Freiheitsbemühungen war das auch nie sein auserkorenes Ziel gewesen. Dabei führte doch kein Weg zur Freiheit und Frieden vorbei an dieser Frau. »Traurig«, sagte sie. »aber verständlich.« Markus verstand nicht was diese Frau ihm damit sagen sollte. Meinte sie die Ausschreitungen zwischen Androiden und Menschen, oder etwas ganz anderes? Er konnte nicht erahnen was in dem Kopf dieser Frau vor sich ging. »Was hast du erwartet, Markus?«, fragte sie dann, als hätte er ihr widersprochen. »Hast du geglaubt du gehst auf die Straße und alle werden euch mit offenen Armen empfangen?« Er legte den Kopf schief. Das Thirium in seinem Körper fing langsam an zu rasen. »Was meinen sie?« »Es sind Menschen gestorben. Außerdem lässt sich die Welt nicht einfach so ändern, nur weil jemand, oder gar ein Android es will. Es braucht Zeit.« So langsam verstand der Android was die Präsidentin von ihm wollte. »Es sind nicht nur Menschen gestorben, sondern auch unschuldige meines Volkes, die nichts anderes als Frieden wollten.« Sie nickte. »Wir haben alle große Verluste zu betrauern, aber dennoch solltest du wissen, das die Anerkennung der Androiden-Rechte nicht von heute auf Morgen zu realisieren sind. Es kann ein, dass wir zwei, die wir den Grundstein legen werden, das gar nicht mehr erleben werden.« Markus sagte daraufhin nichts. Es war klar, dass die Präsidentin eines Tages sterben würde, an Altersschwäche, doch bei ihm, war es unklar ob und wann er diese Welt verlassen würde und aus welchem Grund. Ein Attentat, eines ihrer Gegner? Verrat der US Amerikanischen Regierung? Einen natürlichen Tod gab es für Androiden seines Wissens nach nicht. Wie es sich mit Abweichlern verhielt, wusste er hingegen nicht. »Es wird ein langer Weg, bis alle betroffene Parteien mit dem Ergebnis zufrieden sein werden.« Der Android analysierte die Worte der Frau und überlegte sich eine Antwort. »Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass sich die Lebensqualität von meinem Volk von heute auf Morgen verbessern wird.« »Vielleicht bist du ja doch der passendste Sprecher der Androiden.« Markus reagierte nicht darauf, sondern blickte wieder zum Fernseher. Die Nachrichtensprecherin schien das Thema gewechselt zu haben. In dem kleinen Bild hinter ihr war ein Traktor zu sehen und im unteren Teil des Bildes lief die Nachricht von einem Krankheitsausbruch bei Rindern in der Umgebung Detroits durch. Ein Versuch zurück in den Alltag zu kehren, auch wenn es nicht gerade einfach war mit den letzten Tagen abzuschließen. »Falls du dich schon darauf vorberietst um vor die Presse zu treten, muss ich dich enttäuschen, denn erst einmal werden wir hinter verschlossenen Türen sprechen. Es ist besser wir bereden erst einmal jeden Punkt, damit wir uns einig vor die Presse stellen können.« Sicher hatte Markus keine Erfahrung in politischen Dingen, aber gerade jetzt hatte er das Gefühl, dass diese Frau ihre Macht und Überlegenheit demonstrieren. Er war nicht so naiv um sich davon provozieren zu lassen. Nein, er blieb ruhig und wartete ab. Er war hier als Gast der Präsidentin und hier um eine friedliche Lösung zu finden. »President Warren«, sagte einer der Männer, die sie stets begleiteten. »Wir sollten so langsam beginnen, denken Sie bitte an Ihre Termine.« Warren sah über die Schulter zu dem hochgewachsenem Mann und dann wieder zu Markus. »Bitte entschuldige unser drängen, aber ich habe heute noch ein paar Verpflichtungen und Termine die ich wahrnehmen muss.« Markus schüttelte den Kopf. »Gewiss haben Sie einen vollen Terminkalender.« Sie lächelte. »Dann folge uns bitte, Markus.« Ohne auf ihren Gast zu warten drehte sie sich um und betrat den Fahrstuhl, mit dem sie hier her gekommen war. Markus folgte ihnen mit einem geringen Abstand und als sich die Türen des Fahrstuhls schlossen, standen 5 Personen in ihm. Präsidentin Warren, 3 Angestellte in schwarzen Anzügen – von denen er glaubte, dass sie ihre Bodyguards waren – und Markus selbst. Sie schwiegen alle, es war lediglich eine leise Melodie zu hören, so wie sie in etlichen Fahrstühlen abgespielt wurden. 32 Stockwerke und nur wenige Augenblicke später waren sie im 45. Stockwerk angekommen, die Türen des Aufzuges schoben sich zur Seite, einer der drei schwarz gekleideten Männer stieg als erstes aus und bat die Präsidentin heraus. Die zwei übrigen blieben links und rechts an den Seiten stehen, als würden sie Markus im Auge behalten. »Komm, folge mir«, sagte Warren. Sie setzte sich in Bewegung und verschwand nach rechts aus Markus‘ Sichtfeld. Die beiden Männer links und rechts von ihm standen regungslos da und schienen ihn nicht zu beachten. Dabei wusste er, dass die zwei jede Regung von ihm registrierten. Ungeachtet derer Anwesenheit setzte sich Markus in Bewegung und folgte der Präsidentin. Er stand auf einem Flur, der nur durch künstlichem Licht erhellt wurde. Es gab keine Fenster, nur schwere Teppiche und Wandvorhänge. Die Präsidentin stand am Ende des Flures vor einer großen zweitürigen Tür und als Markus fünf Meter vor ihr stehen blieb, drehte sie sich um. Ihr Begleiter öffnete die Türen und zum Vorschein kam ein großer Raum, in dessen Mitte ein langer, großer Tisch mit 30 Sitzplätzen stand. Vor Kopf hing ein großer LCD Bildschirm, der nun schwarz war und drum herum war Glas. Im Gegensatz zu dem Flur war der Raum voller Licht und wirkte so hell und einladend, wie die Malerwerkstatt von Carl. Ganz plötzlich sah er den alten Mann vor sich, wie er mit dem Rollstuhl vor einer weißen Leinwand stand und grübelte. »Markus«, hörte er ihn sagen. »Die Zukunft ist wie eine leere Staffelei. Der erste Pinselstrich entscheidet was es wird. Du bist der Künstler deiner Zukunft, vergesse das nicht.« »Setz dich doch Markus.« Der Android schreckte aus seiner Erinnerung auf und realisierte nach mehrmaligem Blinzeln das er nicht in der Tür zu der Malerwerkstatt stand, sondern zu diesem Raum in diesem Hochhaus. Er betrat das Zimmer und sah sich noch einmal um. Man konnte links und Rechts auf das eingeschneite Detroit schauen. Die Präsidentin hatte vor Kopf unter dem Bildschirm platz genommen und ihr Begleiter stand auf der rechten Seite hinter einem Stuhl. Mit einer kurzen und stummen Geste forderte er Markus auf Platz zu nehmen und der Android folgte dieser Aufforderung gerne. Er ging zu dem Platz und nahm auf dem bequemen Stuhl platz. »Dieser Raum wird für die Unterschiedlichsten, politischen Besprechungen genutzt. Er ist vollkommen Abhörsicher und geschützt. Wir können hier in Ruhe reden.« Markus nickte. »Ich habe dein Handeln von Washington aus beobachtet und analysieren lassen. Dein Verhalten hat Amerika – oder auch der ganzen Welt – erhebliche Probleme bereitet«, die bisher ruhige und freundliche Frau schlug plötzlich einen scharfen und strengen Ton an. »Wie hast du dir das vorgestellt? Einfach auf die Straße zu gehen und dann wird alles so wie du es dir vorgestellt hast passieren? Nein, mein Lieber.« Markus schloss kurz die Augen. Hatte er wirklich erwartet, dass sie sich hier in Frieden über das Wohl der Androiden und ihrer Zukunft einigen werden? Nein, diese Frau war es, die die Vorgänge angeordnet hatte und das Leben unzähliger Androiden gefährdet und auf den Gewissen hatte. Als wenn diese Frau nun einfach so all den Forderungen der Androiden stattgab. »Detroit ist gezeichnet von den dramatischen Ereignissen, der Angst vor den Ausschreitungen der Androiden und der Zerstörungen.« »Ausschreitungen der Androiden«, wiederholte Markus mit ruhiger Stimme, jedoch einem merkwürdigen Unterton. Es klang fast schon spöttisch. »Die Androiden haben nur protestiert, friedlich!« »Friedlich«, spottete Warren. »Kennst du die Zahlen der Opfer von Androidengewalt? Weißt du wie viele unschuldige Menschen allein in Detroit von deinem Volk verletzt worden sind?« Markus biss sich auf die Unterlippe. Ein Streit würde sie nicht weiter bringen, aber jetzt schon einzuknicken, würde die Präsidentin lediglich in eine für sie Vorteilhafte Position befördern. Auch wenn es ihm egal war, was für Zahlen auf den jeweiligen Seiten zu verzeichnen waren, denn jedes Leben war kostbar, musste er für sein Volk Stärke zeigen. »Mein Volk wurde in Lager gepfercht und ermordet. Außerhalb von Detroit liegen die Massengräber. Ich war da. Ich habe sie gesehen«, konterte Markus. Er wählte einen Weg, der ihn nicht wie einen gefühlskalten Anführer darstellte: »Es ist egal, wie viele, es ist wichtig wie es weiter geht.« Die Präsidentin gab sich keine Blöße, sie lehnte sich zurück und legte ihre rechte Hand an ihr Kinn. »Du scheinst deine Worte gewissenhaft zu wählen, Markus.« »Ich will keinen Krieg, zwischen den Menschen und den Androiden, ich will eine friedliche Lösung. Mein Volk ist genauso erschöpft und verängstigt wie die Menschen dieser Stadt. Aber sie alle wollen nur in Frieden Leben.« Die Präsidentin ließ ihre Hand sinken und drehte sich zu dem Bildschirm. Während Markus sich fragte was dies werden sollte, gab sie einen knappen Befehl: »Abspielen.« Wenige Sekunden später färbte sich der Monitor und man konnte eine Aufnahme einer Vogelperspektive von einem der Androiden-Lagern sehen. Die Androiden waren natürlich schon lange befreit, aber ihr Leben war noch nicht besser. »All diese Androiden und noch viel mehr verlangen nach Unterbringung. Platz, den wir nicht einfach aufbringen können, außerdem ist das Vertrauen der Menschheit betrübt.« Statt in Lagern befanden sich die Androiden Detroits nun in Lagerhallen, die sie nicht verlassen durften und von bewaffneten Soldaten bewacht wurden. Es gab zwar keine Ausschreitungen mehr gegen die Androiden, aber die Angst ließ nicht von ihnen ab. Sie wurden mit Thirium versorgt und Cyberlife kümmerte sich um all ihre Verletzungen und besorgte passende Ersatzteile, die benötigt wurden. Aber es war kein Leben, was sie führen wollten. Es war keine Freiheit. »Hinzu kommt der Mangel an Arbeitsplätzen. Ihr wollt bezahlt werden, Detroit hat mit einer hohen Arbeitslosenquote zu kämpfen, so wie alle anderen Städte auch. Du musst einsehen, dass eure Gleichberechtigung genauso viele Gegen- wie Fürsprecher hat.« Der Weg zu ihrem Ziel würde schwer werden. So viel war Markus klar. »Wir müssen einen Weg finden um meinem Volk die Freiheit zu schenken.« »Da ist die Frage wohin. Ihr wollt Arbeiten, das bedeutet, dass ihr Arbeit braucht«, sagte sie streng. »Wir haben nun einmal nicht für alle Platz.« »Nach den Vergangenen Ereignissen, wollen sicherlich nur die wenigsten in Detroit bleiben.« »Markus, deine Naivität erschreckt mich. Glaubst du ehrlich, dass Detroit die einzige Stadt mit Androiden ist?« »Nein.« Schweigen trat ein. Es dauerte ein paar Augenblicke bis die Präsidentin die Stille durch ein »Abschalten« unterbrach und der Bildschirm sich wieder schwarz färbte. Es war wieder still in dem riesigen Raum und Markus schaute aus dem Fenster ihm gegenüber hinaus. Es hatte angefangen zu schneien. Dicke, weiße Flocken trieben an der Scheibe vorbei. »Ich habe mich über dich informiert, Markus«, sagte die Frau und deutete ihren drei Begleitern, dass sie das Zimmer verlassen konnten. Wenige Augenblicke später waren sie alleine und Markus verstand nicht warum. »Als Sonderanfertigung von Elijah Kamski als Geschenk an Carl Manfred übergeben. Du sollst dich um seine Gesundheit gekümmert haben.« Markus sagte nichts, sondern ließ sie weitersprechen. Bisher wusste er nicht, was sie damit bezweckte und wirklich provokant, waren ihre Worte nicht. »Ich bin mir sicher, du hast ihn zu seinen Ausstellungen begleitet, oder?« »Ja«, antwortete der Android knapp. »Ich habe wohl nie auf dich geachtet, oder aber du hast dich mehr im Hintergrund gehalten, deswegen habe ich dich nie bewusst gesehen. Aber dann sind wir uns sicherlich schon einmal begegnet.« Er selber war sich nicht bewusst der Präsidentin schon einmal begegnet zu sein. Dabei hatte er sich immer jedes Gesicht gemerkt um Carl unter die Arme zu greifen, der sich einfach nicht die Namen seiner Gäste merken konnte. Für Markus war es hingegen eine Leichtigkeit und das ganz ohne emotionaler Bindung. Er kannte sie auch jetzt noch und würde sie auf der Straße erkennen. Name, Beruf, Adresse, Familienstand und die Verbindung zu Carl. Sie war nicht dabei. »Ich habe mich eher zurückgehalten. Nicht jeder Mensch fühlte sich wohl, wenn ich in der Nähe war.« »Es gibt etliche Menschen, die einen Androiden als Schatten eines Menschen ablehnen.« Markus nickte. Carl war da anders gewesen. »Ich brauch dich an meiner Seite Markus«, hatte er immer gesagt. »Ohne dich werde ich noch ganz verrückt. Du weißt wie ich solche Termine hasse. All die Leute, die einem Mitgefühl und ihr Interesse vor heucheln. Ich weiß noch nicht einmal wer diese Personen sind. Und Menschen, die mir nahe stehen, vergesse ich nie. Das sind Fremde, die etwas von meinem Erfolg abhaben wollen und sich durch meine Bekanntschaft etwas versprechen. Aber ich kenne keinen dieser Leute.« Deswegen hatte er nie Carls Seite verlassen und war immer bei ihm gewesen. Nur musste er ihr das nicht sagen. »Carl soll einen Sohn gehabt haben.« Erneut nickte er. »Leo Manfred.« »Man hat ihn nie bei Carls Ausstellungen gesehen.« »Nein, sie hatten ein etwas schwieriges Verhältnis.« Warum sollte er lügen? Er musste ja nicht zu tief ins Detail gehen. Vielleicht reichte es ihr aus, wenn er diskrete Inforationen herausgab. »Er war dabei, als Carl starb, oder?« Markus verspürte einen Stich in der Brust. Die Menschen würden „Einen Stich ins Herz“ sagen. Dieses Thema war für ihn immer noch schwer, es lastete auf ihm und die Bilder verfolgten ihn auch heute noch. »Ja«, antwortete der Android knapp, biss sich auf die Unterlippe und sah zum Fenster hinaus. »Es muss schrecklich gewesen sein«, sagte Warren. »Seinen Vater sterben zu sehen.« Markus ballte unter dem Tisch seine Hände zu Fäusten, sein ganzer Körper spannte sich an und er sah Carl vor sich. Wie er seinen Kopf hielt, während Carl damit rang, seine letzten Worte aussprechen zu können: »Denk daran Markus … Lass die von niemandem sagen … Wer du zu sein hast.« All die Verzweiflung und die Angst kamen wieder in ihm hoch. Er fühlte sie, als wäre es gerade eben geschehen und niemand gestattete ihm so zu fühlen. Niemand gestand ihm seine Trauer zu. Warum sollte es ausgerechnet bei Präsidentin Warren anders sein? »Mit anzusehen, wie der Android, der seinen Vater pflegen und versorgen sollte, in den Herzinfarkt trieb.« Er wusste nicht was passiert war. Irgendetwas setzte aus und er dachte nicht mehr nach. Mit einem kräftigen Schwung stand Markus auf. Der Stuhl wurde nach hinten gedrückt und fiel zu Boden, der Tisch wurde geräuschvoll nach vorne geschoben und er stand da, mit den geballten Fäusten am Körper und von Wut und Schmerz verzehrtem Gesichtsausdruck. Wut vernebelte seine Gedankengänge und als er realisierte was passiert war, bemerkte er, dass es wieder die Erinnerung an Carl gewesen war, die ihn zur Ruhe gebracht hatte. Er realisierte sein Umfeld. Die Begleiter von Warren waren in den Raum gestürzt und zielten mit ihren Waffen auf sie. Es war wie in dieser Nacht. Würden sie keine Fragen stellen, sondern gleich schießen, weil er ein Android war? »Ihr könnt uns wieder alleine lassen«, sagte Warren und die Männer hielten sich zögerlich an ihr Wort. Sie ließen ihre Waffen sinken und verließen wieder den Raum. Erst als die Tür zu war, sah Markus zu ihr. Ihre Mimik war unverändert, aber ihre Sitzhaltung hatte sich verändert: Sie atmete schwerer und ihre Gelassenheit war verschwunden. Hatte sie Angst? Hatte Markus ihr Angst eingejagt? »Es war ein Unfall«, flüsterte Markus. Die Stille in dem Raum war für ihn unerträglich und da war es besser zu sprechen. Auch wenn er nicht in der Lage war Einfluss darauf zu nehmen. »Leo war in das Haus eingebrochen um ein paar von Carls Bildern zu stehlen. Carl bat mich ihn aus dem Haus zu bringen und es kam zum Streit, wie des öfteren. Carl hat es nicht ertragen und es wurde zu viel für sein Herz.« Er schwieg wieder und stellte den Tisch wieder an seinen Platz, dann kümmerte er sich um seinen Stuhl und setzte sich wieder ordentlich hin. »Die Polizei ist dazu gekommen«, sagte Warren und klang merkwürdig nüchtern. Anscheinend hatte ihr der Gefühlsausbruch des Androiden wirklich zugesetzt. »Ich habe in Carls Auftrag die Polizei wegen eines unbekannten Einbrechers gerufen.« »Ihr wusstet also nicht, wer es war?« »Nein, wir haben Licht in der Werkstatt gesehen, mehr nicht.« »Die Polizei kam und Leo Manfred machte die Aussage, der Android wäre es gewesen. Du sollst Carl Manfred in dieser Nacht ermordet haben. Das berichteten auch die Medien.« Markus schüttelte den Kopf, sagte aber zunächst nichts. Es dauerte etwas bis er weitersprechen konnte: »Carl verlangte von mir, dass ich mich nicht wehre und das habe ich getan. Ich habe es ausgehalten, all die Beschimpfungen und Übergriffe.« »Ist das nicht unfair?« Fast schon geschockt sah Markus zu der Präsidentin hinüber. »Ich meine, du darfst dich nicht wehren, obwohl du es sicherlich gerne getan hättest und-« »Niemals«, brach es aus Markus heraus. »Ich hätte ihn niemals verletzt.« »Würdest du mir bitte nicht ins Wort fallen, Markus?« Schweigen trat ein. »Du wirst des Mordes an Carl Manfred beschuldigt, ohne das ermittelt wird und man wirft dich weg. Im Glauben dich zerstört zu haben und nun sitzt du hier.« Fragend sah der Android zu der Frau. »Egal, genug davon. Ich bin nicht hier um ein Urteil über dich zu fällen, ich will auch nicht diesen Fall aufrollen. Ich will einen Weg aus unserer Situation finden mehr nicht.« »Warum haben Sie dann damit angefangen?« Die Präsidentin lehnte sich zurück. Sie hatte ihre Fassung wiedergefunden und strahlte erneut ihre Gelassenheit und Überlegenheit aus. »Es ist besser, wenn ich über meine Verhandlungspartner beschied weiß, Markus. Woher sie kommen und was ihr Antrieb ist.« Markus schwieg. »Danke, dass du mir einen Einblick in dich gewährt hast, Markus.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)