Winter Glück von YukiKano ================================================================================ Kapitel 5: Grundsätze, sind Sätze an denen man zugrunde geht. ------------------------------------------------------------- Ich nahm mir fünf Schulstunden über vor, in der zweiten Pause mit Milena zu reden. Zum einen musste ich mich für gestern entschuldigen und zum anderen brauchte ich einen Tipp von ihr. Ich wusste zwar absolut gar nichts über ihr Liebesleben, aber sie kannte sich mit solchen Dingen bestimmt besser aus als ich. Immerhin ist sie ein Mädchen! Milena sah mich böse an, als ich kurz nach Beginn der Mittagspause aus ihrem Freundeskreis entfernte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wegen dir musste ich gestern zwei Stunden anderen beim Schach spielen zusehen! Zwei ganze Stunden! Ich hoffe du hast eine gute Erklärung dafür, dass du mich einfach sitzen gelassen hast!“, meckerte sie und verzog wütend das Gesicht. Ich vergaß immer wieder, dass sie meistens genau-so schnell an die Decke ging wie Tanja es tut. Aber mittlerweile glaube ich, dass diesbezüglich alle Mädchen gleich sind. »Ich musste mein Handy aus Düsseldorf abholen – tut mir Leid, kommt nie wieder vor«, entschuldigte ich mich ernstgemeint und breitete versöhnlich die Arme aus. »Hast du es etwas bei deiner geheimnisvollen Be-kanntschaft vergessen?«, fragte sie mit klimpernden Wimpern. Sie ist wie jedes Mädchen aus Klein Schnürstadt, wenn es Klatsch und Tratsch ging. Und außerdem ist sie von Natur aus neugierig. Ich überlegte einen kurzen Moment ob ich mich ihr wirklich anvertrauen sollte. In Klein Schnürstadt ist alles, was nicht der Norm entspricht, unnormal und eklig. Und so wurde man auch behandelt. Da ich Milenas Einstellung zu der Thematik nicht kannte, beschloss ich ihr nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Oliver wird in meinen Erzählungen dann eben zu Olivia. »Wie wär’s, wenn wir heute einen Kaffee trinken gehen und ich dir dann alles erzähle? Ich brauche so wieso deine Hilfe«, entgegnete ich ihrer Frage reichlich verspätet. »Du brauchst einen Tipp in Liebesangelegenheiten? Von mir?« - sie sah mich einen kurzen Moment an und lachte dann los - »Solltest du da nicht eher deinen Bruder fragen? Der ist zwar kein Spezialist in Beziehungsdingen, aber er kann dir bestimmt sagen wie du an sie herankommst!« Beschämt senkte ich den Kopf. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber ich will mich nicht vor ihm blamieren und ich will auch nicht von ihm ausgelacht werden!« Milena lächelte sanft und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Das Mädchen kann sich glücklich schätzen, dass du dich für sie interessierst. Und ich denke du bekommst das auch ganz gut ohne fremde Hilfe hin. Sie wird schon noch früh genug bemerken was sie an dir hat.« Ich wollte ihr widersprechen. Wollte ihr sagen, dass ich nicht derjenige bin, um den es sich zu kämpfen lohnte. Doch am Ende sagte ich nichts. Milena sagte mir, dass sie nach der letzten Stunde vor der Schule auf mich warten würde. Dann um-armte sie mich und ging zu ihren Freunden zurück. Ich blieb noch kurz stehen und sammelte meine verwirrten Gedanken. Dann ging ich auch zu meinen Freunden zurück. Die Stimmung zwischen uns war immer noch an-gespannt. Tom und Maximilian hatten sich bei Tanja immer noch nicht für ihr Verhalten an Olivers Geburtstag entschuldigt. Und Tanja hatte beschlossen kein Wort mehr mit den beiden zu sprechen, bis sie das nicht getan hatten. Das war ein Umstand mit dem Till, Sandy und ich leben konnten. Doch Mount Tanja wäre nicht Mount Tanja, wenn sie nicht trotzdem Asche spucken würde. In ihrem Fall bedeutete das, dass sie in jeder freien Minute Sprüche zum Thema Homophobie aus dem Internet zitierte. Damit hatte sie Maximilian beinahe dazu gebracht, dass erste Mal in seinem Leben eine Frau zu schlagen. Till konnte ihn im letzten Moment glücklicherweise noch davon abhalten. Jetzt verlangte Tanja auch dafür eine Entschuldi-gung. Maximilian hatte ihr lediglich den Mittelfinger gezeigt und war pünktlich mit dem Pausengong aus dem Raum verschwunden. Dafür hatte er auch gleich noch einen Eintrag ins Klassenbuch kassiert. Denn Herr Fechner war mit seinem Unterricht noch lange nicht fertig gewesen. Seit dem behandelte uns mein Zwillingsbruder als wären wir Luft. Stinkende, abartige Luft. Tom hatte – glaube ich zumindest – eingesehen, dass er am Sonntag etwas zu weit gegangen war, aber er blieb bei seiner Meinung. Seit der ersten Hofpause las er deswegen Paragraphen zum Thema Meinungsfreiheit aus dem Internet vor, immer wenn Tanja anfing zu nerven. Und anschließend drohte er damit sie wegen Belästigung zu verklagen. Till steckte sich deswegen zu Beginn jeder Pause – und seien es nur die fünf Minuten zwischen den einzelnen Schulstunden – Kopfhörer in die Ohren. Und Sandy verdrückte sich ins Büro der Jahrgangssprecher, wo sie irgendwelche erfundenen Probleme beklagte. Tom und Tanja nahmen eine Bank gegenüber der Turnhalle, die eigentlich für vier gedacht ist, kom-plett für sich alleine ein. Der eine schmollte am lin-ken Ende, der andere am rechten. Till hatte sich von hinten gegen die Lehne gestellt. Das Gesicht zur Wand der Turnhalle, den Rücken zum Schulhof. Ich seufzte. Warum konnten die ihre Probleme nicht klären wie Erwachsene. Sie taten doch sonst auch immer so, als wären sie welche. Normalerweise müsste ich mir jetzt die Konfliktlotsenweste anziehen und mit der Schlichtung beginnen. Denn das war die Rolle, die ich in unserer Clique innehatte. Doch dieses Mal war ich mir sicher, dass die beiden ihre Probleme alleine klären konnten. Und ich würde mich nicht einmischen! Also setzte ich mich zwischen sie und spielte eine Runde Online-Schach. Nur leider schien die beiden meine Anwesenheit dazu anzustacheln ihren Streit neu entfachen zu lassen. Denn Tom drehte sich plötzlich zu mir um und Tanja machte es ihm, nach einem kurzen Seitenblick, nach. »Sag mal Leon: Wie würdest du es finden, wenn deine Freundin sich von dir trennt, weil ihr plötzlich auffällt, dass sie lieber Mädchen küsst?« Ich musste diese gedankenlose Frage nicht hinter-fragen, um herauszufinden, was Tom mit dieser Aktion bezweckte. Er brauchte jemanden auf seiner Seite. Seit mein Bruder beschlossen hatte, dass die Raudies aus der 10. Klasse eine bessere Gesellschaft abgeben als wir, hatte Tom niemand mehr, mit dem er gegen Tanja wettern konnte. Und das stinkt ihm gewaltig! Nur war er mit seinen Beschimpfungstriaden bei mir an der falschen Adresse gelandet und das würde ich ihm jetzt auch zu verstehen geben! »Ich würde sie umarmen und ihr sagen, dass sie mit dem gehen soll, dass sie glücklich macht – ob nun Junge oder Mädchen ist doch egal!«, entgegnete ich meinem besten Freund. Er schien von meinen Worten so überrascht, dass seine Kinnlade beinahe Bekanntschaft mit dem Bo-den machte. Ich hörte Tanja leise kichern: »Kann eben nicht je-der so ein homophobes Arschloch sein wie du!« Tom stand auf, schüttelte den Kopf und ver-schwand in der Schülermenge um uns herum. Okay – das war jetzt irgendwie nicht so optimal gelaufen. »Wenigstens ist jetzt endlich Ruhe im Karton!« - Till sagte haargenau das, was ich mir gerade gedacht hatte. Er nahm seine Kopfhörer aus den Ohren und schwang sich über die Lehne der Bank, genau zwi-schen Tanja und mich. In diesem Moment fragte ich mich zum ersten Mal, warum er nicht für Tanja Partei ergriff, wenn er doch auf ihrer Seite ist. Und das schien unsere Sport-Barbie genauso zu sehen. »Du könntest ihm auch mal die Leviten lesen, im-merhin kanntest du ihn zuerst!«, fauchte Tanja ihn an. »Und du könntest einfach mal deine Fresse halten! Lass das Thema doch einfach auf sich beruhen. Die beiden Kleinkinder werden mit ihrem losen Mund-werk schon noch früh genug auf die Fresse fliegen!« Tanja stieß ein empörtes Schnauben aus, stand auf und verschwand ebenfalls zwischen unseren Mit-schülern. Till seufzte genervt und massierte sich das Nasen-bein. »Warum bin ich mit solchen Affen befreun-det?« Ich wusste, dass er die Frage nicht ernst gemeint hatte und keine Antwort erwartete. Deswegen nutzte ich die Gunst der Stunde und fragte ihn, warum er nicht genauso eklig ist wie Tom und mein Bruder. Immerhin wurde er in seiner Kindheit – und auch jetzt noch - mit demselben Kleinstadtgequatsche zugedröhnt wie wir. »Als ich mit Sandys Familie letztes Jahr auf Sylt war, hat im Hotelzimmer neben uns ein schwules Pärchen gewohnt. Sandys Mutter und ihr Stiefvater hatten uns ständig gesagt, dass wir uns von ihnen und ihren widerlichen Praktiken fernhalten sollen. Sandy hatte keine Lust auf Streit und hat es deswe-gen wortlos hingenommen. Mir war es auch egal, bis zu dem Zeitpunkt, als am Strand einer von beiden leblos in sich zusammensackt ist. Sandys Eltern wollten so tun als hätten sie nichts gesehen und einfach weitergehen. Doch das wollte ich so nicht hinnehmen und Sandy zum Glück auch nicht. Wir sind hingerannt. Keiner von beiden hatte ein Handy dabei und der Mann am Boden hat schon nicht mehr geatmet. Ich habe den Krankenwagen gerufen und die beiden ins Krankenhaus begleitet«, erzählte Till mit abwesendem Blick. Ich schauderte. »Was ist passiert? Was hatte er?« »Einen Schlaganfall. Wir haben von seinem Partner erfahren, dass es ihm schon morgens nicht gut ging, deswegen sind sie am Strand spazieren gegangen. Wenn wir nicht geholfen hätten, hätte der Mann ernste, bleibende Schäden davongetragen.« - Till machte eine kurze Pause - »In diesem Moment habe ich gemerkt, dass alles was uns hier erzählt wird völliger Mist ist! Die beiden sind ganz normale Menschen, die an denselben Krankheiten erkranken wie wir und dieselben Probleme haben. Ein Mann liebt einen anderen Mann genauso, wie ein Mann eine Frau liebt.« - er zuckte mit den Schultern - »Warum sollte ich damit ein Problem haben?« Ich sah ihn erstaunt an und begriff in diesem Mo-ment, dass er jemand ist, dem ich mich anvertrauen kann. Till würde mich nicht verurteilen und mich auch nicht bei den anderen verpetzen. Er würde mich nach einem Geständnis so ansehen, wie er es jetzt tut. Am besten sollte ich es ihm jetzt sagen. Doch gera-de als ich den Mund öffnete, klingelte es zum Pau-senende. Till stand auf und ging in Richtung des Schulge-bäudes davon, ohne sich nach mir umzudrehen. Enttäuscht senkte ich den Kopf. Wird überhaupt irgendwann der richtige Zeitpunkt kommen, um etwas zu sagen? Langsam glaubte ich nicht mehr daran! Im Klassenraum hatten unsere Freunde sich so weit auseinander gesetzt wie nur möglich. Das brachte die übliche Sitzordnung völlig durcheinander. Und darüber waren nicht nur Till und ich verärgert, sondern auch sämtliche Klassenkameraden. Stella kam mit wehenden Haaren auf uns zu, kaum, dass wir den Raum betreten hatten. »Sorgt dafür, dass sie die beiden wieder vertragen! Wenn ich in Spanisch nicht neben Lisa sitzen kann, werde ich zu Medusa!«, sagte sie zu Till und rauschte auch gleich wieder ab. »Die bist du schon längst«, brummte Till. Anschließend ging er auf den Tisch zu, an dem Sandy saß. Die sieht im Moment so aus als würde sie Till am liebsten den Kopf von den Schultern reißen. Jeder aus unserer Clique konnte sich denken warum. Denn für Stier Sandy war Stella das rote Tuch. Die gebürtige Essenerin mit spanischen Wurzeln war vor zwei Jahren mit ihrer Familie nach Klein Schnürstadt gezogen und hatte unsere Klasse kom-plett auf den Kopf gestellt. Zuerst hatte sie Tanja von ihrer Position als „hübschestes Mädchen“ gestoßen und anschließend Sandy das Klassensprecheramt geklaut. Und nachdem sie damit fertig war, hat sie sich ganz ungeniert an Till herangemacht. Der hatte das natürlich nicht für voll genommen und sich ganz normal mit ihr angefreundet. Das aber mit keiner bösen Absicht. Er hatte eben nur Augen für Sandy und sah jedes andere Mädchen als platonische Freundin. Sandy hatte sich trotzdem mit ihm wegen Stella gestritten. Der sonst so relaxte Till war darüber mehr als nur sauer. Und weil Sandy mit dem Thema einfach nicht aufhören wollte, trennte er sich kurzerhand von ihr. Das war ein noch größeres Drama gewesen, als das was sich jetzt gerade zwischen uns abspielte. Aber zum Glück hatte es keine zwei Wochen gedauert, da waren die beiden wieder glücklich miteinander vereint. Länger hätte das Theater wohl auch keiner von uns ausgehalten. Till nahm seinen Stammplatz neben seiner Freun-din ein und breitete seine Materialen vor sich auf dem Tisch aus. Nachdem er damit fertig war, wandte er sich seiner Freundin zu. »Setzt du dich dann bitte zu deiner behinderten Freundin und klärst das mit ihr – ich hab die Schnauze voll von dieser Kindergartenscheiße!« Obwohl das entsprechende Zauberwort in seiner Satzkonstruktion vorkam, war seine Aufforderung keine Bitte – es war ein Befehl! Sandy entgleisten beinahe alle Gesichtszüge. Mit verzerrter Miene sah sie ihren Freund an. »Sag mal spinnst du? Wie redest du mit mir?« »So wie ich will, denn du verdrückst dich seit ges-tern, sobald es ungemütlich wird. Tom und Maximi-lian nehme ich mir nachher vor, aber um Tanja kümmerst du dich! Ich will, dass hier endlich wieder Ruhe einkehrt Herrgott – ist das zu viel verlangt?« »Das kann man trotzdem netter sagen!«, antwortete Sandy beleidigt. Dann klaubte sie ihre Sachen zusammen und räumte das Feld. Till sah mich aufmunternd an und klopfte auf den – nun frei gewordenen – Platz neben sich. Die ungewohnte Situation machte mich nervös. In den ganzen Jahren, in denen wir nun schon befreundet waren, hatte ich in der Schule immer nur neben Tom oder Maximilian gesessen. Till und ich waren zwar beste Freundin, hatten aber nicht wirklich etwas miteinander zu tun. Eigentlich verdankten wir es nur Tom, dass wir überhaupt befreundet waren. Ein wenig zögerlich nahm ich auf dem Stuhl neben ihm Platz. Meine Sachen legte ich ganz außen auf die Tischkante, weil ich mich nicht zu breit machen wollte. Ich warf einen Blick über meine Schulter und sah zu Sandy, weil ich wissen wollte, wie sie mit der Gemeinheit von ihrem Freund umging. Tanja sagte irgendetwas zu ihr, doch Sandy schien ihr gar nicht zu zuhören. Sie kritzelte eilig irgendetwas auf ihrem Block nieder. Vermutlich schrieb sie gerade sämtliche Beleidigungen auf, die ihr im Moment einfielen. Das machte sie öfters, wenn sie nicht die Möglichkeit bekam diese laut auszusprechen. Ich drehte mich wieder zu Till um. Der hatte seine stinkwütende Freundin anscheinend noch nicht zur Kenntnis genommen. »Sandy wird wohl den Rest des Tages nicht mehr mit dir reden«, informierte ich meinen Sitznachbar. Till zuckte mit den Schultern. »Damit kann ich le-ben.« Ich bewunderte seine Gleichgültigkeit. Wenn ich Sandys Freund wäre, würde ich mich so etwas nicht trauen. Aber er kennt den Rotschopf ja schon seit dem Kindergarten. Er wird schon wissen was er tut. Ich beschloss nicht weiter nachzufragen, sondern dem Unterricht zu folgen, der gerade begann. Die Stunde verging schleichend langsam und der Stoff war zäh und langweilig. Tom und Maximilian wurden ständig ermahnt, verstanden aber wegen ihrer schlechten Sprachkenntnisse in Spanisch kein Wort. Sandy führte währenddessen eine 1A Diskus-sion mit Stella. Das sprachliche Niveau davon war allerdings auch mir zu hoch. Ich bekam nur mit, dass Sandy dafür eine 1 bekam und Stella einen Eintrag ins Klassenbuch. Till erklärte mir während einer Partnerarbeit dann, dass Stella die Beherrschung verloren hatte und Sandy Schlampe genannt hatte. Unsere Spanischlehrerin war wohl heilfroh, als zum Stundenende klingelte und sie uns endlich los wurde. Sandy war tatsächlich immer noch wütend auf Till. Sie verließ den Klassenraum ohne ihn anzusehen und Tanja streckte ihm bloß den Mittelfinger entgegen. Sandy hatte in ihr in ihrer Wut also gesteckt, dass Till sie als behindert betitelt hatte. Das Verhalten der beiden rief dafür aber gleich Maximilian und Tom auf den Plan. Sie hatten sich von Till jetzt sicherlich Zuspruch erhofft, doch da waren sie nach wie vor an der falschen Adresse. Dieser bäumte sich vor den beiden auf. »Hört jetzt endlich auf mit der Scheiße und ent-schuldigt euch bei Tanja! Das ihr Bruder schwul ist, betrifft euch doch gar nicht oder wollte er euch etwa an die Wäsche? Wenn ja, leidet er an schlimmer Geschmacksverirrung! Aber das ist immer noch kein Grund Tanja zu ärgern, denn sie kann für die Neigungen ihres Bruders nichts und hätte euch mit Sicherheit auch nicht zu ihm mitgenommen, wenn sie gewusst hätte wie geistig beschränkt ihr eigentlich seid! Und ich habe mittlerweile die Schnauze voll von eurem Kindergartengehabe. Wenn man euch von Oliver reden hört, klingt ihr wie eure Eltern – stecken geblieben in 1890!« Till ging aus dem Raum, ohne den beiden die Möglichkeit zu bieten, zu widersprechen. Während sich Tom und Maximilian tierisch darü-ber aufregten, sah ich Till lächelnd nach. Denn jetzt war ich mir ganz sicher: Egal was zwischen Oliver und mir passierte - oder auch nicht – Till würde ich davon erzählen können, ohne das er mich danach schief ansah. Zufrieden mit dieser Erkenntnis klaubte ich meine Sachen zusammen, steckte sie in meine Tasche und verabschiedete mich danach knapp von Tom und meinem Bruder. Dann verließ ich den Raum, immerhin wartete Milena auf mich. Wir zogen uns in ein Café am Stadtrand zurück, wo ich ganz sicher sein konnte nicht auf bekannte Gesichter zu treffen. Wir bestellten beide einen Cappuccino und hatten uns nicht einmal richtig hingesetzt, da wollte Milena schon sämtliche – nicht vorhandene - Einzelheiten von mir wissen. »Es ist nichts dramatisches passiert«, sagte ich und seufzte dann schwer, »aber ich glaube ich bin verliebt!« Ich merkte, dass meine Wangen sofort rot wurden. Aber nicht rosarot, sondern knallrot. Milena kicherte mädchenhaft. »Das Mädchen muss ja echt besonders sein, wenn es sich zwischen Mathe, Schach und Informatik einen Platz in deinem Herzen gesichert hat!« »Ähm … Ja …«, murmelte ich abwesend und malte mit dem Zeigefinger kleine Kreise auf die Tischplatte. Meine Euphorie von heute Morgen war ver-schwunden. Am liebsten würde ich den Kaffee in einem Zug hinunterstürzen und verschwinden. Ich konnte ihr unmöglich sagen, dass ich nicht in ein Mädchen verknallt bin, sondern in einen 27-jährigen Studenten, der gleichzeitig der große Bruder meiner besten Freundin ist und mich dafür bestimmt auslachen wird. Die Bedienung brachte uns unsere Getränke. Ich nahm einen kräftigen Schluck und verbrannte mir daran den gesamten Mund. Aber so hatte ich wenigstens einen Grund Milena nicht gleich antworten zu müssen. Doch meine Bekanntschaft aus dem Schachclub gab nicht so einfach auf. »Was war denn nun in Düsseldorf? Lass‘ dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Leon!« - sie machte eine kurze Pause - »Du wolltest einen Tipp von mir. Den kann ich dir aber nur geben, wenn du mir endlich erzählst was passiert ist!« Sie hatte ja recht, aber ich hatte Angst. Also machte ich das, woran ich vorhin schon gedacht hatte. Ich stürzte den Kaffee meinen Rachen hinunter und stand wieder auf. »Tut mir Leid Milena, ich kann mit dir nicht darü-ber sprechen! Ich dachte ich könnte es, aber ich bin dafür noch nicht bereit«, sagte ich mit zitternder Stimme. Als ich das Geld für unsere Getränke auf den Tisch legte, griff sie nach meinem Handgelenk und umfasste es sanft. »Vielleicht solltest du mit ihr über deine Gefühle sprechen, dann kannst du dir ein Bild über ihre ma-chen und mit ihr gemeinsam überlegen was ihr macht – das ist mein Tipp an dich!«, sagte sie zag-haft, mit einem aufmunternden Lächeln auf den Lippen. Ich nickte. »Danke – vielleicht sollte ich das tun!« Mit diesen Worten verließ ich das Café und schlug zuerst den Weg Richtung nach Hause ein. Doch schon nach wenigen Metern blieb ich stehen und dachte an Milenas Worte. Schließlich drehte ich um und ging zum Bahnhof. Oliver würde mich vermutlich auslachen, aber ich musste ihm sprechen. Denn solange das zwischen uns nicht geklärt war, konnte ich mein Gehirn nicht herunterfahren. Und ich brachte dringend wieder einen klaren Kopf, sonst laufe ich hier demnächst Amok! .◦’°’◦ ♥.◦’°’◦. Ich mochte die sechsspurige Hauptstraße immer noch nicht. Der ekelige Abgasgeruch vernebelte einem beinahe alle Sinne. Mit klopfendem Herzen trat ich an Olivers Haustür heran und fixierte das Klingelschild mit starrem Blick. Mich verließ schon wieder der Mut. Ich konnte regelrecht spüren, wie das Adrenalin aus meinen Adern verschwand und der puren Angst Platz machte. Ich legte den Finger dennoch auf die Klingel und verharrte einige Momente so. Ich versuchte meinen Kopf dazu zu überreden, dass hier durchzuziehen. Doch er weigerte sich, also steckte ich meine zitternde Hand zurück in die Jackentasche. Ich bin wirklich ein jämmerlicher Feigling. Ich drehte mich um und wollte flüchten, doch eine große Gestalt mit blonden Haaren stand mir im Weg. Als diese von ihrem Smartphone aufblickte und mich direkt anstarrte, rutschte mir das Herz in die Hose. Vor mir stand Oliver! »Leon? Was machst du denn hier?« »Ähm«, achte ich und schloss meinen Mund dann wieder, weil ich in meinem verwirrten Hirn keinen grammatikalisch korrekten Satz zusammen bekam. »Hast du noch irgendetwas bei mir vergessen? Ich hab zwar nichts gefunden, aber i-« »Kann ich mit hochkommen?«, unterbrach ich ihn harsch. Oliver sah einen kurzen Moment so aus, als hätte er mich nicht verstanden und wollte eine Gegenfrage stellen, doch dann schloss er den Mund wieder und nickte. Mit klopfendem Herzen trat ich beiseite und ließ ihn die Tür aufschließen. Wir stiegen schweigend die Treppen empor. Unsere Schritte hallten laut von den Wänden wieder und überdeckten meine Schnappatmung. Ich hoffte Oliver hörte das nicht. Das wäre mir super peinlich! Schnaufend wie eine alte Dampflokomotive kam ich kurz nach Oliver vor seiner Wohnungstür an. Mir wurde schwarz vor Augen, weswegen ich mich wie ein Irrer am Treppengeländer festkrallte und in den Abgrund starrte. Ob ich mich hier einfach hinunterstürzen sollte? Ich verharrte zwei volle Minuten in dieser Position und wartete darauf, dass sich meine normale Atmung wieder einstellte. Doch das wollte einfach nicht passieren. Ich sah aus dem Augenwinkel, dass Oliver an mich herantrat und spürte seine Hand auf meinem Rücken. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er sanft und begann behutsam meinen Rücken zu streicheln. Ich erschauerte wegen der Berührung und nickte schnell. Dann ließ ich das Geländer los und richtete mich wieder auf. »Das waren einfach nur zu viele Treppen und ich bin super unsportlich«, sagte ich mit zittriger Stimme. Olivers Nähe machte mich komplett verrückt, also ging ich einen Schritt zurück um Abstand zwischen uns zu bringen. Olivers Hand schwebte ein paar Sekunden untätig in der Luft, ehe er sie zu einer Faust zusammenballte und sinken ließ. »Dann ist ja gut – kommst du dann?« Ich nickte wieder und folgte ihm in seine Woh-nung. Ich schloss die Tür hinter mir und starrte dann unschlüssig meine Schuhe an. »Soll ich die ausziehen?«, fragte ich verlegen. Oliver schoss aus seiner bückenden Position in die Höhe und scannte mich beinahe panisch von oben bis unten ab. Als er bemerkte, dass es mir nur um die Schuhe ging, konnte ich schwören, dass er kurz erleichtert ausatmete. Ein paar Sekunden kam von ihm gar nichts, dann lächelte er schmal. »Wenn du nicht vor hast gleich wieder zu gehen, dann nicht!« Ich überlegte kurz, öffnete dann aber die Schleifen meiner Schuhe. Oliver ließ seine Tasche im Flur stehen und ging in die Küche. Ich folgte ihm, blieb aber im Türrahmen stehen. Oliver ging schnurstracks zur Kaffeemaschi-ne. »Willst du auch einen Kaffee?«, fragte er mich über seine Schulter hinweg. Ich nickte, bis mir einfiel, dass er das nicht sehen konnte. Weil ich meiner Stimme aber nicht vertraute, räusperte ich mich und in dem Moment wo er sich umdrehte, nickte ich erneut. Er drehte sich zurück zur Kaffemaschine, schaltete sie an und schenkte anschließend wieder mir seine ganze Aufmerksamkeit. Nun standen wir schweigend in der Küche und hörten der Kaffeemaschine beim durchlaufen zu. Es war keine angenehme Stille und sie machte mich nervös. Als die Maschine fertig war, machte sie sich mit einem kurzen Piepsen bemerkbar. Gesagte hatte immer noch niemand etwas, doch das schien Oliver zu stören. »Warum bist du hier?«, fragte er. Er schien zu wissen, dass ich ihn nicht einfach nur besuchte, weil mir langweilig war. »Ich … Ähm«, stammelte ich nervös und spielte unsicher mit meinem Daumen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wie sollte ich als kleiner 16-jähriger einem 27-jährigen erklären, dass ich denke, in ihn verknallt zu sein, ohne überhaupt zu wissen, was das eigentlich bedeutete?! Oliver würde mich auslachen und mir danach sa-gen, dass ich zurück in meinen Sandkasten gehen soll. Was wollte ich hier überhaupt? Das war doch einfach wieder eine saudumme Idee gewesen! Oliver ging um seinen Küchentisch herum und blieb genau vor mir stehen. »Was ist los? Hast du irgendwelche Schwierigkei-ten? In der Schule oder zuhause?« Ich schüttelte den Kopf. »Warum bist du dann hier?«, hakte er nach. »Es muss ja einen Grund geben, warum du eine Stunde mit dem Zug nach Düsseldorf fährst!« Ich schluckte und hatte das Gefühl, gleich heulen zu müssen. All diese unbekannten Gefühle und Empfindungen und diese komischen Gedanken überrollten mich im Moment. Die erste Träne lief mir über die Wange, ich merkte wie sie sich ihren Weg bahnte. Ich wollte sie wegwischen, weil sie mir peinlich war. Doch Oliver kam mir zuvor. Er umfasste mein Gesicht mit seinen Händen und wischte die Träne mit seinem Daumen weg. »Entschuldige, ich wollte nicht heulen! Ich weiß nicht mal, warum ich weine!«, sagte ich mit erstickter Stimme. Oliver zog die Stirn kraus. »Warum machst du es dann?« »Weil ich verwirrt bin und mein Gehirn in den letzten Tagen ein Eigenleben entwickelt hat!« »Warum bist du verwirrt?«, fragte Oliver und kam mir noch einen Schritt näher. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass er mich mit seiner Nähe ganz kirre machte und, dass es mir so noch schwerer fiel einen klaren Gedanken zu fassen. Aber ich hatte Angst mich mit diesen Worten zu verraten. »Ich bin verwirrt, weil ich das, was ich fühle, nicht fühlen sollte und weil ich denke verknallt zu sein, ohne zu wissen was das ist oder wie das geht!«, sagte ich stattdessen und ein kleiner Stein fiel mir vom Herzen. Doch kaum hatten diese Worte meinen Mund ver-lassen, zog Oliver seine Hand weg und ging einen Schritt zurück. »Willst du darüber reden?«, fragte er. »Ich kann das nicht in Wort fassen. Ich – ich habe es gestern und heute schon versucht und es hat nicht funktioniert – ich habe einfach Angst etwas falsch zu machen oder etwas falsches zu sagen«, antwortete ich mit zittriger, ängstlicher Stimme. »Du musst über deinen Schatten springen und darfst keine Angst haben. Angst beschützt dich nicht, sie schwächt dich«, entgegnete Oliver flüsternd. »Und wenn du zu lange schweigst, machst du dich selbst kaputt – glaub mir, ich weiß wovon ich spreche!« Ich schluckte. Ich wollte nicht, dass er mich aus-lachte und fortschickte. Ich wollte so einen musikunterlegten Filmmoment haben, in dem Person A, Person B ihre ewige Liebe gesteht und sie sich dann in die Arme fallen und gegenseitig abknutschen. Aber vermutlich würde ich die Szene aus Titanic bekommen, in der Jacks Freund von dem Schornstein erschlagen wird. Und danach ich die Geschichte von Oliver und mir vorbei, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Ich gehe jetzt wohl besser, du musst bestimmt noch etwas für die Uni tun«, sagte ich leise und drehte mich um. Als ich die Küche gerade verlassen wollte, packte Oliver mein Handgelenk und drehte mich in einer fließenden Bewegung wieder zu sich um. »Bitte lauf nicht schon wieder weg!« Ich erstarrte. Seine Stimme klang bittend, beinahe schon flehend. Mir rutschte das Herz in die Hose. »Bevor du gehst, trinke wenigstens noch einen Kaffee mit mir«, flüsterte er. Ich nickte, weil ich nicht unhöflich sein wollte. Oliver ließ mein Handgelenk los. Dann versicherte er sich mit einem letzten Blick in meine Richtung, dass ich doch nicht die Flucht ergreifen würde und ging zu seiner Kaffeemaschine. Ich nahm derweil am Küchentisch Platz und sah ihm dabei zu, wie er mit zitternden Händen zwei Kaffeetassen befüllte. Er beeilte sich und stellte wenige Sekunden später eine braune Tasse vor meiner Nase ab. »Die ist genauso schön wie deine Augen«, sagte er und lächelte schmal. Ich ließ dieses Kompliment unkommentiert. Oliver setzte sich mir gegenüber auf den Stuhl und senkte den Blick. Er umklammerte die Tasse ganz fest mit beiden Händen. Und dann schwiegen wir uns an. Die Uhr über der Tür gab ein immer gleichbleibendes Tik-Tok von sich. Die vorbeifahrenden Autos hörte man trotz des geschlossenen Fensters laut und deutlich. Dur das Küchenfenster über der Spüle konnte man den wolkenlosen, dunklen Himmel betrachten, an dem sogar schon ein paar Sterne glitzerten. Olivers Kühlgefrierkombination brummte leise vor sich hin. Die Neonröhre an der Decke surrte und flackerte ein wenig Oliver trank einen Schluck Kaffee. Als er die Tasse danach auf dem Tisch abstellte, gab das ein dumpfes Geräusch. Sein Holzstuhl knarrte, als er die Beine übereinander schlug. Ich trank nun ebenfalls einen Schluck Kaffee, be-hielt die Tasse aber gleich in den Händen. So würde ich sie schneller leeren und könnte dann verschwin-den. Ich hoffte, wir würden einfach schweigend unseren Kaffee trinken, doch dann räusperte sich Oliver plötzlich. »Schmeckt dir der Kaffee?«, fragte er neugierig. Ich nickte, weil sich in meinem Hals noch immer ein Kloss befand, der mir das Sprechen verbot. »Hast du es dir jetzt anders überlegt?« Fragend und verwirrt zugleich, sah ich ihn an. Zum Glück deutete er meinen Blick richtig und hakte genauer nach: »Hast du dir überlegt, ob du darüber sprechen möchtest?« Hatte ich nicht. Würde ich in den nächsten Minuten auch nicht tun, denn mein Gehirn war gar nicht mehr in der Lage dazu, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Oliver seufzte leise. »Als ich in deinem Alter war, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mit jeman-dem über meine Probleme sprechen zu können. Je-mand, mit dem ich nicht tagtäglich zu tun hatte und der mich nicht verurteilen würde und der meine Gedanken nicht gegen mich verwenden konnte. Aber ich hatte niemanden, denn ich hatte zu früh entschieden, mich nicht mehr verstecken zu wollen, also erzählte ich jedem, der es meiner Meinung nach wissen musste, dass ich schwul bin. Ich fühlte mich danach viel besser, weil ich dieses Geheimnis nicht mehr mit mir herum schleppen musste. Doch als ich am nächsten Tag in die Schule kam, wollte plötzlich keiner mehr wissen, dass ich überhaupt existiere. Meine Klasse wollte einen neuen Klassensprecher und die Jungs wollten sich in der Sportstunde nicht mehr in derselben Umkleide umziehen, wie ich.« - er machte eine kurze Pause und atmete tief durch - »Ich habe angefangen, zu bereuen was ich gemacht habe und ich nie etwas mehr rückgängig machen, als das. Auch von meinen Eltern habe ich keine Unterstüt-zung bekommen. Mir ging es wirklich beschissen und ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Am liebsten hätte ich alles hingeschmissen und mich verpisst, aber dann kam Paolo in unsere Klasse. Er war sitzengeblieben und musste die 10. Klasse wiederholen. Nur deswegen wurde er genauso schief angesehen wie ich.« Ich schluckte. Ich konnte mir denken, was er gleich erzählen würde und ich wollte von seinen verflossenen Liebschaften kein Wort hören. Alleine der Gedanke daran, bescherte mir ein ganz flaues Gefühl im Magen. »Man sieht dir ganz genau an, was du gerade denkst!«, sagte Oliver verschmitzt. Ich bekam sofort rote Wangen und senkte deswe-gen verlegen den Kopf, damit er das nicht mehr sehen konnte. Oliver lachte leise und fuhr dann mit seiner Erzählung fort: »Paolo ist nicht mein Ex-Freund, er ist mein bester Freund und der Einzige, von dem ich in all der Zeit Zuspruch erhalten habe. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, wäre ich nicht mehr am Leben; so weit war ich in meinem Kopf schon!« - abwesend starrte er in seine Kaffeetasse und schüttelte dann den Kopf - »Was ich dir damit sagen wollte: Reden ist nicht immer Gold – vor allem in Klein Schnürstadt nicht. Aber wenn das Schweigen anfängt, dich aufzufressen, dann rede, bevor das Schweigen dich in den Abgrund stürzt!« Seine Anekdote regte meine Gehirn zum nachden-ken an. Ich umklammerte meine Tasse mittlerweile so fest, dass meine Knöchel unter der Haut weiß hervortraten. »Warst du schon einmal verliebt in einen Mann?«, fragte ich ganz leise. Es war die einzige Frage, die gerade in meinem Kopf herumschwirrte. »Ja war ich. Zwar nie besonders erfolgreich, aber das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch kenne ich auch. Warst du denn schon einmal verliebt?« Sein Tonfall ähnelte dem unserer Schulpsycholo-gin, die zu Beginn der 9. Klasse einen Vortrag über Drogen, Alkohol und Depressionen gehalten hatte. »Ich glaube schon, weiß es aber nicht genau«, antwortete ich, ohne ihn anzusehen. Das Ganze hier, war mir verdammt peinlich. Oliver lachte leise. »Wie kann man den nicht wis-sen, ob man verliebt ist? So etwas signalisiert einem der Körper doch?« »Ich weiß aber nicht, wie sich so etwas anfühlen soll und auf welche Sachen ich achten muss!«, ant-wortete ich leicht genervt. Ich kam mir vor, wie ein kleines Kind, dessen Mutter einem gerade erklärte, dass man nicht mit Fremden mitgehen sollte. Oliver stand auf, ging um den Tisch herum und setzte sich nun auf den Stuhl zu meiner Linken. »Wenn du zum Beispiel in mich verliebt wärst und ich deine Hand nehmen würde« - er stoppte und griff tatsächlich nach meiner Hand - »dann müsste, ausgehend von den Fingerspitzen, dein ganzer Arm anfangen zu kribbeln.« Kribbeln war etwas untertrieben. Mein Arm fühlte sich an, als würde jemand eine Feder darüber pusten und das jagte mir einen angenehmen Schauer durch den ganzen Körper. »Und wenn derjenige dich anlächelt, wirst du rot und nervös und weist auf die Schnelle gar nicht, was du sagen sollst«, flüsterte Oliver nun. Ich nickte nur verstehend, weil schon wieder ein Kloss meine Stimmbänder blockierte. »Du musst ständig an ihn denken und träumst von ihm. Du hast das Gefühl, als würde ein Teil von dir fehlen, wenn du nicht in seiner Nähe bist«, hauchte er und strich dabei ganz sachte mit seinen Fingerspitzen meinen Arm hinauf. Oliver legte seine Hand in meinen Nacken und kraulte sanft meinen Haaransatz. »Wenn er dich so anfasst und dich dann küssen würde, würde dir das Herz vor Freude explodieren oder aus der Brust springen!«, raunte er. Er war mir so nahe, dass er mein lautklopfendes Herz hören musste und meinen Atem auf der Haut spüren konnte. Ich schluckte. Sein Blick heftete sich für diesen kurzen Moment an meinen Kehlkopf, dann fixierte er wieder meine Augen. Und dann ging alles ganz schnell. Weil ich Angst hatte, er würde wieder zurückweichen und weil ich nicht wusste, wo ich mich sonst hätte abstützen sollen, krallte ich meine Finger in seine Oberschenkel. Dann beugte ich mich in einer raubtierhaften Bewegung nach vorne und drückte meine Lippen für den Bruchteil einer Sekunde auf seine. Diese zehn Nanosekunden, brachten meinen Körper tatsächlich fast zum zerbersten – zu mindestens fühlte es sich so an. Der sich aufbauende Druck in meinem Körper war kaum auszuhalten und ich musste den Kuss jetzt wieder unterbrechen, wenn ich nicht platzen wollte vor Glück. Als ich mich wieder zurücklehnte, schloss ich genießerisch die Augen und legte mir über die Lip-pen, um seinen Geschmack einzufangen. Er schmeckte nach Kaffee und nach Schokolade. Dann traf mich die Erkenntnis mit einem harten Schlag. Ich hatte gerade Oliver geküsst! Nicht er mich, nicht wir uns. Ich hatte ihn geradezu überfal-len und dann einfach von ihm abgelassen, als ich bekommen hatte, was ich wollte. Schockiert von mir selbst, riss ich die Augen auf und starrte Oliver an; zu etwas anderem war ich gerade nicht in der Lage. Dessen ebenfalls entgeisterter Blick lag auf mir. Mit starrem Gesicht, tastet er seine Lippen ab. »Warum hast du das getan?«, flüsterte er atemlos. »Es tut mir Leid, das war nicht mit Absicht … Also doch schon irgendwie … Also ich … Ähm«, stammelte ich und merkte, wie mein Gesicht die Farbe einer überreifen Tomate annahm. Oliver sprang beinahe schon panisch von seinem Stuhl auf. »Leon, erklär‘ mir das!« Ich schluckte schwer. »Ich weiß auch nicht, was mich da gerade geritten hat!« »Bitte sag mir, dass du nicht in mich verliebt bist.« Oliver Stimme war so leise, klang so abgehackt, dass ich ihn beinahe nicht verstand. Ich wollte ihm antworten, konnte aber nicht. Denn diese Reaktion von ihm, fand ich noch schlimmer, als das er mich auslachte. Denn wenn er gelacht hätte, hätte ich mit ihm lachen können und die Situation damit entschärfen können. Aber im Moment war mir eher nach heulen zu Mute. Und die Schmetterlinge in meinem Bauch verkrochen sich alles wieder in ihrem Kokon und entwickelten sich zurück in kleine hässliche Raupen, die durch meinen Magen krochen und Übelkeit verursachten. Oliver wandte sich wortlos ab und starrte dann aus dem Fenster. Eine eindeutige Aufforderung dazu, dass ich jetzt gehen sollte. Also stand ich auch auf. »Ich werde dann jetzt besser gehen. Es tut mir wirklich leid!«, entschuldigte ich mich noch einmal. Oliver brummte etwas, dass ich nicht verstand, drehte sie aber nicht noch einmal zu mir um. Ich ging eilig in den Flur, zog mir so schnell ich konnte die Schuhe und meine Jacke an. Doch dann verweilte ich noch einen kurzen Moment. Weil ich hoffte, mir wünschte, Oliver würde kommen und mir sagen, dass er genauso fühlte wie ich. Und mit mir das Happy-End wollte, von dem ich träumte. Doch er kam nicht, also gab es keinen Grund für mich, länger hier zu sein. Ich verließ die Wohnung. Und so endete die Geschichte zwischen Oliver und mir, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)