Blut, Stahl und Rauch von AraniShadon ================================================================================ Kapitel 1: Gestrandet --------------------- ~Gestrandet~ „Sei vorsichtig, hörst du Fion? Der Glawackus mag ein Hirngespinst sein, aber irgendetwas ist in den Wäldern und es hat bereits drei Menschen aufgeschlitzt.“ „Ich bin immer vorsichtig, das weißt du, Ems.“ Das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, damit er die Hände frei hatte, packte Fionnlagh diverse Arten von Kugeln für seine 9mm, einen selbst gebauten Flammenwerfer und Leuchtfackeln ein. Er mochte es, auch auf Unvorhergesehenes vorbereitet zu sein. „Mach dir keine Gedanken.“ Eine kurze Pause, die Fionnlagh sagte, dass sein Freund sich dennoch sorgen würde, dann: „Melde dich?“ Er summte leise und legte auf, ohne sich zu verabschieden. Das tat er auf einem Job nie. Stattdessen griff er nach seiner Taschenlampe, schwang den Rucksack über seine Schulter und schloss den Wagen ab, über welchen er ein Tarnnetz warf. Er hatte gelernt, dass einsam abgestellte Fahrzeuge im Wald Aufsehen erregten und er hatte wirklich keine Lust, nach dem Job noch auf dem Parkplatz der nächsten Polizeistation einzubrechen, nur um sein konfisziertes Auto mitgehen zu lassen. Wenn das hier erledigt war, dann würde er sich ein paar Tage Auszeit nehmen und vielleicht zu Emrys fahren – der andere Mann wurde nervös, wenn er Fionnlagh nicht ab und an in Fleisch und Blut vor sich stehen sah. Mit einem versonnenen Lächeln an seinen langjährigen Freund marschierte er in Richtung Norden in den Wald hinein. Das letzte Opfer war eine Meile von der Hauptstraße entfernt gefunden worden und als Fionnlagh am Tage hier gewesen war, hatte er Spuren entdeckt, die die Polizei für die eines wilden Tieres gehalten hatte: Abgeknickte Zweige, Kratzspuren an den massiven Stämmen der Bäume hier. Es könnte sich um einen Schwarzbären handeln; zwar war die Population in Connecticut nicht besonders hoch, aber ihre Gier nach Essen brachte sie häufig in die Nähe von Menschen. Vor allem jetzt im Herbst fraßen sie alles, was ihnen vor die Schnauze kam. Momentan gingen Polizei und Jäger von einem einzelnen, aggressiven, möglicherweise kranken Tier aus und hatten Erlaubnis gegeben, dieses zu schießen. Aber Fionnlagh hatte in einer Scharte ein Stück Haut und ein paar Haare gefunden, die keinem Tier oder Wesen gehörten, dem er je begegnet war. Die einzelnen Strähnen waren lang, borstig und die Spitzen äußerst widerstandsfähig, die Haut hingegen bleich und grau, wie die eines Toten, aber in ihrer Beschaffenheit fester als das Leder seiner Messerscheide. Außerdem war es mit kleinen und großen Flecken übersät. Diese dienten vielleicht zur Tarnung, je nachdem wie groß das Monster war, dessen Fährte er aufzunehmen gedachte. Fionnlagh brauchte nicht lange, um den Fundort der letzten Leiche zu finden. Im Strahl seiner Taschenlampe war das getrocknete Blut am Boden unübersehbar, doch zumindest hatte die Spurensicherung die fehlenden Stücke von Justin Argerson bereits eingesammelt und eingepackt. Die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst, ließ sich Fionnlagh in der Mitte der Lichtung in die Knie sinken, um die Perspektive seiner Umgebung zu ändern. Dann leuchtete er einmal, sorgsam, um dreihundertsechzig Grad um sich herum. Freß- und Schleifspuren führten in südöstliche Richtung, genau dort, wo Fionnlagh die Kratzspuren an den Bäumen aufgefallen waren. Er folgte, seine Schritte behutsam und beinahe lautlos. Es war Mitte Oktober, was gut und schlecht war, denn es bedeutete, dass der Waldboden nicht trocken war, aber auf der anderen Seite vergrößerte es die Gefahr, bei schnellen Bewegungen auszurutschen. Ideale Kampfbedingungen sahen anders aus. Eine gute Stunde später war Fionnlagh auf weitere Spuren gestoßen – die gleichen Kratzspuren, die er auch schon am Tatort gesehen hatte und die möglicherweise eine Art Revier markierten. Wendigo waren dafür bekannt, Jäger in Fallen zu locken, indem sie bewusst solche Spuren setzten, aber das hier, das war kein Wendigo, dessen war sich Fionnlagh sicher. Dazu waren die Hiebe in der Rinde zu breit und zu tief. Außerdem führten sie ihn nicht in einem Kreis, sondern geradewegs auf das hüglige Terrain zu. Er presste die Zähne aufeinander. Großartig. Nun kamen auch noch alte Schächte oder Minen mit ins Spiel. Genau das konnte er nun brauchen. Als es wenig später auch noch zu regnen anfing, kam er nicht umhin, die Augen gen Himmel zu wenden und sich im Stillen zu fragen, was er getan hatte, um dass jetzt zu verdienen. Er erhielt keine Antwort. Aber das war auch wenig verwunderlich. Manches Mal, da vermutete er, dass man da oben ohnehin nichts anderes machte, als Däumchen zu drehen, bei der ganzen Scheiße, die hier unten so ablief. Mit einer Mischung aus Missmut und Anspannung bewegte sich Fionnlagh weiter. Konzentriert glitt der Lauf seiner Waffe mit seinen Bewegungen mit, ab und an verharrte er, wenn er glaubte, einen Schatten oder eine Regung wahrgenommen zu haben. Das stetige Tropfen des Wassers und das Rauschen des Windes in den Bäumen verhinderte, dass er andere Geräusche hörte. Der Regen wurde mit jedem Schritt schwerer, tränkte seine Kleidung bis auf seine Haut und verringerte die Sicht auf wenige Meter. Mit einer Hand wischte sich Fionnlagh über das Gesicht, als er neben einer Eiche stehen blieb, einen Unterarm gegen den Stamm gelehnt, während er den Strahl seiner Taschenlampe im Kreis rotieren ließ. Es wäre klüger, den Rückzug anzutreten und morgen Nacht wieder zu kommen. Doch das würde bedeuten, ein weiteres potentielles Opfer zu riskieren. Zwar war die Bevölkerung von der Polizei dazu angehalten worden, vorsichtig zu sein und sich bei Nacht nach Möglichkeit in fest verschlossenen Räumen aufzuhalten, doch es gab immer wieder Dummköpfe, die dachten, dass sie unverwundbar seien. Vor allem wenn sie glaubten, ein Gewehr abfeuern zu können. Sei vorsichtig. Emrys Stimme wisperte in seinem Geist, Bitte und Warnung zugleich, weswegen Fionnlagh kurz die Faust ballte und gegen die Rinde schlug. Verdammt. Einen langen Moment kämpfte sein passioniertes Herz gegen die kühle Logik seines Verstandes, dann entschied er, die Jagd abzubrechen. Tot nutzte er niemanden und in den derzeitigen Bedingungen war ihm auch die hier ansässige nocturnale Wildnis überlegen. Behutsam trat er einen Schritt zurück, richtete sich zu seiner vollen Körperhöhe auf und wollte sich herum drehen, da verharrte er abermals. Schien, als wäre es zu spät. Er konnte es fühlen, den Blick des Monsters in seinem Rücken. Die feinen Haare in seinem Nacken und an seinen Armen stellten sich auf, jeder seiner Muskeln spannte sich an – wie die Sehne eines Bogens kurz vor dem Schuss. Ein lautloser Fluch brach sich von seinen Lippen, seine Atmung und Herzschlag erhöhte sich. Adrenalin pumpte durch seinen Körper und verstärkte seine Sinne. Das Monster stand schräg hinter ihm, nicht dicht genug, dass er es riechen konnte, aber nah genug, dass er hörte, wie sich der Regen auf der Haut brach, was ein Geräusch produzierte, als hätte irgendjemand plötzlich einen gewaltigen Regenschirm aufgespannt. Er festigte seinen Griff auf Waffe und Taschenlampe, atmete langsam und gezielt aus, während er stumm von drei rückwärts zählte. Er hatte die Null noch nicht ganz erreicht, da wirbelte Fionnlagh herum und feuerte drei Mal in Richtung des Monsters. Zweimal auf den massiven Leib, einmal auf den Kopf. Es wurde unter dem Einschlag der Kugeln ein Stück zurückgeworfen, aber nicht zu Fall gebracht. Eher im Gegenteil: Das Brüllen, dass ihm entgegen schlug, klang einfach nur angepisst. Na, ganz toll. Das fehlte ihm gerade noch. Fionnlagh wich mit einem Hechtsprung und einer Abrollrolle zur rechten Seite aus, als das Vieh auf ihm zustürmte. Es folgte ihm schneller und wendiger, als dessen Größe vermuten ließ. „Fuck!“ Er flüchtete zwischen zwei Bäumen hindurch, wirbelte herum, feuerte ein weiteres Mal. Ein direkter Treffer, nah am Hals des Monsters, aber nicht genug, um seinen Verfolger aufzuhalten. Er wuchtete seinen Rucksack auf beide Schultern, rutsche eine Senke hinab, kontrollierte seine Bewegung mit den Füßen und einem Ellenbogen. Unten angekommen, war er sofort auf den Beinen. Er duckte sich unter einem Prankenhieb weg, der Borke, Blätter und Äste auf ihn herab regnen ließ. Ein Brüllen folgte seinem Haken, so laut, dass er die Hände über die Ohren reißen musste. Der beschissene Regen nahm ihm die Sicht und er hatte keine Zeit auf seinen Kompass zu schauen, was ihm die Orientierung raubte. Fionnlagh wusste, dass er sich hier potenziell in ein Terrain begab, mit dem er nicht fertig werden würde. Allerdings hatte er keine große Wahl, denn das Vieh ließ nicht locker und es wurde nicht langsamer, obwohl er noch zwei Mal geschossen und getroffen hatte. Fionnlaghs Körper hingegen spürte den Stress der Hetzjagd. Lungen und Muskeln brannten, sein Herzschlag glich einem Presslufthammer. Er vibrierte an seiner Schädeldecke entlang und klang in seinen Ohren wieder. Sein Blick glitt kalkulierend über die Bäume seiner Umgebung. Konnte er es riskieren, hoch zu klettern? Es würde ihm vielleicht den nötigen Abstand geben, den er brauchte, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Der Flammenwerfer in seinem Rucksack richtete möglicherweise mehr Schaden an, als die Handfeuerwaffe. Anderseits könnte er auch als netter Snack enden, wenn das Monster auch klettern konnte. Wenn er wenigstens an seine Leuchtfackeln heran kommen würde. Das grelle Licht würde ihm wertvolle Sekunden schenken. Fuck, fuck und noch einmal fuck. Fionnlagh brach nach links weg, setzte über einige niedrige Büsche hinweg, rutsche auf dem nassen Untergrund aus und schlug mit der Schulter gegen einen Stamm. Schmerz pulsierte bis in seine Fingerspitzen und kostete ihn beinahe den Griff auf seine Taschenlampe. Über ihm splitterte Holz, weswegen er sich auf den Boden warf und dann nach rechts wegrollte. Alle Farben der Umgebung mischten sich zu einem einzigen verschwommenen Matsch. Seine Bewegung endete jäh an einem großen Findling. Fionnlagh benutzte ihn, um auf die Füße zu kommen, den Stein zwischen sich und das Wesen zu bringen, aber er war zu langsam. Es erwischte ihn mit einer Pranke, schleuderte ihn hoch und durch die Luft. Fionnlagh prallte hart auf den Boden. Etwas in seinem Rucksack bohrte sich direkt zwischen seine Schulterblätter. Er verlor die Lampe, deren Licht matt den Waldboden beleuchtete. Seine Waffe hatte er noch und er nutzte sie, um das Magazin in den massiven Leib zu schießen, bevor ihn die Krallen erwischten. Dann schrie er. Fionnlagh hatte unzählige Narben. Das brachte der Job mit sich. Bevor er seinen ersten Werwolf getötet hatte, war es dem Mistkerl gelungen, sein Bein aufzuschlitzen. Er hatte geblutet wie ein Schwein und er wusste bis heute nicht, wie es Emrys gelungen war, ihn wieder zusammen zu flicken. Ein Wendigo hatte ihm ein nettes Andenken auf dem rechten Schulterblatt hinterlassen und diverse Geister hatten ihn mehr als nur eine Gehirnerschütterung eingebrockt. Aber nichts davon war mit dem hier zu vergleichen. Seine gesamte Welt hatte sich auf ein Minimum konzentriert. Kälte drang in seinen Körper, betäubte seine Hände und Füße. Er versuchte seine Finger zu krümmen, doch es gelang ihm nicht. Sein Herzschlag dominierte jedes andere Geräusch. Es verdrängte den Regen und das Brüllen des Monsters. Fauler Atem schlug ihm entgegen und er stöhnte gebrochen, als er das Gewicht auf seiner Brust fühlte. Schien, als würde er nicht verbluten, sondern ersticken, weil seine Rippen seine Lungen durchbohren würden. So oder so, es war ein beschissener Tod. Sorry, Ems. Ein schiefes Grinsen zupfte an seinem Mundwinkel. Das würde Emrys ihm nie verzeihen. Grelles Licht flutete einen Moment später die Umgebung, blendete ihn, so dass Fionnlagh stöhnend die Augen zusammen kniff. Wenn das dass berühmte Licht ins Jenseits war, dann sollten die Engel oder sonst wer noch mal über die Farbgebung nachdenken. Giftgrün, bei dem der Wunsch aufkam zu kotzen, konnte wohl nicht der richtige Ansatz sein. Oder es lag an Fionnlagh – ihm war jedenfalls barbarisch schlecht. Das einzig Positive war, dass der Druck auf seiner Brust verschwand. In Reaktion schnappte Fionnlagh nach Luft, so viel und so schnell er zu fassen bekam. Leider kam davon nichts in seinen brennenden Lungen an. Er war wie ein Fisch auf dem Trockenen und Gott, wie er dieses Gefühl hasste. Seine Kehle, staubtrocken, die sich immer weiter zusammen zog. Die aufkeimende Panik eines sterbenden Körpers, das unkontrollierbare Zucken seiner Gliedmaßen. „Atme.“ Ein einzelnes Wort. Ruhig und auffordernd gesprochen. „Tiefe, ruhige Atemzüge. Folge den meinen.“ Eine Hand packte die seine, führte sie. Fionnlaghs Finger zuckten, krümmten sich, mühten sich ab, die Textur unter ihnen zu erkennen. Nass, glatt, kühl. Leder? Unter seinem Handballen unregelmäßig, kalt, aber nicht schmerzhaft. Ein Gefühl, wie die Klinge seines Messer. Metall? Er konnte sich nicht konzentrieren, konnte seinen Blick nicht fokussieren. Aber er fühlte den Atem. Langsam und übertrieben, damit er ihn besser spüren konnte. Automatisch folgte er und einen kurzen Moment später fühlte er, wie sich seine Lungen weiteten. „Gut. Gut so. Atme weiter.“ Diese Stimme. Sie war hypnotisch und legte sich wie eine warme Winterdecke um seinen kalten Körper, nahm ihm die Panik, den Schmerz. Sie war anders, als alles, dass er jemals in seinem Leben gehört hatte. Fionnlagh drehte den Kopf, als seine Hand losgelassen und auf seine Brust gelegt wurde, blinzelte träge. Viel sah er nicht, verschwommene Umrisse eines anderen Menschen, die sich dunkel von dem noch immer viel zu hellen Hintergrund abhoben. Er hörte das Klirren eines Schwertes – zu laut und zu deutlich, wie ein extra dramatischer Effekt in einem Film – und er erkannte das Monster, wacklig und wabernd, wie unter Wasser. Ein mächtiges Geweih, der Kopf zum Angriff gesenkt. Hinterbeine, so dick wie die Baumstämme, die sie umgaben. Es scharrte über den Waldboden, bereit jederzeit anzugreifen. Fionnlagh öffnete die Lippen, versuchte den anderen zu warnen, aber es kostete zu viel Kraft. So etwas wie Reue flutete durch Fionnlagh. Er hätte dem Fremden gerne gedankt. Allein zu sterben, war eben doch totaler Dreck. Er blinzelte und vermochte ein wohl bekanntes Grinsen im Licht zu sehen, Züge, die er so gut kannte und von denen er gedacht hätte, er würde sie nie wieder sehen. „Áed?“ Keine Sorge, Kiddo. Du gehst hier nicht drauf. Er schnaubte leise. War ja klar, dass seinem toten Freund nichts besseres einfiel, als ihm zu sagen, dass er in diesem beschissenen Wald nicht verbluten würde. Trotzdem war es seltsam beruhigend und es passte zu Áed, dachte Fionnlagh noch, bevor er in die Ohnmacht sank und das Licht und das Brüllen und das Klirren des Stahls immer schwächer wurden. Zumindest hatte er noch einmal die lang vermisste Stimme gehört. Vielleicht sahen sie sich ja in der Hölle wieder. ~~~~~ Flammen waren das erste, dass Fionnlagh registrierte, als er wieder zu sich kam. Huh? Das Höllenfeuer war aber weit kleiner, als er sich das ausgemalt hatte. Es glich eher einem... einem Lagerfeuer? Es knisterte gemütlich, schien leise zu murmeln, während er es beobachtete. Helles Gelb im Inneren, Orange und Rot in den äußeren Bereichen, dazwischen dünne Äste, zum Teil noch unversehrt, zum Teil schon so verbrannt, dass nur die grau-weiße, rissige Oberfläche übrig geblieben war. Er drehte den Kopf und blinzelte gegen eine dunkle Decke, die zu hoch lag, als das er Einzelheiten erkennen konnte. Eine Höhle? Eine Mine? Möglicherweise. Unter seinen Fingern fühlte er Moose und Flechten, die ihn vom Untergrund isolierten. Er konnte sie auch riechen, unter dem Geruch des Feuers und der feuchten Luft des Sturms. Der Rest seines Körpers war etwas schwerer auszuloten. Seine Füße steckten nicht mehr in seinen Stiefeln, dazu konnte er seine Zehen zu weit krümmen, seine Jeans klebte schwer und nass an seinen Beinen. Seine Jacke war verschwunden, sein Pullover auch. Zumindest sein Shirt trug er noch. Langsam tastete er mit seinen Fingern über seinen Oberschenkel, hoch zu seinem Bauch. Fionnlagh konnte sich noch nicht an alles erinnern, das passiert war, aber er wusste, dass ihn das Monster getroffen und verletzt hatte. Es war wichtig, dass er möglichst zügig beurteilte, wie schlimm es war. Alle Jäger waren gut in Erste Hilfe und Fionnlagh nähte seit seinem neunten Lebensjahr Wunden zusammen. Er konnte gut abschätzen, wann er mehr Hilfe benötigte und wann nicht. Seine Stirn runzelte sich, als er einen Verband fühlte. Er schob einen Finger darunter, tastete nach der Wunde. Zu seiner Rechten gab es eine Bewegung, dann wurde sein Handgelenk festgehalten. „Lass die Finger davon.“ Diese Stimme. Fionnlagh tat einen bebenden Atemzug, die Augen geschlossen, um sich zu sammeln. Dann öffnete er sie und sah direkt in das Gesicht seines Retters. Es war ein bisschen, als würde er einen Vorschlaghammer vor die Brust bekommen. Sein Gegenüber war im gleichen Alter wie Fionnlagh, vielleicht sogar etwas jünger. Und er hatte extrem anziehende Züge, anders konnte man es wirklich nicht sagen. Umrahmt von schwarzen, dichten Haar saßen in einem symmetrischen Gesicht eine perfekte Nase und ebenso perfekte Lippen. Selbst die dunklen Brauen spannten sich in einer gleichmäßigen, eleganten Kurve über den Augen. Sie waren es, die Fionnlagh gefangen hielten, selbst als er sich auf seinen Armen soweit zurück katapultierte, wie es ihm möglich war. Seine Füße schrammten hart über den lockeren Boden, wirbelten Dreck und Geäst auf, welches zischend in den Flammen landete. Seine Körpermitte schrie in Protest, Schmerz blitzte harsch und grausam bis in seine Fingerspitzen. Fionnlagh keuchte dagegen an, griff nach seiner Waffe, die neben dem Lager auf seiner zusammengelegten Jacke lag und richtete sie auf den Fremden. Sie sackte nach unten, seine Arme schwer wie Betonblöcke, aber so nah wie sie sich waren, würde jeder Treffer fatal sein. Die Augen – unheimlich intensiv – blickten ihn ruhig entgegen. Sie waren groß, wie die Rehaugen von Megan, in denen er sich noch vor zwei Wochen in einer sinnlichen Nacht verloren hatte. Und an sich war das auch nichts ungewöhnliches, wenn die Pupillen nicht das Licht reflektieren, oder sich wie die einer Katze senkrecht verengen würden. „Was bist du?“ Fionnlaghs Frage klang wie ein Grollen eines Wolfes, heiser und kaum zu verstehen. Sein vor ihm hockendes Gegenüber schien unbeeindruckt von seinem Ton und seiner Waffe. „Ein Hexer.“ Hexer? Fionnlaghs Gedanken rasten. Er hatte noch nie ein Wesen mit solchen Augen gesehen. Es gab Kitsune, aber sie hatten normale Augen. Erst im Augenblick ihres Todes, sah man, dass sich die Pupille in einen senkrechten Schlitz wandelte. In seinem Kopf riss er Hunderte von Schubladen auf, glitt fahrig über Legenden, Mythen und Geschichten. Nichts. Er fand keinen Fetzen, kein Gerücht, kein Wispern in den Schatten von schmierigen Spelunken. Gestaltenwandler, Vampire, Besessene. Sie alle waren humanoid, bewegten sich in beiden Welten. Es gab Gerüchte über Engel und über Trolle, Wichtel und Wechselbälger. Es gab Hexen, männlich und weiblich. Meinte der Andere so etwas? Möglich, aber mit solchen Augen unwahrscheinlich. Hexen waren hundertprozentig menschlich und abgesehen von ihren widerlichen Ritualen und ihrem Hang dazu, überall Körperflüssigkeiten zu verteilen, gab es keine äußeren Anzeichen. „Woher kommst du?“ „Kaer Morhan.“ Der Andere verlagerte leicht das Gewicht, beugte sich etwas weiter zu Fionnlagh. „Allerdings bezweifle ich, dass du je davon gehört hast. Du solltest mich das ansehen lassen. Es blutet.“ Den Worten folgte eine Handbewegung in Richtung von Fionnlaghs Verletzung. In Reaktion darauf, hob dieser seine 9mm höher, zielte einige mühsame Sekunden direkt auf den Kopf des Anderen. Zwischen einem donnernden Herzschlag und dem nächsten fiel ihm auf, dass die Waffe zu leicht war – Erinnerungen blitzten auf: Die Jagd im Regen, die Schüsse auf das Monster, als er unter diesem gelegen hatte. Das Magazin war leer. Fionnlagh presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Gut, dann würde ein Bluff reichen müssen. „Fass mich nicht an!“, befahl er barsch, was sein Gegenüber offensichtlich amüsierte. Ein Mundwinkel hob sich in einem schiefen Grinsen, was in Fionnlagh den Wunsch auslöste, es mit einem ordentlichen Kinnhaken aus dem Gesicht zu schlagen. „Ich glaube, dass es dafür zu spät ist“, wurde ihm milde entgegnet. Die Hand des Fremden bewegte sich erneut, eine fahrige Bewegung, die für Fionnlagh keinen Sinn ergab. „Ich habe dich hierher getragen und ich habe dich versorgt, bis du aufgewacht bist. Bitte. Lass es mich ansehen. Ich bin nicht dein Feind.“ Die Waffe sackte erneut tiefer. Fionnlagh hatte zunehmend Schwierigkeiten klar zu sehen und seine gekrümmte Position behinderte ihm beim Atmen. Obenauf kam diese verfluchte Stimme. Er fühlte regelrecht, wie er unter ihr nachgab, schwächer wurde, als wäre er eine Motte, die vom unwiderstehlichen Licht angezogen wurde. Finger legten sich auf den Lauf der Pistole, einer nach dem anderen, bis sein Gegenüber diesen nach unten drücken konnte. Die Waffe fiel zwischen ihnen auf den Boden, dann schob sich die zweite Hand des Fremden in Fionnlaghs Nacken, stützte seinen Kopf, während er sich flach auf den Boden legte. So nah über ihm waren diese verfluchten Augen unheimlich faszinierend. Trotz der Flammen, die die Farbe verfälschten, konnte Fionnlagh sehen, dass sie grün waren und er wagte kaum daran zu denken, wie sie erst bei Tageslicht aussehen würden. „Wie ist dein Name?“ „Anju.“ Die Augen fixierten einen Moment lang die seinen. „Wie nennt man dich?“ „Fionnlagh“, brummte er, bevor er erschöpft die Augen schloss. Die Berührungen des Hexers waren behutsam, als sie über seinen Bauch glitten. Sie lösten den Verband, dann hörte Fionnlagh das Plätschern von Wasser, bevor ein feuchtes Tuch über seine Haut strich und das Blut abwischte. An den Stellen, an denen es getrocknet war, verweilte es einen Moment länger, bis das ekelhafte Gefühl der Spannung und des Kribbelns verschwunden war. Fionnlagh würde niemals zugeben, wie gut es tat und wie sehr er sich unter der wiederholenden Bewegung entspannte. „Das ist ein interessanter Name. Er hat einen schönen Klang.“ Anju hatte sich halb weg gedreht, um nach einem weiteren Tuch zu greifen. Es war sorgsam zusammengefaltet und als er die Ecken anhob, um es zu öffnen, entfaltete sich ein würzig-herber Geruch von Kräutern. Fionnlagh blinzelte, um zu verfolgen, was der Hexer damit vorhatte. Die Kunst der Kräuterheilkunde war ihm nicht fremd. Emrys züchtete überall in seinem Haus und Garten Kräuter und Sträucher, aus denen er Tinkturen, Pasten, Tees und Öle herstellte. Allerdings war es eine Sache, seinem langjährigen Freund eine Wunde versorgen zu lassen, eine ganz andere, dies von einem Fremden machen zu lassen, der mehr oder weniger menschlich war. Ach, zur Hölle damit. Wenn Anju ihn hätte töten wollen, hätte er dazu ausreichend Gelegenheit gehabt und sich sicher nicht die Mühe gemacht, ihn in einen Unterschlupf zu schaffen. Draußen donnerte es, ein lautes krachendes Geräusch, dass Fionnlagh an das Brüllen des Monsters erinnerte. Ein Schauer ran zwischen seinen Schulterblättern hinab. „Was ist mit dem Monster?“ „Das Bies? Ich habe es getötet und verbrannt.“ Fionnlagh brummte zufrieden. Zumindest dieses Problem war aus der Welt geschafft und es würde keine weiteren Opfer geben und er war zu müde, als dass er ergründen würde, warum Anju das Monster beim Namen kannte und offensichtlich wenig gerührt von dessen Existenz war. Seine Bauchmuskeln zogen sich unfreiwillig zusammen, als Anju eine kühle und dicke Paste auftrug. Es tat weh, wie alle offenen Wunden, die man berührte, aber der Hexer hörte nicht auf. Zu zögern, hätte es schlimmer gemacht. Das sagte Fionnlagh, dass dieser offensichtlich Erfahrungen mit Wunden hatte. Zu gerne hätte er gesehen, wie schlimm es war, aber sein Magen war flau genug – es würde warten müssen. Nachdem die Wunde wieder verbunden war, half Anju Fionnlagh sich ein wenig aufzurichten und Kopf und Schultern gegen eine zusammengerollte Decke zu lehnen. Nicht mehr ganz flach zu liegen, gab Fionnlagh ein wenig Kontrolle zurück und als er unwillkürlich seufzte, lächelte Anju wissend. Der Andere streckte sich in einer fließenden Bewegung, um einen Wasserschlauch und ein kleines Röhrchen in das Licht der Flammen zu halten. „Das hier ist ein Hexertrank“, erklärte er. „Man nennt ihn Schwalbe. Er enthält Extrakte aus Kräutern, die die Wundheilung um ein Vielfaches beschleunigen. Für einfache Menschen sind Hexertränke normalerweise hoch toxisch. Bedenkt man aber, wie tief deine Wunden sind, könnte es das einzige sein, dass dir hilft zu überleben. Du scheinst willensstark zu sein und das sind gute Voraussetzungen.“ Fionnlagh zog die Brauen zusammen und schürzte die Lippen, dann griff er nach dem Röhrchen, dass Anju noch immer offerierte. Die enthaltene Flüssigkeit hatte die Konsistenz von Honig und war rot gefärbt, nicht gerade ein Umstand, der Fionnlagh ruhiger machte. Dennoch gab es in ihm etwas, dass Anju vertraute. Es war vollkommen irrational und passte überhaupt nicht zu ihm. Aber es war unmöglich, sich zu entziehen. Schicksal, wisperte Áeds Stimme in seinen Gedanken und Fionnlagh tat sein Bestes, sie zu ignorieren. „Du willst mich also vergiften“, kommentierte er, weit ruhiger, als es für einen gesunden Menschenverstand gut war. „Was ist da drin?“ „Willst du das wirklich wissen?“ Anju hob eine Braue. Nein, eigentlich wollte Fionnlagh es nicht wissen, wenn er ehrlich war, aber er musste. Um das Risiko einzuschätzen. Seine Beweggründe zu erklären, war allerdings allerdings unötig. Anju sprach weiter, während er sich nach hinten sinken ließ, um seinen Arm auf dem angewinkelten Knie abzulegen. „Ein großer Anteil ist Zwergenschnaps, gemischt mit Schöllkraut und dem Gehirn von einem Ertrunkenen.“ „Du willst mich wohl verarschen“, murmelte Fionnlagh. Schnaps, das klang schon widerlich genug. Er trank keinen Alkohol, obwohl er andere Jäger kannte, die ohne ihren guten J.D. nicht normal funktionierten. All die Grausamkeiten, die er in seinem Leben gesehen hatte, ließen sich ohnehin nicht mit Alkohol ertränken und rein waschen würde es seine Hände auch nicht. Schöllkraut wurde zur äußeren Anwendung von Warzen benutzt, war aber giftig, wenn man es in großen Mengen verschluckte. Die Konzentration in dem Röhrchen war demnach vielleicht nicht allzu hoch. Aber das Gehirn eines Ertrunkenen? Ernsthaft jetzt? „Es ist ein Monster, wenn es dich beruhigt.“ Fionnlagh sah irritiert von dem Röhrchen in seiner Hand auf und zu Anju, der ihn die ganze Zeit stumm beobachtet hatte. „Das Hirn des Wesens“, stellte der Hexer klar. „Wir nennen sie Ertrunkene. Ein Ertrunkener war menschlich, bevor er im Wasser ums Leben kam, oder seine Leiche nach dem Tod in tiefe Gewässer geworfen wurde. Auf diese Art und Weise verwandeln sie sich in rachsüchtige Kreaturen, die vor allem eines im Sinn haben: Fressen, fressen und fressen.“ „Tut mir ja leid, aber es beruhigt mich nicht. Wie viel muss ich davon trinken?“ Er entkorkte das Röhrchen, schnupperte daran. Es roch widerwärtig nach Schlamm, Fisch und etwas, dass er wirklich nicht genauer identifizieren wollte. „Die Hälfte und verdünne es mit Wasser.“ Anju gab ihm einen Becher, der so schwer war, dass Fionnlagh ihn als Wurfgeschoss benutzen könnte. Er spekulierte vielleicht nur, aber wahrscheinlich waren die goldfarbenen Elemente aus echten Gold. „Es sollte für deine Größe und Muskelmasse ausreichend sein.“ Der Trank schmeckte noch schlimmer als er roch. Fionnlagh hatte ihn in einem Zug herunter geschluckt und würgte nun einige Male, bevor er hustete und den Arm vor den Mund hielt. Der Laut, der ihm entfloh, war wenig würdevoll, aber Fionnlagh hatte gerade genug damit zu kämpfen, dass Gesöff unten zu behalten, als dass er sich darum sorgen könnte. Anju bedachte ihn mit einem milden Lächeln, das wohl Mitgefühl ausdrücken sollte. Fionnlagh konnte fühlen, wie sich sein Magen einige Male schmerzhaft zusammen zog, bevor er akzeptierte, dass die Schwalbe wohl da bleiben würde, wo sie war. Der Hexer berührte flüchtig seine Stirn, dann seinen Hals, prüfte Temperatur und Pulsschlag. Er überwachte wohl die Reaktionen seines Körpers und nickte letztlich zufrieden. Hinter sich greifend schüttelte er eine zweite Decke aus – besaß Anju Mary Poppins Wundertasche oder was? – und breitete sie über dem Verwundeten aus. „Du solltest schlafen. Ich werde Wache halten.“ Fionnlagh schämte sich beinahe, dem Befehl nur Minuten später folge zu leisten. ~~~~~ Sonnenlicht weckte Fionnlagh. Es brannte auf seiner Stirn und seiner Wange, was ihm sagte, dass es um die Mittagszeit sein musste. Außerdem lag er auf einer Lichtung, wie er feststellte, als er blinzelte. Um sich herum hörte er Insekten, Vögel und ein Pferd. Einem ungläubigen Zwinkern, folgte ein zweites, dann streckte Fionnlagh den Kopf nach hinten über und tatsächlich, wenige Meter von ihm entfernt graste ein dunkles Pferd. Es trug einen Sattel, Zaumzeug und Scheuklappen, die so aussahen, wie die aus Ritterfilmen. Die, die wie eine Panzerung über die gesamte Schnauze des Tieres führten. Rechts neben dem Pferd und am Rand der Lichtung konnte Fionnlagh Anju sehen. Der Hexer stand vor einer Gruppe von verbrannten Bäumen, schien diese intensiv zu mustern. Fionnlagh setzte sich behutsam auf, die Zähne in Erwartung an Schmerzen zusammen gebissen. Er blieb aus – es gab nicht einmal das Ziehen einer heilenden, von Schorf bedeckten Wunde. Verblüfft schob Fionnlagh eine Hand unter sein Oberteil, konnte aber keinen Verband fühlen. Als er den Saum griff und nach oben zog, entdeckte er drei lange, dünne Narben, die das Licht matt reflektierten. Sie führten von seiner rechten Hüfte diagonal hoch zu seinem linken Rippenbogen. Fuck. Fuck, fuck, fuck. Behutsam glitt er mit einem Finger über eine der Narben. Es war ein Wunder, dass er noch lebte. Fionnlaghs Blick wanderte zurück zu dem Hexer. Sein verfluchtes Wunder hatte einen Namen und strich mit einer Hand über die graue Rinde, zerrieb diese zwischen seinen Fingern. Der Trank hatte ihm geholfen und ihn geheilt. Innerhalb von nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte er eine Verletzung überstanden, die ihn für Monate außer Gefecht gesetzt hätte. Die Lippen aufeinander gepresst schob er den Gedanken über das Wie in die letzte Ecke seines Verstandes. Stattdessen erhob er sich. Keine zwei Meter von ihm entfernt sah er einen Findling, der auf halber Höhe mit dunklen Flecken besprenkelt waren. Getrocknetes Blut. Sein Blut. Mehr davon fand sich auf dem platt gewalzten Boden in der Nähe des großen Steins. Fionnlagh sog harsch die Luft ein, als er darauf starrte. Das hier hätte sein Grab werden können. Er schüttelte den Kopf und gesellte sich zu Anju, damit er nicht doch noch über das Wie zu sinnieren begann. Nun, wo sie beide standen, erkannte er, dass der andere Mann ein Stück kleiner war und das er eine Rüstung trug. Fionnlagh erinnerte sich an das Gefühl von Leder und Metall und sah diese Materialien im Wams reflektiert. Feine Kettenglieder schützten Bauch und Rücken des Hexers, an den Seiten gingen diese in festes Leder über, dass geschnürt und so zusammengehalten wurde. Über dem Wams trug er einen beidseitigen Schulterschutz, der mit groben Lederschnallen um die Oberarme gehalten wurde. Er bestand aus den gleichen, feinen Ringen wie Bauch- und Rückenpartie. Unter dunklen blauen Handschuhen ragten braune Armschienen hervor. Wie die hohen Stiefel und Handschuhe waren sie aus Leder. Um die Taille trug Anju einen Gürtel, an dem ein Widerhaken, mehrere runde Gebilde und ein Beutel hingen. Am beeindruckendsten allerdings waren die Schwerter, die der Hexer über dem Rücken trug. Die beiden Griffe waren lang, so dass man die Waffen mit beiden Händen führen konnte und sie waren unterschiedlich gearbeitet. Die Kreuzstange des einen Schwertes – dessen Färbung heller war, als das des anderen – verlief waagerecht, die des anderen war schräg nach unten gerichtet und darüber hinaus wie ein Blitz gezackt. Es gab kunstvolle Verzierungen an beiden Heften, die durch waagerechte Unterbrechungen gegliedert waren und in einem schweren Knauf endeten. Der andere Mann sah aus, als wäre er ein hochgradig talentierter Cosplayer, aber die Art, mit der er sich in der Rüstung bewegte, sagte Fionnlagh, dass dieser mit dieser Kleidung lebte und arbeitete. Einen langen Moment fing das einzige Schmuckstück des Hexers Fionnlaghs Aufmerksamkeit. An einer silbernen Kette hing der stilisierte Kopf eines Greifvogels. Das massive Schmuckstück würde wohl bequem in seine Handfläche passen. Über dem geöffneten Schnabel und den mit roten Steinen versehenen Augen, gab es mehrere Vertiefungen, die eine Raute direkt über dem Schnabel und zwei zueinander versetzte Rechtecke über den Augen bildeten. Offensichtlich war es mit großer Sorgfalt hergestellt worden – was es wohl bedeutete? „Anju.“ Der Hexer drehte leicht den Kopf, ein Zeichen, dass er zuhörte. „Du sagtest, dass du aus Kaer Morhan stammst. Wo liegt das?“ „In den nördlichen Königreichen. Sie liegen nicht in dieser Dimension.“ Der Hexer wandte sich ihm zu und ja, seine Augen waren im Sonnenlicht absolut atemberaubend: Ihr Grün ließ sich nicht auf einen einzigen Farbton festlegen und wurde zu den Rändern hin heller, wo es fast so wirkte, als wäre auch Gelb in ihnen enthalten. Seine Pupillen waren zu kaum erkennbaren Schlitzen zusammengezogen. „Vor sieben Nächten fand eine Sphärenkonjunktion statt. Das ist eine kosmische Kollision mehrerer Paralleluniversen. In diesem Fall war es das meine und dieses hier. Der Bies, ich und mein Pferd sind von der Konjunktion erfasst worden.“ „Und diese Sphärenkonjunktion. Hat sie das hier angerichtet?“ Fionnlagh nickte in Richtung der toten Bäume, aber Anju schüttelte den Kopf, dann fasste er an seinen Gürtel und löste eines der runden Gebilde, dass er Fionnlagh reichte. Es war schwer, ein fester Kern, der von Lumpen und Lederbändern umhüllt und gehalten wurde. „Der Schaden hier stammt von einer Bombe. Man nennt sie Teufelsborist. Sie entlädt bei ihrer Detonation eine Giftgaswolke. Ich habe sie eingesetzt, um das Bies von dir abzulenken und Abstand zu gewinnen.“ Anju tat eine ausholende Bewegung mit der Hand und Fionnlaghs Braue schob sich in die Höhe. Die Stimme des Hexers und seine Züge waren nüchtern und sachlich. Er war extrem gefasst, wenn man bedachte, dass er in einer ihm fremden Welt gelandet war. Fionnlagh musste nicht nachfragen, wie Anju zu seiner Schlussfolgerung gekommen war. Allein ihre Kleidung unterschied sich wie Tag und Nacht, dann kam eine möglicherweise vollkommen gegensätzliche Vegetation hinzu, außerdem ein anderes Klima und andere Waffen. Zur Hölle, wer wusste schon, ob Anjus Welt nicht aussah, wie das Kunstwerk von einem expressionistischen Künstler, der Felsen in knalligen Orange darstellte. Wäre Fionnlagh in einer anderen Welt aufgewacht – ein Gedanke, der gar nicht so schwer zu greifen war, wie er befürchtet hatte, denn immerhin gab es ja auch Himmel, Hölle und Fegefeuer, wenn man den Gerüchten glauben schenken durfte – dann würde er sich zugestehen, ein kleines bisschen auszuflippen. Und das auch zu zeigen. Er war kein Fan davon, Munition zu verschleudern, aber mit den bloßen Fäusten oder einer Axt konnte man ordentlichen Schaden an Bäumen und Sträuchern hinterlassen. Fionnlagh hätte es definitiv gebraucht. Er klackte leise mit der Zunge, strich sich dann das Haar mit beiden Händen nach hinten. „Du bist ziemlich, uh, ruhig“, sagte er und wies mit einer Hand in die generelle Richtung des Hexers. „Ich meine dafür, dass du hier unfreiwillig gelandet bist.“ „Die Emotionen von Hexern sind gedämpft“, erwiderte Anju, fast mechanisch, als hätte er genau diesen Umstand schon Hunderte von Malen erklärt. „Es erlaubt uns, unsere Arbeit besser und effektiver als andere zu verrichten.“ „Und diese Arbeit besteht darin, Monster zu besiegen?“ „Exakt.“ Die grünen Augen fanden die seinen. „Du jagst ebenfalls, oder nicht?“ „Nicht, dass es mir jemand danken würde“, murmelte Fionnlagh für sich, dann studierte er die abgebrannten Bäume und die ebenso verbrannte Erde um diese. Ein perfekter Kreis von etwas vier Metern Durchmesser war das einzige, dass von dem grellen Licht übrig geblieben war, dass Fionnlagh für den Weg ins Jenseits gehalten hatte. Eine Bombe, die eine Giftgaswolke auslöste. Er schnaubte leise. Wie gut, dass das Geschäft mit dem Unmöglichen sein täglich Brot war. Man lernte doch wirklich nie aus. „Diese Konjunktion, von der du gesprochen hast. Kannst du sie noch einmal erzeugen, um zurück zu gehen?“ Anju schüttelte den Kopf und Fionnlagh sah, dass ein Muskel in dessen Kiefer hervor trat. Er war angespannt. „Sie sind sehr selten, sehr spontan und nicht zu kontrollieren. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, dass die Wesen, die bei der letzten Kollision in den Königreichen gestrandet sind, jemals wieder zurückkehren konnten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich nun das gleiche Schicksal teile.“ Fuck. Allein in einer fremden Welt. So jemanden konnte Fionnlagh nicht sich selbst überlassen. Er presste die Lippen zusammen und ignorierte das wiederkehrende Gefühl des sofortigen Vertrauens, das in seiner Brust pulsierte und das ihn physisch näher zu dem Hexer bringen wollte. Eine Hand auf dessen Schulter, oder um dessen Oberarm, ein Zeichen, dass er Anju nicht im Stich lassen würde. Jesus Christ, was mache ich denn hier? Ich muss verrückt sein. Fionnlagh verschränkte die Arme vor der Brust und studierte Anju, der seinerseits geradeaus starrte. Es war nicht zu erkennen, was der Hexer als nächstes plante. Sich hier im Wald verbergen? Vielleicht eine Hütte bauen? Versuchen sich anzupassen? Würde er stehlen? Andere Menschen verletzen, wenn sie ihn bedrängten? Das konnte Fionnlagh nicht riskieren. Er tat einen langen, tiefen Atemzug, von dem er die Luft langsam entweichen ließ, was quasi seine Bedenkzeit einer Entscheidung darstellte, die er schon getroffen hatte. Es würde unverantwortlich sein, ein Wesen wie den Hexer auf seine Welt los zulassen, argumentierte er gedanklich mit sich selbst. Nein, Anju war am besten bei ihm aufgehoben. Fionnlagh würde ihn anleiten und führen können. Der andere Mann wusste bereits, wie man jagte und war mit Monstern vertraut. Das machte es einfach, ihn auch als Jäger auszugeben. Er würde einen Ausweis brauchen und andere Kleidung und eine Sonnenbrille, um diese krassen Augen zu verbergen. Fionnlagh richtete sich zu seiner vollen Größe auf, zog die Schultern zurück und nickte einmal, kurz und entschlossen. „Anju. Du kommst mit mir.“ Kapitel 2: Ein neues Leben -------------------------- Anjus Pferd war ein Problem. Fionnlagh konnte es ja nun schlecht in sein Auto packen, auch wenn sie gerade auf dem Weg zu genau diesem waren. Er fühlte sich auch nicht wohl damit es hier einfach freizulassen – zumal Anju dieser Option sicher nicht zustimmen würde – also brauchte er einen Hof, eine Ranch, irgendetwas. Und er brauchte einen Wagen mit Anhänger. Fionnlagh zupfte an seiner Unterlippe, ging gedanklich seine Kontaktliste durch. Am schnellsten würde Jeremy zu ihnen kommen können. Der andere Jäger wusste zwar nicht, was ordentliche Umgangsformen waren und er würde Anju erschießen, wenn er dessen Augen sah, aber sein kleiner Bruder züchtete Pferde und würde Anjus Ross sicher aufnehmen. Fionnlagh warf einen Blick über seine Schulter. Anju folgte ihm behände und verdammt leise. Es war schaurig, wirklich. Aber noch unheimlicher war, dass das Pferd Anju folgte, ohne das dieser es an den Zügeln führen würde. Fionnlagh hatte keine Ahnung von diesen Tieren, wirklich nicht, aber er bezweifelte, dass so ein Verhalten normal war. „Wie ist sein, uh, sein Name?“, fragte er mit einem Kopfnicken. „Oon“, erwiderte Anju und machte keine Anstalten, das Gespräch weiter fortzuführen. Schweigsamer Geselle. Fionnlagh schob den Rucksack höher, rieb mit der freien Hand über seinen Nacken. „Die Welt aus der du kommst, dein Zuhause. Kaer Morhan.“ Anju nickte leicht, weswegen Fionnlagh weiter sprach. „Gibt es da jemanden? Eine Familie, Menschen, die dich vermissen werden?“ Anju presste einen Moment den Kiefer aufeinander. Fionnlagh konnte verstehen, dass es ein hartes Thema war, aber er musste es wissen. Selbst wenn er machtlos war, etwas dagegen zu tun, gefangen und gestrandet wie Anju in dieser Welt war. „Ich habe keine Frau oder Kinder, falls du das meinst. Aber es gibt meine Brüder, andere Hexer. Sie werden nach mir suchen, die Spuren der Konjunktion finden und wissen, was das bedeutet. Sie werden mich in Ehren halten, in ihren Erinnerungen an unsere gemeinsame Vergangenheit.“ Mit anderen Worten, sie gingen davon aus, das Anju für sie verloren war. Fionnlagh war sich nicht sicher, ob es ihm mit diesem Wissen besser ging oder nicht. Vielleicht in dem Sinne, dass da keine Kinder waren, die nun ohne ihren Vater aufwuchsen. Nicht, dass sich sein eigener Vater groß für ihn interessieren würde. Fionnlaghs Lippen zogen sich zu einer dünnen Linie. Nein, an seinen alten Herrn, würde er nun ganz sicher nicht denken. Stattdessen kramte er nach seinem Telefon, das den Angriff dies Bies zwar nicht unbeschadet überstanden hatte, aber noch immer funktionierte. Auch wenn es recht merkwürdig klapperte. Das Glück war ihm hold. Erst gab es nur einen Balken, aber schon fünfzig Meter weiter gesellte sich ein weiterer dazu. Genug, um zu telefonieren. Fionnlagh blätterte durch seine Kontakte, den Daumen schon fast auf der Taste zum Wählen, da realisierte er, das Anju ein Telefon vermutlich gar nicht kannte. Da er aber eines brauchen würde, musste Fionnlagh ihm erklären, wie es funktionierte. Gut. Er würde sich darum kümmern, sobald sie wieder in der Zivilisation angekommen waren. Jeremy hob nach dem dritten Mal klingeln ab. „Was willst du?“ Seine Stimme war rau und mürrisch. Fionnlagh verband sie stets mit einem übellaunigen alten Mann, aber Jeremy war nicht älter als er selbst. „Ich dachte, nach der Sache in Arizona sind wir quitt.“ „Sind wir auch. Aber hör' mal, ich brauch 'nen Stellplatz für ein Pferd und Timothy hat sicher nichts dagegen, wenn noch eins auf seiner Ranch rumrennt.“ „'N Pferd? Ernsthaft jetzt?“ „Ja, ernsthaft.“ „Du machst mich schwach, Alter. Wo bist du?“ Fionnlagh gab den Standpunkt seines Wagens durch, den er sich im Vorfeld notiert hatte, dann wartete er und lauschte, wie Jeremy mit Papier raschelte, dann Schubladen oder Schränke öffnete, um den – wie er es ausdrückte – verfluchten Schlüssel für den verfluchten Anhänger zu finden. „Ich hol' Tim und dann sind wir in einer Stunde bei dir. Bis dahin überleg dir 'ne gute Story, woher du 'n Pferd in den Wäldern von Connecticut herzauberst.“ Jeremy legte auf, bevor Fionnlagh ihm antworten konnte. Er schnaubte und sah dann zu Anju hinüber, der den Hals seines Tieres streichelte. Eine gute Story, huh? Wie wäre es mit einem Hexer, der aus einer anderen Dimension kam? Wohl eher nicht. „Anju, hör mal. Wegen Oon.“ Die grünen Augen des Hexers richteten sich auf Fionnlagh und dieser atmete tief ein. Es gab keinen guten Weg, das jetzt zu sagen. „Wir können ihn nicht mit uns nehmen. Aber ich habe gute Bekannte, die ihn gut behandeln werden. Wir können ihn dann dort besuchen.“ „Ich weiß“, war die simple und doch recht überraschende Antwort Anjus. „Ich habe es aus deinen Worten gelesen, die du in das kleine Kästchen gesprochen hast.“ Der Hexer hob einen Arm, deutete auf Fionnlaghs Hand. „Mein Telefon?“ Fionnlagh starrte es an, dann offerierte er es Anju, der es behutsam nahm und von allen Seiten betrachtete. „Ich kann damit Menschen kontaktieren, die weit von mir entfernt sind, auch rund um die Welt. Du wirst auch eines brauchen.“ „Demnach funktioniert es wie die Xenogloss. Doch dies hier, dein Telefon, sieht anders aus. Du wirst es mir erklären müssen.“ „Natürlich.“ Fionnlagh zögerte, beobachtete, wie Anju konstanten Kontakt zu seinem Pferd hielt, sich sogar dagegen lehnte. „Das mit Oon tut mir leid.“ „Wenn du sagst, dass es notwendig ist, ihn unterzubringen, dann vertraue ich deinem Wort. Oon wird es verstehen.“ „Kennt ihr euch schon lange?“ Die Bäume lichteten sich, ließen die Straße erkennen, an der Fionnlagh seinen Wagen geparkt hatte. „Seit er ein Fohlen ist. Die Pferde von Hexern sind speziell gezüchtet, da sie im Kampf nicht scheuen dürfen. Außerdem brauchen sie einen starken, nur schwer beeinflussbaren Charakter. Oon hier ist in beiden etwas ganz besonders.“ Oon wieherte leise, als hätte er Anju verstanden, worauf sich ein Mundwinkel des Hexers hob. Dann fokussierte sich der Blick abermals auf Fionnlagh. „Was ist mit dem Sattel, der Ausrüstung. Ist sie sicher bei diesem Timothy?“ „Ja, ja, das ist sie“, antwortete Fionnlagh automatisch, aber wenn er ehrlich war, dann überraschte ihn Anjus exzellentes Gehör. Er hatte nicht laut mit Jeremy telefoniert und war mehrere Meter vor diesem gewesen. Er musste sich mit diesem hinsetzen, in Erfahrung bringen, welche Fähigkeiten er besaß. Sie erreichten sein Auto, von dem er das Tarnnetz abzog und es mit schnellen Griffen in ein flaches Paket zusammenlegte. Anju studierte den dunklen Jeep aufmerksam, die Schultern zurückgezogen und angespannt. Es behagte ihm ganz offenbar nicht. Fionnlagh öffnete beide Türen und den Kofferraum, gab Anju so die Möglichkeit, in das Innere zu sehen. „Du kannst die Sachen, die du mitnehmen willst, hier hineintun.“ Er tätschelte den Rand des Kofferraums, zögerte und nickte dann doch in Richtung des Hexers. „Und, uh, deine Schwerter müssen auch rein.“ Nun verengten sich Anjus Augen, sodass er wie eine schlecht gelaunte Katze aussah. „Warum?“ Nur ein einziges Wort. So hart und düster, dass es Fionnlagh eiskalt über den Rücken fuhr. Automatisch verschob er sein Gewicht auf die Fußballen, fiel in eine halbe Angriffsposition, bevor er sich zusammen riss und bewusst entspannte. „Es würde zu sehr auffallen. Ich nehme an, in deiner Welt ist es normal, dass du sie trägst?“ Anju nickte, was Fionnlagh erwiderte. Das hatte er sich schon gedacht. „Hier ist es enorm ungewöhnlich. Wie auch deine Rüstung.“ „Meine Schwerter sind mein Zeichen und meine primären Waffen. Meine Rüstung ist mein Schutz.“ Anju verschränkte die Arme vor der Brust, seine Präsenz beeindruckend vereinnahmend. „Beides zu verlieren macht mich während einer Jagd verwundbar. Warum also verlangst du es von mir?“ Fionnlagh strich sich durch das Haar, schluckte. Es war in der Tat hart, was er von Anju forderte und wenn man ihm sagen würde er solle seine Taurus und seine Messer rausrücken, dann würde er demjenigen wohl einen Vogel zeigen. Aber Himmel, es waren nun einmal Schwerter! Und eine gottverdammte Rüstung! Fionnlagh trat einen Schritt auf Anju zu, eine Hand erhoben, um ihn zu besänftigen, einen Kompromiss vorzuschlagen „Wenn wir auf Jagd gehen, bekommst du beides wieder. Ich schwöre es dir.“ Noch ein Schritt, bis er dem Hexer eindringlich in die Augen sehen konnte. „Aber in der Zeit, die dazwischen liegt, werden wir es verwahren. Es ist essenziell, das wir unauffällig sind und das erreichen wir nur, wenn wir dich an diese Welt anpassen.“ Anju schwieg, die Arme vor der Brust verschränkt, die Brauen zusammengezogen. Er dachte nach, erkannte Fionnlagh, wog das Für und Wider ab, seine Möglichkeiten und Chancen. „In meiner Welt gibt es überall Kreaturen, bei Tag und weit mehr bei Nacht. Ist es hier genauso?“, fragte er letztendlich langsam. „Dieses Ding, dein ... Auto. Wird es uns vor Monstern beschützen können, wenn wir in ihm sind?“ „Ja, das wird es. Die Monster in dieser Welt zeigen sich selten am Tage.“ Oder sie waren getarnt, lebten unter den Menschen, aber das würde er Anju noch nicht sagen. Und auch nicht, das ein Wagen sie nicht vor allem schützen konnte, was da draußen so rumkroch, bewaffnet mit Zähnen und Klauen, die Autotüren aufbiegen konnten, als wäre es Knete. „Wir sind sicher.“ Anju studierte sein Gesicht, aufmerksam und durchdringend, dann nickte er einmal und begann die Gurte zu lösen, die seine Schwerter hielten. Er fing sie geübt auf, brachte sie zum Jeep. Er zögerte trotzdem, bevor er sie in den Kofferraum legte. Fionnlagh trat zu ihm, legte ihm eine Hand auf die Schulter, drückte diese. „Du wirst sie nicht verlieren.“ Die Muskeln unter seiner Hand waren hart, aber das Nicken des anderen Mannes weicher. Anju akzeptierte es. Zumindest für den Moment. Fionnlagh lächelte diesen ermutigend an und wollte gerade fragen, was Anju noch alles mitnehmen wollte, da spannte sich dieser vollkommen an. Mit unglaublicher Geschwindigkeit packte er Fionnlagh und brachte sie zu Boden, bevor dieser wusste, wie ihm geschah. Für einen winzigen Augenblick desorientiert schoss Adrenalin in jede Pore von Fionnlaghs Körper. Kampf oder Flucht und er wusste sich noch nicht zu entscheiden. Fionnlagh wehrte sich gegen Anju, doch dessen Griff war unerbittlich und so blieb er wo er war. Mit dem Bauch auf dem Boden, das Gesicht nur ein paar Zentimeter vom Hinterrad des Jeeps entfernt und Anjus Arm, schwer über seinem Rücken. „Bleib still“, wisperte der Hexer harsch in sein Ohr. „Lausche. Etwas kommt näher. Schnell.“ Fionnlagh tat, was Anju gesagt hatte. Die Augen geschlossen, strengte er sich an, zu hören, was den Hexer so beunruhigt hatte. Als Erstes war da nichts, doch dann gab es ein Brummen. Konstant, danach etwas unruhiger und wieder konstant. Der Motor eines Autos. Jeremy, höchstwahrscheinlich. Fionnlagh atmete bewusst aus, fühlte, wie sein Herzschlag langsamer wurde. Mit den Fingern umschloss er Anjus Handgelenk, Haut auf Haut, der Daumen so, das er den konstanten Puls des anderen zu fühlen vermochte. Er war ebenfalls beschleunigt, aber er glich bei weiten nicht dem Stakkato seines eigenen. „Es ist alles in Ordnung, Anju.“ Fionnlagh legte alle Ruhe, die er aufzubringen vermochte, in seine Stimme und Worte. „Das ist nur ein anderes Auto.“ Keine Antwort, aber der Griff löste sich, so dass Fionnlagh aufstehen konnte. Das war auch ganz gut so, denn wenn Jeremy sie so gefunden hätte, wäre mit Sicherheit ein dämlicher Spruch gekommen. Fionnlagh klopfte sich ab und fuhr sich durch das Haar. Das Geräusch des Motors wurde lauter, also blieben ihm nur noch ein paar Minuten, um Anju auf den anderen Mann vorzubereiten. Er beugte sich in seinen Kofferraum, angelte nach einer Jacke, die hier schon seit Ewigkeiten drin lag, schloss diesen und auch die Türen. „Gibt es viele von diesen Autos hier?“ Anjus Stimme klang wieder so neutral wie Fionnlagh es kennen gelernt hatte, aber die Körpersprache des Hexers war noch immer angespannt. „Sind sie alle so laut?“ Fionnlagh dachte an die Großstädte mit ihren Blechlawinen, an Staus und Hupkonzerte, als ob es etwas ändern würde, nur weil man lautstark gegen das Stillstehen protestierte. „Ja, ich fürchte.“ Er öffnete die Jacke, hielt sie Anju hin. „Aber du wirst dich schnell daran gewöhnen. Hier, zieh das an. Es ist das einzige, was ich im Moment dabei habe.“ Anju streifte die Jacke über. Es sah ein wenig merkwürdig aus, nachdem Fionnlagh den Reisverschluss hochgezogen hatte, da sich gerade der Schulterschutz darunter abzeichnete, aber es würde für den Moment genügen müssen. Er zupfte an dem Kleidungsstück herum, ohne das es besser wurde. „Jeremy wird wissen wollen, wer du bist. Wir werden ihm sagen, dass ich dich beim Bies gefunden habe, in Ordnung? Wer du genau bist und wie du hier hergekommen bist lassen wir lieber weg.“ Anju nickte nachdenklich. „Um unauffällig zu bleiben.“ Fionnlagh konnte seinen Blick spüren, während er die Straße hinunterstarrte, und Jeremys näher kommenden Wagen im Blick behielt. „Du vertraust ihm nicht.“ „Ich vertraue ihm, dass er mir den Rücken freihält“, entgegnete Fionnlagh. Jeremy war ein guter und erfahrener Jäger, kompetent im Verfolgen seiner Beute, dem Lesen von Spuren. Vielleicht war er auch dazu zu gebrauchen, in eine Kneipe zu gehen und die Betrunkenen darin abzuziehen. Aber wirklich persönliche Belange? Fionnlaghs Seele, sein Herz? Nein, niemals. In seinem Leben hatte es nur eine Person gegeben, mit der er so offen gewesen war und diese Person war seit mehreren Jahren tot. Anju verengte ein wenig die Augen, so als würde er die Worte durchdringen müssen, doch er antwortete nicht. Stattdessen wand er sich zusammen mit Fionnlagh dem dunklen Chevy zu, der in diesem Moment bei ihnen parkte. Jeremy schob sich einen Moment später hinter dem Steuer hervor. Er war ein großer Mann mit schwarzen Vollbart und kleinen Augen. Das schulterlange Haar trug er in einem Zopf, im Mundwinkel steckte wie üblich eine Zigarette. Ihr Geruch stieß Anju auf, Fionnlagh sah, wie der Hexer kurz die Nase rümpfte und grinste innerlich. Es war schon erstaunlich, wie eine kleine Geste derart Missfallen ausdrückte. Jeremy schüttelte ihm zum Gruß die Hand, drückte kurz seine Schulter, aber der Blick des anderen Jägers lag auf Anju. Gott sei Dank, war dieser halb um den Jeep herum zurückgewichen, so dass dieser zwischen ihm und Jeremy stand. So würde der andere Jäger Anjus Augen nicht sehen. Ein kluger Schachzug, musste Fionnlagh neidlos anerkennen und eine rasend schnelle Adaption des Hexers in dieser Welt unauffällig zu sein. „So, wo hast du das Tierchen?“ Jeremys Stimme war dunkel und wenn Fionnlagh sie zu lange hörte, tat ihm seine Kehle weh, so rau und heiser klang sie. „Und wer ist das?“ „Anju“, erwiderte Fionnlagh und ersann in wenigen Sekunden eine Geschichte, die Jeremy ihm abkaufen würde. „Er ist ein LARP Spieler, der hier in den Wäldern trainiert hat, bis er und Oon zum Abendessen auserwählt wurden. Ich kam rechtzeitig, wie man sehen kann, aber nun scheut das Pferd.“ Wie auf Kommando schnaubte und wieherte Oon nervös von seinem Standort zwischen den ersten Bäumen aus. „Du weißt selbst, dass man nach so einer Begegnung nicht mehr normal leben kann, Jeremy.“ Fionnlagh senkte die Stimme und beugte sich näher zu dem anderen Jäger, um seine Geschichte besser zu verkaufen. „Weder Mensch noch Tier.“ Jeremys Blick wurde sanfter, genauso wie Fionnlagh es vorausgeahnt hatte. Opfer waren immer schwer zu ertragen und zu verarbeiten, Lebende oft noch schlimmer als Tote. „Gut, dann lass mich mal versuchen. Ich bekomm den Kleinen schon in den Anhänger. Oon heißt er, sagst du?“ Fionnlagh nickte, was Jeremy mit einem Brummen quittierte und dann zu dem Pferd hinüberging. Er sprach zärtlich mit ihm und wurde im Gegenzug nicht nur von Oon intensiv beobachtet. Eine viertel Stunde später war das Tier sicher verstaut. Sie würden Jeremy auf die Ranch begleiten und vielleicht würde Fionnlagh dort Timothy ein wenig Kleidung aus dem Kreuz leiern können. Jetzt galt es aber erst einmal Anju in seinen Jeep zu bekommen. „Fahren wir“, sagte er leise zu diesen und legte eine Hand in den Rücken, um ihn zu führen. Er öffnete ihm die Tür, schob die Hand dann automatisch auf den Kopf des Hexers, damit dieser sich nicht stieß, sah anschließend zu ihm hinein, deutete auf den Gurt. „Den hier musst du anlegen.“ Er zog ein wenig an der Schnalle, gab sie Anju in die Hand. „Das Teil kommt da rein.“ Er tippte auf das Gegenstück des Verschlusses, dann schloss er behutsam die Tür, umrundete er den Wagen und schob sich hinter das Lenkrad. „Alles gut?“ Anju nickte, aber er saß steif und kerzengerade auf dem Sitz und als Fionnlagh den Motor startete, ballten sich seine Fäuste. Fionnlagh konnte es ihm nicht verdenken, aber es gab auch nichts, wie er die Fahrt erleichtern konnte. Zum Glück waren sie auf einer sauber asphaltierten Straße. Schlaglöcher würden wahrscheinlich selbst für einen Hexermagen zu viel sein. Normalerweise hörte Fionnlagh Musik, um die Stille zu vertreiben, aber jetzt mit Anju war das nicht möglich. Anderseits war sein neuer Begleiter nicht gerade das, was man redselig nennen konnte. Und so war es wohl an ihm, ein Thema zu finden. Eines das Anju nicht an das erinnerte, was er verloren hatte, obwohl genau das die Themen waren, die Fionnlagh am meisten interessierten. Anju hatte von anderen Hexern gesprochen, sie Brüder genannt. Meinte er damit eine Art Waffenbruder? Oder teilten sie das gleiche Blut? War Hexer eine Art Titel, so wie er selbst ein Jäger war? Sie besaßen spezielle Tränke – hochtoxisch für normale Menschen, erinnerte sich Fionnlagh – was also machte sie für Anju verträglich? Welchen Ursprung hatten seine offensichtlich extremen Sinne? „Erzähl mir, was ein Hexer ist.“ Fionnlagh sah kurz zu Anju, dann wieder auf die Straße, aber aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, dass sich der andere Mann regte, die Finger der rechten Hand gegen das Fensterglas legte. „Hexer wurden von den Zauberern als Antwort auf die Monster erschaffen, die über unsere Welt hereinfielen. Wir sind professionelle Monsterjäger, nie gern gesehen und meist verachtet, aber notwendig. Kinder, die zum Hexer auserkoren sind, werden sehr früh von ihren Eltern getrennt oder sie sind Waisen. Sie werden in den Schulen der Hexer in Geist, Körper und Seele trainiert und gestählt und auf die Kräuterprobe vorbereitet. Sie macht aus einfachen Menschen Hexer, was nur wenige von ihnen überleben. Außerdem sind alle Hexer männlich, der weibliche Körper ist nicht für die Kräuterprobe geschaffen.“ „Und diese Kräuterprobe – sie verändert die Hexer?“ „Das ist korrekt. Hexer sind künstlich eine erschaffene Mutation, die es erlaubt, versteckte Potenziale des menschlichen Körpers offenzulegen. Hexer sind schnell und wendig und können lange Zeit ohne Nahrung auskommen. Unsere Sicht ist in der Nacht exzellent. Wir trainieren hart, auch nach der Kräuterprobe und schärfen so auch die anderen Sinne – Geruch, Hörvermögen, Tastsinn.“ Ein perfekter Jäger, ausgebildet für ein einziges Ziel. Es war unglaublich und gleichzeitig gab es erstaunliche Parallelen zu mancher Erzählung von Jägern, die seit Kindesbeinen darauf trainiert wurden, die Welt mit einem anderen, klareren Blick zu sehen. „Und der Name? Ihr wendet doch keine Magie an, oder?“ Fionnlagh wackelte mit seinen Fingern, um seine Worte zu unterstreichen, aber die Geste ging vollkommen an Anju vorbei, der schlicht den Kopf schüttelte. „Wir nutzen Magie nicht, wie es ein Zauberer macht, aber wir sind in der Lage einfach Magie zu wirken. Wir nennen das Hexer-Zeichen, eines davon ist Igni – Feuer. Ich werde es dir demonstrieren, wenn wir dieses Gefährt verlassen haben.“ Was wohl ganz klug war. Fionnlagh hatte den Wagen gerade erst gekauft und war nicht erpicht darauf, als verkohlte Leiche auf dem Fahrersitz zu enden. „Warum heißt ihr dann Hexer?“ „Es ist eine Bezeichnung der Zauberer für Menschen mit geringen magischen Fähigkeiten.“ Ein pragmatischer Begriff also, simpel und auf dem Punkt gebracht, damit man die Hexer von den Zauberern unterscheiden konnte. Fionnlaghs Mundwinkel hob sich in einem bitteren Lächeln. Klang für ihn ganz nach einem Herrn und seinem Schoßhund. Schweigen kehrte in den Wagen zurück, bis sie die Ranch von Timothy erreichten. Anju lehnte sich etwas in seinem Sitz vor, als sie langsamer wurden, studierte das flache Hauptgebäude, dann den Stall und die Pferde. Genau dort parkten sie auch und wurden bereits von Timothy erwartet. Jeremys Bruder sah ganz anders aus, das Haar war zwar ebenfalls dunkel, aber modern und frech geschnitten, die Augen hell und immer vergnügt. „Ein Pferd, Fionn?“, begrüßte er den Jäger, als dieser ausstieg. „Ehrlich, immer wenn ich denke, du kannst mich nicht mehr überraschen oder weißt schon gar nicht mehr, wer wir sind, dann kommt ein neuer Anruf von dir. Mit so einer Bitte.“ Er zog Fionnlagh in eine schnelle Umarmung, noch bevor dieser sich dagegen wehren konnte und versuchte es Gott sei Dank nicht bei Anju, der abermals den Jeep als Barriere zwischen sich und den anderen Menschen benutzte. „Ich tu', was ich kann, Timothy“, erwiderte Fionnlagh mit einem schiefen Grinsen. Jeremys Bruder schüttelte nur den Kopf, wies dann auf sein Haus. „Ich hab' euch das Gästezimmer vorbereitet und im Bad liegen Handtücher und frische Sachen. Wenn ihr Hunger habt, auf dem Herd steht Eintopf und frisches Brot. Ich kümmere mich um Oon. Jeremy sagte, dass er gesattelt ist, mit allem drum und dran. Ich nehm' ihm das Zeug ab und ihr könnt es euch später aus der Scheune holen, okay?“ „Alles klar, klingt ja nach einem Plan. Dann sehen wir uns später. Tim, Jeremy.“ Der Andere nickte, derweil Fionnlagh zum Hexer trat und diesen abermals mit einer Hand im Rücken führte. Das Gästezimmer befand sich im ersten Stockwerk am Ende des relativ langen Flures und war simpel eingerichtet: zwei Betten, eine Kommode und ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Die Wände waren schmucklos, das große Fenster geöffnet. Dem Raum fehlte der weibliche Einfluss, keine Frage, aber er war sauber und funktional. Eine zweite Tür führte zum angrenzenden Badezimmer. Anju betrachtete ausgiebig die Duschkabine, die Toilette, das Waschbecken. Letzteres schien ihm am vertrautesten zu sein, sicherlich, weil es Ähnlichkeit zu Waschschüsseln hatte. Fionnlagh drehte das Wasser auf, zeigte und erklärte Anju, welche Sachen er tragen konnte, wie er die Temperatur einstellte, wie man die Toilette benutzte und die Türen der Dusche öffnete und schloss. Es war einfacher als erwartet – vielleicht weil Anju nicht wie ein kleines Kind war, das die Funktionsweise von allem durchdringen wollte, dem es begegnete. Der Hexer akzeptierte und nahm hin und war im Begriff sich auszuziehen, als Fionnlagh noch neben ihm stand. Körperliche Scham war Anju augenscheinlich fremd, weswegen Fionnlagh sich hastig zurückzog und vor der geschlossenen Tür stehend den Kopf schüttelte, irgendwo zwischen besorgt und amüsiert. In Inneren des Raumes hörte er Anju unter die Dusche steigen, was hieß, dass er hier mehrere Minuten gestanden und Löcher in die Luft gestarrt hatte. Es war nur, falls Anju ihn gebraucht hätte, rechtfertigte er vor sich selbst. Nun riss er sich mit einem Ruck los und kehrte ins Gästezimmer zurück. Wenn Anju in zwanzig Minuten nicht zurück war, würde er nachsehen, ob er in der Dusche ertrunken war und inzwischen das generöse Angebot annehmen, die Küche zu plündern. Jeremy war noch bei Timothy, was Fionnlagh ganz recht war, so musste er sich mit niemandem auseinandersetzen, als er zwei Schüsseln Eintopf schöpfte und diese zusammen mit herrlich duftendem Brot und zwei Äpfeln, sowie Wasser auf ein Tablett stellte und nach oben brachte. Anju war wieder im Zimmer, als er zurückkam. Er trug bereits Hosen und war im Begriff sich das Sweatshirt überzuziehen. Quer über ein Schulterblatt verlief eine breite Narbe, am unteren Rücken gab es noch eine – die Spuren der Arbeit, die sie beide verrichteten. Fionnlagh räusperte sich, brachte das Tablett zum Tisch hinüber. „Hier, falls du hungrig bist.“ Er war es auf jeden Fall, weswegen er sich hinsetzte und damit begann den Eintopf in sich hineinzuschaufeln. Wenig später gesellte sich Anju zu ihm, griff nach dem Brot. Fionnlagh studierte ihn einem Moment lang, als er die beiden Wasserflaschen aufschraubte. So in normaler Kleidung ging Anju fast als ganz normal durch und es würde genügen. Einzig die Augen waren ein Problem, aber vielleicht wusste Ems, was sie da machen konnten. Sein Freund war in dieser Hinsicht unglaublich kreativ. Oh. Verdammte Scheiße. Er hatte Ems nicht angerufen, seit er aufgewacht war und jetzt ging die Sonne bereits unter. Das hieß, es waren fast 36 Stunden vergangen. Fionnlagh krümmte sich. Ems war sicher außer sich vor Sorge. Langsam ließ er das Brot sinken, erhob sich vom Tisch und angelte nach seinem Handy. Mit einer Hand wedelte er in Richtung des Essens, als Anju fragend den Blick hob. „Iss weiter, ich muss nur mal telefonieren.“ Er trat auf den Flur und von da ins Schlafzimmer von Timothy, dann wählte er die Nummer seines Freundes. Es dauerte nicht mal ein Freizeichen lang, dann hob dieser ab. „Fionnlagh! Hast du eine Vorstellung davon, wie sehr ich mich gesorgt habe? Du hast versprochen, dich zu melden, verdammt noch mal!“ Fionnlagh zuckte unter Emrys aufgebrachter Stimme zusammen. Wirklich, sein Freund war schlimmer als jede Glucke, der er je in seinem Leben begegnet war. „Wo bist du? Bist du verletzt? Hast du gefunden, was in den Wäldern gehaust hat? Mir gefällt es nicht, dass du immer solo bist. Du brauchst einen neuen Partner, aber nein, du wehrst dich ja dagegen, wie eine Zicke am Strick. Was, wenn du mich mal nicht zurückrufst? Weißt du, wie es ist, hier zu sitzen und sich zu wundern und zu sorgen? Verdammt, beim nächsten Mal komme ich mit, ganz gleich, was du davon hälst!“ Wurde Emrys nervös oder sorgte er sich, begann er wie ein Wasserfall zu reden. Es war dann klüger, ihn alles erzählen zu lassen, als zu versuchen ihn zu unterbrechen. Aufnahmefähig war er nämlich nicht, solange er in diesem Zustand war. Jetzt aber war es still, eine Pause, die Fionnlagh zeigte, dass nun er etwas sagen konnte. Und das war, zuallererst, eine Entschuldigung. „Ems, es tut mir leid. Wirklich. Ich weiß, ich hätte gleich anrufen sollen, aber, uh, hier hat sich etwas Überraschendes ergeben.“ „Was ist los?“ Emrys war besänftigt, konnte Fionnlagh hören, aber ob seiner Worte besorgt und ja, wenn man Fionnlaghs Vergangenheit so betrachtete, gab es dafür auch ausreichend Gründe. „Ersteinmal die gute Nachricht: Das Vieh ist tot und wird niemanden mehr Ärger machen. Jetzt die Überraschung: Ich habe, na ja, wie soll ich sagen … ich habe da jemanden gefunden. Anju heißt er.“ Auf der anderen Seite der Leitung sog Emrys scharf die Luft ein. „Ein Opfer?“, fragte er sanft und Fionnlagh schüttelte den Kopf, obwohl sein Freund das nicht sehen konnte. „Nein, nein. Weit davon entfernt. Er hat mir den Arsch gerettet. Das Ding is' nur, das er nicht aus unserer Welt stammt.“ Langes, schweres Schweigen folgte seinen Worten. Emrys glaubte ihm, daran bestand kein Zweifel, dennoch war es schwer zu schlucken. Fionnlagh ließ ihm die Zeit, die er brauchte, lauschte stumm dem leisem Atem. Nichts anderes war zu hören, bis Emrys schließlich leise fragte, ob Fionnlagh dachte, das Anju gefährlich sei. Ja, auf jeden Fall, dachte er, aber das sprach er nicht aus. Emrys meinte nicht die Art von Gefahr, die Fionnlagh in Anju sah, nämlich, was geschehen würde, wenn Anju ihm als Feind gegenüber stehen würde. Nein, sein Freund wollte wissen, ob eine Gefahr für die Menschheit bestand, weil Anju bei Vollmond mächtig an Beharrung zulegte, oder weil er Blut als seinen favorisierten Schlummertrunk einnahm. „Nein. Aber er ist speziell und sehr außergewöhnlich.“ Nun hob sich ein Mundwinkel Fionnlaghs. „Ich bin nicht sicher, ob ihr euch verstehen würdet.“ Was bei der sanften, pazifistischen Natur seines Freundes wirklich ein Statement war. Wieder ein Schweigen, aber nicht so lange wie zuvor. „Das wird sich zeigen. Ihr werdet zu mir kommen, und zwar sofort.“ 'Okay, doch keine Glucke', korrigierte Fionnlagh amüsiert in Gedanken. 'Es ist eher eine Mischung aus bockigen Kleinkind und einem Diktator.' Aber er wusste ganz genau, wann er sich zu fügen hatte und so summte er in einer Antwort. „In Ordnung. Wir fahren morgen früh los. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)