Winter Glück von YukiKano ================================================================================ Kapitel 3: Hormone – ab in die Ecke und nachdenken, was ihr da gerade gemacht habt! ----------------------------------------------------------------------------------- Das Wecker klingeln am nächsten Morgen riss mich aus meinem ziemlich unruhigen Schlaf, den ich nicht im Entferntesten erholsam fand. Ich konnte nicht mal richtig benennen, warum ich so schlecht geschlafen hatte. An Oliver hatte es zu mindestens nicht gelegen. Denn er hatte weder geschnarcht, noch im Schlaf um sich geschlagen. Er hatte mich zwar mit seiner bloßen Anwesenheit verrückt gemacht, aber dafür konnte er ja auch nichts. Ich hatte keine Lust mehr nach einer Antwort zu suchen, also stand ich auf. Da Oliver schon vor mir aufgestanden war, hatte ich keine Hemmungen mich hier umzuziehen. Bevor ich das Zimmer dann endgültig verließ legte ich die Klamotten die er mir geliehen hatte ordentlich zusammen und drapierte sie am Fußende. Ich ging einfach davon aus das Oliver sich in der Küche befand. Vorsichtig linste ich um die Ecke. Der Student saß am Tisch, hatte die Ellbogen auf der Platte abgestützt und das Gesicht tief in den Händen vergraben. Es schien, als gäbe es etwas mit dem er gerade zu kämpfen hatte. Ich sollte ihn fragen was los ist. Gefasst nickte ich und trat dann in die Küche ein. Der Student hob den Kopf ein wenig und als er mich entdeckte sprang er hastig von seinem Stuhl auf. »Guten Morgen! Du hast doch bestimmt Hunger oder? Magst du Rührei … oder Spiegelei … oder irgendetwas anderes?« Ich wurde eine Nuance röter. »Ähh«, machte ich verlegen, »Eine Schüssel Cornflakes würde völlig ausreichen – und eine Tasse Kaffee wäre nett!« Vorsichtig zog ich den anderen Stuhl am Küchentisch zurück und nahm darauf Platz. »Cornflakes und Kaffee – geht klar!«, wiederholte er meinen Wunsch und machte einen Satz nach hinten. Irgendwie wirkte er ein wenig, als wäre er mit der ganzen Situation völlig überfordert. Er kramte in seinen Schränken herum, als hätte jemand über Nacht die Küche umgeräumt. Belustigt begann ich zu grinsen. Wenigstens schien er dann aber noch zu wissen wo seine Tassen standen. Er stellte eine volle Tasse Kaffee vor meiner Nase ab. »Danke«, sagte ich, musste mich dabei stark zusammenreißen nicht vor Belustigung laut los zu lachen. Es war offensichtlich das er keine Cornflakes im Haus hatte, sich aber nicht traute einen Ton zu sagen – warum auch immer. Während er seine Schränke also noch ein zweites Mal durchsuchte, prüfte ich auf meinem Handy wie ich nachhause kommen würde. Doch die Bahn schien es heute nicht gut mit mir zu meinen. Denn eine aktuelle Weichenstörung hier in Düsseldorf sorgte dafür, dass die nächsten beiden Regionalbahnen nach Klein Schnürstadt ausfallen würden. Einem blieb im Moment also nur übrig aufs Auto auszuweichen oder die Wander- und Fahrradroute zu benutzen. Und 28 Kilometer würde ich nur über meine Leiche zu Fuß gehen. Ich würde also die ersten beiden Schulstunden – vielleicht sogar die dritte – verpassen und Oliver müsste meine Anwesenheit noch etwas länger ertragen. Und ich wusste zwar nicht warum, aber die schien im Moment sein größtes Problem zu sein! Verstohlen betrachtete ich ihn bei seinem Tun. Er sieht wirklich nicht schlecht aus mit den blonden Kinnlangen Haaren und den hohen Wangenknochen. Und von den bernsteinbraunen Augen und den betörenden schmalen Lippen fange ich lieber erst gar nicht an. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. So darf ich nicht denken, bloß nicht! Solche Gefühle könnten mich Kopf und Kragen kosten. Denn Oliver ist immerhin schon 27 Jahre alt und noch dazu Tanjas großer Bruder! Sie, meine Freunde und meine Eltern würden ihn einen Kopf kürzer machen und mich in eine Psychiatrische Einrichtung einweisen! Denn so etwas ist eklig, so denken die Bewohner unserer Kleinstadt über Leute wie ihn. Oliver schien seinen Mut wiedergefunden zu haben. Sich am Nacken kratzend drehte er sich zu mir um. »Ich könnte zwar schwören, dass ich irgendwo noch Cornflakes hatte – scheint wohl nicht so! Soll ich stattdessen Rührei oder Spiegeleier machen?« »Ich denke Rührei ist in Ordnung«, antwortete ich lächelnd. »Soll ich dir helfen?« Oliver schüttelte entschieden mit dem Kopf und drehte sich dann zum Kühlschrank um. Ich stützte den Ellbogen auf dem Tisch ab, legte den Kopf auf meine gefalteten Hände und sah ihm verträumt beim kochen zu. Obwohl ich nicht so fühlen sollte, fühlte es sich im Moment aber verdammt gut an! Ein paar Sekunden genoss ich diesen Anblick noch, dann nahm ich mein Handy wieder zu Hand und schaute nach, ob es schon neues von der Weichenstörung gab. Doch eine neue Meldung war noch nicht erschienen. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken meinem Bruder zu schreiben, dass ich heute später kommen würde. Doch ich ließ das dann doch lieber bleiben. Maximilian hatte nämlich die besondere Gabe, aus manchen Situationen die falschen Schlüsse zu ziehen. Und ich wollte nicht dass er am Ende noch mit der 7. Kavallerie hier angeritten kam, weil er sich in seinem Kopf schon wieder irgendeinen Mist zusammengereimt hatte. Bevor ich mir allerdings weitere Gedanken darüber machen konnte, stellte Oliver einen Teller vor meiner Nase ab. Er setzte sich auf seinen Platz und blickte mich dabei direkt an. »Guten Appetit!«, sagte er, hörte sich aber nicht sehr erfreut an. Davon ein wenig verunsichert, bedankte ich mich leise und begann dann zu essen. Ich hatte einen Moment mit dem Gedanken gespielt ihn zu fragen ob er mich fahren würde. Doch er schien gerade nicht die beste Laune zu haben, deswegen verwarf ich die Idee ganz schnell wieder. Wir hatten ihm den gestrigen Abend schon versaut, da musste ich mit dem Morgen danach nicht gleich weitermachen. Obwohl es mich schon in den Fingern juckte, ihn zu fragen was sein Problem war. Vorsichtig schielte ich von meinem Teller hoch und sah den Studenten an. Er nahm keine Notiz von mir, wischte stattdessen in regelmäßigen Abständen über das Display seines Handys. Ich würde sagen, er checkte sein Facebook oder irgendein anderes soziales Netzwerk. Vielleicht ja auch die aktuellen Nachrichten. Auf den ersten Blick sah er ziemlich gelassen aus, als hätte er mit meiner Anwesenheit kein Problem. Doch wenn man genauer hinsah, konnte man sehen wie sehr ihn die Situation störte. Sein ganzes Gesicht war verkrampft und die Haut, die seine Knöchel an den Händen umspannte, war kalkweiß. Er starrte pausenlos auf sein Handy oder seinen Teller, hob nur ab und zu seinen Blick und das gerade mal soweit über den Tellerrand hinaus, dass er seine Tasse nicht verfehlte. Es wäre schlau von mir gewesen, schnell zu essen und dann zu verschwinden, auch wenn ich eh nicht von hier wegkam und in der Kälte ausharren musste. Doch die Neugierde war zu groß und mein Gehirn ließ sich mal wieder nicht zurückhalten. »Ist alles in Ordnung? Du siehst so aus, als würdest gleich vom Stuhl fallen! Hast du schlecht geschlafen?«, fragte ich unschuldig. Oliver schien nicht damit gerechnet zu haben, von mir heute noch etwas zu hören. Er erschreckte sich nämlich so sehr, dass er sich verschluckte. Dann sah er mich kurz an, wandte den Blick aber gleich wieder ab, um einen Schluck Kaffee zu trinken. »Mit mir ist alles in Ordnung«, antwortete er ausweichend und ließ die zweite Frage offen im Raum stehen. »Wann hattest du eigentlich vor zu gehen?« Okay, er wollte mich los werden – jetzt ist es offiziell. »Ich hatte eigentlich nur noch vor aufzuessen und dann verschwinde ich. Die Bahn fährt zwar nicht, aber wenn sie es dann doch irgendwann mal wieder tun sollte, bin ich wenigstens der Erste am Bahnhof.«, antwortete ich und schob mir eine volle Gabel in den Mund. Vor ein paar Minuten fand ich es noch ganz angenehm hier zu sitzen, aber jetzt wollte ich hier nur noch ganz schnell weg. Denn ich mochte es noch nie, mich an einem Ort aufzuhalten, an dem ich nicht erwünscht bin! »Wie meinst du das, die Bahn fährt nicht?« »Es gibt eine Weichenstörung, deswegen fallen die nächsten beiden Regionalbahnen nach Klein Schnürstadt aus!« Wir schwiegen wieder, denn dazu hatte selbst Oliver nichts mehr zu sagen. Das ganze hier wurde immer unangenehmer. Ich warf einen vorsichtigen Blick in meine Tasse und anschließend noch einen auf meinen Teller. Es würde noch ungefähr sechs Minuten dauern, dann wäre ich hier weg. So lange würde er es ja wohl noch mit mir aushalten. Doch dann kam alles wieder anders, als er tief seufzte. »Wenn ich für meine kleine Schwester schon Taxidienst spielen kann, dann auch für ihre Freunde«, sagte er. Ich lächelte automatisch. »Echt das würdest du tun? Ich geb‘ dir auch Trinkgeld!« Jetzt lächelte er auch ein wenig. »Das werden wir ja sehen!« Wir grinsten uns beide noch einen kurzen Moment an und aßen dann schnell unser Frühstück auf. Anschließend stellte er das Geschirr ins Spülbecken und ich ging ins Schlafzimmer um meinen Rucksack zu holen. Wir trafen uns im Flur wieder, zogen uns die Schuhe an und verließen dann die Wohnung. Oliver führte mich zu seinem Auto – einem alten, schwarzen VW Golf. Ähnlich wie seine Wohnung machte auch das Auto einen ordentlichen und gepflegten Eindruck. Oliver kannte Düsseldorf wie seine Westentasche. Wenn die Hauptstraßen irgendwo zu voll wurden, hatte er immer gleich einen Schleichweg parat. Und ehe ich mich versah waren wir schon auf der Autobahn. Aus dem Radio trudelte leise Musik, aber ansonsten war es still im Auto. Oliver konzentrierte sich vollkommen auf die Straße und ich konnte meinen Blick nicht von seiner schwarzen Hornbrille losreißen. »Du könntest Brillen-Model werden!« Ein wohltuendes Lachen war vom Fahrersitz zu hören. Ich riss die Augen auf. Hatte ich das gerade wirklich laut gesagt? Boden tue dich bitte auf und verschlinge mich! »Versuchst du etwa mit mir zu flirten?« Mir klappte die Kinnlade hinunter. Wenn ich jetzt Fahrer dieses Wagens gewesen wäre, dann hätte ich vermutlich mit der Leitplanke Bekanntschaft gemacht. »Ich … ich weiß nicht – keine Ahnung! Ich weiß nicht wie das geht und eigentlich sollte das wirklich nur ein nett gemeintes Kompliment sein!« Oliver lachte wieder. »Das wäre auch eine Art und Weise mit jemandem zu flirten!« Ich wurde rot. »Oh, bitte entschuldige. So war das nun wirklich nicht gemeint«, antwortete ich pikiert. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten!« »Ich weiß schon wie es gemeint war«, entgegnete er, klang aber jetzt schon wieder so schroff wie vorhin. Ich begann aus Sicherheitsgründen an meinen Fingernägeln zu knabbern. Dann konnte ich wenigstens nichts Blödes mehr von mir geben. Ich brauchte Oliver den Weg zur Schule nicht beschreiben, er fand ihn alleine und parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Stück abseits. Wir schwiegen und ich wusste nicht genau was ich tun sollte. Einerseits könnte ich einfach >Danke< sagen und verschwinden, aber andererseits wollte ich mich auch entschuldigen. Wofür wusste ich zwar selbst nicht genau, aber das Verlangen es zu tun, nahm mein ganzes Gehirn ein. Schließlich nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sah ihn direkt an. »Danke fürs fahren und das ich bei dir übernachten durfte und fürs kochen … und«, ich stockte. »Nein, das war alles. Und Entschuldigung wegen gerade eben, ich hab das wirklich nicht so gemeint! Also, ähm du siehst wirklich gut aus mit Brille und auch ohne – aber ich denke mal das weißt du und ich-« Ich wurde am weiterreden gehindert, weil er mir grinsend den Mund zu hielt. Dann lachte er auf. »Du bist ‘nee ganz schöne Quasselstrippe weißt du das? Es hat nicht mal wirklich Sinn ergeben, was du da von dir gegeben hast!« Oliver nahm die Hand von meinem Mund und legte sie an meine Wange, dann strich er mir eine Locke hinters Ohr. Sollte ich es nicht unangenehm finden, wenn mich ein fremder Mann so berührt? Wenn ja, dann war ich nicht mehr richtig gepolt. Denn in meinen Körper breitet sich gerade eine wohlige Wärme aus. Es fühlte sich schon wieder an, als würde die Zeit stehen bleiben, nur weil ich in Olivers Augen sah und er meinen Blick erwiderte. »Du hattest vorhin gesagt, du würdest mir Trinkgeld geben?«, flüsterte er und strich mit seiner Hand wieder über meine Wange, zurück zu meinen Lippen. »Was hättest du denn gerne?«, fragte ich völlig hypnotisiert von diesen betörenden Augen. Irgendwo in meinem Gehirn hatte eine Synapse die Vernunft noch behalten und schrie herum, was ich eigentlich gedenke hier zu tun. Doch ich ignorierte dass, weil ich ahnte worauf das hier hinauslaufen würde und weil ich mir wünschte, dass es passieren würde. Dann hatte ich wenigstens eine Hürde der Pubertät erfolgreich – wenn auch reichlich spät - gemeistert. Mein Herz begann wie wild zu klopfen, als Oliver sich noch ein Stück weiter zu mir vorbeugte. Und es blieb stehen, als er anfing zu grinsen, seine Hand von meiner Wange nahm und den Kopf schüttelte. »Mir fällt schon noch was harmloses für dich ein!«, sagte er und startete seinen Motor wieder. Eine wortlose Aufforderung für mich, dass ich jetzt aussteigen und gehen sollte. »Ähm ja klar«, stammelte ich und griff nach meinem Rucksack. »Dann, danke nochmal und … Ähm … Bis zum nächsten Mal!« Ich erwartete seine Erwiderung gar nicht ab, sondern hastete aus dem VW, als wäre der Wahrhaftige hinter mir her. Ich knallte die Tür so fest zu, dass ich einen Moment befürchtete sie würde gleich aus dem Rahmen fallen, doch das wäre mir egal gewesen. Zwei Sekunden später hatte Oliver schon ausgeparkt und rauschte davon. Ich sah ihm nach und fragte mich, was hier gerade passiert war, denn erklären konnte ich es mir nicht! Mein Herz pochte noch laut, als sich mich in Richtung Schule aufmachte. Ich befürchtete schon, jeder um mich herum konnte es hören. Die erste große Pause hatte gerade angefangen, als ich auf das Schulgelände stolperte und unter allen Schülern versuchte, meine Freunde auszumachen. Plötzlich versperrte mir jedoch Milena den Weg und strahlte mich an, wie der hellste Stern am Himmel. Ich glaubte, sie konnte gar nicht anders als zu lächeln. Permanent lief sie mit dem Grinsen im Gesicht herum. Manchmal war es schon fast gruselig. »Leon, da bist du ja!«, quietschte sie und fiel mir so stürmisch um den Hals, als hätten wir uns Jahre nicht mehr gesehen. Dabei war das letzte Mal erst gestern gewesen. Und seit dem hatte ich weder eine Weltreise, noch einen Kurzurlaub unternommen. Ich hatte nur eine Nacht in Düsseldorf verbracht, was für einen Jugendlichen aus Klein Schnürstadt kein Wunder war. Die meisten Teenager von hier besitzen Jahreskarten für den Jugendherbergen-Verband, weil es öfters vorkam, dass man die letzte Bahn verpasste oder die Bahn im Allgemeinen mal wieder keinen guten Tag hatte. »Hey, hey; beruhig dich!«, sagte ich und schob sie sachte von mir weg. »Wo warst du denn? Dein Bruder hätte beinahe die ganze Schule auseinander genommen, weil du nicht zur ersten Stunde hier warst und dich auch nicht gemeldet hast!«, erzählte sie aufgeregt, warf die Haare zurück und sah mich anschließend prüfend an. »Du hast doch was zu erzählen, so wie du grinst! Na los; raus mit der Sprache!« Ich schüttelte hastig den Kopf. »Aber nicht jetzt und vor allem nicht hier.« Sie stemmte unzufrieden die Hände in die Hüften. »Dann gehen wir beide heute nach dem Schachverein einen Kakao trinken – Ausreden werden nicht geduldet!« Ich nickte, verabschiedete mich und suchte dann weiter nach meinen Freunden. Zum Glück war Sandys Fuchsroter Haarschopf wie ein Leuchtturm; man konnte ihn einfach nicht übersehen. Sandy, Tanja und Tom saßen auf einer Bank direkt neben der zweiten Sporthalle, der Rest hatte sich drum herum verteilt. Sie schienen zu diskutieren, weswegen ich mich langsamer näherte, um mehr davon mitzubekommen. Tanjas Gesicht war mal wieder feuerrot vor Wut und sie bebte wie ein Vulkan kurz vor der Detonation. »Ihr beide«, zischte sie, fixierte Maximilian und Tom, in dem sich mit dem Finger auf sie zeigte, »Ihr beide seid wirklich das Letzte! Euer homophobes Verhalten gegenüber meinem Bruder ist ja schon kaum zum aushalten, aber das ihr ihm jetzt auch noch unterstellt, er würde sich an Lelo ran machen und sich einfach an ihm vergreifen, ist ja wirklich die Krönung!» »Jetzt pass mal auf«, widersprach Tom postwendend und bäumte sich auf wie ein Gorilla, kurz bevor er sich schreiend auf die Brust klopfte. Okay, ich hatte genug gehört. Wurde Zeit diesen Konflikt zu beenden. Tom schien seinen Satz noch ergänzen zu wollen, verstummte allerdings schlagartig, als ich mich in den Kreis hinein drängelte und Tanja von hinten einen Kuss auf die Wange drückte. »Zu viel schreien mach furchtbare Falten!«, begrüßte ich sie. Till bekam den obligatorischen High-Five und Sandy wie üblich eine Umarmung. Maximilian und Tom ließ ich dabei gekonnt außen vor, als hätte ich sie gar nicht gesehen. »Und wo kommst du jetzt her?«, zeterte Tanja gleich weiter. Könnten Blicke töten, würde ich mir die Radieschen jetzt mit Sicherheit von unten ansehen! »Oliver hat mich gerade abgesetzt, weil die Bahn der Meinung war, es wäre mal wieder Zeit für eine Weichenstörung«, antwortete ich erschrocken. Damit, dass sie mich jetzt anzickte, hatte ich nicht gerechnet. Und fair war es auch nicht, denn ich hatte ihr nichts getan. »Na gut, wird geduldet!«, antwortete sie und seufzte danach schwer. »Wärst du dann bitte so freundlich und würdest deinem Bruder und dem Hohlkopf daneben erklären, dass mein Bruder kein schwanzgesteuerter Triebtäter ist und sich rücksichtlos an dir vergriffen hat!« Ich zögerte einen Moment und überlegte, was ich sagen sollte. Tom und Maximilian waren in ihrer Meinung schon so festgefahren, dass es schwer sein würde, sie davon abzubringen. Aber versuchen sollte ich es zu mindestens, bevor Tanja unsere Schule von der Landkarte ausradierte. »Dein Bruder ist sehr zuvorkommend und höflich. Wir haben gestern Abend einen Film zusammen geschaut und sind danach ins Bett gegangen – also er ist in sein Bett und ich hab auf dem Sofa geschlafen!« Kaum hatte ich die letzten Worte ausgesprochen, geriet ich schon ins Schwitzen. Ich war ein miserabler Lügner und das wussten meine Freunde auch. Aber ich konnte ihnen nicht sagen, dass Oliver und ich zusammen in seinem Bett geschlafen hatten und uns auch noch die Bettdecke geteilt hatten. Hätte ich das gesagt, würde dieser Streit vermutlich niemals aufhören. »Hab ich es euch doch gesagt!«, sagte Tanja schadenfroh, verschränkte aber dennoch die Arme vor der Brust. Ein Zeichen dafür, dass für sie trotzdem noch nicht alles gesagt war. Ich hatte jetzt allerdings keine Lust weiter zu diskutieren, also wandte ich mich Sandy und Till zu und versuchte etwas über die beiden Deutschstunden, die ich verpasst hatte, in Erfahrung zu bringen. Schließlich wollte ich Frau Zander keinen Anlass dazu geben meine Eltern anzurufen. Das könnte nämlich wohl oder übel noch weitaus schlimmere Konsequenzen mit sich ziehen, als nur drei unentschuldigte Fehlstunden. Während mir Sandy lang und breit erklärte, welches Buch wir ab Mittwoch lesen würden und wann die nächste Klassenarbeit anstand, bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie sich Maximilian und Tom bei Tanja entschuldigten. Ich hörte zwar nicht was sie sagten, aber das Tanja ihre verkrampfte Haltung aufgab, war schon mal ein gutes Zeichen. Kurz nachdem Sandy ihren Monolog beendet und Till noch einmal alles Wichtige zusammengefasst hatte, klingelte es auch schon zum Pausenende und wir machten uns auf den Weg zu Haus F in dem wir jetzt Musik hatten. Auch Mathe und Englisch zogen sich lang wie ein Kaufgummi. Heute konnte es für mich gar nicht früh genug zum Schulschluss klingeln. Als auch endlich die sechste Stunde vorbei war, trennten sich die Wege unserer Clique dann recht schnell, wie beinahe jeden Montag. Tanja und Tom mussten zum Schwimmtraining, Sandy und Till machten Pärchen-Nachmittag und mein Bruder hatte ein Date mit einem Mädchen aus der Parallelklasse. Ihr Name lautete - glaube ich - Jennifer, sicher war ich mich aber nicht. Merken musste ich ihn mir allerdings auch nicht, denn mein Bruder wechselte seine Dates und Freundinnen wie seine Unterhosen. Spätestens in zwei Tagen würde er sich eh wieder die nächste angeln. Nicht mehr lange und er hatte unsere Jahrgangsstufe einmal durchgevögelt. Mit Ausnahme natürlich von allen vergebenen Mädchen. Die zu knacken, waren ihm, nach eigener Aussage, zu viel Arbeit für einmal Spaß. Ich verabschiedete sie alle und ging dann schon mal zum Klassenraum, in dem sich der Schachverein immer traf. Es ging zwar erst in einer Dreiviertelstunde los, aber nochmal nachhause zu gehen, lohnte sich nicht. Ich war auch nicht der Erste der schon anwesend war. Paul – ein Junge aus der 11. Klasse – und Gina – ein Mädchen aus der 7. Klasse – waren auch schon da, als ich den Raum hineinstolperte. Ich grüßte sie freundlich, legte meine Sachen an dem Tisch ab, den Milena und ich immer besetzten und bereitete dann das Spielbrett vor. Um danach die restliche Zeit zu überbrücken, wollte ich eigentlich eine Runde Online-Schach spielen – sozusagen um mich warm zu machen. Doch als ich in meinen Rucksack griff und mein Handy nicht auf Anhieb zu fassen bekam, weil es nicht in dem Fach steckte, wo es sonst immer steckte, rückte Schach ganz schnell in den Hinterkopf. Ich schluckte. Wenn ich es verloren haben sollte, würde meine Mutter mich köpfen. Sie hatte eine ganze Menge Geld dafür ausgegeben – auch wenn ich so ein teures Smartphone niemals haben wollte – und wäre dementsprechend sauer, wenn ich heute beichten würde, dass ich es irgendwo liegen gelassen hatte. Allerdings fragte ich mich wo. Ich hatte es das letzte Mal in der Hand, als ich bei Oliver am Küchentisch gesessen und den Status der Weichenstörung gecheckt hatte. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das Handy musste noch bei ihm auf dem Küchentisch liegen. Ich schlug mir die Hand vors Gesicht. Konnte nicht mal einem anderen so etwas passieren? Warum immer mir? In Windeseile legte ich die Figuren zurück und packte das Spielbrett wieder in den Schrank. Dann sagte ich Paul und Gina, dass sie Milena bitte ausrichten sollten, dass ich heute nicht kommen würde und verschwand. Da ich Oliver nicht anrufen konnte, musste ich eben persönlich hinfahren. Ich stöhnte leise und vergrub das Gesicht angesichts der starken Windböen tiefer im Kragen meiner Jacke. Wenn er nicht zuhause war, betrieb ich den ganzen Aufwand umsonst. Kopfschüttelnd legte ich einen Zahn zu. Ich wollte schnell zu ihm und schnell wieder weg, damit er oder mein Gehirn nicht wieder auf dumme Ideen kommen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)