Land unserer Väter von Futuhiro (Magister Magicae 1) ================================================================================ Kapitel 23: Träumer ------------------- [Moskau, Russland] Er wusste nicht, wer sie waren. Nur, dass sie seinem Schutzgeist gerade mit quälender Langsamkeit ein langes Messer in den Torso schoben. Vorn durch die Bauchmuskeln und dann aufwärts Richtung Herz. Zentimeter für Zentimeter. Wahrscheinlich durch die Magenwände, durch das Zwerchfell, durch die Lunge. Zentimeter für Zentimeter. Langsam. Seitlich am Herzen vorbei, weshalb er nicht sofort tot war. Als die Klinge mit einem Knacken hinten durch die Rippen brach, brach der Genius in sich zusammen und landete lautlos auf dem Rücken. Sie zogen das Metall wieder aus seinem Körper und warfen es achtlos weg. Lachten. Liefen ungerührt weiter, als hätten sie nur eine Kastanie vom Boden aufgehoben, bevor sie ihren Weg fortsetzten. Die Machtlosigkeit riss ihn mit Gewalt zu Boden. Ruppert brach neben dem Genius in die Knie und blieb sitzen. Sein Genius lag vor ihm auf der Straße. Die Arme waren zu den Seiten ausgebreitet hingeworfen. Schon völlig kraftlos. Die Augen waren geschlossen. Der Atem ging flach und schwächer werdend. Sehr undramatisch. Ruppert hob wie in Trance den Dolch auf, der daneben lag und verglich die Klingenbreite mit der Stichwunde auf dem Bauch. Die Verletzung sah auf perverse Art harmlos aus. Unspektakulär. Und doch so tödlich. Unter dem Genius breitete sich eine gemächlich größer werdende Blutlache aus, die davon zeugte, dass auf seinem Rücken eine ähnlich ungefährlich aussehende Austrittswunde existierte, dort wo der in den Leib getriebene Dolch wieder herausgekommen war ... Ihm fiel die völlige Stille und Wortlosigkeit dieser Ereignisse auf. Nicht mal der Schutzgeist selber hatte einen Laut von sich gegeben, als er gepfählt worden war. Also schrie Ruppert für ihn. Ruppert fuhr brüllend aus dem Schlaf hoch. Er schnappte mehrmals nach Luft wie ein Erstickender. Dann übergab er sich auf den Boden. Ein paar Sekunden verharrte er in dieser Haltung. Keuchte. Wartete, ob er sich nochmal erbrechen musste. Wenigstens bekam er wieder Luft, trotz des Ekels. Schließlich wischte er sich mit dem Schlafanzugärmel über den Mund und sank zitternd in sein Kopfkissen zurück. „Gott, so schlimm war es ja schon ewig nicht mehr“, stöhnte er leise. Urnue und Edd saßen kerzengerade in den Nachbarbetten, von Rupperts Aufschrei gleichsam aus dem Schlaf gerissen. Selbst durch die Dunkelheit hindurch spürte Ruppert ihre erschrockenen Blicke auf sich und fand das ausgesprochen lästig. „Ist alles okay bei dir?“, fragte Urnue. „Nein, verdammt! Mache ich diesen Eindruck etwa!?“ Urnue verkniff sich eine böse Antwort. Er meinte es doch nur gut! „Was ist los?“, erkundigte er sich eine ganze Ecke nüchterner weiter. Wenn Ruppert schon wieder derart biestig sein konnte, konnte es ihm ja nicht so schlecht gehen. „Nur ein blöder Traum“, knurrte der Hellseher. Er haderte mich sich, ob er wirklich davon erzählen sollte. Aber die Bilder waren zu intensiv gewesen. Nicht grundlos hatte er gerade neben sein Bett gespeit. Entgegen seiner Natur musste er sich das irgendwie von der Seele reden. „Ein Genius wurde abgestochen“, begann er zögerlich, als müsse er sich erst ans Erzählen gewöhnen. „Er lag vor mir auf der Straße. Es war MEIN Genius Intimus. Also, nicht du, Urnue. Aber in diesem Traum war das dort mein Genius Intimus. ... Ich ... ich habe ihm wie unter Schock eine Hand auf den Bauch gelegt. Mitten auf die Stichwunde. Ich wollte etwas tun, aber mir fiel einfach nichts ein. Keine Magie, die ich beherrsche, konnte diesem Genius jetzt noch helfen. Ich hab ihn verloren!“ Ruppert machte eine kurze Pause. „Als ich einen Arm unter seinen Kopf geschoben habe, um ihn an mich zu drücken, da habe ich schon die Leichenblässe bemerkt. Sein schwacher Atem ist mit einem letzten Hauch endgültig erstorben ... Und da ... da hab ich ... ich war so machtlos! So hilflos! Ich habe geheult und geschrien. ... Gott, mir schwirrt immer noch der Kopf“, stöhnte er und drückte sich den Handballen gegen die Schläfe. „Wer war es?“, wollte Edd alarmiert wissen. „Ruppert, sag es mir! Wer ist der Genius gewesen!?“ Rupperts Wehmut schlug sofort wieder in Hass um. „Du weißt selber, wer es war!“, zischte der Hellseher ihn kratzbürstig an. „Waleri.“ „Ja.“ Schweigen sank über den Raum wie eine schwere, alles erstickende Decke. Ruppert kämpfte wortlos mit seiner Übelkeit und seinen Kopfschmerzen, während Edd einfach bloß versuchte, irgendeine Erklärung für das alles zu finden. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, wie Ruppert an diese Bilder gekommen war. „Das war Mischkas Traum“, formulierte Edd seinen Gedanken doch irgendwann aus. Das war das einzige, was er mit Sicherheit sagen konnte. Dass es Mischkas Traum gewesen war. Der Junge hatte ihm die unschönen Details ja heute in der Kneipe selbst erzählt. „Weiß ich.“ „Aber wie ...!?“ „Ein Nebeneffekt meines hellseherischen Talents“, knurrte der Magier. „Ich sauge die größten Ängste und finstersten Gedanken der Genii um mich herum auf wie ein Blutegel. Ich werde jede Nacht von ihnen heimgesucht. Diese fremden Alpträume, die mir nicht mal selber gehören, plagen mich schon seit meiner Kindheit, wann immer ich die Augen schließe.“ „Mein Gott, das muss furchtbar sein“, gestand Edd. Plötzlich hatte er ein nie gekanntes Mitleid mit Ruppert. Erstaunlich, dass er nie etwas davon mitbekommen hatte. Okay, in London, im Anwesen der Edeligs schliefen sie alle in getrennten Zimmern. Aber zumindest auf ihren Reisen während der Suche nach den Bruchstücken hatte sich Ruppert durchaus schon Hotelzimmer mit seinen Genii geteilt. Da waren seine Alpträume wohl nie so schlimm gewesen, dass er die anderen damit geweckt hätte. „Jetzt weißt du, warum ich Genii so hasse“, grummelte Ruppert matt, kämpfte sich aus der Bettdecke frei, schaltete das Nachtlicht an und suchte nach irgendwas, womit er den Boden aufwischen konnte. Seine erste Wahl fiel auf eine Rolle Klopapier aus dem angrenzenden Badezimmer. „Aber ... Mischka ist doch gar kein Genius“, merkte Edd irritiert an. „Nein. Dass ich mir die seelische Dunkelheit eines anderen Menschen einfange, ist auch verdammt selten. Für Genii bin ich wesentlich empfänglicher. Aber bei Menschen, die besessen genug von ihren eigenen Ängsten sind, kommt auch das mal vor.“ Ruhe folgte. Im Schlaf die Ängste anderer Personen, ob Mensch oder Genius, zu durchleben, war schon ziemlich mies. Viel grauenvoller fand Ruppert allerdings die Träume, in denen er ihre dunklen Wünsche auslebte. Meist waren es perfide Rache-Gedanken, durchsetzt von Schmerzen, Mord- und Folter-Fantasien, oder andere niedere Triebe. In diesen Träumen war er nicht das Opfer, sondern wurde in die Rolle des Täters gezwungen. Er war immer wieder fassungslos, zu welchen hässlichen Sachen Genii in ihren Wunschgedanken fähig waren. Und er kopierte dabei beileibe nicht nur ihre nächtlichen Träume, auf die sie keinen Einfluss hatten, sondern auch die gewollten, aktiv ausgemalten Tagträume. Diese Abgründe, selbst wenn sie rein gedanklicher Natur waren, waren der Grund, warum Ruppert Genii eigentlich hasste. „Los, sag schon was“, verlangte Ruppert schlecht gelaunt, während er mit einer Handvoll Toilettenpapier das Laminat schrubbte. „Was denn zum Beispiel?“ „Zum Beispiel, dass ich bestimmt gelernt hätte, diese Träume aus meinem Kopf auszusperren, wenn ich was Vernünftiges studiert hätte. Was Magisches, wie Hellseherei, und nicht sowas Blödes wie Bankwesen.“ „Das ist doch deine freie Entscheidung, Ruppert.“ „Ich weiß, wie sehr du es liebst, Recht zu behalten. Du hast ständig gesagt, ich soll auf einen Magister Magicae studieren.“ Edd fuhr sich müde mit dem Handrücken durch das Gesicht. „Findest du nicht, dass das eine unpassende Situation ist, um sich darüber zu streiten?“ „Das ist eine echt bescheuerte Angst, die Mischka da hat. Der Traum war total unrealistisch. Ein vernünftig im Training stehender Schutzgeist sollte ihn problemlos aus so einer Situation befreien können“, maulte Ruppert weiter. Einfach nur um zu reden und kein erneutes Schweigen aufkommen zu lassen, welches er als noch viel bedrohlicher empfand. Ihm steckte immer noch diese von Mischka projizierte, krankhafte Verzweiflung in den Knochen. Aber selbst der Versuch, sich selber einzureden, dass dieser Traum von vorn bis hinten haltloser, unbegründeter Quatsch war, half nicht. Und das machte ihn wahnsinnig. „Wenn er seinem Schutzgeist wirklich so wenig zutraut ...“ „Darum ging es nicht. Mischka hat keine Angst um sich selber. Er hat Angst um Waleri. Er will nicht, dass seinem Schutzgeist etwas zustößt. ... Eine Angst, die DU vermutlich nicht nachvollziehen kannst“, konnte Edd sich nicht verkneifen. Ruppert warf einen abwertenden Blick zu seinem eigenen Schutzgeist Urnue hinüber, der kaum halb so alt war wie er selber. „Oh, glaub mir, diese Sorge kenne ich nur zu gut. Ich sehe sie bloß aus einem anderen Blickwinkel.“ „Klar. Der Spruch musste jetzt kommen“, kommentierte Urnue. Er warf sich wieder in sein Kopfkissen und drehte Ruppert den Rücken zu. Beleidigt zog er sich die Bettdecke über die Ohren. „Ruppert, musste das jetzt sein?“, stöhnte Edd augenrollend dazwischen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)