Land unserer Väter von Futuhiro (Magister Magicae 1) ================================================================================ Kapitel 20: Gleichgesinnter --------------------------- [Moskau, Russland] Waleri saß im Park auf einer Bank. Es war nicht gerade gemütlich. Wegen der sinkenden Temperaturen trug er bereits eine dicke, gefütterte Jacke. Kein schönes Wetter, um draußen zu sitzen. Er blätterte gelangweilt in der Tageszeitung. Wenn sein Schützling Mischka Zeit mit seiner geliebten Jelena verbrachte – die beiden standen ein Stück weit entfernt in der Wiese – pflegte er gebührenden Abstand zu halten, um den beiden Turteltauben ihre Privatsphäre zu lassen. Er blieb nur so weit in der Nähe, dass er im Notfall noch rechtzeitig eingreifen konnte, falls irgendwas passierte. Das Ganze ging jetzt schon seit Monaten. Mischka machte mit diesem Mädchen wirklich ernst. Er war total verknallt in sie und sprach über nichts anderes mehr. Und von Jelenas Seite aus beruhte das offensichtlich auf Gegenseitigkeit. Waleri versuchte, sich für ihn zu freuen, und hoffte einfach, dass die extreme Flirterei bald abklang und sein Schützling wieder klar im Kopf wurde. Er faltete seine Zeitung wieder zusammen, als er spürte, wie Mischka zu ihm zurückkehrte. „Scheiße ... Waleri, ich bin sowas von am Arsch! Ich hab ein Problem!“ „Aha?“ Waleri musterte seinen Schützling zwischen interessiert und amüsiert. Er hatte schon über die mentale Verbindung gespürt, dass der am Rad drehte, bevor Jelena in eine andere Richtung davongestiefelt war. Mischka war kurz davor, zu heulen. Wahrscheinlich hatte seine geliebte Jelena ihm einen Korb gegeben. Waleri überlegte insgeheim schon, was er dem Jungen in diesem Fall wohl sagen sollte. „Lass mal hören, Großer.“ „Wie es aussieht, hab ich Jelena geschwängert.“ Waleri lachte herzlich auf und brauchte tatsächlich einen Moment, um sich wieder halbwegs zu fangen. „Respekt, du fängst ja früh an.“ „Gott, das ist das Ende! Sie will das Kind wahrscheinlich sogar behalten. Was soll ich jetzt bloß tun?“, wimmerte Mischka verzweifelt auf. „Wo ist denn das Problem dabei?“ „Wo das Problem ist? Meine Eltern werden mich umbringen! Und IHRE Eltern erst!“ „Ach was. Du liebst deine Jelena doch, oder?“ „Ja ...“, gab der Junge kleinlaut zu. „Siehst du? Also kein Problem. Hilf ihr dabei, sich um das Kind zu kümmern. Heirate sie, sobald du rein rechtlich alt genug dazu bist, und fertig. Warum sollte da jemand Terz machen, solange du zu dem Kind stehst und Interesse daran signalisierst?“ „Ich bin erst 15, Mann! Ich kann mich doch nicht um ein Kind kümmern!“, heulte Mischka wehleidig herum. „Ich bin doch selber noch ein Kind!“ „Ich helfe dir ja dabei.“ Mischka stutzte, wodurch ein Moment des Schweigens entstand. „Du!?“, machte er dann zynisch, durch die pure Komik schlagartig aus seinem Selbstmitleid herausgerissen. Der glatzköpfige Schläger sah gar nicht nach einem passablen Papa aus. „Hast du denn schon mal ein Kind großgezogen?“ „Nein, aber ich habe mir immer eins gewünscht. Irgendwann mal, wenn ich meine Boxer-Karriere hinter mir habe. Da hatte ich allerdings noch nicht mit dir gerechnet.“ Mischka zog eine Augenbraue hoch. „Das klang jetzt böse.“ „Ist aber die Wahrheit“, meinte Waleri schulterzuckend. „Ein Genius ahnt nichts davon, dass er mal einen Schützling haben wird, solange bis sich plötzlich aus heiterem Himmel die mentale Verbindung auftut. Und mit 31 Jahren hätte ich auch beim besten Willen nicht mehr damit gerechnet. Normalerweise finden Genii ihre Schützlinge, wenn sie selber noch Kinder sind.“ Mischka schmunzelte leicht und fast etwas beruhigt. „Du und Kinder. Ich hätte gar nicht gedacht, dass du der Typ dazu bist.“ „Ach, es gibt so vieles, was du niemals von mir denken würdest, Partner. Wie weit ist Jelena denn?“ „Offenbar schon im 4. Monat.“ Waleri nickte nur verstehend, wusste aber nicht mehr recht, was er dazu noch sagen sollte. Es musste wohl ziemlich bald nach dem Schulball passiert sein. Viel länger als 4 Monate waren Mischka und Jelena ja noch gar nicht zusammen. Nun, Abtreibungen wurden in Russland bis in den 7. Schwangerschaftsmonat hinein vorgenommen. Daran wäre es also im Notfall nicht gescheitert. Aber wenn Jelena das Kind behalten wollte, war das ihr gutes Recht. „Hast du eine Familie?“, hakte Mischka nach. Langsam beruhigte er sich wieder. Waleri schüttelte den Kopf. „Auch keine Eltern, oder so?“, wollte der Junge verwundert wissen. Er hatte Waleri in der Tat noch nie mit jemandem telefonieren oder e-mails schreiben sehen. „Ja, doch, das natürlich schon. Aber der Kontakt zu ihnen ist inzwischen sehr lose. Sagen wir, ich war nicht gerade das perfekte Kind, wie Eltern es sich wünschen würden. Auf die Schule habe ich gepfiffen und hab mich stattdessen nächtelang in den Straßen rumgetrieben, hab mit Hehler-Ware gedealt, mich geprügelt und mich Genussmitteln jeglicher Art gewidmet.“ Mischka konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. So in etwa hatte er seinen Schutzgeist auch eingeschätzt. „Aber einen Schulabschluss hast du schon, oder?“ „Gerade so. Aber frag nicht, was für Noten da draufstehen. Mit ´ner 0190 davor würden die eine super Sex-Hotline abgeben.“ „Du bist ein tolles Vorbild, ehrlich“, kicherte der Junge amüsiert. „Ich war bisher Berufs-Boxer, mehr muss keiner über mich wissen.“ Waleri raffte sich von der Parkbank auf. Die Zeitung ließ er einfach liegen. „Los, lass uns auf den Schreck einen trinken gehen.“ „Bin dabei. Aber ich nenne es lieber ‚feiern gehen‘.“ „Dann freust du dich also auf das Baby?“ Mischka überlegte kurz. „Irgendwie schon ein bisschen, wenn ich ehrlich bin. Ja.“ Kurz herrschte Ruhe. Dann entschlüpfte ihm wieder ein leiser Fluch. „Kannst du dir vorstellen, dass ich immer noch 15 bin, wenn das Kind geboren wird?“ „Tja ... Du wirst nicht immer 15 bleiben, keine Angst.“ Der Junge spazierte eine Weile nachdenklich schweigend neben seinem Genius Intimus her. Ihm brannte spontan etwas auf der Seele, das er vorher nie bedacht hatte, und das er erstmal irgendwie brauchbar in Worte fassen musste. „Waleri?“, rang er sich irgendwann doch durch. „Es tut mir leid, dass ich dich erst jetzt, nach 3 Jahren, nach deiner Familie frage. Genauso wie mit deinem Geburtstag neulich, den ich auch erst nach 3 Jahren so richtig für voll genommen habe. Du musst ja denken, du wärst mir völlig egal.“ Waleri brummte amüsiert. „Ich rede ohnehin nicht gern darüber. Wenn ich etwas für so wichtig halte, dass du es wissen solltest, sage ich es dir schon“, wiegelte er das Thema nur ab. Bisher war der Knirps wohl zu jung gewesen, um solche subtilen Sozialkompetenzen an den Tag zu legen, und war auch mehr als genug mit seiner eigenen Situation und seinen eigenen Eltern beschäftigt gewesen. Er war einfach nur froh gewesen, dass Waleri für ihn da war und auf ihn aufpasste, hatte seine Hilfe in allen Lebensbereichen gern in Anspruch genommen, hatte sich aber nie für dessen Vergangenheit oder Gefühle interessiert. Warum auch? Waleri war ja der Ältere und Stärkere von ihnen beiden. Ihre Rollen als Beschützer und Schutzbedürftiger waren klar verteilt. Waleri war derjenige, der sich für Mischka zu interessieren hatte, nicht umgekehrt. Mischka hatte den Genius in gewisser Weise als sein Eigentum angesehen, ähnlich einer Maschine, oder schlimmer noch, einem Statussymbol mit dem man angeben konnte. Und Waleri war niemand, der unaufgefordert aus dem Nähkästchen plauderte. Eine Stunde später saßen die beiden in der nächstbesten Kneipe und kippten sich ein Glas nach dem anderen hinter die Bühne. Waleri nahm mit Bier vorlieb, weil man davon nicht ganz so schnell betrunken wurde und er sich der Bodyguard-Verantwortung gegenüber seinem Schützling zumindest noch am Rande bewusst war. Der 15-Jährige hingegen becherte ungeniert puren Vodka. Waleri ließ ihn machen. Sie redeten nicht viel. Waleri selbst war ohnehin ganz dankbar dafür, wenn er mal nicht reden musste. Und Mischka war mit sich selbst und seiner wankelmütigen Zukunft beschäftigt. Waleri sah sich in der Bar um und nippte dabei an einer Zigarette. Es war nicht sonderlich hell hier drin. Das rustikale Massivholzmöbel war schmierig, die Luft verraucht, im Hintergrund leierte leise ein Radio. Hinter dem Tresen polierte der Wirt Gläser mit einem Tuch, das nicht wirklich zur Sauberkeit der Trinkgefäße beitrug. Um diese Zeit war nicht viel los. Sie waren fast die einzigen Gäste. Nur am Nachbartisch saßen noch drei Leute. Waleri fand sie interessant, weil bei ihnen einiges nicht zusammenpasste. Es handelte sich um zwei erwachsene Herrschaften in feinen Anzügen. Diese Klamotten passten so gar nicht in diese Spielunke, in der sie hier saßen. Einer der beiden hatte lange, dunkle Dreadlocks, die hinten zusammengebunden waren, was wiederrum auch nicht zu dem seriösen Anzug passte, den er trug. Die beiden noblen Herren waren außerdem klar nordeuropäisch, hatten aber ein südländisches Kind bei sich. Waleri konnte sich keinen Reim darauf machen, wie dieses Kind in die Gruppe passte, und wie sie alle drei zusammen hier in diese Kneipe passten. Wenn er die leisen Gespräche richtig einschätzte, sprachen die zwei Erwachsenen Englisch miteinander. Waleri musste die drei etwas zu intensiv gemustert haben, denn plötzlich wandte sich der Rotschopf zu ihm um. „Verzeihen Sie, darf ich Sie kurz stören?“, wollte er in schwerfälligem Akzent wissen, der sofort verriet, dass er kein russischer Muttersprachler war. „Was?“, machte Waleri verwirrt. Er hatte nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. Vor allen Dingen nicht auf Russisch. Noch dazu so freundlich, nachdem er die Truppe so unhöflich angestarrt hatte. „Wir sind gestern erst in Moskau angekommen und kennen uns hier nicht aus. Könnten Sie uns helfen, bitte?“, fuhr der Mann fort. Waleri nickte, immer noch gehörig irritiert. „Wobei denn?“ „Mein Name ist Ruppert“, erzählte der Fremde, schnappte sein Getränk, stand auf und kam einfach ungefragt mit an den Tisch von Waleri und Mischka herüber. Der Kerl mit den Dreads rollte verständnislos mit den Augen, setzte sich dann aber ebenfalls kommentarlos mit an Waleris Tisch um. „Wir sind aus England. Wir sind geschäftlich hier“, meinte Ruppert. Sein simples Russisch klang dabei arg, als hätte er es aus einem Lehrbuch auswendig gelernt, aber das kreidete Waleri ihm nicht an. Im Gegenteil war er recht begeistert davon, dass sich jemand extra die Mühe machte, ein wenig die Landessprache zu lernen, bevor er das betreffende Land bereiste. „Wir werden Wochen oder Monate hierbleiben. Kennen Sie ein Hotel, wo wir lange bleiben können? Unser Hotel hat nur 2 Wochen Platz.“ „Das findet sich“, glaubte Waleri und lächelte endlich. Langsam hatte er seine Irritation überwunden und gewöhnte sich an das Gespräch mit den Fremden. „Wir helfen euch gern, euch in Moskau zurecht zu finden.“ Er musterte den bunt gemischten Haufen nochmal aus der Nähe. „Seid ihr Genii?“ „Ich bin ein Magier. Die zwei sind Genii“, erklärte Ruppert offenherzig und deutete auf seine beiden Begleiter. „Das sind Edd und Urnue.“ „Ist der Junge bei euch in der Lehre?“, wollte Waleri interessiert wissen und nickte dabei vielsagend in Urnues Richtung, der immer noch am Nachbartisch saß und keine Anstalten machte, mit herüber zu kommen. Ruppert schüttelte den Kopf. „Die gehören beide mir.“ „Wie ... Du hast zwei Genii Intimi?“ „Nein, ich bin kein Genius Intimus“, gab Edd gelassen zurück. „Ich bin ein Angestellter, ein Personenschutz. Ich habe einen kündbaren Arbeitsvertrag und werde dafür bezahlt, seinen 'Babysitter' zu spielen.“ Sein Russisch war deutlich besser als das von Ruppert. „Ich habe den Platz seines echten Genius Intimus warmgehalten, solange der noch nicht da war, und unterstütze die beiden jetzt immer noch.“ „Ich kann mich ja schlecht auf einen 14-Jährigen verlassen“, erzählte Ruppert mit etwas abfälligem Seitenblick auf Urnue. Der Junge funkelte ihn nur mit versteinertem Gesicht an, sagte aber nichts dazu. Waleri entgingen nicht die unglaublich mystischen, hellen Augen unter dem wilden Pony des Jungen. Für einen Südländer waren diese hellen Augen untypisch. Ein klares Indiz dafür, dass er kein Mensch war, sondern tatsächlich ein Genius. „Der Kleine ist dein Genius Intimus?“, rückversicherte er sich erstaunt. Da Edd altersmäßig wesentlich besser zu Ruppert gepasst hätte, wäre er auf diese Idee nie im Leben gekommen. „Das ist interessant. Bei uns ist es genau andersrum.“ Waleri zeigte auf sich und Mischka. „Wir liegen vom Alter her auch arg auseinander, aber bei uns bin ich als Schutzgeist der Ältere.“ „Oh, ihr seid auch Magi und Genius Intimus?“, fragte Ruppert überrascht nach und nutzte heimlich sein hellseherisches Talent, um mehr über die beiden herauszufinden. Er wusste, dass es nicht gerade die feine Art war, das heimlich zu tun, aber er war einfach zu neugierig. Man begegnete so selten anderen Magiern. „Hm ... der Junge ist für sein Alter nicht besonders stark“, konnte er sich nicht verkneifen. Dann erschrak er über sich selber. Hatte er das jetzt wirklich gesagt? Er hatte es eigentlich anders formulieren wollen. Aber die Anwesenheit von Edd erlaubte es ihm mal wieder nicht, zu lügen. „Ja, meine Eltern verbieten mir, mein magisches Talent zu nutzen. Ich habe es nie trainiert oder zu kontrollieren gelernt“, stimmte Mischka zu. Er nahm den Kommentar recht gelassen. Dafür war er viel zu euphorisch, endlich mal einem anderen Magier zu begegnen. Das hier war der erste, der ihm je über den Weg lief. Er hatte noch nie mit jemandem gesprochen, der so war wie er. Ruppert nickte verstehend. „Du bist ein Bann-Magier, was?“ Das hatte seine hellseherische Fähigkeit ihm verraten. „Ich schlage etwas vor. Wir bleiben lange in Moskau. Ihr helft uns, hier alles zu regeln. Und Edd wird dir solange alles über Bann-Magie beibringen.“ „Au ja! Super!“, jubelte Mischka. Edd verkniff es sich, ein wütendes Gesicht zu ziehen. Ruppert konnte ihn doch nicht einfach verkaufen! Noch dazu, ohne ihn vorher zu fragen! Aber was sollte er jetzt noch sagen? Es war ja offensichtlich schon beschlossene Sache. „Was tut ihr denn hier in Moskau?“, wollte Waleri neugierig wissen. Ruppert erzählte ihm von den fünf Bruchstücken, die er zusammentragen sollte. Es war eine langwierige, mühsame Aufgabe, die sich jetzt schon über sieben Jahre hinzog. Für neue Hinweise hatte er Korrespondenzen mit Museen, Archiven, Geschichts-Gelehrten und Betreibern von Privatsammlungen rund um den Globus geführt, die meist lange auf eine Antwort warten ließen und auch oft genug in eine Sackgasse führten. Das Ganze konnte gut und gern zu einer Lebensaufgabe werden, wenn das so weiterging. Er hatte inzwischen drei der Bruchstücke gefunden. Das vierte musste laut seinen Recherchen irgendwo in Russland sein. Er hatte das Gebiet zumindest auf Moskau eingrenzen können. Darum war er jetzt hier, um vor Ort weiter danach zu suchen, was auch der Grund war, warum er sich vorher ein wenig Russisch angeeignet hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)