Land unserer Väter von Futuhiro (Magister Magicae 1) ================================================================================ Kapitel 9: Gast --------------- [Moskau, Russland] Die klassischen, russischen Kollektiv-Wohnungen. Wie hatte Waleri sie in Japan vermisst. Er zwang sich beim Umschauen zum Optimismus. In diesem einen einzigen, großen Zimmer standen vier Betten, ein Sofa, zwei Sessel, ein Esstisch mit sechs Stühlen und eine Anbauwand mit einem kleinen Fernseher. Und in die Ecke war noch ein Bücherregal gequetscht worden. Die Anbauwand und der Großteil des zweckentfremdeten Regals waren der einzige Stauraum für sämtliche Habseligkeiten hier. Schon für vier Personen war das nicht gerade viel Platz. Und hier würden sie künftig also zu fünft leben. Das versprach ja heiter zu werden. Von dem Gemeinschaftsbad ganz zu schweigen, das sie sich mit 5 weiteren Haushalten teilen mussten. Daran wollte Waleri jetzt noch gar nicht denken. Stattdessen spielte er schonmal insgeheim durch, wie man hier noch ein fünftes Bett reinkriegen könnte. Er wollte ja nicht die nächsten 8 Jahre auf dem Sofa schlafen. Vielleicht sollten die mal Doppelstock-Betten in Erwägung ziehen. Die waren unglaublich platzsparend. Naja, zumindest schien seine Wohnungs- und Arbeitssuche damit jetzt geklärt zu sein. Ab sofort wohnte er also hier und war 24-Stunden-Kindermädchen. Es gab Schlimmeres, hoffte er einfach mal. Als Mischka gewaschen und umgezogen wieder herein kam, stand Waleri gerade vor einem gerahmten Familienfoto, das über dem Sofa an der Wand hing. „Magst du was zu trinken haben, Waleri?“ 'Ein gut erzogener Junge', dachte der Hüne und stimmte lächelnd zu. Dann deutete er auf das Foto. „Deine Eltern?“ „Ja. Und meine kleine Schwester Inessa.“ „Sind deine Eltern auch Magier?“ „Nein. In meiner Familie gab es bisher keine.“ Das konnte ja lustig werden. Mit einem unzufriedenen Gefühl schaute sich Waleri weiter das Foto an, bis Mischka ihm ein Glas Limonade in die Hand drückte und sich, ebenfalls ein eigenes Getränk in der Hand, auf das Sofa plumpsen ließ. Waleri setzte sich zu ihm und nippte an dem ekelig süßen Gebräu. Mischka fuhr mit seinen dürren Spinnenfingern vorsichtig einige Linien auf Waleris Unterarm nach. „Das ist cool. Sowas will ich auch haben!“ „Dafür bist du noch entschieden zu jung.“ „Ist das aufgemalt?“ „Nein.“ Waleri grinste. „Die Farbe ist mit einer Nadel unter die Haut gestochen. Das geht auch nicht mehr ab.“ Mischka schaute ihn schockiert an. „Tut das weh?“ „Jaaa~“, urteilte er abwägend und legte den Kopf etwas schief. Das war schwer pauschal zu beantworten. Kam halt drauf an, wie empfindlich man war. Manche konnten Schmerzen besser ab als andere. „Bei sowas werden die Weich-Eier von den richtigen Männern getrennt.“ „Dann will ich das auch haben!“ „Wenn du groß bist, vielleicht. Und ohne die Erlaubnis deiner Eltern schonmal gar nicht.“ Der 12-Jährige nahm einen großen Schluck aus seinem Limo-Glas, sichtlich auf der Suche nach neuen Gesprächsthemen. „Was hast du denn bisher so gemacht?“ „Du meinst beruflich? Ich bin bisher Boxer gewesen.“ Mischka überdachte das skeptisch. „Ich hab dich doch aber noch gar nie im Fernsehen gesehen“, kommentierte er kindlich naiv und brachte Waleri zum Lachen. „Vermutlich nicht. Ich bin die letzten Jahre in Japan gewesen. Und es werden ja auch nicht alle Box-Kämpfe im Fernsehen übertragen. Nur die, bei denen es um große Titel geht, weißt du?“ „Warst du schonmal Weltmeister?“ Waleri lachte noch lauter. Der Junge gab ihm Spaß. „Nein“, gestand er dann amüsiert. „Dann musst du weiter trainieren!“ „Gerne. Wenn ich die Zeit dafür finde. Aber jetzt bin ich erstmal für dich da. Das ist wichtiger“, entschied er und wuschelte ihm die blonden Haare durch. „Was bist du denn eigentlich für ein Genius?“, bohrte Mischka neugierig weiter. Der Glatzkopf unterdrückte ein Seufzen. Seine Belustigung nahm wieder ab. So eine Labertasche war er sonst gar nicht. Er redete normalerweise nicht so viel. Auch wenn ihn das Interesse des Jungen freute, verging ihm langsam die Lust am Erzählen. Das war er gar nicht gewohnt, so viel quatschen zu müssen. „Ich bin ein Einhorn.“ Sein Schützling verzog angewidert das Gesicht. „Einhörner sind was für Mädchen!“ Waleri lachte schon wieder schallend auf. „Jetzt bin ich beleidigt!“, scherzte er. „Du hast eine falsche Vorstellung von mir. Ich bin doch kein weißes, glitzerndes Pony. Elasmotherium Sibiricum sind eigentlich Nashörner. Wir haben nur ein Horn, und das mitten auf der Stirn, deshalb werden wir im Volksmund Einhörner genannt. Aber wir sind total cool, das kannst du mir glauben.“ „Ehrlich?“, wollte Mischka zweifelnd wissen. „Ich bin in meiner wahren Gestalt 2 Meter groß und über 4 Meter lang. Und mein Horn ist nochmal fast 2 Meter lang. Damit ramme ich alles aus dem Weg. Und wenn ich laufe, bebt der Boden. Ich bin ein Panzer auf Beinen, Partner! Mit mir legt sich garantiert keiner freiwillig an!“ „Coooooool~ Kannst du mir das zeigen?“ „Ach, hier drinnen besser nicht“, meinte Waleri bedauernd und nahm erstmal einen Schluck Limonade. „In diesem Zimmer ist sowieso schon kein Platz. Irgendwann mal, wenn wir in den Park gehen, oder so.“ „Darf ich auf dir reiten?“ „Jetzt reicht´s aber! Ich sagte, ich bin kein Pony! ... Mh, naja, nagut. Vielleicht trage ich dich mal. Nur so zum Spaß.“ Die Tür wurde mit dem Fuß vorsichtig aufgeschoben und darin erschien eine Frau mit mehreren, schweren Einkaufstüten, welche der Grund dafür waren, daß sie zum Öffnen der Tür keine Hand mehr frei hatte. „Hi, Mischka. Du bist aber früh zu H-...“ Das grüßende Lächeln fiel ihr aus dem Gesicht, als sie Waleri sah. „Mischka ... w-was bringst du für Leute mit nach Hause?“, wollte sie irritiert wissen, ohne beurteilen zu können, was sie von dem riesigen, gefährlich aussehenden Schlägertypen auf ihrem Sofa halten sollte. Waleri stand höflicherweise vom Sofa auf und ging ihr entgegen. „Hallo, Sie sind wohl Mischkas Mutter. Wenn ich mich vorstellen darf ...“ Schnell warf sie ihre Einkäufe auf den Tisch. Dabei wirkte es eher, als hätte sie Angst, sich verteidigen zu müssen, und nicht als wolle sie ein Hand frei haben, um seinen Handschlag zu erwidern. „Ich bin Waleri. Ihr Sohn ist ein magisch Begabter und wie Sie sicher wissen, haben die immer einen Genius Intimus. Genau das bin ich und ...“ „MEIN Sohn ist KEIN Magier!“, schrie sie explosiv. Bei diesem Thema ging sie hoch wie ein Pulverfass. „Er hat nur eine blühende Fantasie! Er HAT KEINEN Schutzgeist! Er ist kein Freak!“ „Meine Fresse, kein Grund so ...“ „Und Sie scheren sich jetzt sofort aus meinem Haus raus!“, zeterte sie, ohne ihm zuzuhören, und begann hysterisch mit der Handtasche auf ihn einzudreschen. Sie traf Waleri dreimal an der Schulter, erreichte damit aber nur, daß er schallend lachte und theatralisch den Kopf mit den Armen schützte. Es war unübersehbar, daß sie ihm nicht wehtun konnte. Natürlich nicht. Als Boxer war er ganz andere Prügel gewohnt. Der kleine, weiß-braune Pinscher von Frau Beloussov kam zur offenstehenden Tür herein gesprintet, sprang an ihr hoch und verbiss sich knurrend in ihrem Jackensaum, als wolle er dazwischen gehen. Allerdings hing das arme Tierchen nur machtlos in der Luft und baumelte bei jeder Bewegung haltlos herum. Waleri griff irgendwann lachend nach der Handtasche, die schon ein gutes Dutzend Mal auf ihn herunter gedonnert war, und nahm ihr das Ding einfach weg. „Komm, lass gut sein“, bat er kichernd. Dem Hündchen waren inzwischen auch Frau Beloussov selbst und ein weiterer Mieter aus einem anderen Zimmer gefolgt, angelockt von dem Tumult. „Oksana, beruhige dich doch, um Himmels Willen!“, verlangte die Alte. „Mein Sohn ist kein Freak!“, schrie sie, inzwischen mit Tränen in den Augen. „Nein, ist er nicht! Er ist kein Freak, sondern ein Magier! Und du kannst seinen Genius Intimus nicht wieder rausschmeißen, egal ob dir das passt oder nicht! ... Pipp, aus!“, befahl Frau Beloussov ihrem Hündchen, das nach wie vor hinten am Jackensaum von Mischkas Mutter baumelte. Der kleine Pinscher tropfte auch gehorsam zu Boden und trabte zu seiner Besitzerin zurück. Waleri stand immer noch mit der Damen-Handtasche mitten im Zimmer und hielt sich den Bauch vor Lachen. Diese Familie war einfach zu witzig. Sowohl der kleine Naseweis als auch seine Mutter waren zum Brüllen komisch. „Sie werden nicht hier bleiben!“, stellte Oksana klar und zeigte dabei mit dem Zeigefinger drohend auf Waleris Nase. Der Muskelprotz versuchte seinen Lachanfall wieder in den Griff zu kriegen. Dieses Gespräch musste dringend etwas ernster ablaufen. „Doch, werde ich, so leid es mir tut. Ich bin ja selber etwas überrumpelt von der ganzen Sache, gebe ich zu. In meinem Alter noch einen Schützling zu kriegen, damit habe ich selber nicht gerechnet. Aber es ist nun einmal so. Wir müssen alle das Beste daraus machen.“ „Müssen wir nicht!“, blaffte Mischkas Mutter. „Ich weiß nicht, wer Sie sind, oder was Sie meinem Sohn für einen Unsinn eingeredet haben, damit er Sie in meine Wohnung rein lässt, aber Sie verschwinden jetzt auf der Stelle! Raus hier, oder ich rufe die Polizei!“ „Ich bin mit Mischka über ein silbernes Band verbunden. Ich bleibe! ... Die Alternative wird Ihnen nicht gefallen, Oksana.“ „Für Sie immer noch Frau Bogatyrjow!“ Die alte Frau bückte sich schwerfällig, um ihren Hund auf den Arm zu nehmen. „Ich verstehe wirklich nicht, warum du so überreagierst.“ „Wieso!?, heulte Mischkas Mutter daraufhin endgültig los. „Wieso muss mein Junge ausgerechnet eine Teufelsbrut sein? Das ist nicht natürlich! Kann man das nicht behandeln? Oder austreiben, oder sowas? ... Jetzt lockt uns seine dämonische Aura schon solche Gestalten hier ins Haus!“, jammerte sie mit Deut auf Waleri. Dieses schon seit Tagen im Raum stehende Thema, daß ihr Mischka eventuell ein Magi sein könnte, hatte ihre Nerven längst gründlich blank gelegt. Sicher hätte sie unter normalen Umständen weniger verletzende Worte gefunden, aber im Moment agierte sie einfach nur mit einer durchgebrannten Sicherung, nachdem sie gerade mehr und mehr einsehen musste, daß Leugnen zwecklos war. Waleri nickte überlegen. Er war schon ein wenig froh, seinen Schützling erst jetzt gefunden zu haben. Er hätte nicht gewusst, wie er sich in dieser Situation hätte durchsetzen sollen, wenn er selber erst ein Stöpsel von 12 Jahren gewesen wäre. Der Glatzkopf stellte die einkassierte Handtasche neben die Einkaufstüten und verschränkte selbstbewusst seine mächtigen Arme. Er verkniff sich das amüsierte Feixen, das ihm von der dilettantischen Tracht Prügel immer noch in den Mundwinkeln zuckte. Er wollte nicht überheblich wirken. „Ich soll gehen? Schön. Geben Sie mir den Jungen mit und ich werde gehen.“ „SIE SPINNEN WOHL!?“ „Ich sagte ja, die Alternative würde Ihnen nicht gefallen. Ihre Entscheidung, Oksana. Wenn Sie mir den Jungen nicht geben wollen, gehe ich nirgendwo hin.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)