Eine Reihe von seltsamen Ereignissen von ElCidIV (wahrscheinlich aus der Schwarzen Herz Reihe) ================================================================================ Kapitel 1: Eine Reihe von seltsamen Ereignissen ----------------------------------------------- Eine Reihe von seltsamen Ereignissen Protokollführer: Mateo Mendoza Erster Eintrag Ich wurde damit beauftragt eine Reihe von ominösen Ereignissen schriftlich festzuhalten. Dazu musste ich natürlich Informationen einholen, das heißt zum Beispiel Interviews führen, die ebenfalls schriftlich festgehalten wurden. Nun aber zum eigentlichen Thema. Die Ereignisse beziehen sich zunächst auf einen Mann mittleren Alters, welcher laut eigener Angabe über paranormale Fertigkeiten verfügt. Viel genauere Informationen sind nicht über ihn bekannt, zumal er über keinerlei Personalien verfügt. Alles was wir über ihn wissen entstammt seinen mündlichen Angaben und kann somit nicht bewiesen werden. Daher werde ich mich fürs erste auf eine Beschreibung seines äußeren Erscheinungsbildes beschränken. Wie bereits erwähnt befindet er sich in den mittleren Dreißigern, ist groß, von eher hagerer Gestalt und dunkelhaarig. Besondere Beachtung schenkt man eventuell seinen Augen. Sind sie auf dem ersten Blick von einem nichtssagenden Dunkelbraun, entdeckt man nach und nach rötliche Sprenkel und einen gelblichen Schimmer, der von der Iris ausgehet. Aber ich schweife ab. Hörensagen und persönliche Meinungen möchte ich weitestgehend aus dem Protokoll heraushalten. Auch wenn das aufgrund der spärlichen Fakten nahezu unmöglich ist. Jedenfalls ist der Mann ein Fremder ohne Vergangenheit. Zumindest schwieg er sich darüber aus. Auch ist es mir schleierhaft, wie er es die ganze Zeit über geschafft hat, unbemerkt eine Wohnung in dieser Gegend zu beziehen. Kein Amt hat davon Wind bekommen. Jedenfalls so nach Angaben des Einwohnermeldeamtes. Was jedoch nicht sein kann, da er über die notwendigen Papiere (Meldebescheid, Mietvertrag, etc…) verfügt um sein Grundstück zu bewohnen. Viele Bekannte und Freunde schien er nicht zu haben, zurückgezogen und allein lebte er. Einzig und allein sein Talent, oder was er als solches anpries, trieb ihn hie und da in die Öffentlichkeit. Dies waren die oben bereits genannten paranormalen Fähigkeiten, auch wenn er diese nie so bezeichnete. Es ging darum, dass er von sich behauptete, er könne mit den Verstorbenen kommunizieren. Ein alter Hut, ein Bauerntrick, so behaupten auch heute noch viele. Personen mit derartigen Behauptungen suchen sich bewusst naive Leute aus, denen sie mit Versprechungen horrende Beträge aus dem Kreuz leiern können. Doch genau das war hier nicht der Fall. Der Mann verlangte kein Geld für seine Dienste, ja er verrichtete sein Werk nicht einmal als solchen, holte er sich doch im Vorfeld oft nicht einmal eine Einwilligung seiner Klienten ein, die er wahrscheinlich auch nicht als ebendiese betrachtete. Ob er das so hielt, um sein Tun möglichst glaubhaft darzustellen, oder weil es ihm einfach eine große Freude war, ist bislang nicht geklärt. Zu seinem Werk an sich: Dazu äußerten sich seine Klienten unterschiedlich. Natürlich gab es eine große Reihe von Befürwortern, die man jedoch auch bei so manchem Schwindel aufzutreiben vermochte. Weitaus beunruhigender war die doch viel größere Anzahl derer, denen die Taten des Mannes unheimlich waren. Eine weitere Anzahl von Menschen, auch diese waren bei Scharlatanen stets zugegen, machten sich über seine „Opfer“ lustig. Die waren in diesem Fall selbstverständlich auch wieder präsent, allerdings in beunruhigend niedriger Zahl. Kurz zusammengefasst, lässt es sich wie folgt ausdrücken: Die Anzahl der Bewunderer ist nicht relevant, während die Anzahl derer die belustigt sind im Verhältnis zu denen die Verunsichert sind entweder höher oder zumindest gleichauf ausfallen sollte. Dies war in diesem Fall nicht gegeben. Die Unsicherheit überwog. Das war der Grund, warum dieser Fall gesteigerte Aufmerksamkeit erlangte. 2. Eintrag Ich habe mich seit dem letzten Eintrag hinreichender über seine Praktiken informiert. Zwar nicht beim Anwender persönlich, konnte ich noch keinen Besuch organisieren, doch habe ich eine Familie ausfindig machen können, die seine Dienste in Anspruch genommen hat. Nicht, dass es davon nicht genug gegeben hätte, wurden sie doch mehr oder weniger unwissentlich in diese Aktivitäten mit hinein gezogen. Es war die bereits erwähnte Befangenheit, die diese Leute davon abhielt, sich in der Öffentlichkeit zu äußern. Nicht so diese Familie. Sie waren recht zufrieden mit ihm. Zugleich wirkten sie aber nicht so, als würden sie sich schnell für etwas begeistern lassen. Sie wurden in verschiedenen Räumen getrennt verhört, damit sie sich nicht absprechen können. Insgesamt sind es vier Personen, wobei das Kind noch minderjährig ist und daher kaum zum vollwertigen Zeugen erklärt werden kann. Die Protokolle sind wie folgt: Erstes Gespräch mit Felix Burkhardt (Sohn) Protokollführer: Dein Name ist Felix Burkhardt, ist das richtig? Felix Burkhardt: Ja. P: Und du bist jetzt sieben Jahre alt. FB: Siebeneinhalb. P: Erzähl doch von deinem ersten Eindruck von dem Fremden. FB: Ich hab ja gar nicht so viel davon mitbekommen. Ich weiß nur noch, wie vor seinem Besuch alle betrübt waren und danach plötzlich nicht mehr. Da war es fast wieder so wie früher, als Fynn noch lebte. P: Sollen wir damit beginnen? Würde es dir dann leichter fallen, darüber zu sprechen? FB: Von mir aus. Es ist schon Jahre her gewesen, als mein kleiner Bruder gestorben ist. Eigentlich konnte ich mich schon gar nicht mehr an ihn erinnern. Meine Eltern allerdings schon noch. P: Die hat das noch sehr mitgenommen. FB: Die haben total in der Vergangenheit gelebt. An seinem Todestag haben die gar nicht mehr mitbekommen, dass ich überhaupt noch da war. P: Woran ist dein Bruder gestorben? FB: So richtig weiß das ja noch keiner. Er war ja noch sehr klein. Er hat glaube ich eines Morgens tot in der Krippe gelegen und nicht mehr geatmet. P: Plötzlicher Kindstod also. FB: Nennt man das so? Jedenfalls ging es danach nur noch bergab. Alle hatten nur noch schlechte Laune. Es war als dürfte man nicht mehr lachen. Wenn ich ausgelassen war, wurde ich sofort schief angeguckt. P: Weshalb du selten zu Hause warst. FB: Entweder war ich bei Freunden oder bei meinem Onkel. Der hat mir dann Schwimmen und Zeichnen beigebracht. P: Hatte dein Onkel ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern? FB: Grundsätzlich schon. Aber manchmal hatten sie auch Krach. Einige Male sogar wegen mir glaube ich. P: Warst du dabei? FB: Ich habe oben gebadet. Wenn ich untertauche kann ich hören, was unten geredet wird. Fragen Sie mich nicht, wie es geht, aber es funktioniert. Ich hörte wie mein Onkel geschrien hat: „Jetzt reißt euch verdammt nochmal endlich zusammen – ihr habt noch ein Kind das lebt und das haust hier wie ein Gespenst!“ P: Und dann kam der Fremde und hat alles verändert? FB: Ja. Er kam nur zwei oder drei Mal zu Besuch, genau habe ich das ja nicht mitbekommen. P: Hat er mit dir geredet? FB: Eigentlich nicht. Nein. Er hat mich lediglich ein paar Mal gegrüßt und manchmal flüchtig angesehen. Aber viel mehr als guten Tag und auf Wiedersehen haben wir nicht miteinander geredet. P: Und bei den Seancen warst du nicht mit dabei? FB: Nö. P: Ich merke schon, dass du dich langweilst. Du kannst jetzt gehen. Vielen Dank für das Gespräch, Felix. 2. Protokoll Anwesend: Protokollführer, Peter Burkhardt (Bruder des Klienten) Protokollführer: Herr Burkhardt, beginnen wir mit dem frühzeitigen Tod Ihres Neffen. Waren Sie zur Zeit der Trauerphase in der Nähe Ihres Bruders und Ihrer Schwägerin? Peter Burkhardt: Da müssen Sie schon genauer werden. Die Trauerphase endete schließlich erst vor kurzem. Die vorigen Jahre waren durchweg eine einzige Beerdigung. P: Sie hatten also kein Verständnis für Ihren Schwager? PB: Doch, natürlich hatte ich das. Es ist doch normal, dass man um sein Kind trauert. Ich hatte nur kein Verständnis dafür, dass sie auch Felix schon fast wie einen Toten behandelten. Immer wurde nur mit gedämpfter Stimme gesprochen und wenn Felix etwas Lustiges unternehmen wollte, bekam er gleich einen Rüffel. P: Sie hatten die Idee mit dem Wanderer, der angeblich mit dem Jenseits in Kontakt treten konnte. Wie sind Sie darauf gekommen? PB: Ich habe wirklich alles versucht um meinen Bruder aus seinem emotionalen Tief zu holen. Aber von nichts wollte er etwas wissen. Weder Therapien noch Antidepressiva wollte er versuchen. P: Und da kamen sie auf den Wanderer mit den paranormalen Fähigkeiten. PB: Nehmen Sie es mir nicht übel, aber von paranormalem Zeug halte ich nichts. Auf mich wirkte er wie eine Art Seelsorger. So hat er sich mir damals auch vorgestellt. P: Habe ich das richtig verstanden – er ist auf Sie zugekommen und nicht umgekehrt? PB: Jetzt wo Sie es erwähnen, ich kann mich gar nicht mehr richtig daran erinnern, wer von uns beiden wen angesprochen hat. P: Wie meinen Sie das? PB: Wir haben uns an einer Haltestelle kennengelernt. P: Wie hat er dann von Ihrem Bruder erfahren? Haben Sie Ihm davon erzählt? PB: Ich hatte ihn zuvor mit dem Handy angerufen. Darüber sind wir überhaupt erst ins Gespräch gekommen. Er hat mir daraufhin seine Hilfe angeboten. Natürlich war ich vorerst skeptisch, aber er meinte, er arbeite auf diesem Gebiet grundsätzlich ohne Bezahlung. P: Und das war für Sie ausschlaggebend. PB: Ich habe ja bereits erwähnt, dass ich bereits alles nur erdenkliche versucht habe. Als der Mann dann sagte, dass er umsonst arbeitet, hat es bei mir einfach klick gemacht. Das war für mich eine Chance die ich nicht verstreichen lassen wollte, verstehen Sie? Wenn ich den Mann einfach hätte gehen lassen, hätte ich es mein Leben lang bereut. P: Dann haben Sie ihre Telefonnummern ausgetauscht? PB: Ja. Eine Woche später war er da. Ich war bei den Seancen allerdings nicht anwesend. Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. P: Es genügt. Vielen Dank für Ihren Bericht. 3. Protokoll Anwesend: Protokollführer, Maria Burkhardt (Frau des Klienten) Protokollführer: Frau Burkhardt, ich danke Ihnen, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind. Frau Burkhardt: Ja, selbstverständlich. P: Geht es Ihnen gut? Sie wirken blass. FB: Nein, schon in Ordnung. Fragen Sie nur. P: Sie hatten also auch Kontakt mit dem Wanderer. FB: Ja. Allerdings war ich im Vorfeld nicht so skeptisch wie mein Mann. Oberflächlich habe ich mich immer schon mit den Dingen beschäftigt, die ein Leben nach dem Tod betreffen. Für unseren Sohn habe ich auch immer Kerzen auf sein Grab gestellt. Mein Mann wollte davon nichts wissen. P: Wie hat der es verarbeitet? FB: Das ist mir bis heute ein Rätsel. Er hat das Thema einfach nicht mehr angesprochen, hat getrunken, war andauernd außer Haus. Er hat sich letztendlich nur noch in die Arbeit gestürzt. P: Würden Sie sagen, dass er unter Schock stand, sozusagen traumatisiert war? FB: Na, hören Sie! Unser Sohn ist gestorben. P: Ja, aber Sie haben doch noch einen anderen Jungen. Felix. FB: Ich weiß auch nicht, warum, aber Felix konnte seinen jüngeren Bruder einfach nicht ersetzen. Er war immer sehr ruhig für ein Kind. Bereits als Säugling hat er kaum einen Ton von sich gegeben. Ich glaube mein Mann hat sich einfach immer einen Wildfang gewünscht. Daher war er auch vernarrt in den Kleinen. Der war immer so lebendig, konnte kaum eine Minute ruhig liegen. Mich hat das vor allem nachts immer zur Verzweiflung getrieben. Aber meinem Mann hat das gar nichts ausgemacht. Meist war er sogar derjenige, der nach Mitternacht noch aufgestanden ist um ihn zu füttern. Manchmal dachte ich schon, er kommt gar nicht mehr zurück ins Bett, so vernarrt war er in den Kleinen. P: Und mit Felix war das damals nicht so? FB: Felix und der Kleine waren damals schon so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Außerdem waren die Umstände anders, als er noch klein war. Alles war damals viel stressiger. Mein Mann hatte gerade seinen Job verloren und wir waren so sehr damit beschäftigt uns finanziell über Wasser zu halten. Da war es für uns natürlich ein Segen, dass das Kind so ruhig war. P: Sprechen wir über den Wanderer. FB: Ich hielt zunächst überhaupt gar nichts von ihm. P: Ach? Das überrascht mich. Sie haben doch Interesse am Okkulten. FB: Ich sagte lediglich, dass ich an ein Leben nach dem Tod glaube und das macht mich noch lange nicht zu einem naiven Trottel. P: Sie sind also noch immer nicht von seinem Talent überzeugt. FB: Ich habe keine Ahnung, was er da an diesem Abend gemacht hat, aber es fühlte sich furchteinflößend und falsch an. Meinem Mann hat es vielleicht geholfen und dafür bin ich selbstverständlich dankbar. Aber was seine Arbeit betrifft, soll er sich zum Teufel scheren. Es gibt eben Dinge, an denen rührt man einfach nicht. P: Also gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie uns nichts von dem Abend erzählen? FB: Was sich an diesem Abend zugetragen hat, war weder für mich, noch für meine Kinder oder sonst jemandem bestimmt. Wenn überhaupt, dann war es einzig und allein für meinen Mann gedacht. Wenn Sie es nur auf Informationen über die Seance abgesehen haben, müssen Sie mit ihm reden. P: Das werden wir. Vielen Dank, Frau Burkhardt. 4. Protokoll Anwesende: Protokollführer, Herr Burkhardt (Klient) Protokollführer: Herr Burkhardt, wie schön, dass wir uns endlich kennenlernen. Herr Burkhardt: Ich hatte viel zu tun. Nach dem Tod meines jüngsten Sohnes ging vieles den Bach runter. Jetzt muss ich mich dransetzen und die Dinge wieder in Ordnung bringen. P: Sie wirkten so voller Tatendrang. Uns wurden Sie ganz anders beschrieben. HB: Nun, könnte man sogar sagen, dass ich heute eine ganz andere Person bin als damals. P: Dank dem Wanderer. Können Sie uns aus Ihrer Sicht schildern, was sich an besagtem Abend bei Ihnen daheim zugetragen hat? HB: An diesem Abend haben wir Felix zu meinem Bruder geschickt. Er sollte bei ihm übernachten. P: Also war Ihnen zu dieser Zeit klar, dass sich der Wanderer an diesem Abend bei Ihnen mit Okkultismus beschäftigen würde. HB: Ja, das hat er bereits bei unserem ersten Treffen angekündigt. Ich wollte den Jungen dabei möglichst aus dem Haus haben. Habe sogar mit dem Gedanken gespielt, auch meine Frau da rauszuhalten, aber ich befand letztendlich, dass sie als Elternteil ein Anrecht darauf hatte, bei der Seance dabei zu sein. P: Wo fand das besagte Ereignis in Ihrem Haus genau statt? HB: In unserem Wohnzimmer. Ich weiß, es klingt geradezu banal, doch der Wanderer meinte, es sollte nach Möglichkeit ein Raum sein, der häufig von den Angehörigen besucht wird und in Fynn’s Zimmer gehen wir so gut wie nie rein. P: Hatte er dafür irgendwelche Utensilien vorbereitet? PB: Nichts, was irgendwie ungewöhnlich oder abschreckend gewirkt hätte. Er hatte einen Kassettenrekorder dabei. Samt Audiokassette. P: Was war auf dem Band drauf? PB: Ach, das hatte ich ja noch gar nicht erwähnt. Die Audiokassette hatte er von mir. P: Es war Ihre Kassette? PB: Ich habe sie damals, als Fynn noch am Leben war, für ihn zusammengestellt. Sie enthält Lieder für kleine Kinder. P: Warum haben Sie die Kassette dem Wanderer ausgehändigt? Hat er ausdrücklich danach verlangt? PB: Nicht ausdrücklich. Er wollte eine Umgebung schaffen, die Fynn zuträglich ist. Da habe ich das mit der Kassette vorgeschlagen. P: Hat er die Aufnahme irgendwie verändert? PB: Jetzt wo Sie es erwähnen, sie wirkte leicht verändert. P: Inwiefern? PB: Nun, an dem Tonband an sich war nichts anders. Aber – nun, wie soll ich sagen – die Musik war irgendwie klarer als sonst. P: Sie meinen, die Klangqualität war besser? PB: Nein. Aber dennoch war es, als käme sie nicht nur aus dem alten Rekorder. Es war, als fülle sie den ganzen Raum aus, als würden sich die Sänger in dem Raum aufhalten. P: Könnte der Wanderer eventuell Lautsprecher im Wohnzimmer versteckt haben? PB: Ausgeschlossen. Wir waren die ganze Zeit über zusammen im Raum. Er hat lediglich den Rekorder auf den Tisch gestellt und sofort mit der Arbeit begonnen. Außerdem hätte er sie beim Rausgehen ja wieder mitnehmen müssen und der Abschied war knapp. P: Kommen wir zu besagtem Abend zurück. Was geschah, nachdem er den Rekorder eingeschaltet hatte? HB: Lassen Sie mich überlegen. Er instruierte uns, woran wir uns halten sollten. P: Und das wäre? HB: Wir sollten uns daran erinnern, wer Fynn war. Nicht daran, wie er aussah, was er mochte, sondern WER er war. P: Klingt kompliziert. HB: Für jemanden der Fynn nicht kannte wäre es nicht nur kompliziert sondern schlichtweg unmöglich gewesen. Der Wanderer sagte uns, nicht umsonst könne er seine Dienste nur den Angehörigen der Verstorbenen anbieten. P: Also haben Sie und Ihre Frau seiner Anleitung Folge leisten können. HB: Wenn Sie es jetzt so sagen, erscheint es mir auch seltsam wie leicht uns das fiel. Gut möglich, dass es an der Tonspur lag. Aber viel wahrscheinlicher ist es, dass es an seiner bloßen Präsenz lag. P: Das müssen Sie mir erläutern. HB: Das kann ich aber nicht. Sagen wir, es ist schlichtweg unmöglich in der Nähe des Wanderers einen klaren Gedanken zu fassen. P: Sie meinen, er arbeitet mit Halluzinogenen? HB: Wohl kaum. Ihn umgibt einfach diese Präsenz. Ich versuche es zu umschreiben. Haben Sie sich einmal ernsthaft verletzt oder sind schwer erkrankt? P: Was hat das damit zu tun? HB: Nun, als ich jung war, habe ich mich einmal im Wald verlaufen. Nicht nur das, ich bin unterwegs gestolpert und habe mir das Bein verstaucht. Ich glaube sogar, mein Knöchel war leicht angebrochen. Na ja, jedenfalls hat mich nach etlichen Stunden endlich jemand gefunden. Es war ein Förster, damals schon ein alter Mann, heute bestimmt nicht mehr am Leben. Er hat mich in eine Hütte getragen und mein Bein verbunden. Dann rief er den Notdienst. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie es zur Hütte schafften, aber das war nicht so schlimm, weil – wie soll ich sagen – mir ging es wieder besser. Als ich allein durch den Wald humpelte, fühlte ich mich so von Furcht zerfressen, mir schlägt jetzt noch das Herz bis zum Hals wenn ich daran denke. Aber als der Förster auftauchte, da wusste ich, dass ich nicht sterben würde, weil dieser Mann sein Handwerk verstand. Und so war es auch mit dem Wanderer. Nur dass es sich nicht um körperliche Wunden handelte. P: Aber damals waren Sie ein Kind und der Förster erwachsen. Der Wanderer jedoch dürfte in etwa im gleichen Alter sein wie Sie. HB: Es war dennoch dasselbe. P: Also, um es kurz zu machen – der Wanderer wirkte auf Sie wie jemand, der sein Handwerk versteht. Deshalb konnten Sie seinen Anweisungen folgen. War das bei Ihrer Frau auch der Fall? HB: Ich denke schon. Jedenfalls hat sie sich gut konzentrieren können. P: Zurück zu dem Abend. Er hat den Rekorder eingeschaltet und Sie gebeten, sich an den verstorbenen zu erinnern. Was geschah dann? HB: Zunächst einmal lange Zeit nichts. Dann begann irgendwann – wie soll ich es beschreiben – die Luft zu flirren. P: Es lag also eine erwartungsvolle Anspannung in der Luft? HB: So kann man es ausdrücken, ja. Aber da war noch etwas anderes. Ich fühlte mich auf einmal so, als ob noch mehr Leute im Raum wären. P: War es so ähnlich, wie mit der Musik, die aus mehreren Richtungen zu kommen schien? HB: Nein, es war etwas anderes. Das mit der Musik beschränkte sich nur auf die Akustik. In diesem Moment habe ich aber die Präsenz mit jedem Nerv gespürt. P: Aber es war niemand dort. Sie haben niemanden gesehen, oder? HB: Ja schon, aber Blinde spüren ja auch, wenn außer ihnen noch jemand im Raum ist. Und da war noch jemand. P: Sie glauben also, dass Ihr verstorbener Sohn den Raum betreten hat. HB: Nein, ganz falsch. Zum einen war es nicht nur mein Sohn, den ich an diesem Abend fühlte. Es war eine Person und doch mehrere, wie eine Art kollektives Bewusstsein. Außerdem war es nicht so, dass sie den Raum betreten hätten. Eher so, als wären sie die ganze Zeit über schon da gewesen. Nur eben nicht spürbar. Stellen Sie sich vor, der Wanderer hätte einen Hebel umgelegt und es hätte sich ein Vorhang gehoben. Hinter diesem Vorhang waren SIE. Es klingt total verrückt, das ist mir schon klar. Aber ich kann es kaum anders beschreiben. Vielleicht wie zwei übereinander gelegte Bilder, die zusammen plötzlich einen Sinn ergeben. Sogar jetzt habe ich das Gefühl, es wäre außer uns noch jemand im Raum. Es fehlt nur die richtige Verbindung um es aufzuspüren. P: Was geschah, nachdem der Wanderer diese Empfindungen in Ihnen auslöste? HB: Nachdem er, wie er mir sagte, mein drittes Auge geöffnet hatte, bat er mich, meinen Sohn aus dem Bewusstsein rauszusuchen. Als würde man jemanden in einer Menschenmenge suchen, in der alle gleich aussehen. Jedenfalls kam es mir zunächst so vor. Aber ich wusste, ich spürte, dass es im Grunde ganz einfach war, wenn man es geschickt anstellte und sich dabei weiterhin konzentrierte. P: Also haben Sie ihn relativ zügig ausfindig machen können. Was geschah, als Sie ihn fanden? HB: Laut dem Wanderer musste ich ihn von den anderen isolieren. Es ist eine sehr schmerzhafte Prozedur. P: Sie haben also Schäden davongetragen? HB: Nein, das haben Sie falsch verstanden. Nicht für mich war es schmerzhaft, sondern für Fynn. P: Hat Ihnen das der Wanderer so beschrieben? HB: Nein. Das habe ich selbst gespürt. Ich fühlte, dass der Vorgang meinem Sohn große Schmerzen bereitete. P: Und trotzdem haben Sie weitergemacht? HB: Ich musste. Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn ich mittendrin aufhöre. Außerdem wollte ich es tun. Ich musste mich verabschieden. P: Um Ihres Sohnes oder Ihrer Selbst Willen? HB: Ich bin nicht dazu verpflichtet darauf zu antworten. P: Was geschah also danach? HB: Ich glaube, ich hielt ihn in den Armen. P: Wie war das möglich? HB: Ich weiß es nicht. Aber, als ich ihn so hielt, merkte ich, dass es nicht mehr mein Sohn war. Also, natürlich war er noch derselbe, aber er gehörte mir nicht mehr. Es war wie ein abgeschnittenes Körperteil, das sich in meinen Armen windete. P: Sie waren emotional angeschlagen. Es ist nur allzu verständlich, dass Sie angespannt waren. HB: Sie wollen mir einreden, dass ich ein Spinner bin. P: Nein, ich möchte lediglich sämtliche rationalen Möglichkeiten ausschöpfen, vorzugsweise um Ihrer Selbst Willen, denn meine persönliche Meinung tut hier nichts zur Sache. Erzählen Sie weiter. Was geschah dann? HB: Was soll schon weiter geschehen sein? Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass ich mich lediglich von meinem Sohn verabschieden wollte. P: Was haben Sie ihm gesagt? HB: Das ist meine Privatsache. Aber ich kann Ihnen erzählen, wie ich ihn zurückgebracht habe. P: Sie haben ihn freiwillig wieder gehen lassen? Nur zu, erzählen Sie HB: Erstaunlicherweise ist es mir gar nicht so schwer gefallen und der Wanderer musste mir auch überhaupt nicht sagen, was zu tun sei. Ich gab ihn aus freien Stücken dem Jenseits zurück. P: Können Sie beschreiben, wie genau das vonstattenging? HB: Es war, als würde ich einen Wunsch oder einen Gedanken gehen lassen. P: Darunter kann ich mir nichts vorstellen. War es danach vorbei? HB: Ja. Nachdem sein Geist sich wieder mit den anderen verbunden hatte, ließ das Gefühl Stück für Stück nach. Erst als die Kassette zu Ende war und der Rekorder stoppte, war es zum Großteil weg. P: Und wann verschwand es zur Gänze? Als der Wanderer Ihr Haus verließ? HB: Nein. Der Wanderer nahm anschließend den Rekorder und ging. Meine Frau nötigte ihn noch zu bleiben und wollte ihm noch Geld und etwas zu trinken anbieten. Doch er lehnte ab und verschwand sofort. Und wissen Sie was? Ich war ihm sehr dankbar dafür. Sobald mein Sohn wieder drüben war konnte ich diesen Menschen nicht mehr um mich herum ertragen. Ich habe auch nie mehr von ihm gehört. P: Wann wurden sie das beklemmende Gefühl des Jenseits wieder los? HB: Komplett? Bis heute nicht. Es gibt Momente da spüre ich es mal schwächer und mal stärker. Aber ganz verlassen hat es mich seitdem nicht. P: Ihre Frau befand sich die ganze Zeit über mit Ihnen in dem Zimmer. Empfindet sie heute ähnlich wie Sie? HB: Ich denke schon, wenn auch nicht ganz so stark. Sie redet nicht darüber. P: Beschreiben Sie das Gefühl, das sie heute noch mit dem Jenseits verbindet. HB: Es ist als wären meine Sinne geschärft. Als würde man seine Umgebung nicht drei – sondern vierdimensional sehen. P: Sie halten sich also für erleuchtet, weil ein Reisender Ihrem dritten Auge eine 3D-Brille aufgesetzt hat. HB: Das muss ich mir nicht bieten lassen! Wenn Sie mich schon für verrückt halten, wieso fragen Sie mich dann überhaupt? Von mir erfahren Sie gar nichts mehr, Sie Arschloch! P: Wie Sie meinen. Meines Erachtens nach gibt es auch nichts bedeutendes mehr dazu zu sagen. Letzter Eintrag Seit dem Gespräch mit dem Klienten Burkhardt hat sich lange Zeit nichts mehr ereignet. Vor kurzem allerdings ereignete sich ein tragischer Vorfall, der nicht nur den Bewohnern dieser Stadt ein Rätsel aufgibt. Lange Zeit nach dem Gespräch mit dem Klienten war lange Zeit nichts mehr von den Vorfällen zu hören gewesen, abgesehen von Lappalien. Die Frau des Klienten musste in eine psychiatrische Klinik und der Sohn, Felix, befindet sich ebenfalls in Behandlung wegen immer wiederkehrender Alpträume. Vom Klienten und seinem Bruder war nichts mehr zu hören. Um den Wanderer herum war es ebenfalls still geworden. Zumindest war das bis vor letztem Monat der Fall. Aber zunächst einmal alles der Reihe nach. Zuerst muss ich über eine weitere Reihe von dramatischen Ereignissen berichten, welche sich parallel zu diesem Fall ereignet haben. Dies war auch der Grund, weshalb bisher so nachlässig über den Wanderer recherchiert wurde. Die Leute hatten alle Hände voll damit zu tun, die Mordserie aufzuklären, die seit einem halben Jahr im in Umlauf war. Es brachte die Polizei regelrecht zur Verzweiflung. Keine gewöhnliche Mordserie. Die Opfer waren teilweise bis zur totalen Unkenntlichkeit verstümmelt. Ich erinnere mich, dass ich für einige dieser Fälle ebenfalls Protokoll geführt hatte. Vor meinem ersten Fall hatte es schon mehrere dieser Morde gegeben, also wusste ich, worauf ich mich einließ. Dieses Wissen schmälerte jedoch nicht den unbeschreiblichen Schrecken, den ich empfand, als ich den Tatort betrat. Ich habe schon eine Menge kranker Geschichten gehört und in so manche Abgründe des menschlichen Geistes geblickt. Aber hier befand ich mich im freien Fall. So eine Sauerei lässt sich kaum in Worte fassen. Für gewöhnlich findet man solche Fälle von Verstümmelungen nur nach Bombenanschlägen oder einem Flugzeugabsturz. Was mochte dieser Mensch für Kräfte entwickelt haben um einen menschlichen Torso auf mehrere Räume zu verteilen? Und das hauptsächlich von Menschenhand, wie die Obduktion hinterher feststellte. Die mussten wirklich Pferdemägen haben, wenn sie den ganzen Wust dafür von den Wänden gekratzt haben. Und dann erst die Tatortreiniger. Ich glaube ja kaum, dass die besagten Räume je wieder bewohnbar werden. Jedenfalls war das die Art, wie der Mörder vorging. Mit einer derartigen Brutalität, dass wir Trittbrettfahrer für ausgeschlossen hielten. Alles und jeden metzelte er nieder, Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge. Alles kreuz und quer verteilt. Es gab dabei kein methodisches Vorgehen. Keine Anhaltspunkte. Kein Muster. Es war lange Zeit unklar, ob wir ihn jemals zu fassen bekämen. Doch nach monatelanger Recherche konnten wir die Kreise enger ziehen. Dies hatten wir ironischerweise seiner krankhaften Zerstörungswut zu verdanken, da er in den letzten Monaten immer häufiger hintereinander zuschlug. Gefasst wurde er während einem seiner Morde. Ich habe die Berichte darüber gelesen und kann bis heute kaum glauben, was sich damals angeblich zugetragen hat. Die Nachbarn der Opfer hatten die Polizei gerufen nachdem sie eine Gestalt im Vorgarten gesehen hatten. Siesollen, so die Polizei, lauter wirres Zeug geredet haben. Aber die Polizisten taten das als hysterischen Unfug ab. Auch ich zweifele stark an ihrer Aussage. Der Mörder soll sich plötzlich auf dem Rasen materialisiert haben. Dann sei er wie ein wildes Tier die Hauswand hochgeklettert. Wie gesagt, totaler Schwachsinn. Ich musste lachen, als ich es las, trotz dem Ernst der Lage. Was dann allerdings folgte, musste den Tatsachen entsprechen. Die Nachbarn heilten ihn zunächst für einen gewöhnlichen Einbrecher. Nachdem er sich zutritt ins Haus verschafft hatte, blieb es über lange Zeit still. Dann brach der Lärm los. Zunächst machten sich die Nachbarn sogar mehr Sorgen um den Einbrecher. Schließlich war der anscheinend vom Hausbesitzer erwischt worden und mit Dieben gingen die Leute schließlich nicht gerade sanft um. Nach dem Anruf merkten sie jedoch, dass die Schreie von mehr als einer Person stammten. Die ganze Familie musste darin verwickelt gewesen sein. Jedenfalls hatten die beiden Polizisten, die dort aufkreuzten, keinen blassen Schimmer, was sie dort erwartete, waren sie doch nur darauf eingestellt, einen lausigen kleinen Dieb mit auf die Wache zu nehmen. Was ihnen jedoch entgegen kam, hatte es gewiss nicht auf irgendwelche Wertgegenstände im Haus abgesehen. Es trug keine Tasche mit sich. Außerdem war es über und über mit Blut bespritzt. Die Polizisten dachten zunächst, dass der Dieb von den Hausbewohnern verletzt worden sei. Und wie stark er verletzt sei, die Bewohner mussten richtige Monster sein, dachten sie sich. So sahen sie erst einmal davon ab, ihn mit einer Dienstwaffe zu bedrohen. Was sich im Nachhinein als Fehler erwies. Der Täter attackierte den Polizeibeamten, der ihm am nächsten stand. Er rannte auf ihn zu, sprang ihn an wie ein wildes Tier und biss dem Gesetzesmann große Stücke aus seiner Wange. Entsetzt zog sein Kollege seine Pistole und schoss auf den wahnsinnigen Täter. Er traf ihn an Bein und Schulter. Doch der Täter schien das gar nicht richtig wahrzunehmen. Viel mehr schienen ihn die Verletzungen lediglich noch wütender zu machen. Vielleicht war es aber auch sein üblicher Verlauf, wie er sich in seine Rage hineinsteigerte. Jedenfalls nahm er sein Opfer regelrecht auseinander. Mit einer einzigen zornigen Bewegung riss er ihm den Unterkiefer ab. Der andere Beamte war so perplex über die Absurdität der Situation, dass er nicht einmal schießen konnte. Doch das schien dem Täter nicht zu genügen. Er geriet in einen regelrechten Blutrausch. Mit bloßen Händen riss er ihm den Schädel auseinander. Dann nahm er sich den Brustkorb vor. Ich glaube es selbst kaum, doch der überlebende Polizist hat es so in seinem Bericht geschrieben. Außerdem gab es keine andere Erklärung. Laut Obduktion. Zudem neige ich dazu, den Berichten eines Polizisten eher Glauben zu schenken als dem Geschwätz von irgendwelchen hysterischen Zivilisten. Er schlug mit seinen Händen in seine Brust, als wären sie eine Klinge, so tief steckten sie drin. Dann brach der den Brustkorb mit bloßen Händen auseinander. Man kann hierbei immerhin davon ausgehen, dass der Beamte zu diesem Zeitpunkt bereits tot war, was allerdings für dessen Kollegen ein schwacher Trost gewesen sein musste. Dafür sprach vor allem, dass er trotz des Wissens, dass es seinen Kollegen nicht mehr helfen würde, damit fortfuhr auf den Täter zu schießen, nachdem er aus seiner Schockstarre erwacht war. Nach scheinbar etlichen Treffern zuckte der Mann endlich zusammen und schien den Schützen zu registrieren. Er starrte ihn an wie ein Tier – stumpfsinnig, aber gefährlich – und lauerte. So schnell er konnte, hechtete der Beamte zum Auto und riss die Tür auf. Noch ehe er sich auf den Sitz klemmen und die Türe hinter sich schließen konnte, war er schon über ihm und riss ihn an den Beinen, wohl um ihn wieder herauszuzerren. Verzweifelt trat der Beamte nach ihm und traf ihn an Schulter und Gesicht. Was allerdings nicht dazu beitrug, dass sein Angreifer von ihm abließ, wohl aber den praktischen Nebeneffekt hatte, dass er sich von ihm weg hebelte. In einem letzten verzweifelten Aufbäumen riss der Beamte die Tür hinter sich zu und startete noch halb im Liegen den Wagen. Erst als er größeren Abstand zwischen sich und dem Mörder gebracht hatte, forderte er über Funk Verstärkung an. Die Leute in der Zentrale musste die Panik in seiner Stimme gehört haben, denn sie reagierten prompt. Glücklicherweise schien sich der Mörder aufgrund seiner Verletzungen nicht mehr allzu weit bewegen zu können, so, dass die eintreffenden Ordnungskräfte einschreiten konnten. Es folgte ein SEK-Aufgebot von beinahe militärischem Ausmaß um den Mörder dingfest zu machen. Und mit dingfest meine ich, dass jeder einzelne seiner Muskeln fixiert werden musste. Bis das allerdings zustande gebracht worden war, mussten weitere Beamten ihr Leben lassen. Der Mörder wurde schwer verletzt auf einer Trage fixiert. Wobei man ihn seine Blessuren kaum anmerkte, so sehr wie er sich dabei aufbäumte. Vollständig fixiert und mitsamt seiner Trage wurde er regelrecht in die Zelle geschmissen. Ein grober Verstoß gegen die Vorschrift, besonders bei einem Verletzten, aber nach mehr als Zehn gefallenen Kameraden hält sich das Mitleid der Staatsgewalt in Grenzen. Die Frage war nur, wie der Kerl von nun an zu handhaben war. Kein Sanatorium der Welt würde sich an so etwas die Finger verbrennen wollen und die Todesstrafe war bei uns schon seit Jahrhunderten abgeschafft. So beschloss man vorerst, ihn in der Zelle zu lassen bis man Hinweise auf seine Identität gefunden hatte. Das erwies sich nämlich noch als knifflig. Aus ihm war außer Schreien und Grunzen nämlich zunächst nichts herauszubekommen. Nur in der Nacht hörte man ihn manchmal innehalten und ein Wimmern von sich geben, das in markerschütterndem Schluchzen umschlug. Doch sobald man sich ihm näherte, schrie und fluchte er laut. Auch Blutabnahmen lieferten keinen Hinweis auf seine Vergangenheit. Er war nirgendwo registriert. Nachdem der Fall eine Zeit lang publik wurde, erhoffte man sich Hinweise durch die Bevölkerung. Diese blieben aus. Man ging schließlich bequemerweise davon aus, dass der Mann aus dem Ausland stammen musste. Daher machte man aus seiner Vergangenheit nicht mehr allzu viel Aufheben und wollte ihn nur noch billig loswerden. So kam nach und nach die Forderung nach der Todesstrafe zur Diskussion. Natürlich würde dies von der zögerlichen Politik niemals gebilligt werden. Es wäre der schiere Wahnsinn sämtliche Rechte der Verfassung für einen einzigen Fall über Bord zu werfen. So stand noch aus, ob er für den Rest seines Lebens in eine Einzelzelle oder ins Sanatorium sollte. Lebenslänglich – das stand einwandfrei fest – sollte es auf jeden Fall sein. Ein Ergebnis, welches sich zunächst gut anhört, schlussendlich aber für keinen zufriedenstellend ist. Letztlich bedeutet es nichts anderes, als das der Mörder für den Rest seines Lebens auf Staatskosten freie Kost und Logis erhält. Die Gerüchteküche brodelte. Viele behaupteten, der Mörder würde nach seinem Prozess heimlich in einem Hinterhof kaltgemacht werden, um die Kosten für seine weitere „Haltung“ einzusparen. Wenn solch ein Gerücht erst einmal in Umlauf gebracht wurde, folgten darauf selbstverständlich weitere dieser Art. So wurde schlichtweg behauptet, dass so mit jedem Mörder verfahren wurde. Was die Justiz natürlich nicht einfach so im Raum stehen lassen konnte. Die Folge davon war, dass die Verurteilung im Fernsehen übertragen werden sollte. Als wäre das allein nicht schon aufsehenerregend genug, meldete sich plötzlich auch noch der Wanderer zu Wort. Zum ersten Mal in der Öffentlichkeit sozusagen. Er warnte die Leute eindringlich vor dem Mörder und gab an, dass er sich dieses Problems durchaus annehmen könnte. Teils belustigt, teils beunruhigt reagierte man auf diese Bitte. Die Justiz, die von dem mehr als verworrenen Fall bereits die Nase gestrichen voll hatte, erteilte ihm die halbherzige Erlaubnis, dem Fall beizuwohnen. Sozusagen von einem Ehrenplatz in der ersten Reihe. Wer die Mentalität unserer Justiz begreift, kommt zu der Schlussfolgerung, dass sie ihn ebenso gut mit Narrenkappe und Zepter hätten ausstatten können. Sollte der Wanderer das gewusst haben, so ließ er sich zumindest äußerlich nichts davon anmerken. Wobei man auch nicht sagen konnte, dass er durch diese Behandlung sonderlich im Stolz zu schwelgen schien. Lediglich eine stoische Entschlossenheit spiegelte sich in seinem Gesicht wieder. In etwa so wie ein Maurer, der vor den Bauplänen sitzt um abzuschätzen, wie hart die Arbeit letztendlich werden soll. Ansonsten ließ er nichts durchblicken. Das Urteil fiel für den Angeklagten wie erwartet aus. Was die Entscheidung zwischen Gefängnis und Sanatorium betraf, so hatte man es sich leicht gemacht. Zunächst würde er im Gefängnis landen und sobald er therapierbar sei in ein Sanatorium umsiedeln. Es war eine absolute Farce. Fast wie in einem Comic konnte man über den Zuschauern die Gedankenblase mit der Aufschrift „Buuuh!“ stehen sehen. Aber so war unser Rechtssystem nun einmal. Wie auch immer wir es verbocken, man kann sich immerhin darauf verlassen, dass hinterher alle Beteiligten gleich unzufrieden sind. Doch das wirklich Haarsträubende sollte sich nach dem Urteilsspruch erst noch ereignen. Ob er jetzt zu Tode oder Haft verurteilt wurde, stand danach überhaupt nicht mehr zur Debatte. Der Wanderer hatte während der Verhandlung keine Miene verzogen. Nachdem das Urteil gefällt worden war, erhob er sich zusammen mit den anderen Zuschauern und verließ den Saal. Draußen im Flur warteten bereits weitere Kamerateams, die drinnen keinen Platz mehr gefunden hatten. Der Wanderer gesellte sich zu ihnen. Er wurde kaum beachtet. Alle warteten auf den Verurteilten Mörder. Der Moment in dem der Mörder in den Flur trat, war der letzte von dem die meisten Augenzeugen noch berichten konnten. Und diejenigen die überlebt haben, sind nur Sekunden später rechtzeitig geflohen. Nun muss man allerdings dazu sagen, dass bereits sämtliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden waren. Der Verurteilte trug während des gesamten Prozesses eine Ganzkörperfessel, die ihn daran hinderte auch nur den Kopf zu bewegen. Er musste von drei Gerichtsdienern auf seinen Platz getragen werden. So wurde er nun von mehreren Polizisten durch den Flur gezogen. Die Pressemeute stürzte sich auf ihn. Es entstand ein Blitzlichtgewitter, dass die umstehenden Schaulustigen vorrübergehend erblindeten. So bemerkte zunächst auch keiner, wie der Wanderer auf den Verurteilten zuging. Der fiel ihnen erst wieder ein, als er nur noch eine Armeslänge von ihm entfernt war. Sofort verstummte die Menge. Alle sahen gebannt zu, wie der Wanderer sich vorbeugte und dem Verurteilten etwas zuflüsterte. Eine Weile war es ganz still und selbst der Verurteilte hielt in seinem Gebaren inne um andächtig den Worten des Wanderers zu lauschen. Dann brach die Hölle los. Was genau geschah konnte niemand sagen. Alle, die sich retten konnten, standen weiter hinten. Alles, was noch Stoff für Spekulationen gab, waren die verbleibenden Kameras, die man hinterher fand und davon auch nur diejenigen, die noch intakt waren. Dummerweise standen die Leute mit den Fotoapparaten weiter vorne als die mit den Kameras. Und die Fotos waren weitaus unbrauchbarer als die Filme. Ab der Stelle, an der sich der Wanderer in das Geschehen eingemischt hatte, kann ich nur noch berichten, was auf einem der Filme zu sehen war. Angefangen bei dem Moment, in dem der Wanderer dem Verurteilten etwas zuflüsterte. Das Gesicht des Verurteilten entspannte sich, als würde er einer vertrauten Melodie lauschen. Und alles war still. Dann traten die ersten Bildstörungen auf. Zunächst hatte man denen so gut wie keine Beachtung geschenkt. Waren die Materialien ohnehin bereits stark beschädigt. Doch dann wurde es plötzlich seltsam. Sämtliche Augenzeugen hatten ausgesagte, dass der Mörder die ganze Zeit über vollkommen ruhig gewesen war und keinen Mucks von sich gegeben hatte. Auch auf dem Bildmaterial war einwandfrei zu sehen, dass er seinen Mund geschlossen hielt. Nichtsdestotrotz war auf dem Video mit einem Mal ein Schrei zu hören, der einem die Plomben in den Zähnen nur so klappern ließ. Die Zellenwärter, die mit dem Mörder bereits in Kontakt gekommen waren, versicherten, dass es sich bei dem Schrei nicht um seine Stimme handelte. Hatten sie doch schon zur Genüge seine verschiedensten Schreie zu hören bekommen. Zudem war man sich nicht zu hundert Prozent sicher, dass es sich wirklich um einen menschlichen Schrei handelte. Es klang eher wie ein künstlich erstelltes Geräusch, das einem menschlichen Schrei auf frappierende Weise ähnelte. Man schob es wieder auf einen Defekt im Tonmaterial. Mit dem Geräusch nahmen auch die Bildstörungen stärker zu. Interessanterweise jedoch hauptsächlich in dem Bereich in dem sich der Verurteilte aufhielt. Etwas flackerte dunkel um ihn herum. Über seinem Kopf glitzerten zwei schwache Funken. Sie ähnelten farblosen Augen. Das wirklich Beunruhigende an der Aufnahme war, dass der Wanderer diese Augen anzustarren schien und nicht das Gesicht des Verurteilten. Gingen die ersten visuellen Aberrationen zunächst nur von dem Verurteilten aus, breiteten sie sich schnell über den Bildschirm aus. Allerdings hauptsächlich da wo Leute standen. Und genau in diesem Moment, in dem es sie erfasste, zuckten sie zusammen. Ihren Gesichtern war das nackte Grauen abzulesen. Außerdem schienen sie starke Schmerzen zu haben. In den Augen einiger war nur noch das Weiße zu sehen. Auch mit dem Verurteilten ging eine Wandlung vor sich. Sein Gesicht wurde feuerrot und von dicken Adern durchzogen. Seine Lippen waren vor lauter Anspannung so weit zurückgezogen, dass sein Gebiss unnatürlich groß wirkte. So ein Gesicht hatte ich bis Dato nur ein einziges Mal gesehen und das war bei der Obduktion eines Brandopfers. Auf jeden Fall schienen die Bildstörungen an diesem Moment ihren Zenit zu erreichen. Auch die Technikexperten waren nicht dazu in der Lage das Bild so weit hinzubekommen, dass man auch nur irgendetwas erkennen konnte. An eine Sache die mich persönlich sehr verstörte erinnere ich mich jedoch noch. Als der Techniker das Bild an einer Stelle anhielt, war es, als befände sich noch eine weitere Person im Raum, die dort eigentlich gar nicht hätte anwesend sein sollen. Die Gestalt schwebte einen knappen halben Meter über dem Verurteilten. Und obwohl sie den groben Umriss eines Menschen besaß, hörten die Gemeinsamkeiten an dieser Stelle auf. Das Gesicht des Wesens war eine grausame Parodie der menschlichen Züge. Es war, als hätte jemand versucht, das Gesicht des Verurteilten zu zeichnen, jemand, der es ansonsten nur gewöhnt ist Teufel und Dämonen aufs Papier zu bannen. Hätte man versucht, mir davon zu erzählen, anstatt es mich mit meinen eigenen Augen sehen zu lassen, hätte ich es für eine hysterische Reaktion auf eine gewöhnliche Bildstörung gehalten. Eine Bildstörung, die rein zufällig wie eine schwebende Gestalt angeordnet ist. Aber ich habe es gesehen. Und ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass auf dem Video eine Lebensform zu sehen ist, deren Existenz den menschlichen Verstand übersteigt und einen eher in den Wahnsinn treibt als dass man es begreifen kann. Jedenfalls endet das Video an dieser Stelle und was noch bleibt sind die Hinterlassenschaften in den Fluren des Gerichtsgebäudes. Hatte man vorher bei den Morden lediglich eine bis maximal vier Personen von den Wänden kratzen müssen, war das Ausmaß dieser Sauerei jenseits aller Schlachterreibetriebe. Das Gebäude wird bis auf weiteres nicht mehr nutzbar sein. Ich weiß nicht, wie es um die Allgemeinbildung in Bezug auf Mordschauplätze bestellt ist. Daher werde ich an dieser Stelle etwas weiter ausholen. Wenn eine Leiche in einer Wohnung gefunden wird und das nach einem längeren Zeitraum, ist davon auszugehen, dass die Wohnung grundsaniert wird. Der Grund ist das Leichenwasser, das sich auf und später im Boden sammelt. Und in diesem Fall hatten wir es nicht wirklich nur mit Leichenwasser zu tun. Dass der menschliche Körper hauptsächlich aus Flüssigkeit besteht, ist hinlänglich bekannt. Und hier hatten wir es mit den Körpersäften von über sage und schreibe hundert Personen zu tun. Diese waren nicht einfach verblutet, nein. Die wurden genauso in Fetzen gerissen wie die bisherigen Mordopfer auch. Ich habe den Ort erst betreten, als der Tatort bereits oberflächlich gereinigt wurde und die Leute, die das auf sich genommen haben, sind darum nicht zu beneiden. Naja, als ich ankam, sah der Gang aus wie eine verdammte Gummizelle. Der Boden und die Wände hatten so viel Flüssigkeit aufgesogen, dass sie aufgeweicht und bogenartig gewellt waren. Sogar wenn man darüber lief fühlte es sich an wie eine Gummimatte. Ein Teil des Flurs musste gesperrt werden. Zu groß war die Gefahr, dass der durchweichte Boden einstürzte. Die Wände waren voller Kratzer. Teils von den Kämpfen, teils von den Knochensplittern, die die Tatortreiniger aus dem Gemäuer ziehen mussten. Abschließend lässt sich sagen, dass die Obduktion ihre liebe Mühe hatte, den Leichenbrei zu identifizieren. Tatsächlich aber erfolgten erstaunlich viele Treffer. Darunter war auch der verurteilte Mörder. Wie ich vorher bereits erwähnte, hatte man dem Opfer zuvor bereits Blutproben entnommen. Dies sollte sich im Nachhinein als sehr nützlich erweisen. Er war unter den ersten, die identifiziert wurden. Anhand der Gewebemenge konnte man ausschließen, dass diese Person überlebt hatte. Aber eine Sache beschäftigte mich dennoch bis heute. Durch die Autopsie und mit Hilfe der Angehörigen konnten wir schlussendlich alle Opfer identifizieren. Alle bis auf eines. Es befanden sich Blut und Gewebe in der Masse, dessen Proben kein eindeutiges Ergebnis lieferten. Das gab den Leuten so manches Rätsel auf. Bis ihnen aufging, woran das wohl liegen könnte. Von allen anwesenden fehlte nur noch die DNS des Wanderers. Mit dieser Lösung schienen alle zufrieden zu sein und der Fall wurde zu den Akten gelegt. Mich aber lässt die Vorstellung daran, wem die DNS außer dem Wanderer noch gehören könnte, nicht mehr los. Ich konnte mit einfach nicht vorstellen, dass jemand der nach außen hin so kompetent wirkte wie er, bei einer Aufgabe, die er bereitwillig übernommen hatte, dermaßen scheitern konnte. Es war doch durchaus möglich, dass er die ganze Tragödie als einziger überlebt hatte und die Stadt verließ um seinen Tod vorzutäuschen, damit sich die Bewohner dieser Stadt nicht den Kopf über die fremde DNS zerbrechen mussten. Was mich betrifft, ich fühle mich nach dieser ganzen Geschichte nicht mehr wohl. Auch denke ich jetzt wesentlich intensiver über die Geschichte von den Burkhardts nach. Was wäre wenn sie wahr ist? Was wäre, wenn die Toten wirklich zu einem einzigen großen Bewusstsein werden, das über uns wacht? Nicht auf unserer dimensionalen Ebene, aber dennoch stets um uns herum. Am Tage ängstigt mich dieser Gedanke sehr. In der Nacht jedoch hat er etwas Tröstliches an sich. Habe ich doch inzwischen das Wissen erlangt, dass es weitaus schlimmeres gibt, was da zwischen den Welten lauert. Und ich frage mich, ob der menschliche Körper dafür letztendlich als Werkzeug oder Gefängnis dient. Nun, wie auch immer, mit dem Bericht bin ich endlich fertig geworden. Es wird wieder kälter im Zimmer. Ich sollte ein Fenster öffnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)