Winter Glück von YukiKano ================================================================================ Kapitel 6: In Wirklichkeit ist die Realität ganz anders. -------------------------------------------------------- Seit dem Kuss hatte ich nichts mehr von Oliver gehört oder gesehen. Das Ganze war jetzt gute vier Wochen her und auch Tanja hatte nichts erzählt. Dafür hatte die Sportbarbie sich wieder mit Tom und Maximilian vertragen. Die beiden hatten sich nach einer noch viel größeren Standpauke von Sandy bei Tanja entschuldigt. Ob sie es ernst mein-ten, war dahingestellt, aber sie verloren über Oliver und seine ... kein böses Wort mehr. Und um es mit Tills Worten auszudrücken: Wenigstens ist endlich Ruhe im Karton! Ich hatte mich wenig später auch bei Milena ent-schuldigt und ihr gesagt, dass wir von Thema nie wieder zu sprechen brauchten. Sie hatte mich weh-leidig angesehen und mich versucht aufzumuntern, doch das half mir auch nicht weiter, denn Oliver ging mir trotzdem nicht aus dem Kopf. Ich träumte jede Nacht von seinen Augen und den schmalen Lippen, die so herrlich nach Pfefferminz und Kaffee schmeckten. Und von seiner sanften Stimme, die mir sagte, dass ich ... schönste ... auf diesem Plane-ten bin. Ich schüttelte den Kopf und konzentriert mich wieder auf Milena, die mir zwei Kleider vor die Na-se hielt und mich fragte, welches besser aussah. Eins war blau und das andere dunkelrot. »Ich habe keine Ahnung von Mode - warum hast du nicht deine Freundinnen mitgenommen? Die könnten dich sicher besser beraten! »Aber die hatten keine Zeit und allein wollte ich auch nicht gehen - außerdem kaufe ich das Kleid für Tanjas Geburtstag, also hab dich nicht so!«, maulte sie und hielt die Kleider wieder hoch. »Also; welches sieht besser aus?« »Das Blaue«, antwortete ich genervt und warf ei-nen Blick auf mein Handy. Nach der Shopping-Tour wollte ich mich mit Tom treffen. In zwei Monaten machte die Informatik AG eine Kursfahrt nach Zürich. Von 25 Schülern durf-ten nur 12 daran teilnehmen. Und wer mitfahren wollte, musste ein Projekt ausarbeiten, eine Präsen-tation halten und einen aussagekräftigen Ab-schlussbericht vorlegen. Die Lehrer würden die Pro-jekte auswerten und danach verkünden, wer die Fahrt nach Zürich antreten durfte. Tom hatte keine Lust und wollte nicht mitfahren. Da wir aber für dieses Projekt mindestens zu zweit sein mussten, hatte er sich dazu bereit erklärt mir zu helfen. Und diese Kursfahrt war mir wichtiger als Tanjas Ge-burtstag oder Milenas Kleid. Milena trat eine Sekunde später in einem königs-blauen Kleid aus der Umkleide heraus und posierte direkt vor mir. »Und? Was denkst du?« Ich fand es hässlich und es stand ihr nicht, aber das wollte ich ihr so nicht sagen. Zum einen, weil ich ihre Gefühle nicht verletzen wollte und zum anderen, weil ich keine Sekunde länger hier sein wollte. Außerdem würde sie an Tag X sowieso et-was ganz anderes anziehen. Denn dieses Kleid war sehr kurz an den Beinen und der Ausschnitt war auch sehr gewagt. Für so etwas war Milena nicht mutig genug. Selbst im Sommer trug sie nie etwas kürzeres als Radler und hochgeschlossene Tops mit breiten Trägern. Sie schminkte sich wenig bis gar nicht und trug die Haare meist zu einem Pferde-schwanz zusammengebunden. Aber vermutlich bin ich genau deswegen mit ihr befreundet, weil sie nicht hochnäsig und aufgetakelt ist. Das mag ein wenig oberflächlich klingen, aber wenn Milena so wäre wie Stella, hätte ich vermutlich nie ein Wort mit ihr gewechselt. Milena hat sich mittlerweile dem Spiegel zuge-wandt und beobachtete sich ausgiebig. Als sie sich wieder zu mir umdrehte, sah sie gar nicht begeistert aus und rümpfte die Nase. »Das sieht ja schrecklich aus!« »Das sagst du; ich finde es eigentlich ganz erträg-lich!«, antwortete ich und bemühte mich um ein ehrliches Lächeln. Da es nicht ganz gelogen war, wurde ich weder rot, noch fing ich an zu stottern. Denn das Kleid an sich, fand ich nicht schrecklich, nur an Milena sah es eben schrecklich aus. »Wir müssen noch woanders hin, hier finde ich nichts!«, sagte sie eindringlich und zog direkt da-nach schwungvoll den Vorhang der Umkleidekabi-ne zu. Innerlich stöhnte ich genervt und ließ mich tiefer in den alten Stoffsessel sinken. Für einen Samstag kannte ich angenehmere Beschäftigungen, als quer durch die Weltgeschichte zu fahren. Als Milena kurze Zeit später aus der Umkleide trat, verließen wir den Laden schnell und mit gerö-teten Wangen. Es war die einzige Boutique in Klein Schnürstadt, die halbwegs ansehnliche Sachen an-bot. Wer keine Lust hatte nach Düsseldorf oder Köln zu fahren oder 65+ war, bestellte seine Kla-motten entweder im Internet oder kaufte in dieser Boutique ein. Sie wurde schon seit Ewigkeiten von derselben Familie betrieben und versorgte einen mit allen Kleidungsstücken des täglichen Gebrauchs - allerdings nicht immer ganz zeitgemäß. Doch seit dem Zeitalter des Internets, kaufte hier kaum noch jemand etwas und deswegen schauten die Besitzer immer ein wenig grimmig, wenn man ging, ohne etwas zu kaufen. Ich hoffte Milena würde mich jetzt in meinen wohlverdienten Samstag entlassen. Doch leider gönnte man mir den nicht. Milena zog mich in Richtung Bahnhof und setzte mich in einen Zug nach Düsseldorf. Während wir durch die Land-schaft fuhren, erklärte sie mir lang und breit wie ihr Traumkleid aussehen sollte. Man könnte meinen sie wollte am Mittwoch heiraten, so sehr steigerte sich in die ganze Sache hinein. Glücklicherweise gab es ganz in der Nähe des Bahnhofs ein Shopping-Center, sodass wir nicht durch die ganze Stadt fahren mussten. Milena steuerte zielstrebig H&M an und war nach kurzer Zeit, spurlos zwischen den Kleiderständern verschwunden. Weil ich keine Lust hatte sie zu su-chen und auch gar nicht wusste, wo ich suchen sollte, verschwand ich in der Männerabteilung und suchte nach Hosen. Wenn ich schon einmal hier warm konnte ich mich auch gleich neu eindecken. Prüfend inspizierte ich das Angebot und verglich zwei Modelle miteinander. Eine davon gefiel mir nach genauerer Betrachtung so gut, dass ich sie mit in die Umkleide nahm. Doch das bereute ich in dem Moment, in dem ich bemerkte, dass es weder Spie-gel in den Umkleiden noch in den Vorräumen die-ser, gab. Mit hochrotem Kopf machte ich mich also auf die Suche nach einem Spiegel im Verkaufsraum. Und bis ich mich im Spiegel sah, fühlte ich mich wohl in der Hose. Doch dann begann sie überall zu kneifen und zu zwicken. Ich weiß, solche Probleme haben eigentlich nur Mädchen, aber mir ging es seit ein paar Jahren auch so. Immer dann, wenn ich Kleidung trug, die dem Stil von Maximilian zu sehr ähnelten. Eigentlich war dies totaler Schwachsinn. Mein Zwillingsbruder und ich hatten exakt densel-ben Körperbau und waren auf den Millimeter ge-nau gleich groß. Es gab also überhaupt keinen Grund, sich in irgendwelchen Klamotten unwohl zu fühlen. Ich hakte meine Daumen in die Gürtelschlaufen. Dann zog ich am Hosenbund und rümpfte die Na-se. »Die Hose steht dir!« Erschrocken drehte ich mich um und entdeckte Oliver direkt hinter mir. Er sah mich an, als wären wir alte Freunde, die sich lange nicht gesehen hat-ten. Ich wurde wegen seines Komplimentes rot wie ei-ne Tomate und versteckte mich hinter einem Tisch mit gestapelten T-Shirts. »Was machst du?«, fragte ich wenig geistreich. Oliver begann zu grinsen. »Freies Land, oder?«, antwortete er schulterzuckend. »Ähm ... ja, du hast recht - entschuldige.« Das Ganze war mir so peinlich, dass mein Gesicht mitt-lerweile jedem Feuermelder Konkurrenz machen konnte. »Gibt es in Klein Schnürstad immer noch nur Rentner-Boutiquen?« Ich nickte zögerlich und machte gleichzeitig einen weiteren Schritt hinter den Tisch. Im Moment wünschte ich mir nichts sehnlicheres, als dass Mile-na um die Ecke sprang und mich aus dieser end-peinlichen Situation befreite. Nur leider war die nirgendswo zu sehen. Also musste ich mich allein hier heraus manövrieren. Nur leider wusste ich nicht, wie, ohne das ganze hier noch schlimmer zu machen. Und improvisieren war in Bezug auf Oli-ver eine ganz schlechte Idee, wie wir aus der Ver-gangenheit wussten. Er schwieg und ich sollte die Chance nutzen, be-vor er mich doch in ein Gespräch verwickelte. Deswegen räusperte ich mich verhalten. »Ich muss - ähm - mich wieder umziehen und nach Hause.« - ich stockte - »Es war schön dich wiederzusehen, denke ich. Schönen Tag noch.« Ich wollte bereits im Vorraum der Umkleiden ver-schwinden, als Oliver mein Handgelenk packte und mich schwungvoll zu sich umdrehte. »Können wir reden? Wir sollten das klären!« »Was willst du denn klären? Ich bin der kleine Junge, der sich in den großen Bruder der besten Freundin verliebt hat - das ist peinlich und unange-nehm, aber ich werde darüber hinwegkommen und du wirst mich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Kann ich dann bitte gehen? Ich fühle mich un-wohl!« »Denkst du ich nicht? Du hast mich geküsst und bist dann einfach verschwunden. Ich will schon seit diesem Abend mit dir reden und wusste nicht, wie ich an dich herankommen soll. Ich kann seit vier Wochen an nichts anderes denken und ich will das eigentlich auf nicht bei H&M besprechen!« Einen kurzen Moment spielte ich mit dem Gedan-ken, Milena einfach hier zurückzulassen und mit ihm mitzugehen, aber die - vermutlich - letzte rich-tig funktionierende Synapse riet mir davon ab. Denn Oliver wollte sich nicht mit mir treffen, um mir zu sagen, dass er mit mir zusammen sein will. Er wollte bestimmt nur, dass ich ihm versprach, Tanja nichts zu erzählen. Denn für ihn stand bei dieser ganzen Sache mehr auf dem Spiel, als für mich. Er würde ein Stück Familie verlieren, ich vermutlich nichts. Denn Tanja würde niemals mir die Schuld geben, nur ihrem Bruder. Dabei konnte er dafür nichts. Ich hatte ihn geküsst, ich hatte mich in ihn verliebt - nicht andersherum. Und weil ich wusste, was passieren würde, war ich es ihm schuldig ... dieses Gespräch. »Wo denkst du, wäre ein geeigneter Ort, um die-ses Gespräch zu führen?«, fragte ich leise. »Ein Café? Bei mir in der Nähe bekommt man ge-nialen Kaffee!«, schlug er vor und kratzte sich an-schließend nervös am Hinterkopf. »Ich könnte dich danach nach Hause fahren - die Bahn zickt in der letzten Zeit ein wenig rum!« Das er log, sah man selbst aus zweihundert Metern Entfernung. Aber ausschlagen wollte ich das Angebot auch nicht. Denn ein Auto würde ich dem Regional-Express immer vorziehen. »Ich - ähm - ziehe mich nur schnell um, dann können wir los!«, antwortete ich nervös. So richtig überzeugt war ich von der Sache nicht. Ich hatte Zweifel daran, dass dieses Gespräch posi-tiv verlaufen würde. »Wirst du sie kaufen?« Ich wurde rot und blickte an mir hinab. Der Ge-danke, sie doch zu kaufen, kam mir in den Sinn. Doch ich verwarf ihn wieder. Sie würde im Schrank verrotten, bis sie mir nicht mehr passte. Das wäre Geldverschwendung. »Nein - mir gefällt die Farbe nicht, denke ich«, erwiderte ich. »Sehr Schade, sie steht dir nämlich ausgesprochen gut!«, betonte er nochmals. »Du solltest dich hier als Verkäufer bewerben, der Job würde gut zu dir passen!«, entgegnete ich und verschwand in der Umkleide. Als ich wieder herauskam, hielt Oliver plötzlich eine Tüte in der Hand und grinste mich an. »Kön-nen wir los?« Ich hängte die Hose zurück und nickte. Dann machten wir uns wortlos in Richtung Ausgang auf. Ich versuchte Milena über die Regale und Kleider-ständer hinweg zu erspähen, konnte sie aber nir-gends entdecken. Ich würde ihr eine SMS schreiben und mich entschuldigen müssen. Ich würde mir eine Ausrede ausdenke, damit sie mir nicht böse war. Oliver führte mich in die Tiefgarage und blieb vor seinem alten Golf stehen. Ich wunderte mich immer noch darüber, dass er sich als einfacher Student ein Auto leisten konnte. Ich meine, er wohnte mitten in Düsseldorf in einer ziemlich großen Wohnung und er trug teure Kleidung. Tanja hatte mal beiläufig erwähnt, dass ihr Bruder keine Zeit für einen Ne-benjob hatte. Aber irgendwo musste das ganze Geld ja herkommen. Es ging mich zwar nichts an, aber interessieren tat es mich trotzdem. Denn ich wollte auch irgendwann studieren und das nach Möglich-keit nicht in Klein Schnürstadt. Ich wollte wissen, wie es mir dann ergehen würde. Obwohl, bis ich studieren würde, war vermutlich sowieso alles wie-der ganz anders. Die Fahrt verlief still. Wir schwiegen, selbst nach-dem wir aus dem Wagen ausstiegen und die Straße entlangliefen. Und mir rutschte das Herz ganz tief in die Hose, als wir vor der gold-grünen Bohne ste-hen blieben. Ich war mir nicht sicher, ob ich Helene in Begleitung von Oliver unter die Augen treten konnte. Sie erinnerte sich zweifelsfrei an mich und sie würde mich bestimmt wieder mit Fragen lö-chern, so wie beim letzten Mal. Und ich wollte heu-te nicht ausgefragt werden. Doch bevor ich mich meinen Unmut darüber kundtun konnte, hatte Oliver die Tür schon geöff-net und sah mich abwartend an. Ich schluckte und atmete tief durch. Ich würde das Gespräch mit Oli-ver überleben und die Begegnung mit Helene auch. Und wenn es eine Blamage werden sollte, würde ich mich eben nie wieder hier blicken lassen. Darauf käme es dann auch nicht mehr an. Als wir das Café betraten und ich nach Helene Ausschau hielt, war ich verwundert darüber, hinter dem Tresen ein rothaariges, junges Mädchen zu sehen. Innerlich seufzte ich erleichtert. Oliver und ich setzten uns an einen der niedrigen Tische, um den diese gemütlichen Sessel herum-standen. Oliver setzte sich mit dem Rücken zur Straße, was mir ganz gut passte, denn ich mochte es nicht, Türen nicht im Blick zu haben. Das Mädchen kam zu uns und begrüßte Oliver wie einen alten Freund und begann Smalltalk. Wenn ich nicht wüsste, dass er schwul ist, wäre ich glatt eifersüchtig. Obwohl ich dazu kein Recht hat-te. Denn wir beide waren nicht zusammen und würden es vermutlich auch niemals sein. Nachdem die beiden sich darüber ausgetauscht hatten, wie es ihnen ging und was sie in den letzten Wochen so getrieben hatten, sagte Oliver ihr, dass er sich später mit ihr unterhalten würde. Einen kleinen Moment konnte man ihr ansehen, dass sie die schroffe Art verletzte, aber schon einen Wim-pernschlag später hatte sie Ihre Mimik wieder im Griff und verschwand mit einem aufgesetzten Lä-cheln hinter ihrem Tresen. Sie drehte das Radio lei-ser, in der Hoffnung so etwas von unserem Ge-spräch aufzuschnappen. Oliver wartete die Radiowerbung ab und räusper-te sich, als das nächste Lied einsetzte. »Ich bin kein Freund, von lange um den heißen Brei herumreden, deswegen sage ich dir jetzt gleich, was ich zu sagen habe: Ich mag dich Leon! Du bist süß und unschuldig und bestimmt unheimlich klug, aber wir können nicht mehr, als Freunde sein!« Was er sagte, war genau das, was ich erwartet hatte. Aber irgendwie fiel es mir schwer, es zu ak-zeptieren. »Aber wenn du mich magst, warum wolle wir es dann nicht versuchen?«, fragte ich ganz leise, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Weil ich fast dreißig bin, verdammt und gerade Mal 16 und weil du Tanjas bester Freund bist und ich ihr Bruder. Sie würde mir das nie verzeihen und ich will sie nicht verlieren, weil sie das letzte Stück Familie ist, dass ich noch habe. Und ich will sie da auch nicht mitreinziehen, weil ich nicht will, dass sie sich zwischen uns entscheiden muss!«, sagte Oliver. Allerdings klang er nicht so, als müsste er mich überzeugen, sondern sich selbst. »Wir müssten es ihr ja nicht erzählen, zu mindes-tens nicht gleich. Wir könnten erst mal probieren ob es funktioniert und wenn nicht, dann nicht. Dann braucht sie davon auch nicht zu wissen!«, erwider-te ich, in der Hoffnung ihn umstimmen zu können. Aber Oliver ließ sich nicht umstimmen, denn er sagte: »Leon, wir reden gerade nicht darüber, wie das mit uns funktionieren könnte. Ich versuche dir verständlich zu machen, warum wir beide nicht zusammen sein können! Ich will darüber nicht dis-kutieren, ich will das du mich verstehst!« Ich schluckte. Diesen mütterlichen Ton, den er an-schlug, mochte ich überhaupt nicht. Bevor ich et-was dazu sagen konnte, brachte uns das rothaarige Mädchen unsere Getränke. Doch ich hatte gerade überhaupt keine Lust auf Cappuccino mit Hasel-nusssirup. Ich wollte nachhause und mich unter meiner Bettdecke verkriechen. Ich hatte geahnt, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde. Das Mädchen entfernte sich von unserem Tisch, ich sprang auf, griff nach meiner Jacke und wollte verschwinden. Doch Oliver griff blitzschnell über den Tisch hinweg nach meiner Hand und hielt mich fest. »Du rennst jetzt nicht schon wieder weg! Wir sind hier noch nicht fertig und klären das jetzt!« »Was wollen wir denn noch klären? Du willst nicht mit mir zusammen sein, du willst es ja nicht mal versuchen! Aber du willst, dass Tanja nichts davon erfährt. Und ein was kann ich dir verspre-chen: Ich werde es ihr nicht erzählen, ich will mich mit dem Thema gar nicht mehr befassen!« - ich at-mete tief durch - »Ich habe dich verstanden und du musst verstehen, dass ich jetzt gehen will!« »Du hast gar nichts verstanden! Ich will mit dir zusammen sein, dich kennenlernen, dich küssen. Aber ich will dich nicht verletzten und ich will auch nicht, dass deine erste Beziehung in einer Ka-tastrophe endet! Sei doch nicht so stur und sieh ein, dass das mit uns nicht funktionieren kann und jetzt setz' dich wieder hin und trink' deinen Kaffee - Kind!« Ich haderte mit mir und wollte trotz seiner wah-ren Worte gehen. Doch dann riss ich mich zusam-men, denn ich wollte nicht, dass er mich als Kind betitelte. Ich hängte meine Jacke wieder über den Sessel und ließ mich auf meinen Platz gleiten. »Woher willst du wissen, dass du meine erste Beziehung wärst?«, fragte ich neugierig. Jetzt lächelte auch Oliver. »Du bist die Unschuld in Person! Ich wette, du wirst rot, wenn ich jetzt mit dir über Sex reden würde!« Ich wurde tatsächlich rot, nur weil er das Wort erwähnte und es war mir so peinlich, dass ich den Blick senkte. Ich hoffte er würde keine weiteren Scherze auf meine Kosten machen, denn damit konnte ich überhaupt nicht umgehen. Glücklicherweise schien er das auch zu merken, denn er räusperte sich und fragte mich, wie ich zum Schach spiele gekommen war. »In der 3. Klasse wollten plötzlich alle irgendwel-chen Vereinen beitreten. Tom und Tanja gingen zum Schwimmen, Till und mein Bruder fingen mit Fußball an und Sandy probierte sich in allem mögli-chen aus. Aber ich bin ja total unsportlich und so kam ich zum Schach, weil es in der ganzen Stadt der einzige Verein ist, bei dem man nicht den gan-zen Tag hin- und herrennen muss.« »Ach komm«, lachte Oliver. »Das ist doch bloß eine Ausrede - eigentlich steckt in dir ein kleiner Nerd, gib's zu!«, sagte Oliver grinsend und stupste mich über den Tisch hinweg an. »Vielleicht hast du sogar ein ganz kleines bisschen recht!«, entgegnete ich und nippte an meinem Cap-puccino. »Wir sollten bei Gelegenheit auch Mal eine Runde spielen.« Ich verschluckte mich beinahe an meinem Kaffee und sah ihn ungläubig an. »Du spielst Schach?« »Ab und zu - aber nie auf Profi Niveau oder so ...« Ich sah ihn prüfend an. Das Lächeln, welches sei-ne Lippen umspielte, verriet mir das er log. Aber ich beschloss, das Spiel weiterzuspielen. »Wenn du Schach so magst, können wir ja im Ap-ril gemeinsam zur Schach-EM gehen. Die findet dieses Jahr in Köln statt und diese Chance sollten wir nutzen, als Schachliebhaber - findest du nicht?« Oliver blinzelte überrascht, dann wurde sein Ge-sicht von Ablehnung überschattet und ich musste lachen. »Du brauchst nicht so zu tun, als würdest du Schach mögen, nur um mir zu gefallen«, sagte ich und bekam rote Wangen. »Du gefällst mir auch so.« Auch Olivers Wangen wurde eine Nuance röter. »Du sollst doch nicht mit mir flirten und mich erst recht nicht zu einem Date einladen!« Dieses Mal verschluckte ich mich wirklich an meinem Kaffee und sah Oliver während meines Hustenanfalls schockiert an. »Ich habe - ähm - nicht mit dir geflirtet und - ähm - dich auch nicht zu ei-nem Date eingeladen!«, röchelte ich und wandte anschließend den Blick ab. Oliver seufzte und lenkte das Thema wieder zu-rück in Richtung Schach, in dem er mich fragte, ob ich auch ohne ihn zur EM gehen würde und, ob ich eine andere Begleitung hätte. Ich sagte ihm, dass ich noch keine Karten gekauft hatte und wenn dann, mit meiner Kontrahentin aus dem Schachclub hingehen würde. Oliver stellte mir ein paar harmlos Fragen über Milena. Nachdem er alles von mir erfahren hatte, was er wissen wollte, waren unsere Cappuccinos leer. Wir tauschten einen schüchternen Blick aus und Oliver bestellte zwei neue. Wir redeten bis die gold-grüne Bohne schloss. Ich erfuhr, dass Oliver ich gerne einen Hund zu-legen würde, aber im Moment keine Zeit und kein Geld dafür hatte. Aber er sparte bereits und wollte sich in ein paar Monaten einen Jack Russel Terrier kaufen. Ich erfuhr, dass er in seiner Freizeit gerne Krimis las und jedes Jahr im Sommer zwei Wochen an die Nordsee fuhr, zum campen. Er nutzte diese Zeit zum abschalten und Kraft tanken. Aber Oliver redete nicht gerne über persönliche Dinge, dass merkte man an der Art und Weise, wie er sich aus-drückte. Zurückhaltend, oberflächlich und allge-mein. Er wollte nie zu tief ins Detail gehen und ig-norierte einige meiner Fragen einfach. Die Bedienung schickte uns hinaus, nachdem sie alle Stühle hochgestellt und alle schmutzigen Tassen zurück ins Regal gestellt hatte. Sie verabschiedete sich von Oliver mit einer freundschaftlichen Um-armung und winkte mir zu. Danach verschwand sie wieder im inneren der goldgrünen Bohne und zog die schweren, grünen Vorhänge zu. Oliver und ich liefen die Straße hoch und blieben vor seinem Auto stehen. »Tja«, sagte er, »wir sollten einsteigen - bis nach Klein Schnürstadt brauchen wir 'nee Weile und ich muss ja auch wieder hierherfahren.« Man hörte ihm an, dass er überhaupt keine Lust hatte. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, obwohl ich den Vorschlag - mich nachhause zu fahren - nicht gemacht hatte. Er hatte das angeboten, von sich aus. Ich hätte ihn niemals gefragt. Aber ich würde deswegen keine Diskussion anfangen. »Du musst mich nicht fahren, wenn du nicht willst - ich brauche mit der Bahn ja nicht solange. Du hast ja bestimmt noch was Wichtiges für die Uni zu machen ... Oder so«, entgegnete ich und vergrub die Hände in den Jackentaschen. »Es geht nicht um nicht wollen. Ich will dich fah-ren, aber gleichzeitig will ich das du bei mir bleibst, weiß aber was passieren würde, wenn du bleibst und das darf nicht passieren!« Wenn ich etwas mutiger wäre, würden ich ihn küssen, weil es augenscheinlich das war, was er wollte. Aber ich traute mich nicht und es war ver-mutlich auch gar nicht angebracht. »Das mit dir zu diskutieren bringt nichts - oder?« Oliver sah mich einen langen Moment fragend an, ehe er verstand worauf ich hinauswollte und heftig mit dem Kopf schüttelte. »Wir hatten das doch vorhin schon besprochen! Wir beide können nicht zusammen sein. Das würde mehr Unglück und Leid bringen, als alles andere!« Er seufzte und raufte sich die Haare. »Wenn du etwas älter wärst und nicht Tanjas bester Freund, dann hätte ich dich schon längst in Grund und Bo-den geküsst - aber unter diesen Umständen, können wir das nicht tun!« Ich wollte es immer noch nicht wirklich akzeptie-ren, auch wenn ich mittlerweile seine Gründe nachvollziehen konnte - zu mindestens ein wenig. Aber weil ich auch nur ein pubertierender Jugend-licher bin, der gerade enttäuscht wurde und sich zurückgewiesen fühlte. Und deswegen wich ich einen Schritt zurück und funkelte ihn böse an. »Und wenn du etwas jünger wärst und nicht Tanjas Bruder, wärst du vielleicht nicht so ein Arschloch!«, fauchte ich, wandte mich um und ließ ihn einfach stehen. Während ich den Weg zum Hauptbahnhof such-te, kämpfte ich gegen die aufkommenden Tränen an. Ich war wütend, ohne zu wissen worauf und mir war speiübel vom ganzen Haselnusssirup. Ich irrte eine ganze Weile durch Düsseldorf, ohne zu wissen wo ich eigentlich hinlief. Ich musste mir wenig später eingestehen, dass ich mich verlaufen hatte. Als ich dann auf mein Handy sah, um den Weg zu Googlen, musste ich feststellen, dass der Akku leer war. Super - konnte es noch schlimmer werden? Abrupt blieb ich stehen. Das wars. Das kurze, un-spektakuläre Leben des Leon Schneider, erfroren mitten in Düsseldorf auf der Suche nach dem Weg nachhause. Wenigstens ist das nicht ganz so drama-tisch wie bei Titanic! Ich stand mitten auf dem Gehweg, um mich her-um waren überall Menschen und Autos und Lärm. Ich sollte jemanden nach dem Weg fragen. Irgend-wer hier kannte ihn bestimmt. Allerdings sahen alle so gestresst und unfreundlich aus, dass ich mich nicht traute an sie heranzutreten. Schlussendlich drehte ich mich also um und lief den ganzen Weg zurück, zu Olivers Wohnung. Hier fuhr eine Straßenbahn, die mich direkt zum Hauptbahnhof bringen würde. Ich hätte gleich die-sen Weg wählen sollen. Aber in meiner Wut hatte ich daran gar nicht mehr gedacht. Es war verwun-derlich, dass ich in meiner Unachtsamkeit nicht überfahren worden bin. Ich überquerte die Straße und studierte den Fahr-plan. Fast 30 Minuten dauerte die Fahrt bis zum Hauptbahnhof und dort konnte es passieren, dass ich bis zu zwei Stunden auf den Regional-Express warten musste. Ich schielte hoch zu Olivers Wohnung. Es brannte Licht in der Küche. Er war also nachhause gegan-gen. Vermutlich aß er gerade und würde danach ins Bett gehen, als wäre nichts von all dem heute geschehen. Es war vermutlich besser so. Ich sollte das auch einfach vergessen und so tun, als wäre nie etwas passiert - als hätte ich ihn nie kennengelernt. Aber vorher sollte ich mich zu mindestens noch für vorhin entschuldigen. Im selben Moment, in dem ich diesen Gedanken fasste, fuhr die Straßenbahn langsam in die Station ein. Mir blieb nicht mehr viel Zeit für eine Entschei-dung. Und ich wollte wegen meiner Unentschlos-senheit keine weiteren 15 Minuten in der Kälte ste-henbleiben müssen. Ich blickte noch einmal zu Olivers Küchenfenster. Das Licht brannte noch immer und die Straßenbahn kam direkt vor mir quietschend zum Stehen. Ich musste mich entschuldigen, aber so wie ich mich kannte, würde ich eh kein vernünftiges Wort herausbringen. Also musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Die Türsignale der Bahn leuchteten hellrot auf und ein Alarm ging los. Ich sprang in den Wagon und suchte mir einen freien Platz. Während der Zug losrollte, starrte ich weiterhin Olivers Küchen-fenster an. Und ich wandte den Blick erst ab, als es schon längst aus meinem Blickfeld verschwunden war. .◦’°’◦ ♥.◦’°’◦. Als ich gute zwei Stunden später zur Wohnungs-tür hereinstolperte, war niemand zuhause. In der Küche standen Nudeln und Tomatensoße bereit. Meine altmodische Mutter hatte einen Zettel dane-bengelegt, auf dem stand, dass mein Vater und sie erst morgen Abend zurückkommen würden. Wo sie waren, hatte sie nicht vermerkt. Meine Eltern waren ständig unterwegs, schon seit alt genug dafür waren, länger als ein paar Stunden allein zu bleiben. Letztes Jahr waren sie mitten in den Sommerferien für eine Woche an die Ostsee gefahren, ohne ein Wort zu sagen. Bevor ich mich, um etwas zu essen kümmerte, brachte ich meine Tasche in mein Zimmer und steckte mein Handy an den Strom. Nachdem es wieder genug Akku hatte, dass ich es anschalten konnte, trudelten sofort viele böse Nachrichten von Milena ein. Sie war wirklich sauer und verlangte von mir eine gute Entschuldigung. Ich würde mir etwas einfallen lassen, was nicht ganz gelogen war. Während ich mir all ihre Nachrichten durchlas, erreichte mich eine neue Mitteilung. Tom hatte mich unter einem Bild in Facebook, in einem Kommentar erwähnt. Und als ich das sah, war Milena verges-sen. Denn mir war gerade die rettende, wie ich mich bei Oliver entschuldigen konnte: Facebook! Ich ließ mich aufs Bett plumpsen und durchsuchte Tanjas ellenlange Freundschaftsliste. Zum Glück fand ich ihren Bruder recht schnell und zum Glück hatte er kein privates Profil. So konnte ich ihm schreiben, ohne ihm vorher eine Freundschaftsan-frage schicken zu müssen- Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet hat-te, begann ich zu tippen: »Hi Oliver, ich wollte mich nur vorhin entschuldigen. Ich hätte dich nicht beleidigen dürfen. Ich mag dich trotzdem, auch wenn ich heute solche ge-meinen Dinge gesagt habe. Ich hoffe, wir können uns irgendwann Mal als Freunde gegenüberstehen. Bis da-hin, alles Gute.« Zufrieden mit meinem Text, schickte ich ihn ab und legte dann mein Telefon aus der Hand. Mein Magen knurrte und ich hatte plötzlich riesigen Hunger. Ich wollte dabei in meinem neuen HTML5-Buch lesen, doch als ich es aus meiner Schultertasche ho-len wollte, lag obendrauf eine H%M-Tüte. So eine, wie Oliver sie vorhin bei sich hatte. Ich seufzte schwer und ließ den Kopf hängen. Er hatte sie bestimmt in der goldgrünen Bohne in mei-ne Tasche gepackt, weil er sich nicht mehr mit sich herumschleppen wollte. Ich sollte ihm schreiben, damit er sie sich abholen konnte. Ich wollte die Tüte gerade aufs Bett schmeißen, als mich die Neugierde packte. Was er sich wohl ge-kauft hatte? Als ich jedoch sah, was sich darin befand, traf mich beinahe der Schlag. Oliver hatte sich die Hose gekauft, die ich vorhin anprobiert hatte und auch noch in derselben Größe. Schockiert nahm ich die Hose aus der Tüte und hielt sie in die Höhe. Nach-denklich sah ich sie an und riss dann die Augen auf. Oliver hatte die Hose nicht für sich gekauft, sondern für mich! Denn seine Beine waren kräftiger als meine und sein Becken war auch breiter, deswe-gen könnte ihm diese Größe nicht mal passen, wenn er abnehmen würde. Ich grinste die Hose dümmlich an. Denn sie war das Zeichen dafür, dass ich mein Happy End mit ihm vielleicht doch noch bekommen würde. Bevor ich in die Küche ging, bedankte ich mich bei Oliver und hoffte, er würde mir antworten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)