Koi no mae wa ... von Harulein (Wie alles begann ...) ================================================================================ Kapitel 7: [Meto] Scham ----------------------- Ein, zwei Monate vergingen so. Ich traf Tsuzuku die eine Woche lang jeden Tag, die nächste Woche wieder seltener, und dann wieder öfter. Manchmal redeten wir viel, dann wieder weniger. Ich verheimlichte ihm immer noch, aus welcher Gegend ich kam, und ich wusste, dass auch Tsuzuku seine Geheimnisse vor mir hatte. Aber es war okay. Ich ahnte, dass es in seiner Vergangenheit Dinge gab, die schlimm waren und derer er sich offenbar auch sehr schämte, sodass ich ihn nicht nötigen wollte, mir davon zu erzählen. Ein einziges Mal in dieser Zeit fragte ich mich, ob Tsuzuku für mich auch irgendwo als Mann interessant war. Diese Frage stellt man(n) sich schon mal, wenn man schwul ist. Aber als ich probeweise an unsere Besuche im Badehaus dachte, wo ich ihn ja schon nackt gesehen hatte, fühlte ich keine sexuelle Regung, zumindest keine, die mich dazu motiviert hätte, diese Vorstellung zu vertiefen. Tsuzukus Körper sah so offensichtlich krank aus, dass ich statt Anziehung sehr viel mehr Sorge um ihn empfand. Es kam mir auch irgendwie einfach falsch vor, diesen verletzten, zerbrechlichen Körper mit sexuellem Begehren im Blick anzuschauen. Ein paar Tage nach dem ich über diese Dinge nachgedacht hatte, ging es mir eines Morgens auf einmal wieder nicht gut. Ich hatte Albträume gehabt, in denen Ängste wieder zum Vorschein gekommen waren, die ich, wenn ich Tsuzuku öfter traf, beinahe schon vergessen hatte: Meine sozialen Unsicherheiten. Meine Albträume waren immer ähnlich: Jemand outete mich vor einer großen Gruppe von Leuten als schwul und verlangte dann von mir, dass ich etwas dazu sagte. Augenblicklich versagte meine Sprache, ich fing an, furchtbar zu stottern, wurde knallrot, und dann kamen die Leute auf mich zu, lachten mich aus, bezeichneten mich als schmutzig und abnormal … und ich wachte auf. Ich lag kreuz und quer im Bett, nass geschwitzt und mit Tränensalz um die Augen. Mein Körper fühlte sich irgendwie seltsam an und ich spürte, dass ich zitterte. Die ganze Angst und Hoffnungslosigkeit, meine gesamte Einsamkeit war wieder da. Das, was mich beinahe dazu gebracht hätte, ein Hikikomori zu werden … Das, wovor die Begegnung mit Tsuzuku mich bewahrt hatte. Langsam richtete ich mich auf, machte Licht an, griff mir Ruana vom Nachttisch und schaute sie einfach eine Weile an. Sie blickte zurück mit ihrem einen schwarzen Teddyauge und dem lila Knopf, und wieder hatte ich das Gefühl, dass sie mich verstand … meine Ruana … „Geht’s dir nicht gut, Meto?“, fragte sie stumm. Ich schüttelte den Kopf und mir kamen wieder die Tränen. „Wie wär’s, wenn du nachher zu Tsuzuku gehst?“ „Ich weiß nicht …“, sagte ich leise. „Der will mich doch auch nicht …“ „Er hat doch gesagt, dass er kein Problem damit hat, dass du schwul bist.“ „Schon …“, sagte ich nur. „Na also.“ Ruana sah mich wieder mit diesem energischen Blick an. „Meto, mein Lieber, du hast jetzt einen besten Freund. Und was macht man mit besten Freunden?“ „Reden … ich weiß …“, sagte ich. „Aber Tsu hat selber genug Probleme … Da muss ich ihm doch nicht auch noch mein eigenes Leid draufladen …“ Trotzdem machte ich mich bei Sonnenaufgang auf den Weg in den Park. Einfach deshalb, weil ich wusste, dass ich mich nicht zu Hause vergraben durfte. Und tatsächlich war Tsuzuku schon wach, saß auf seinem Schlafplatz und hatte eine Packung trockener Instantnudeln neben sich liegen, die ihm wohl als ärmliches Frühstück diente. Als er mich bemerkte, sah er auf und sofort hellte sich sein Gesicht auf. Aber nur für einen Moment. Denn anscheinend war meine niedergeschlagene Stimmung mir anzusehen, denn er fragte: „Hey, wo hast du denn dein Sonnenscheinlächeln gelassen?“ „Weiß nicht …“, antwortete ich, ging auf ihn zu und setzte mich neben seine Schlafmatte. Tsuzuku sah mich aufmerksam an, rückte sogar ein wenig näher zu mir, dann fragte er: „Dir geht’s auch nicht immer gut, oder?“ Ich schüttelte nur den Kopf, wurde rot, wieder kamen mir Tränen. Ich schämte mich, dass ich weinte, gerade vor Tsuzuku, weil mir meine Probleme angesichts seiner Obdachlosigkeit und seiner schweren Depression und Essstörung so klein und unwichtig vorkamen. „Darf ich … dich umarmen?“, fragte er, ganz leise und vorsichtig. Ich nickte nur. Tsu kam näher, und dann legte er, ganz vorsichtig und sanft, seine Arme um mich, streichelte ein wenig über meinen Rücken und sprach: „Fühlt sich schön an, wenn ich mal selber jemanden trösten darf …“ Einen Moment blieben wir so, dann fragte er: „Magst du mir erzählen, was dich so traurig macht?“ „Zieht dich das dann nicht runter?“ „Glaub nicht. Weil, dein Problem ist ja wahrscheinlich ganz anders als meine, ich glaub nicht, dass mich das triggert…“ Tsu drückte mich noch mal sachte an sich, dann ließ er mich los. „Mh …“, machte ich, und dann erzählte ich ihm einfach, was in mir los war. Redete über meine Orientierung, meine Angst, meine Scham und den Sprachfehler, und auch, dass ich vorgehabt hatte, mich zu Hause komplett einzuigeln und gar nicht mehr raus zu gehen … Es ging so leicht, und ich wusste, auch wenn ich es immer noch nicht verstand, dass Tsuzuku irgendwas an sich hatte, was mir das Reden so leicht machte. „Danke, dass du mir das erzählt hast“, sagte er, als ich nichts mehr zu sagen wusste. „Und bei mir musst du da wirklich keine Angst haben, Meto. Mir ist’s gleich, ob jemand auf Frauen oder Männer steht oder sonst was. Und du bist so ein lieber Mensch. Und auch wenn ich manchmal nicht verstehen kann, warum du dich so um mich kümmerst und so, ich bin trotzdem froh, dass ich dich hab.“ Ich wagte, noch mit Tränen in den Augen, ein kleines Lächeln, und Tsuzuku erwiderte es und sagte: „Da ist ja dein Lächeln wieder.“ Und dann: „Du bist echt wie so ne kleine Sonne, Meto.“ Sein Kompliment ließ mich erröten. „Und wie du rot wirst … irgendwie find ich das süß.“ Wir saßen noch eine Weile einfach zusammen da, Tsu nahm sich ab und zu ein bisschen von den trockenen Instant-Ramen, und das brachte mich auf die Idee, ihn zu einem kleinen Frühstück einzuladen: „Möchtest du nicht vielleicht ein Brötchen oder so was essen?“, fragte ich ihn. „Ich weiß nicht … Hunger hab ich schon, aber …“ „Aber?“ „Ich … kann das manchmal nicht gut einschätzen mit dem Essen und so …“, sagte Tsu. „Was könnte passieren?“, fragte ich leise. „Dass ich es einfach nicht bei mir behalten kann … Entweder drückt es mich emotional so nieder, dass ich mir den Finger in den Hals stecke, oder mein Körper sagt von selbst ‚Nein‘ und ich kotz es so alles wieder aus. Manchmal geht’s auch gut, aber … ich weiß es eben vorher nicht.“ „Wäre dir heute danach, es zu versuchen?“ „Mhm …“ Und so machten wir uns wieder auf den Weg in die Innenstadt, wo wir in einer kleinen Bäckerei zwei belegte Brötchen und zwei Becher Kaffee bestellten. Wir setzten uns draußen hin, und während ich aß, sah ich Tsuzuku an, der sich nur langsam und zögernd an sein Brötchen heranwagte. Vorhin war es mir irgendwie kaum aufgefallen, aber er sah heute wieder müder und auch weniger gepflegt aus, hatte sein schwarzes Haar nur einfach mit einem dünnen Haargummi zusammen gebunden, und getrocknete Spuren vom Schlaf unter seinen Augen verrieten, dass er sich heute auch noch nicht wirklich gewaschen hatte. „Wollen wir gleich einmal ins Badehaus gehen?“, fragte ich. Er sah mich an, senkte dann den Blick. „Sieht man, dass ich wieder länger nicht dort war?“ Es war ihm sichtlich peinlich. „Ehrlich gesagt … ja. Traust du dich allein nicht so dort hin?“ Tsu zuckte nur mit den Schultern. „Weiß nicht …“ „Jetzt bin ich ja da. Wir können zusammen hin gehen, und dann bringen wir noch deine Sachen in die Wäscherei. Und Mittag essen können wir auch zusammen, wenn du magst.“ Wir frühstückten also zu Ende, und dann brachten wir Tsuzukus Sachen in die nächste Wäscherei, wo wir sie später nach dem Baden wieder abholen würden. Und als wir dann ins Badehaus gingen, fiel mir ein Angebot auf einem Schild dort auf: „Sauna und Massagen heute günstiger!“ „Hey, guck mal, wär das nicht was?“, fragte ich Tsu. „Was?“ „Massage und Sauna. Würde dir das gut tun?“ „Weiß nicht …“ „Wir können ja erst mal baden, und dann schauen wir, vielleicht ist das ganz schön …“ In den Duschräumen fiel mir dann auf, dass Tsuzuku sich in den letzten Tagen wieder öfter verletzt haben musste, er hatte Schnitte an Oberkörper und Beinen, die aussahen, als seien sie noch nicht abgeheilt. Aber ich sprach ihn nicht darauf an. Er schämte sich sicher schon genug dafür, und abhalten konnte ich ihn von diesem Verhalten sowieso nicht. Wir setzten uns erst einmal in den Whirlpool, in das warme, blubbernde Wasser, und blieben dort eine Weile. Tsuzuku löste das Haargummi und fuhr sich dann mit den nassen Händen durchs Haar, und ich dachte kurz, was für schöne Hände er hatte, groß und mit langen Fingern und schön geformten Nägeln. Meine eigenen Hände waren eher klein und meine Nägel sahen noch irgendwie kindlich aus. Wenn nicht das Tattoo bis auf meine Hand gereicht hätte, hätte man meine Hände auch für die eines Jungen von ungefähr vierzehn Jahren halten können, während Tsuzukus Hände wirklich aussahen wie die eines Mannes. Er bemerkte meinen Blick und fragte: „Was denkst du gerade, Meto?“ Ich errötete, wieder einmal. „Dass du … schöne Hände hast …“ „Findest du?“ „Ja … Ich hab so Kinderhände, aber deine sehen richtig erwachsen aus …“ Tsuzuku lächelte. „Danke.“ Und dann: „Du hast da nen Blick für, oder? Also, so als Mann, der Männer mag, das ist noch mal ein anderer Sinn für Schönheit, oder?“ „Kann sein … Na ja, ich finde Mädchen ja auch manchmal hübsch. Aber eben nie so … anziehend oder so. Ich weiß schon, seit ich klein war, wie ich da ticke …“ Tsu sah mich einen Moment lang nachdenklich an, dann sagte er leise: „Ich glaube … im Moment ticke ich, was das angeht, ungefähr gar nicht mehr. Ich hab schon lange solche Anziehung nicht mehr gespürt, bei niemandem. Weder Frauen, noch Männer, noch sonst was …“ „Gar nicht?“ „Nein. Ist schon seltsam, weil ich da früher mal eigentlich ziemlich aktiv war. Aber das ist alles weg. Vielleicht ist das so, ich meine … mit Depressionen und so, dass man da einfach nichts mehr fühlt …“ „Und … nur so alleine? Ich meine, na ja, du bist Anfang Zwanzig …“ „Masturbieren, meinst du? Ja, ab und zu. Aber ich hab dabei, so seltsam das auch klingt, keine Fantasien mehr. Alles weg.“ Ich sah Tsuzuku an, versuchte, in seinem Ausdruck zu lesen, und fragte ihn dann: „Fehlt es dir?“ Er schien kurz zu überlegen oder nachzufühlen, und antwortete dann: „Nein, irgendwie nicht. Ich meine, vielleicht ist es auch ganz gut, dass es so weg ist.“ „Weil du als jemand, der auf der Straße lebt, sowieso keine richtige Beziehung führen könntest?“ Er nickte. „Das auch. Aber vor allem … na ja … ich bin wahrscheinlich zu krank für so was. Wer will denn so was, Sex mit einem, der sich erbricht und ritzt und so … Ich wär doch nur ne Last.“ Die Art, wie er das sagte, gefiel mir nicht. Er hatte dabei so einen Ausdruck in den Augen, als ob er sich vor sich selbst ekelte. Wie konnte jemand, der so lieb zu mir war, mich vorhin, als ich traurig gewesen war, so süß getröstet und umarmt hatte, sich selbst so hassen? Was war passiert in seinem Leben, dass er sich selbst als eine Last und etwas „Ekliges“ sah? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wieder einmal hatte ein Gespräch zwischen uns Dinge berührt, die weh taten, ihm oder mir. Dass ich Tsuzuku trotzdem gern hatte, es war so schwer ihm das zu sagen, wenn er zeigte, dass er sich selbst hasste. „Ich glaub, das mit der Sauna und Massage lassen wir lieber“, sagte Tsu nach einer Weile. „Weil du … dich wieder verletzt hast?“, fragte ich vorsichtig. Er nickte. „Schämst du dich dafür?“ Wieder nickte er, und hatte auf einmal Tränen in den Augen. „Ich … verstehst du, ich will dann nicht … dass mich jemand berühren muss … Die meisten Menschen ekelt das ziemlich an, wenn jemand sich selbst verletzt …“ Ich stellte mir die Situation vor, wie eine Masseuse oder ein Masseur reagieren würde, wenn sie die Schnitte und Narben auf Tsuzukus Körper sahen, und ich konnte verstehen, dass er das nicht wollte, sich da sehr unwohl gefühlt hätte. „Und wenn ich das mache?“, fragte ich, einfach so, weil mit die Idee in den Sinn kam. „Wenn ich dir ein bisschen die Schultern und den Rücken massiere, würde dir das gut tun?“ Tsuzuku sah mich an, wirkte überrascht. Zuerst sagte er nichts, dann antwortete er: „Mh, vielleicht. Ein bisschen …“ „Du kannst jederzeit sagen, wenn es dir zu viel wird.“ Tsu nickte, dann drehte er sich um, und ich fing ganz langsam an, berührte seine Schultern und seinen Rücken, tastete mich vor, zuerst nur streichelnd, dann mit ein wenig mehr Druck, aber immer ganz vorsichtig. Ich fühlte die Knochen unter seiner Haut, seine Zerbrechlichkeit, verspannte Muskeln und auch Spuren des Straßenlebens. Er hatte an manchen Stellen sehr trockene Haut, und ich konnte mir vorstellen, dass regelmäßiges Eincremen bei ihm einfach nicht drin war. „Ist das gut so?“, fragte ich leise. Tsuzuku nickte. „Ja …“ Ich dachte daran, dass Tsuzuku der erste Mann war, den ich überhaupt so zu berühren wagte. Die meisten Jungen und Männer, die ich bisher gekannt hatte, waren immer auf Distanz zu mir geblieben, hatten Angst gehabt vor Berührungen mit mir, weil ich schwul war. Immer hatte dieses „Du bist ja schwul“ zwischen mir und den anderen gestanden, sie hatten Angst vor mir gehabt, dass ich sie begehren könnte … Tsuzuku dagegen schien das irgendwie egal zu sein. Das hatte er ja auch gleich gesagt, als er es herausgefunden hatte. Und sein Körper weckte kaum Begehren in mir, er war so dünn und verletzt, so dass ich ihn berühren konnte, ohne irgendwelche Lust zu verspüren. Und wie er vorhin erzählt hatte, dass er selbst generell kaum noch irgendwelche sexuellen Gefühle verspürte, das stimmte mich doch irgendwo … erleichtert? Er ließ die Berührung länger zu, als ich gedacht hatte, doch irgendwann sagte er dann doch, dass ich aufhören sollte. Ich nahm meine Hände von ihm weg, er wandte sich wieder um, und ich glaubte, in seinem Ausdruck doch ein klein wenig Entspannung erkennen zu können. „Danke, Meto“, sprach er leise. „Das hat gut getan …“ Wir blieben noch ein wenig im Wasser, dann standen wir auf, gingen uns wieder abtrocknen und anziehen, und verließen dann das Badehaus. Auf dem Weg zurück in den Park holten wir Tsu’s Sachen aus der Wäscherei ab, ich bezahlte, und als wir dann wieder im Park ankamen, hatte ich wieder Hunger. „Wollen wir was zum Mittag essen gehen?“, fragte ich. „Weiß nicht …“ „Hast du noch nicht wieder Hunger?“ „Hunger schon … Aber ich bin mir nicht sicher … ob ichs schaffe, was zu essen, ohne dass …“ Er brach ab und ich wusste, was er meinte. „Wäre es okay, wenn nur ich was esse? Also, dass du mir zusiehst?“, fragte ich, etwas unsicher, denn diese Essstörung, mit der ich mich so gar nicht auskannte, verunsicherte mich doch. Tsuzuku sah mich einen Moment lang abwägend an, dann sagte er: „Kannst du.“ Tsu blieb auf seinem Platz sitzen, während ich mir aus dem Café gegenüber dem Park eine Minipizza und ein Getränk holte, und als ich wieder kam, hatte er dann doch ein paar Cracker ausgepackt, die ihm als Mittagessen dienen sollten. Er trank dazu nur Wasser, wollte auch nichts von meiner Limo haben, sagte, dass sie ihm zu süß sei. „Aber nicht, dass du wieder unterzuckerst und mir noch mal umkippst“, sagte ich. Das war zwar jetzt schon ein bisschen her, dass er ohnmächtig geworden war, aber so was konnte ja immer passieren, wenn er einfach nichts Nahrhaftes aß und trank. Tsu zuckte nur mit den Schultern. Ich sah ihn an und tatsächlich sah er wieder ganz schön blass aus. Und auch gefühlsmäßig schien es ihm gerade wieder nicht so gut zu gehen, er blickte zu Boden und knabberte nur geistesabwesend an dem Reiscracker. Ich fragte mich wieder, was das wohl für Dinge waren, über die er nachdachte und die ihn so niedergeschlagen machten und dafür sorgten, dass er nicht essen konnte. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er sich ‚fett‘ fand und deshalb nicht essen wollte, sondern ich vermutete, dass es viel tiefer ging. „Tsuzuku?“, sprach ich ihn leise an, „Darf ich dich … was fragen?“ „Mh?“ „Musst auch nicht antworten, wenn es zu intim ist …“ „Frag schon.“ „Also … na ja, was ist das in dir, das macht, dass du nicht essen kannst?“ Ich spürte, wie ich errötete. Die Frage war so persönlich, dass es mir unangenehm war … Tsuzuku sah mich an, aber nicht direkt, er blickte quasi durch mich hindurch. Es dauerte eine Weile, bis er etwas sagte, doch dann antwortete er: „Mir geht’s nicht um Aussehen oder so. Also so dieses Sich-fett-finden und so, das ist es nicht. Oder zumindest nicht nur … Ich schäme mich eher, für meine Beine zum Beispiel, dass die so dünn sind … Nur … na ja, ich kann eben nicht essen, wenn es mir nicht gut geht. Und wenn doch, dann esse ich dann Dinge, die so fett sind, dass mein Magen es nicht verträgt und ich alles wieder loswerden muss. Ich weiß nicht, ob das normal ist bei Depressionen … aber so ist es nun mal, ich kann einfach nicht richtig essen.“ Ich wusste erst nicht, was ich sagen sollte. Diese Essstörung und auch das Sich-Verletzen, dieses ganze kranke, schmerzvolle Durcheinander, in dem Tsuzuku lebte, ließ mich immer noch oft genug sprachlos werden. Ängste und Traurigkeiten kannte ich zwar selbst auch, aber das, was Tsuzuku da mit sich herum schleppte, war noch mal eine ganz andere Hausnummer. „Das mit dem Essen, hast du das schon lange?“, fragte ich leise. „Nicht so in der Form … Aber … hm, ja, Essen ist schon immer das Erste, was wegfällt, wenn es mir nicht gut geht. Manche Leute essen bei Stress mehr, ich fange dann an zu Hungern oder zu Erbrechen. Früher, als es noch nicht so schlimm war, hatte ich dann nur keinen Appetit mehr, aber seit … es mir so geht … so schlecht und so … da ist das einfach extremer geworden …“ „Wird dir dann … einfach schlecht, oder … machst du absichtlich was, dass du … brechen musst?“ Ich kam mir ziemlich blöd vor, dass ich das so fragte, aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, mehr darüber verstehen zu wollen. Tsu zuckte mit den Schultern. „Mal so, mal so“, sagte er. „Am Anfang hab ich so Brechmittel genommen, später Finger im Hals, und jetzt kommts manchmal schon einfach so, von alleine. Manchmal … da ertrage ich schon das Gefühl, etwas im Magen zu haben, nicht mehr, selbst wenn es nur ein Keks oder bisschen Limo ist … Ich ziehe den Bauch ein und wenn das weh tut, dann … na ja, irgendwie mag ich das … dieses Gefühl … so leer zu sein, irgendwie …“ Ich sah ihn an und hatte auf einmal den starken Wunsch, diesen mageren, geschundenen Körper ganz fest zu umarmen. Der Gedanke ließ mich erröten, und Tsuzuku sah das. „Ist dir das peinlich, wenn ich so was erzähle?“, fragte er. „Nein, nein! Ich … ich dachte nur … ich würd dich gerade gern umarmen …“, sprach ich leise. „Warum das?“ „Weiß nicht … Darf ich?“ Tsuzuku nickte, bejahte, dann rückte er näher zu mir, und ich legte meine Arme um ihn. Schloss seinen schmalen Körper in eine zärtliche Umarmung und spürte ganz leicht seinen Herzschlag … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)