Stroboskoplicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 6: Überraschungsbesuch ------------------------------ Überraschungsbesuch Breit grinsend betrachtete Jonas den unter der Bettdecke hervorlugenden Haarschopf, dessen Besitzer dem leisen Schnarchen nach zu urteilen tief im Reich der Träume wandelte. Die blonden Strähnen leuchteten golden im Licht der hereinfallenden Sonne. „Eeeerik“, flötete Jonas. „Aaaaauuufwachen.“ Erik brummte und drehte ihm den Rücken zu. „Na komm, hoch mit dir. Du hast selbst gesagt, dass ich dich um zehn aus‘m Bett schmeißen soll. Es is‘ jetzt halb elf.“ Erneutes Brummen, minimal kohärenter. Jonas entschied, seinen Joker zu ziehen. „Der Frühstückstisch ist schon gedeckt.“ Das brachte Leben in Erik. „Du hast Frühstück gemacht?“ „Denkst du, ich schwindle?“ Leichtfüßig krabbelte Jonas aufs Bett, um Erik einen langen Kuss auf die Lippen zu drücken. „Alles fürs Geburtstagskind. Happy Birthday.“ „Hmm.“ Erik lehnte sich an Jonas, presste die Nase gegen dessen Schlüsselbein. Er roch nach trockenem Holz und Schlaf. „Daran könnte ich mich gewöhnen.“ „Das hättest du letztes Jahr auch schon haben können, wenn du mir damals verraten hättest, wann genau du Geburtstag hast.“ „Letztes Jahr um die Zeit haben wir noch nicht zusammengewohnt“, erwiderte Erik. „Wir waren nicht einmal zusammen.“ „Und trotzdem hätte ich dir schon damals die Seele aus dem Leib geknutscht, wenn du mich gelassen hättest.“ Noch bevor Jonas seinen Satz beendet hatte, schlangen sich kräftige Arme um seine Taille, hielten ihn fest gegen den Körper seines Freundes gepresst. Gegen diesen kraftvollen, vom Bett gewärmten Körper – Stopp! Resolut schob Jonas Erik zurück. „Nope. Wenn wir jetzt damit anfangen, kommen wir heute gar nich‘ mehr ausm Bett. Geh ins Bad, dann koch ich derweil die Frühstückseier.“ Erik folgte Jonas‘ Aufforderung, allerdings nicht, ohne ihm zuvor mit Blicken und Berührungen klarzumachen, was er sich da entgehen ließ. Als ob Jonas das nicht ganz genau wusste.   ~~~~~~~~~~   „Sieht aus, als würde Marcos und Dragos Zug ohne Verspätung durchkommen“, sagte Erik nach einem Blick auf sein Handy, das er gleich darauf zur Seite legte, um sich seiner Zimtschnecke zu widmen. „Das heißt, sie sind am frühen Nachmittag in Berlin, oder? Und Marco will heut Abend echt noch für uns alle kochen? Is‘ doch scheißanstrengend so ‘ne lange Zugfahrt.“ Damit hatte Jonas genug Erfahrung, schließlich dauerte die Fahrt von Berlin nach München, die er regelmäßig antrat, um seine Familie in Bayern zu besuchen, vergleichbar lang. Das Auto zu nehmen hatte sich trotz der Möglichkeit, sich dabei mit Erik abzuwechseln, ebenfalls als wenig komfortabel entpuppt. So gerne Jonas fuhr, über Stunden hinweg die Konzentration aufrechtzuerhalten fiel ihm schwer. Nächstes Mal nahmen sie definitiv wieder den Zug, dann konnten sie sich während der Fahrt wenigstens entspannen. Wobei es sicher eine Weile dauern würde, bis sich Erik erneut freiwillig Jonas‘ Familie stellte, was man ihm kaum verdenken konnte. Er hatte die Weihnachtsfeiertage herausragend gemeistert und sogar Jonas‘ Mutter zu zähneknirschender Akzeptanz bewegt, doch auch zwei Wochen danach sah man ihm an, wie viel Kraft ihn diese Zeit gekostet hatte. Jonas ging es ähnlich. Er wünschte sich ein gutes Verhältnis zu seiner Familie, im Augenblick brauchte er jedoch Abstand, um alles Gesagte und Ungesagte zu verdauen. Dennoch freute er sich auf den Beginn der Semesterferien, und darauf, seiner Familie mit neuer Energie und Liebe gegenüberzutreten. Außerdem sehnte er sich danach, Maria in den Arm zu nehmen. So optimistisch sich diese über die Weihnachtsfeiertage gegeben hatte, so niedergeschlagen klang sie in ihren Telefonaten seither. Normalerweise hätte sich Jonas in solchen Momenten Schokolade und Wein geschnappt, dazu den trashigsten Horrorfilm, den er finden konnte, und spontan bei ihr vorbeigeschaut. Mit fast sechshundert Kilometern zwischen ihnen gestaltete sich das jedoch leider schwierig. „Ich versichere dir, Marco wird ausführlich erklären, wie anstrengend diese Zugfahrt ist.“ Eriks Kommentar holte Jonas zurück ins Jetzt. „Vom Kochen wird ihn das trotzdem nicht abhalten. Drago hasst Restaurants noch mehr als Marco, was ehrlich gesagt eine ziemliche Leistung ist, also versuchen die beiden, so gut wie möglich anderweitig über die Runden zu kommen, solange sie hier in der Stadt sind.“ „Warum kochst du dann nich‘ für sie?“, fragte Jonas unschuldig. „Immerhin kommen die beiden extra für deinen Geburtstag hierher.“ „Exakt. Heute ist mein Geburtstag und das ist Marcos Geschenk an mich. Außerdem würde niemand, der Marcos Küche gewohnt ist, freiwillig essen, was ich so fabriziere.“ Ein feines Lächeln kräuselte Eriks Mundwinkel. „Es steht dir natürlich frei, ihnen deine Kochkünste anzubieten.“ Nicht bereit, sich einschüchtern zu lassen, erwiderte Jonas Eriks Lächeln. „Weißt du was? Das mach ich.“ Bevor Erik eine Erwiderung finden, oder sie das zwischen ihnen entstandene Bitzeln auf angenehmere Art ausleben konnten, klingelte Jonas‘ Handy. Ein Notfall? Warum sonst sollte ihn jemand um diese Zeit anrufen, anstatt einfach eine Nachricht zu schreiben? Es wusste ja niemand, dass er heute Uni schwänzte, um Eriks Geburtstag gebührend zu feiern. Mit flauem Gefühl warf er einen Blick aufs Display und hätte das Scheißteil vor Hektik beinahe fallen lassen. „Maria? Is‘ alles okay bei dir?“ „Kann ich dich nicht einfach mal zu einer ungewöhnlichen Zeit anrufen, ohne dass du gleich denkst, die Welt geht unter?“ „Geht die Welt unter?“, fragte Jonas, der Maria zu gut kannte, um das Übersteuern ihrer Stimme zu überhören. So klang sie immer, wenn sie versuchte, ihre wahren Gefühle zu verbergen. „Soweit ich das erkennen kann, ist sie noch intakt.“ Ein verräterisches Zögern. Dann: „Bist du heute Abend zuhause?“ „Japp. Erik hat doch heute Geburtstag, deshalb kommen später ein paar Freunde vorbei und wir machen uns ‘nen netten Abend.“ „Oh. Ach so.“ Was auch immer Maria hatte hören wollen, das war es nicht. „Richte ihm alles Gute aus.“ „Scheiße, verrätst du mir endlich, was zum Fick bei dir los is‘? Und komm gar nich‘ erst auf die Idee, abzustreiten, dass da was is‘.“ „Nichts ist los!“, protestierte Maria. Leiser fügte sie hinzu: „Kann nur sein, dass ich im Zug nach Berlin sitze.“ Diese Neuigkeiten musste Jonas erstmal verdauen wie eine Kuh, die mehrere Mägen brauchte, um alles Essenzielle herauszufiltern. „Du sitzt im Zug nach Berlin? Jetzt gerade?“ Aus dem Augenwinkel sah er Erik aufblicken, die Brauen gehoben, eine ungestellte Frage auf den Lippen. „In etwa vier Stunden bin ich da“, sagte Maria und danach so lange nichts mehr, dass Jonas fürchtete, sie könnte einem der zahlreichen Funklöcher auf der Strecke zum Opfer gefallen sein. Als sie erneut das Wort ergriff, gab sie endlich den Versuch auf, unbeschwert zu klingen. „Beim Gedanken daran, dass bald die nächsten Klausuren anstehen, habe ich Panik bekommen. Ich … Ich halte das nicht mehr aus. Was bringt mir der ganze Stress, wenn ich eh schon weiß, dass ich mein Studium abbreche? Den ganzen Mist mitmachen, bloß damit ich beim nächsten Studium möglichst viel anrechnen lassen kann? Wenn ich doch noch überhaupt nicht weiß, was ich überhaupt studieren will? Oder ob? Ich wollte mich an meinen Schreibtisch setzen und meine Unterlagen durchgehen, aber … Mir ist richtig schlecht geworden. Und dann habe ich irgendwie ganz aufgehört zu denken. Nur, dass ich weg wollte. Tja, und jetzt sitze ich mit einem viel zu teuren Ticket und viel zu wenig Gepäck im Zug nach Berlin und weiß nicht weiter.“ „Das is‘ easy. Du sagst mir, wann du ankommst, dann hol ich dich ab. Das Gästebett bei uns im Büro gehört dir.“ Mit Verspätung dachte Jonas daran, dass Erik bei dieser Entscheidung vermutlich gerne ein Wörtchen mitzureden hätte, doch dieser nickte nur. Zum Glück, andernfalls hätten sie eine ernsthafte Diskussion führen müssen, denn Jonas würde Maria ganz sicher nicht ohne Plan und Übernachtungsmöglichkeit in Berlin stranden lassen. „Ich will nicht in Eriks Geburtstagsfeier platzen.“ „Das kriegen wir schon hin. Du schaust jetzt erstmal, dass du gut nach Berlin kommst.“ „Okay.“ Maria klang zögerlich, aber immerhin nicht länger am Rande eines Nervenzusammenbruchs. „Dann sehen wir uns wohl später.“ „Japp, tun wir. Bis dann.“ Erst nachdem Jonas aufgelegt hatte, erlaubte er sich, seine bisher zur Schau gestellte Zuversicht mit einem langgezogenen Seufzen abzulegen. „Maria kommt hierher“, sagte er zu Erik. „So viel habe ich mitbekommen. Erzählst du mir den Rest?“ Das tat Jonas. Zu seiner Erleichterung reagierte Erik wie erhofft mit kühlem Kopf und Empathie. „Ich mache das Bett im Büro fertig und räume meine Arbeitssachen raus, dann hat Maria mehr Platz und fühlt sich hoffentlich nicht ganz wie in einer Abstellkammer geparkt. Du hast gesagt, sie hat nicht viel dabei. Sollen wir ihr noch was kaufen? Zahnbürste oder ähnliches?“ „Gute Idee, ich frag sie.“ Irgendwann während seines Telefonats musste Jonas aufgestanden und unruhig in der Küche auf und abgelaufen sein. Nun stand er hinter Erik und nutze die Gelegenheit, die Arme um dessen Schultern zu legen. „Scheiße, tut mir echt leid. Den Tag hatte ich anders geplant.“ Erik gönnte sich das letzte Stück seiner zweiten Zimtschnecke, bevor er antwortete. „Jonas, allein zu einem reichlich gedeckten Frühstückstisch geweckt zu werden, ist so viel mehr als ich erwartet hatte.“ Er legte den Kopf in den Nacken. „Jetzt klären wir erstmal die Situation mit Maria. Und danach“, seine Finger glitten über Jonas‘ Arme, „nutzen wir die Zeit, in der wir die Wohnung noch für uns allein haben.“ Selbst wenn sich Jonas‘ Blut nicht auf den Weg von seinem Gehirn zu anderen Stellen gemacht hätte, hätte er keine Einwände gegen diesen Vorschlag gefunden.   ~~~~~~~~~~   Angestrengt versuchte Jonas, Marias roten Haarschopf unter den aus dem Zug aussteigenden Passagieren zu erspähen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihm das gelang, und nach einem Blick auf ihr Gesicht, drängte er sich zu ihr durch, anstatt auf sie zu warten. Bei ihr angekommen, schloss er sie fest in die Arme. „Wird schon alles gut.“ Maria schnaubte. „Deinen Optimismus hätte ich gerne.“ „Ich mein, immerhin hast du mich. Trostpreis?“ Erneutes Schnauben, das am Ende verdächtig nach einem Schniefen klang. „Mehr als ein Trostpreis.“ Lange standen sie am Bahnsteig, Marias Gesicht gegen Jonas‘ Brust gedrückt, umgeben von einem Strom an ihnen vorbeiziehender Menschen, der sich wie ein Fluss um sie herum teilte. Irgendwann straffte Maria die Schultern und trat einen Schritt zurück. „Fahren wir zu dir. Erik vermisst dich sicher schon.“ Jonas checkte die Uhrzeit auf seinem Handy. „Nee, der hat genug Ablenkung. Marco und Drago dürften grad bei uns aufgeschlagen sein.“ Er legte einen Arm um Marias Taille und steuerte sie Richtung U-Bahn. Seiner guten Erziehung zum Trotz verzichtete er darauf, ihr anzubieten ihren Rucksack zu tragen. Sie würde es aktuell nicht als nette Geste auffassen, sondern als Beweis dafür, dass Jonas sie für schwach hielt. „Und es is‘ wirklich okay für dich, dass die beiden heut da sind? Wir können das Essen auch auf morgen verschieben, das wär absolut kein Ding. Is‘ schon mit ihnen abgesprochen.“ „Na klar. Erst laufe ich vor meinen Prüfungen davon, dann schmeiße ich bei euch alles über den Haufen, und am Ende koste ich Erik auch noch seine Geburtstagsfeier. Lass mal.“ Jonas zuckte mit den Schultern, weil diskutieren nichts brachte. „War bloß ein Angebot. Das heißt aber immerhin, dass du heute in den Genuss von Marcos Kochkunst kommst.“ Worauf sich Jonas zugegebenermaßen ziemlich freute. Zu gut erinnerte er sich an das absolut köstliche Essen, das Marco und Drago ihnen im Sommer beim Grillen aufgetischt hatten. Generell freute er sich unheimlich darauf, die beiden wiederzusehen. „Eigentlich habe ich keinen Appetit, aber vermutlich würde ich mich mit was im Magen wohler fühlen“, sagte Maria. „Hab seit ich los bin nichts gegessen.“ „Scheiße, dann wird’s echt Zeit!“   ~~~~~~~~~~   Die Wohnungstür einen Spalt geöffnet, hörte Jonas Stimmen aus der Küche, ohne den Gesprächsinhalt ausmachen zu können. Flugs schleuste er Maria ins Innere, unschlüssig, ob er sie zuerst allen Anwesenden vorstellen, oder ihr ein paar Minuten Verschnaufpause gönnen sollte. Maria nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie den Kopf in die Küche steckte. „Hi, Erik. Sorry, dass ich deinen Geburtstag crashe.“ Erik hob eine Braue, doch um seine Lippen flimmerte ein Lächeln. „Ich habe nachgesehen und du stehst auf der sehr kurzen Liste derer, die das dürfen.“ „Da habe ich ja nochmal Glück gehabt.“ Egal, wie viel Mühe sich Maria gab, sarkastisch zu klingen, man hörte ihr die Erleichterung deutlich an. Sie ließ sich sogar dazu hinreißen, Erik eine Umarmung anzubieten, die dieser erfreut annahm. Während sich die beiden gegenseitig ablenkten, schlüpfte Jonas in den Raum, um Marco und Drago zu begrüßen. „Hi!“ „Ciao, Jonas.“ Stämmig, braungebrannt und mit mehr Muskeln an einem Arm als Jonas am ganzen Körper aufweisen konnte, erinnerte Marco ihn immer an einen gutherzigen Bären, der ihn aus warmen Augen musterte. „Schön, dich wiederzusehen.“ „Freut mich auch echt. Seid ihr gut hergekommen?“ „Ja.“ Drago stellte das genaue Gegenteil zu seinem Mann dar. An die zwei Meter groß, mit Haaren und Augen so hell, dass sie nahezu farblos wirkten, und harten Gesichtszügen, die nicht zum Lächeln gemacht schienen, hatte er Jonas anfangs ordentlich Respekt eingeflößt. Zum Glück gab er sich Mühe, diesen ersten Eindruck durch unaufdringliche Freundlichkeit aufzuweichen. Lächeln konnte er ebenfalls und tat es auch, als er Jonas zur Begrüßung die Hand reichte. „Eure Wohnung sieht sehr gut aus.“ Jonas wollte erwidern, dass sich seit Dragos letztem Besuch nicht viel verändert haben konnte, doch je länger er darüber nachdachte, umso weniger überzeugte ihn sein eigener Einwand. Die Änderungen mochten subtil sein – Jonas erwartete nicht, dass Erik ihm zuliebe seine komplette Einrichtung umschmiss – trugen allerdings deutlich seinen Stempel. Mehr Farbe, mehr Kunst, mehr Pflanzen. Mehr Leben. Und ein klitzekleines bisschen mehr Ordnung. „Oh, das is‘ übrigens Maria.“ Jonas nutzte die Sekunde, in der ihr und Eriks Gespräch pausierte, um sie zu Drago und Marco zu schieben. „Unser Spontanbesuch.“ „Äh, ja. Hi“, murmelte Maria geringfügig überfordert. „Tut mir echt leid, dass ich so in euren Abend geplatzt bin.“ Marco reagierte mit dem charmanten Grinsen, das schon Jonas bei ihrem ersten Aufeinandertreffen vor ziemlich genau einem Jahr einen Großteil seiner Nervosität genommen hatte. „Nonsens. Ich bin ja ein überzeugter Vertreter von je mehr desto lustiger. Ich hoffe, du magst Minestrone?“ „Äh … Ja?“ Marco lachte. „Ich frage, weil ich heute koche. So als kleines Geburtstagsgeschenk für Erik.“ „Minestrone, nehme ich an?“ „Bingo! Ich weiß, was Drago und Erik gerne essen. Von mir selbst weiß ich das eh. Jonas sagt, er ist nicht heikel. Bleibst noch du. Bei dir habe ich keine Ahnung, ob du irgendwelche Vorlieben oder Unverträglichkeiten oder so hast. Also?“ „Ich esse eigentlich auch alles.“ „Und uneigentlich?“ Maria gab unter Marcos freundlicher Beharrlichkeit nach. „Gekochte gelbe Rüben sind nicht so meins, aber die kann ich auch einfach raussortieren.“ „Brauchst du nicht. Wenn ich es wage, Karotten zu kochen, lässt sich mein Mann von mir scheiden.“ „So extrem bin ich nicht“, widersprach Drago. „Würdest du die Karotten essen?“ „Nein.“ „Würdest du dich fragen, warum ich sie verwende, obwohl ich genau weiß, dass du sie hasst?“ „Ja.“ „Siehst du? Eins vor Scheidung.“ Völlig unbeeindruckt von Dragos düsterer Mimik, zog Marco ihn für einen langen Kuss zu sich herunter. „Zum Glück ignoriere ich das nicht. Also, keine Karotten in dieser Minestrone.“ „Ich bin nicht ganz so schlimm wie mein Mann behauptet.“ Maria beantwortete Dragos Klarstellung mit einem Schmunzeln. „Ich schon. Gekochte Möhren sind widerlich.“ Damit schien nicht nur das Eis zwischen ihr und Drago gebrochen, sondern das erste freundschaftliche Band geknüpft. Rasch entspann sich ein Gespräch, das über das Leben in der Stadt, das Leben auf dem Land, ihren jeweiligen Studienfächern bis zu ihrem Interesse an Mathematik reichte. Bei letzterem unterdrückte Jonas ein Würgen und entschied, die beiden sich selbst zu überlassen. Lieber schmuste er mit dem Geburtstagskind und lernte von Marco, wie man ordentliche Minestrone kochte.   ~~~~~~~~~~   „Deine Freundin stiehlt mir meinen Mann.“ „Dein Mann stiehlt mir meine Freundin.“ „Ihr beiden solltet euch lieber auf mich konzentrieren. Ihr wisst schon. Das Geburtstagskind.“ Mit diesem Hinweis beendete Erik die Diskussion von Marco und Jonas darüber, wer von ihnen am meisten ignoriert wurde, schaffte es allerdings nicht, die Aufmerksamkeit voll auf sich zu ziehen. Ein Stück abseits standen Drago und Maria, weiterhin tief in ihr Gespräch versunken, das sie lediglich lange genug unterbrochen hatten, um jeweils zwei Teller Minestrone zu leeren. Seither hatte sich die kleine Feier ins Wohnzimmer verlagert. Während sich Erik, Jonas und Marco einen Platz auf der Couch gesucht hatten, ignorierten Maria und Drago die bereitgestellten Stühle und lehnten am Türrahmen, völlig aufeinander fixiert. „Is‘ aber schon krass“, sagte Jonas. „Maria is‘ nich‘ grad extrovertiert. Die braucht normalerweise ewig, um sich auf neue Leute einzulassen.“ „Drago auch. Habe ich bisher noch nie erlebt, dass er so schnell mit jemandem warm wird.“ „Ihr klingt, als würdet ihr euch über eure Kinder unterhalten. Oder Hunde.“ Jonas rutschte zu Erik, bis sie sich dessen Couchpolster teilten. „Eifersüchtig?“ „Ganz fürchterlich.“ Obwohl Erik lächelte, kannte Jonas ihn inzwischen gut genug, um die Emotionen dahinter zu erahnen. Bevor er den Mund öffnen und nachfragen konnte, ließ Erik den Kopf gegen seine Schulter sinken. „Es ist schön, euch heute alle hier zu haben“, murmelte er in Jonas‘ Kapuzenpulli. „Danke dafür.“ „Wär ja auch schwierig, heute nich‘ da zu sein, wenn ich doch hier wohne.“ „Du weißt, was ich meine.“ Das tat Jonas natürlich. Zärtlich küsste er Eriks Scheitel, genoss den kostbaren Moment, in dem sich Erik an ihm anlehnte, anstatt wie so oft andersrum. „Gibt kein Eck, wo ich grad lieber wär.“ Damit hatten sie für diesen Abend genug Kitsch ausgetauscht, hauptsächlich, weil Marcos Grinsen von Sekunde zu Sekunde wuchs. „Soll ich euch allein lassen?“ „Es genügt, wenn du zehn Minuten wegschaust.“ Seinen Worten zum Trotz richtete sich Erik auf, hielt seinen Arm allerdings um Jonas‘ Hüfte geschlungen. „Wart ihr über Neujahr wieder in den Bergen?“ „Klaro, ist doch Tradition. Wahrscheinlich würden die von der Hütte nachfragen, wenn wir mal nicht buchen.“ Hellhörig spitzte Jonas die Ohren. „Wo wart ihr?“ „Recht kleine Hütte, relativ abgelegen in der Schwäbischen Alp. Der größte Luxus ist, dass wir uns ein Zweibettzimmer teilen können, wenn wir früh genug buchen, statt das Matratzenlager nehmen zu müssen. Ansonsten ist alles sehr schlicht, aber perfekt, um ein paar Tage aus der Stadt rauszukommen.“ Marco lachte. „Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hat ein paar Tage aus der Stadt rauskommen einen Nerv getroffen.“ „Schon“, gab Jonas zu. „Ich mein, wir waren ja grad erst bei meinen Eltern aufm Dorf, aber so ne abgelegene Berghütte is‘ einfach nochmal was ganz andres. Hätte ich schon mal wieder richtig Bock drauf. Oder Campen oder so.“ „Weißt du, Drago und ich hatten eh überlegt, ob wir nicht auch mal im Sommer für ein paar Tage zum Wandern hochfahren wollen. Ihr könntet mitkommen.“ „Au ja!“ Jonas zwang sich, seinen Enthusiasmus zu bremsen. „Aber bloß, wenn wir uns nich‘ aufdrängen.“ „Nah. Wir verbringen gern Zeit mit euch. Jetzt musst du nur noch Erik überzeugen.“ Dieser wirkte in der Tat nicht übermäßig begeistert, egal, wie sehr er versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. „Wir können das gerne ins Auge fassen.“ „Wirst du dann die ganze Zeit aussehen, als würd ich dich zur Schlachtbank führen?“ „Gib einem Stadtkind die Gelegenheit sich an den Gedanken zu gewöhnen, liebgewonnen Luxus wie zum Beispiel warme Duschen freiwillig für einige Tage aufzugeben.“ „Es gibt Duschen“, warf Marco ein. „Zwei sogar. Eine für Männer, eine für Frauen.“ „Für wie viele Leute?“ „Wenn ausgebucht ist? Etwa zwanzig.“ Erik wandte sich erneut an Jonas. „Wir machen das. Dafür wähle ich den nächsten Urlaub aus.“ „Deal!“ Jonas‘ Freudenschrei schaffte es, Marias und Dragos Aufmerksamkeit zu erregen, zumindest lange genug, um die Situation zu erklären und das Angebot eines gemeinsamen Hüttenurlaubs auf Maria auszuweiten, die allerdings dankend ablehnte. Weniger der Gesellschaft wegen, sondern weil sie den Gedanken, die Dusche mit diversen Fremden zu teilen, ähnlich erquickend fand wie Erik. Im Gegensatz zu diesem besaß sie zudem seit Jahren absolute Immunität gegen Jonas‘ taktischen Hündchenblick. Ausgelassenheit und Gelächter erfüllte die Wohnung, bis sich nach und nach mehr Gähnen daruntermischte. Kurz vor Mitternacht warf Marco das Handtuch. „Ich fürchte, das Bett ruft mich.“ Maria und Drago stimmten dieser Einschätzung zu, und es dauerte keine Viertelstunde, bis die Tür hinter ihren Gästen ins Schloss fiel. Ganz allein blieben Erik und Jonas selbstverständlich nicht in ihrer Wohnung zurück. Maria stand, nun wieder merklich verlegen, vor der Tür zum Büro. „Also dann … Gute Nacht.“ „Gute Nacht.“ Erik schenkte ihr ein von Herzen kommendes Lächeln, Jonas einen Kuss auf die Schläfe, und verschwand ins Schlafzimmer. Jonas und Maria blieben allein zurück. „Hast du alles, was du brauchst?“, fragte er. „Denke schon.“ Maria öffnete die Tür zum Büro und schien zum ersten Mal die Einrichtung in Augenschein zu nehmen. Bei ihrer Ankunft hatten sie lediglich hastig ihre Tasche verstaut, nun schweifte ihr Blick über die mit Ordnern und Fachbüchern vollgestopften Regale, das frisch bezogene Schlafsofa und blieb schließlich an der Vase auf dem Schreibtisch hängen, gefüllt mit einem Strauß farbenfroher Blumen, den Erik besorgt haben musste, während Jonas Maria vom Bahnhof abgeholt hatte. Auf der Vase klebte ein Post-It, auf das Erik ein Smiley gemalt hatte. So kitschig und so typisch Erik, dass es Jonas‘ Herz wärmte. „Hey, Maria?“ Sie drehte sich zu ihm. „Hm?“ „Egal, was für ein Scheiß grad bei dir läuft, du bist hier immer willkommen. Ich hoff, das is‘ dir klar.“ Zur Antwort fiel Maria in Jonas‘ ausgestreckte Arme, drückte ihn fest an sich und ließ nicht mehr los.   ~~~~~~~~~~   Am Ende brauchte Maria weniger als eine Woche, um wieder Boden unter den Füßen zu finden. Sie kehrte nach München zurück, mit dem festen Entschluss, ihre Prüfungen zu schreiben, ohne sich zu stressen, sollte sie durchrasseln. Jonas hegte den Verdacht, dass die neugefundene Freundschaft zu Drago ihr gehörig den Rücken stärkte. Offenbar hatte sie ihn intensiv nach seinem Studium und Arbeitsalltag als Architekt ausgehorcht, und je mehr sie darüber erfahren hatte, umso weiter wuchs ihre Faszination für das Thema. Daher überraschte es Jonas wenig, als einige Wochen später eine knappe Nachricht sein Handy erreichte: „Bauingenieurwesen. Ich studiere Bauingenieurwesen.“ „Gute Neuigkeiten?“ Weiße Wölkchen stiegen vor Eriks Gesicht auf, obwohl er die untere Hälfte davon hinter einem dicken Wollschal verbarg. „Du lächelst so.“ „Ich glaub, Maria hat ne Entscheidung getroffen, wie’s für sie weitergehen soll.“ Behaglich gegen Eriks Seite gepresst, schlenderte Jonas mit ihm durch den Park, die Wege menschenleer, die Welt um sie herum träge und still. Der Winter hielt die Stadt fest im Griff, doch jetzt gerade genoss Jonas genau das. Er genoss die Kälte, die um seinen Körper strich, das ferne Rauschen der Autos, das nahe Knistern der laublosen Zweige über ihren Köpfen. Er genoss es, Erik ganz für sich zu haben. „Is‘ schon witzig, wie das Leben manchmal läuft, oder?“, fragte er. „Als ich hierher gezogen bin, hatte ich keine Scheißahnung, was auf mich zukommt. Wie viel Spaß mir mein Studium machen wird. Was für tolle Leute ich kennenlern. Dass ich dich kennenlern. Das alles kommt mir immer noch so irre vor. Und jetzt sucht sich Maria ausgerechnet dieses eine Wochenende im Jahr aus, an dem Marco und Drago auch da sind, und hat darüber vielleicht ihr Traumstudium gefunden. Was für ein verfickter Scheißzufall, oder?“ „Man könnte es auch ‚Schicksal‘ nennen.“ Jonas grinste. „Du glaubst da doch noch viel weniger dran als ich.“ Er stoppte lange genug für einen Kuss, flüchtig und zart, ein Ausblick auf das, was sie in der warmen Zurückgezogenheit ihrer Wohnung erwartete. „Aber falls es sowas wie‘s Schicksal gibt, isses bis jetzt verfickt gut zu mir.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)