Zeitlose Augenblicke von Yuugii (Yami/Yuugi/Anzu) ================================================================================ Kapitel 1: Das schönste Lachen der Welt --------------------------------------- „Yuugi?“, entgegnete der Geist dem Jungen, der motiviert vor seinem großen Spiegel stand und sich seine Kleidung noch ein letztes Mal zurecht rückte. Er drehte seinen Kopf zur Seite, betrachtete das durchsichtige Gesicht des Geistes und lächelte, fragte ihn, was er wollte. Yuugi hatte erneut ein Date zwischen seinem anderen Ich und seiner besten Freundin Anzu veranlasst und immer wieder hatte der Geist, welcher ein Pharao aus alten Zeiten war, angedeutet, dass ihm bei dieser Sache mulmig zumute war. Ein Stück weit konnte Yuugi seinen Freund verstehen, jedoch musste er zugeben, dass er einen festen Entschluss gefasst hatte. Seine Freunde waren ihm wichtig und er tat alles, was in seiner Macht stand, damit sie alle glücklich sein konnten. Anzu war seine beste Freundin und dies seit dem Kindergarten. Anzu unterstützte ihn. Auch wenn die Brünette nicht viel mit seiner Passion für Spiele anfangen konnte und oftmals gereizt reagierte, dass dieser lieber über die neuesten Spiele und Karten auf dem Markt sprach, als Interesse an ihr und ihren Hobbys zu zeigen, war sie immer da und kam stets zu ihm zurück. Sie hatten nicht viel gemeinsam. Anzu wollte Tänzerin werden. Sie schwärmte für die kitschigen Fernsehsendungen und liebte es unter die Leute zu kommen. Wilde Partys und eine lange Nächte gehörten zu den Dingen, die sie besonders gern hatte. Neue Bekanntschaften zu schließen und mit anderen Menschen zu reden und ihre Sichtweisen kennenzulernen und zu verstehen, machte ihr großen Spaß. Sie war ein offener Mensch und hatte stets ein offenes Ohr für ihre Freunde. Auch wenn sie Yuugis Leidenschaft nicht teilte, unterstützte sie ihn dennoch. Allein dafür war er dankbar. Yuugi erinnerte sich an ihre Vergangenheit. Schon im Kindergarten war er lieber allein. Mit den anderen Kindern wurde er nicht richtig warm. Während die anderen Jungs und Mädchen im Sandkasten tollten oder Fangen spielten, stand er allein am Rand und sah ihnen zu. Er traute sich nicht, auf sie zuzugehen und mit ihnen zu spielen. Er fürchtete zu sehr, abgelehnt zu werden oder schlechte Erfahrungen zu machen. Also war er für sich allein und beschäftigte sich mit Spielen. Mit seinem Gameboy und dem neuesten Mario Spiel von Nintendo konnte er sich gut selbst beschäftigen. Eines Tages kam ein junges Mädchen neu dazu. Sie hatte einen stark ausgeprägten Charakter. Jeder mochte sie. Ihr Lachen war ansteckend. Sie hatte kein Problem damit, neue Freundschaften zu schließen und schon bald wurde sie zur Anführerin ihrer bunten Truppe. Auch beim gemeinsamen Üben von Hiragana und Katakana stach sie hervor und war nicht nur vorlaut und frech, sondern auch ziemlich intelligent. Die anderen Kinder sahen zu ihr hoch und sie war immer umringt von lachenden Gesichtern. Doch eines gefiel ihr nicht. Ein Junge saß immer allein und zeigte kein Interesse an den anderen. Also hatte sie ihn angesprochen und auch wenn es Yuugi erst ziemlich unangenehm war, dass sie ihn immer wieder ansprach, wurde er mit jedem Wort, das er mit ihr wechselte, immer offener. Als er ihr sagte, dass sein Vater selten nach Hause kam, weil er beruflich viel umherreiste, hatte sie aufgehört zu lächeln und wirkte ebenso bedrückt. „Bei mir ist es ähnlich“, meinte sie dann und verschränkte ihre Arme. „Immer Arbeit, Arbeit und noch mehr Arbeit. Ich sehe ihn fast gar nicht mehr.“ „Unsere Väter machen uns nur Ärger“, sagte Yuugi mit einem kleinen Lächeln. Sie beide lachten und lästerten über ihre fiesen Eltern, die lieber Zeit mit ihren erwachsenen Kollegen verbrachten, als sich zu Hause blicken zu lassen und für ihre Familie da zu sein. Da sie in dieser Hinsicht ähnliches durchmachten, fühlten sie sich etwas mehr verbunden. Geteiltes Leid war nun mal halbes Leid. Dann erzählte Yuugi ihr von dem Spielladen seines Großvaters und zeigte ihr seinen Gameboy. Stutzig betrachtete sie das kleine Gerät und hielt es in ihren Händen. Als er ihr erklärte, welche Tasten sie drücken musste, hörte sie aufmerksam zu und folgte seinen Anweisungen. Yuugi war so unheimlich froh, dass er endlich jemanden gefunden hatte, der seine Leidenschaft teilte und ihm zuhörte. Doch dann wurde sie wütend und warf das Teil zornig auf den Boden. Obwohl sie sich so sehr bemühte, konnte sie das Level nicht abschließen. Ohne Schwierigkeiten tat Yuugi das, was ihr so schwerfiel und als eine fröhliche Musik ertönte, die seinen Sieg verkündete, sank ihre Laune auf einmal noch mehr. Mit Leichtigkeit hatte er das geschafft, was ihr verwehrt blieb. „Ich bring dir morgen ein anderes Spiel mit, Anzu. Eines, das ganz einfach ist!“, sagte er lachend und sie nickte stumm, während sie immer noch ihre Backen aufgeblasen hatte und die beleidigte Leberwurst spielte. Dann riss sie ihm das Gerät aus der Hand, schaltete es ab und legte es zur Seite, fasste seine Hand und zog ihn zu den anderen Kindern. Yuugi war es äußerst unangenehm, dass sie ihn ohne zu fragen, zu den anderen Kindern brachte, mit denen er bisher kaum ein Wort gewechselt hatte. Trotzdem war er ihr irgendwie dankbar dafür. Ohne sie hätte er nie den Mut gefunden, mit den anderen zu sprechen. Sie zog ihn in ihre bunte, fröhliche Welt. Sie lachte so schön und verbreitete überall, wo sie hinging, gute Laune. Deshalb mochte Yuugi sie gern und er war froh, dass dieses tolle, mutige Mädchen auch auf ihn aufpasste. Wenn die anderen Kinder gemein zu Yuugi waren, weil er aus Nervosität stotterte und keinen ganzen Satz herausbrach, ging sie dazwischen und ermahnte die anderen. Sie war immer da und beschützte ihn. Ein bisschen wie eine große Schwester, die er nie gehabt hatte. Doch als sie dann in die Primärschule kamen, sahen sie sich seltener. Anzu lernte viele neue Menschen kennen. Als Mädchen blieb sie häufiger unter den Mädchen. Wie es in dem Alter so war, blieben die Jungs unter sich und plötzlich war es irgendwie peinlich, mit Mädchen abzuhängen. Dann wurden lustige Parolen gerufen und Lieder gesungen und alle zeigten mit dem Finger auf einen. Yuugi hielt sich zurück und betrachtete das brünette Mädchen, das sonst von sich aus zu ihm kam, aus der Ferne. Er hörte ihr Lachen, aber es galt nicht mehr ihm. Er war enttäuscht. Traurig darüber, dass er ausgetauscht wurde. Ja, er fühlte sich von ihr verraten. Im Gegensatz zu ihm hatte sie viele neue Freunde gefunden, doch er war immer noch allein und traute sich nicht, die anderen Jungs anzusprechen. Ihr Kontakt wurde schleichend weniger. Nachmittags wenn sie sich auf dem Heimweg befanden, wechselten sie ein paar Worte. Doch meist erzählte die Brünette dann nur von den anderen Mädchen. Sie fragte nicht nach ihm und er erzählte auch nichts mehr von sich, sondern hörte ihr immer nur aufmerksam zu. „Und dann hat sie gesagt, dass Miyamoto-sensei sie auf den Kieker habe“, sagte sie dann und fuchtelte mit den Händen umher. „Ist das nicht die Sportlehrerin der Mädchen?“, fragte Yuugi unsicher nach. „Genau! Außerdem hat sie mir unterstellt, ich würde mich bei ihr einschleimen und deshalb gute Noten kriegen. Aber ohne Fleiß, kein Preis! Nicht wahr?“ „Da hast du recht. Wenn man etwas wirklich will, muss man dafür etwas tun“, entgegnete Yuugi ihr und fragte sich, warum er selbst das, was ihm hier über die Lippen kam, nicht in die Tat umsetzen konnte. „Yuugi, hör mal... ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Die Jungs aus der 6c schubsen dich immer herum und du wehrst dich nicht einmal. Ich kann nicht immer zur Stelle sein, also musst du mal den Mund aufmachen und ihnen sagen, dass du das nicht willst.“ Plötzlich wechselte sie das Thema und legte ihren Kopf schief, versuchte dem Jungen, der zwei Köpfe kleiner war als sie, ins Gesicht zu sehen. Yuugi errötete. Anzu hatte also etwas mitbekommen. Mist. Jetzt musste er sich sicher anhören, dass er sich „männlicher“ verhalten musste und seine „Brust aufplustern“ sollte, weil das „echte Männer“ nun einmal so machten. Selbst sein Vater nahm seine Probleme nicht ernst. Yuugi hatte entschlossen, dass er diese fiesen Typen einfach ignorieren würde. Bald käme ja die Mittelschule und solange würde er ihre Hänseleien schon noch durchhalten. Dann würde es besser werden. Anzu legte eine Hand auf seine Schulter und blieb stehen. Ihr Weg trennte sich in nur wenigen Metern. „Halt durch und lass dich nicht von diesen Idioten veräppeln. Du bist so, wie du bist, toll. Ich kenne keinen Jungen, der so aufmerksam zuhören kann wie du“, sagte sie mit einem breiten Grinsen. „Ja, ich schaffe das schon irgendwie“, meinte er kleinlaut und wagte es immer noch nicht, sie anzusehen. „Wir sehen uns Morgen wieder!“, sagte sie freudig. Yuugi nahm seinen Mut zusammen. „Wollen wir heute Nachmittag nicht zusammen Hausaufgaben machen?“, fragte er dann und wurde puterrot. „Oh, ich muss heute zum Ballett. Morgen vielleicht“, waren ihre Worte und Yuugi lächelte. „Dann viel Spaß dabei“, meinte er nur, ließ sich die Enttäuschung nicht ansehen und sie gingen erneut getrennte Wege. Am nächsten Tag hatte sie wieder keine Zeit. Ihre Mutter brauchte ihre Hilfe beim Putzen und irgendwann hatte Yuugi auch nicht mehr gefragt. Aus Angst er würde wieder eine Absage bekommen. Während der Mittelschule war sie nicht mehr in Japan. Ihr Vater arbeitete in einer Firma, die von ihm verlangte, monatelang seine Heimat zu verlassen und so kam es, dass Anzu – das Mädchen mit dem schönen Lachen – aus seinem Leben verschwand und der Kontakt zwischen ihnen abbrach. Drei Jahre hatte er sie nicht mehr gesehen. Immer mehr hatte sich das Gefühl in ihm breit gemacht, wertlos zu sein und nicht in diese Gesellschaft zu passen, während er sich davon zu überzeugen versuchte, dass es vollkommen in Ordnung war, dass er allein war. „Ich spiele ja sowieso lieber allein“, sagte er sich dann und nickte sich zustimmend zu, wissend, dass er sich selbst belog. Selbst sein Großvater machte sich Sorgen und fragte täglich, wie es ihm in der Schule ergangen war und er antwortete immer mit denselben Worten: „Es war okay.“ Die liebe, schöne, lachende Anzu war nicht mehr hier. Er war vollkommen auf sich allein gestellt. Die Jungs lachten über ihn. Für einen Mittelschüler war er viel zu klein. Und er begann, die Schule zu hassen und sich immer mehr zurückzuziehen. Seine Klassenkameraden zeigten mit dem Finger auf ihn, tuschelten hinter seinem Rücken und egal, wie offen und ehrlich auf die anderen zuging, er fand einfach keinen Anschluss. Sie lachten über seine Körpergröße und nannten ihn den „laufenden Zwerg“ oder verglichen ihn mit einem Oni Dämon aus dem Buddhismus. Dann riefen sie ihm „Abura Sumashi kommt! Lauft weg!“ hinterher und lachend gingen sie ihm aus dem Weg. Die Verzweiflung und die Trauer darüber, nirgendwo hinzugehören, machte ihm sehr zu schaffen. Es war so dumm von ihm, zu glauben, dass Anzu immer da sein würde, um ihn zu beschützen. Außerdem war er ein Mann. Es war seine Aufgabe sie zu beschützen. Er musste stark, männlich und mutig sein. All diese Eigenschaften hatte er nicht. Viel zu oft redete er sich selbst runter. Er hatte kein Selbstwertgefühl und noch viel weniger Selbstvertrauen. Yuugi konnte nicht sagen, wann genau es passierte, aber irgendwann hatte er begonnen, sich selbst kleinzureden. Er sagte nichts, von dem er sich nicht sicher sein konnte, andere zu verärgern. Lieber er hielt sich zurück, als dass er in Kauf nahm, jemand anderes zu verletzen oder erneut Ziel von Schikanen zu werden. Er zog sich zurück und wurde zum stillen Beobachter. Doch war schon okay so. Das machte ihm nichts aus. Unsichtbar zu sein hatte durchaus seine Vorteile. In der Oberschule hatte er nur einen Wunsch: Einen Freund finden, der ihn nie verriet und den er selbst niemals verraten würde. Dass Anzu wortlos aus seinem Leben gegangen war und nicht mehr auf ihn zukam, hatte ihn verletzt. Einige Monate nachdem das neue Schuljahr begonnen hatte, wurde die Tür geöffnet und der Lehrer kündigte eine neue Mitschülerin an. Eine junge Frau mit kurzen brünetten Haaren kam hinein. Ihre blauen Augen strahlten Überzeugung aus. Ihr Lächeln richtete sich an alle und sie griff nach der Kreide und schrieb ihren Namen in gut lesbaren Schriftzeichen auf die Tafel, drehte sich grinsend um und sprach laut, ohne Angst, das aus, was sie zu sagen hatte. „Mein Name ist Mazaki Anzu, 15 Jahre alt! Seit einem Monat bin ich zurück in Japan. Mein Vater hat lange Zeit im Ausland gearbeitet, aber jetzt wurde er zurückversetzt und ich bin endlich zurück in meiner Heimat. Tut gut, wieder japanische Luft zu atmen!“, lachte sie und verneigte sich leicht. Ihr kurzes Haar fiel nach vorne. Yuugi erkannte sofort ihr Lachen. Sein Herz wurde schneller. Sie war zurück. Zurück in Japan und in seinem Leben. »Das ändert aber nichts daran, dass wir keine Freunde mehr sind«, dachte er und vermied es sie anzusehen und warf einen Blick aus dem Fenster, um Desinteresse vorzutäuschen. Trotzdem hatte er die Hoffnung, dass es wieder wie früher sein würde. Dass sie auf ihn zukam und ihn fragte, wie es ihm ging. Dass sie wissen wollte, wie es ihm ergangen war und was er am Nachmittag vorhatte. Das war albern und kindisch. Yuugi hasste sich selbst dafür, so viel von ihr zu verlangen und fragte sich, warum er nur diesen Hoffnungsschimmer in sich bewahrte, wo er doch genau wusste, dass das einfach nur eine kindische Träumerei war. Wie erwartet sprachen sie die ersten Monate kaum miteinander. Anzu war äußerst beliebt. Mit ihren großartigen Englischkenntnissen überzeugte sie die anderen Schüler und auch die Lehrer. Ihr Englisch war Akzentfrei. Jedes Wort kam flüssig über ihre Lippen und man hätte meinen können, dass diese Sprache ihre Muttersprache war. Sie schrieb sich in einen Tanzklub ein. Nach der Schule traf sie sich dann mit den anderen Klubmitgliedern und die Jungs pfiffen ihr regelmäßig hinterher. Anzu war so beliebt in ihrer Klasse – nein im ganzen Jahrgang sogar – dass sie zur Klassensprecherin gewählt wurde und auch bei dem Schülerrat dabei war. Sie war viel unterwegs und sprach mit jedem. Nur Yuugi hatte das Gefühl, dass sie kein Interesse an ihm hatte. Er verübelte es ihr auch nicht. »Ich bin ja auch total langweilig und niemand möchte von meinen Spielen hören. Ich will sie nicht belästigen. Besser ich warte darauf, dass sie auf mich zukommt«, sagte er sich dann und wiederholte diese Worte wie ein Mantra. Zwei andere Jungen in seiner Klasse machten sich regelmäßig über ihn lustig, nahmen seine Sachen und warfen sie umher. Honda und Jounouchi hatten keinen guten Ruf. Keiner mochte sie. Vor allem Jounouchi wurde von den anderen gemieden. Er war arm und nicht sonderlich klug. Sein blondes Haar identifizierte ihn als Raufbold und selbst die Lehrer schimpften über seinen wilden Stil. Doch er hörte nicht und irgendwann interessierte es keinen mehr, was er tat. Im Unterricht überforderten ihn die einfachsten Aufgaben und immer wieder stellte der Lehrer ihn bloß, sodass alle über ihn und seine Dummheit lachten. Yuugi aber lachte nicht über ihn. Er fand es unfair, wie die Klassengemeinschaft und auch die Lehrer ihn behandelten, doch er ging auch nicht dazwischen und blieb als stummer Beobachter in der hinteren Reihe. Yuugi war sich sicher, dass Jounouchi sich nur so schlecht benahm, weil er beachtet werden wollte. Er kämpfte um Aufmerksamkeit. Und doch war er frustriert, weil die anderen in ihrer Klasse über ihn lachten. Irgendwie konnte Yuugi weder Honda noch Jounouchi böse sein. Genau genommen waren sie alle Außenseiter, die nicht wirklich in die Klasse passten. Yuugi hatte das Gefühl, dass er sich gut mit den beiden verstehen würde, wenn sie sich aufeinander einließen. Aber auch das war auch nur ein naiver Wunschtraum. Und dann ärgerte er sich wieder über sich selbst, weil er so dachte und gerne mit den anderen befreundet gewesen wäre und er genau wusste, dass er sich selbst dabei im Weg stand. Yuugi war introvertiert, unsicher und schüchtern. Und er war kleiner als die anderen. Mit seinen 1,53m waren selbst die Mädchen größer als er. Kein Wunder, dass ihn keiner ernst nahm. Yuugi war unsichtbar in seiner Klasse. „Hey, Yuugi! Willst du beim Basketball mitmachen?!“, fragte einer der Jungen, als der Gong zur Pause klingelte. Yuugi hob den Blick und betrachtete den Jungen unsicher. Meinte er wirklich ihn? Dumme Frage eigentlich, es gab ja nur einen Yuugi in der Klasse. Er schüttelte leicht den Kopf. „Ach nein, mein Team verliert doch eh“, sagte er und senkte erneut den Blick. Nicht nur das. Bei der Teamaufstellung würde er nur wieder als letztes gewählt werden und dann würden sich die beiden Kapitäne der Mannschaften darum streiten, wer denn nun Yuugi nehmen müsste. Sein Angebot war nett gemeint und Yuugi fand es ja auch schön, dass man ihn in diese Klassenaktivitäten miteinbeziehen wollte, doch er wusste auch, dass sie ihn nicht wirklich dabei haben wollten, sondern ihn nur aus Höflichkeit fragten. Vermutlich hatte die Klassensprecherin darum gebeten, dass man auch die Außenseiter der Klasse – also Yuugi, Jounouchi und Honda – mehr in diese Aktivitäten miteinbezog und sie nicht ausschloss. Anzu war nett und zuvorkommend und strebte ein harmonisches Miteinander an. Wahrscheinlich hatte er auch nur wegen ihr gefragt. Der Junge verließ den Raum, so auch alle anderen. Niemand blieb zurück und so war Yuugi wieder allein. Er zog seinen kostbarsten Schatz aus seiner Tasche. Ein goldenes Kästchen mit goldenen Puzzleteilen. Sein Großvater hatte es ihm zum achten Geburtstag übergeben und hatte ihm gesagt, dass er es niemals fertigstellen könnte, weil es verflucht wäre. Das hatte Yuugis Ehrgeiz geweckt. Immerhin bemühte er sich acht Jahre um dieses verfluchte Ding, von dem er fest überzeugt war, dass es ihm einen Wunsch erfüllen würde. Wie sein Puzzle wohl aussehen würde, wenn es fertig war? Vorsichtig öffnete er die Schatulle, doch plötzlich wurde es ihm aus der Hand gerissen. Honda und Jounouchi, die nicht beim Basketball mitspielten, waren zurückgekommen und hatten sich dazu entschieden, die Zeit auf andere Weise totzuschlagen. Verzweifelt versuchte Yuugi seinen Schatz zurück zu bekommen, doch die beiden Jungs gackerten nur und amüsierten sich köstlich. Honda brauchte die Schatulle nur hoch in die Luft zu halten, um ihn daran zu hindern, es zurückzuerobern. Yuugi war so klein, dass er einfach nicht drankam. „Yuugi, du bist wie ein Mädchen!“, lachte Jounouchi und Honda warf ihm das Kästchen zu. Locker hielt er es in der Hand, warf es hoch und runter. „Schwuchteln wie du kotzen mich an! Hör gut zu, ich zeig dir, wie man ein Mann wird!“, sagte er dann und kam auf den Kleineren zu. Yuugi empfand ihn ziemlich einschüchternd und wusste nicht, was er tun sollte. Dass man ihn beleidigte, war ihm ziemlich egal, immerhin wurde er seit der Mittelschule ausgegrenzt und ausgelacht. „Du willst die Kiste doch wiederhaben, oder? Dann komm her!“, rief er auf und schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust, forderte Yuugi zum Kampf heraus, während er die Schatulle hoch in der Luft hielt. „Ich hasse Streit und Gewalt!“, kam es dann ungehalten von Yuugi und er verfluchte seine eigene Schwäche. Zurückhaltend hob er eine Hand und bat darum, dass Jounouchi ihm seine Kiste zurückgab. Honda lehnte sich zu ihm und machte ihm klar, dass er auf diese Weise nichts erreichen würde. Neugierig öffnete Jounouchi die Kiste, um zu sehen, was sich in ihr befand. Er drehte sich von den beiden weg, dann nahm er die Kiste und warf sie Honda entgegen, betitelte sie als „öde“. Doch ehe Honda das goldene Kästchen fangen konnte, ging eine weitere Person dazwischen. „Wenn dich das anödet, gib es ihm wieder!“, kam ihre fordernde und mahnende Stimme, die den Raum erfüllte. Sofort wurden die beiden Jungs ruhiger und riefen dann erschrocken ihren Namen aus. „Mazaki!“, sagten sie synchron und sprinteten aus dem Raum. Sie war beliebt. Stark. Mutig. Keiner legte sich mit ihr an. Sich mit ihr anzulegen, bedeutete automatisch, sich gegen die gesamte Klasse zu stellen und weder Jounouchi noch Honda hatten vor, Teil einer Massenprügelei zu werden. Anzu stöhnte genervt, fluchte dann über die beiden und warf noch einen letzten Blick über die Schulter, um ihnen klarzumachen, dass sie bloß abhauen und nicht wiederkommen sollten. Yuugis Herz hüpfte. Mit großen Augen starrte er seine Retterin an. Diese drehte sich zu ihm um und ihre bis eben erzürnte Mimik veränderte sich. Sie war wieder ruhig und nett. Sie zeigte Interesse an ihm und blieb bei Yuugi, fragte ihn nach seinem kostbaren Schatz und was sich in dieser Kiste befand. Yuugi erklärte, dass das Puzzle einen Wunsch erfüllen würde, doch er weigerte sich, ihr zu erzählen, was er sich mehr als alles andere wünschte. Es war das erste Mal seit Langem, dass sie wieder für ihn da war. Als er meinte, dass das Puzzle ein Erbstück wäre, hielt sie inne. Sie schien erschrocken. Als hätte sie ein Pfeil mitten ins Herz getroffen. Für einen Moment glaubte Yuugi so etwas wie Schuld in ihren Augen zu sehen. Sie ermutigte ihn dazu, an seinen Wunsch festzuhalten und weiter seinen Weg zu gehen. Es tat ihm unheimlich gut, nach so langer Zeit mit jemanden reden zu können und plötzlich nahm er es ihr gar nicht mehr übel, dass sie so lange weg war. All die Jahre waren nichts gewesen. Sie war immer noch so nett und zuvorkommend. Ihr Lachen war immer noch so warm und schön. Ab diesem Zeitpunkt verbrachten sie wieder mehr Zeit miteinander und auch Honda und Jounouchi wurden seine Freunde. Zwischendurch, so musste er sich selbst eingestehen, hatte er selbst für sie geschwärmt. Immerhin kannte er nicht viele Frauen und keine war ihm so vertraut wie Anzu. Sie war immer da gewesen und schien die einzige zu sein, die Interesse an ihm hatte. Sie war ein bisschen wie die große Schwester, die er nie hatte. Er sah zu ihr hoch, weil sie all das war, was er gerne sein wollte. Doch Anzu hatte ziemlich deutlich gezeigt, dass sie nur freundschaftliche Gefühle für ihn hegte. Für sie war es keine Liebe und weil Yuugi das so deutlich spürte, wollte er sie nicht mit seinen Gefühlen belasten. Außerdem wusste er, dass sie einen starken Mann brauchte. Jemand, der sie beschützte und weil Yuugi sich dieser Aufgabe nicht gewachsen sah, hatte er das akzeptiert. Oder es lag an seinem Minderwertigkeitskomplex und seiner Macke sich stets selbst runterzureden. Selbst sein Anderes Ich wusste nicht alles von ihm und so verschwieg er ihm, wie oft er sich wünschte, genauso sein zu können wie er. Anzus Worte und ihr Verhalten gegenüber seinem Anderen Ich – dem Pharao ohne Namen, den jeder einfach nur „Yuugi“ nannte – waren mehr als nur deutlich zu verstehen. Selbst Yuugi hatte erkannt, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Auch wenn es ihn anfangs verletzt hatte, dass sie lieber mit ihm Zeit verbrachte als mit dem echten Yuugi, schätzte er sie so sehr, dass er ihr Lachen bewahren wollte. Sie hatte so viel für ihn getan und hatte ihn immer unterstützt. Jetzt war er an der Reihe, zu beweisen, wie sehr er sie schätzte und wenn er ihr damit helfen konnte, indem er ihr die Möglichkeit gab, sein Anderes Ich zu treffen, dann wäre er der letzte, der dem im Wege stand. Dass Anzu ihn mochte, war immerhin für jeden ersichtlich. Die sonst so vorlaute und mutige Anzu wurde auf einmal kleinlaut und zeigte mit ihrer Körpersprache Unsicherheit. Plötzlich verplapperte sie sich und wandte verlegen den Kopf weg, traute sich nicht, ihm direkt in die Augen zu sehen. Yuugi hatte ihr Verhalten durchschaut. Immerhin hatte er sie eine Zeit lang genauso angesehen. Sein Anderes Ich schien jedoch nichts zu merken. Vielleicht bemerkte er es ja doch und wollte es nur nicht wahrhaben und distanzierte sich absichtlich? Mehrmals hatte er sich schweigend zurückgezogen und blockte dann auch Yuugi ab. Manchmal hatte sein Anderes Ich Momente, wo er einfach nur allein sein wollte und niedergeschlagen war. Dann war er so sehr mit sich selbst und seinen Gedanken beschäftigt, dass er niemanden bei sich haben wollte. Seit dem Battle City Turnier hat er sich verändert, dachte er und wunderte sich, warum der sonst so stolze und unnahbare Pharao so viel von seinen wahren Gefühlen durchsickern ließ. Er zeigte ungern, was er wirklich fühlte, denn dafür war er zu stolz. Er wollte nicht, dass irgendjemand seine Schwächen oder gar Zweifel sah. Doch im Moment war er neben der Spur. Abgelenkt von seinen eigenen Gedanken und er schaffte es nicht, sich auf etwas zu konzentrieren. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich und dann zog er sich wortlos in seinen Seelenraum zurück und schloss die Tür. Dann wollte er wirklich niemanden sehen. Nicht einmal Yuugi. Auch wenn sie sich einen Körper teilten, wollte Yuugi ihn nicht bedrängen. Er verstand, dass er eine Auszeit brauchte und dass er ein Recht darauf hatte, sich ungestört zurückzuziehen. Immer wieder schloss sein Anderes Ich ihn aus und lächelte immer weniger. Er war betrübt. Niedergeschmettert. Die Erkenntnis, dass all das, was er hier erlebte, nicht für immer war, schmerzte ihn sehr und belastete ihn. Yuugi ging es ähnlich. Die Vorstellung, ihn zu verlieren, bereitete ihm Angst. Er konnte sich ein Leben ohne diesem Mann nicht mehr vorstellen. Er war mutig, stets gefasst und sagte immer das, was er wirklich dachte. Er nahm kein Blatt vor den Mund und trotzte selbst jemanden wie Kaiba und bot ihm die Stirn. Dafür bewunderte Yuugi ihn sehr. Umso wichtiger war es ihm, dass er sich nicht noch mehr zurückzog. Anzu hat es schon einmal geschafft, ihn wieder aufzuheitern. Ihr Lachen ist ansteckend und ich bin mir sicher, dass es ihm wieder besser geht, wenn er mehr Zeit mit ihr verbringt, dachte er und warf einen weiteren prüfenden Blick auf seine Accessoires und die schwarze Hose. Der Pharao schien wenig begeistert zu sein. Auch heute war einer dieser Tage, wo er mit niemanden reden wollte und sich einfach nur zurückziehen wollte. Doch Yuugi wollte das nicht zulassen. Sein Anderes Ich war zwar immer stark, doch auch er hatte gewisse Schwächen, die er niemanden zeigen wollte. Krampfhaft bemühte er sich darum, das Bild des mutigen Kriegers zu bewahren und selbst seine eigenen Freunde und vor allem Yuugi täuschte er. Nun, Yuugi hatte es erkannt und spürte, dass vieles mehr Schein als Sein war. „Ich weiß nicht, ob das in Ordnung ist, Aibou. Am Ende wird es sie nur noch mehr verletzen, wenn ich euch verlassen muss“, seufzte er und setzte sich, trotz fehlender körperlicher Substanz, auf das Bett. Trüb blickte er zu Boden und schaffte es nicht, seinen Partner anzusehen. Yuugi erkannt sofort, dass ihn diese Sache sehr beschäftigte. Aber Anzu liebte ihn. Sie hatte es niemals laut ausgesprochen, aber er kannte sie einfach zu gut und zu lange, um die Zeichen nicht zu verstehen. Anzu war vermutlich die einzige, die sein trauerndes Herz aufmuntern konnte. Vielleicht gerade weil sie ihn so sehr mochte und sich intensiver mit ihm befasst hatte, als jeder andere. Außerdem wusste er selbst wie schön und ansteckend ihr Lachen war. Endlich ließ er vom Spiegel ab und näherte sich dem Pharao, legte ermutigend eine Hand auf seine Schulter. „So kenne ich dich gar nicht!“, grinste er und setzte weiter an. „Du bist doch sonst so selbstbewusst, oder nicht? Anzu ist ein großartiger Mensch und ich lasse nicht zu, dass du sie verletzt. Sie mag dich und das weißt du. Ich bin mir sicher, dass es dir guttun wird, mit ihr zu reden und einfach mal alles zu vergessen. Wir können nicht immer aufeinander hocken und müssen auch mal mit anderen Leuten reden.“ „Gerade weil ich das weiß, bin ich mir nicht sicher, ob das hier richtig ist!“ Seine Stimme zitterte leicht. „Du solltest einmal vergessen, was später sein wird und den Moment genießen.“ „Wie könnte ich das verdrängen, Yuugi? Du verlangst zu viel von mir.“ „Das einzige, was ich von dir verlange, ist, glücklich zu sein. Wir wissen nicht, wann du uns verlassen musst und genau deshalb müssen wir die Zeit vollkommen ausnutzen. Anzu ist sich bewusst, was geschehen wird, daher möchte sie die verbleibende Zeit mit dir verbringen. Sie will für dich da sein. Auch ich möchte, dass die wenige Zeit, die wir noch miteinander haben unvergesslich ist. Willst du wirklich nur noch still in deinem Kämmerchen sitzen und darauf warten, dass alles vorbei ist?“ Yuugi lächelte erneut, setzte sich neben den Geist und blickte ihn ermutigend an. Es dauerte eine Weile, bis der Pharao antwortete. „Du hast Recht, Yuugi... ich möchte sie nicht verletzen und ich habe genug davon, deprimiert zu sein. Deshalb gehe ich.“ Kapitel 2: Nur ein kleiner Schritt nach vorn -------------------------------------------- Eine halbe Stunde später wartete er aufgeregt an der großen Uhr am Domino Platz. Es war Samstag und sie waren um 14 Uhr verabredet. Von einem Bein auf das andere hampelnd, sah er sich nervös um, in der Hoffnung sie in der Menge der vorbeilaufenden Menschen erkennen zu können. Lachend winkte sie ihm von Weitem zu und kam ihm näher. Er schwitzte leicht und winkte mit einem gezwungenen Lächeln zurück. Wo bleibt denn dein Selbstvertrauen?, hörte er Yuugi kichern und gedanklich verfluchte er es, dass er ihr gegenüber sich immer benahm wie ein Vollidiot. Warum überhaupt? Warum fiel es ihm so schwer ihr gegenüber Haltung zu bewahren? War doch nichts dabei. Zwei Freunde trafen sich am Wochenende und verbrachten Zeit. Und trotzdem wurde er jedes Mal nervös, wenn sie ihm näher kam. Vielleicht weil er genau wusste, dass sie in dem Pharao mehr als einen Freund sah. „Yuugi!“, kam es erfreut über ihre Lippen und doch dann schüttelte sie den Kopf, korrigierte sich. „Pharao“, meinte sie leise und sah ihn strahlend an. Auch wenn jeder von ihnen wusste, dass es zwei Yuugis gab, so war es immer noch eine Umstellung, den Anderen Yuugi nicht mit „Yuugi“ anzusprechen, sondern bei seinem Titel. Die meiste Zeit wurden sie beide also als „Yuugi“ bezeichnet. Der Pharao störte sich nicht daran, dass sie ihn mit seinem ehemaligen Titel aus vergangenen Zeiten ansprach. Er fand es sogar ziemlich zuvorkommend von ihr. Hatte sie etwas gespürt, dass er eine kleine Existenzkrise durchmachte? Obwohl er sich selbst als eigenständige Person betrachte – mit eigenen Gefühlen und Gedanken – so machten ihm seine fehlenden Erinnerungen sehr zu schaffen. Er kannte nicht einmal seinen Namen. Dass er ein Pharao gewesen sein soll, war auch nicht unbedingt etwas, das in seinen Kopf wollte. Ich? Und Pharao? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dachte er dann und überlegte, wie er wohl als solcher gewesen wäre. Ein Angeber? Hochmütig wie Kaiba vielleicht? Mit Yuugi zusammen hatte er sich einige Dokumentationen im Fernsehen angesehen und meist wurden die Pharaonen als kaltherzige Eroberer dargestellt, die andere Völker unterjochten, sie versklavten und nur Interesse am Wohl ihrer eigenen Bevölkerung hatten. Einerseits gütig und nett, andererseits unnachgiebig und grausam. War er wirklich so jemand gewesen? Nein. Doch. Vielleicht ein wenig. Und dass er sich partout nicht erinnern konnte, machte ihn umso unsicherer. Er hatte keine Antwort parat. Und dann fürchtete er sich davor, dass er ein grausamer und kaltblütiger Mann gewesen sein konnte. Jemand, den Yuugi und auch seine Freunde verachten könnten. Gedankenverloren lief er neben ihr her. Dass Anzu ihn besorgt ansah, bekam er nicht mit, da er den Blick gen Boden gerichtet hatte und derartig von seinen Theorien über sein Altes Ich sinnierte, dass er sein ganzes Umfeld ausblendete. Anzu entschied sich dazu, dass sie irgendetwas tun musste, um seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten. Plötzlich hackte sie sich bei ihm ein und sie liefen einige Meter so nebeneinander her. Jetzt sah er zu ihr und seine Augen waren leicht geweitet. Sie trug ein gelbes Oberteil, das ihren stets fröhlichen Charakter unterstrich. Das Teil hatte einen Rollkragen, war aber ärmellos und betonte ihren gut gebauten Körper. Ein rosa Faltenrock betonte ihre langen und gut geformten Beine und ein weißer Gürtel lag über ihre Hüften. Schwarze Kniestrümpfe ließen ihre straffen Beine umso anziehender aussehen, während die pinken Stöckelschuhe ihr einen Hauch von Eleganz verlieh. Er wollte nicht, dass sie dachte, dass er sie anstarrte, auch wenn es gewissermaßen so war. Ihre Beine und ihr wohl geformter Körper machten deutlich, wie hart sie trainieren musste. Bereits bei ihrem ersten Date hatte er herausgefunden, dass sie eine begnadete Tänzerin war und großes Potential in ihr steckte. Sie hatte sich schicker gemacht als sonst. Als er ihr in die Augen sah, bemerkte er, dass sie ihre Haare in einem Zopf zusammengebunden hatte, der ihr Gesicht betonte und ihm freien Blick auf ihre Schultern überließ. Yuugi hatte recht. Sie hatte eindeutig etwas für ihn übrig. „Wie wäre es wenn wir ins Kino gehen?,“ sagte sie und sah ihn durchdringend an, eine Antwort verlangend. „Solange es kein Liebesfilm ist, ist mir alles recht“, murmelte er, doch sie hatte ihn verstanden. „Natürlich nicht! Ich weiß doch, dass Männer so etwas nur ungern sehen. Wie wäre es mit einem Actionfilm?“ Der Pharao blieb stehen, überlegte und nickte dann. Sie hatten zwar schon genügend Action während des Battle City Turniers erlebt, aber es war etwas Anderes sich um Leben und Tod zu duellieren oder so etwas nur in einem Film zu sehen. Wenn er es sich recht überlegte, gefiel es ihm besser, wenn er nicht im Mittelpunkt stand und seine Ruhe hatte. Also entschlossen sie ins Kino zu gehen und sahen sich einen Actionfilm an. Auf diese Weise konnte er auch komplizierte Gespräche vermeiden und musste nicht fürchten, etwas zu sagen, was seine wahre Gefühlswelt offenbarte. Niemand sollte wissen, wie sehr ihm das ganze zu schaffen machte. Auch wenn er Yuugi und Anzu schätzte und sie am liebsten für immer an seiner Seite gehabt hätte, wusste er, dass er sie auf keinen Fall mit seinen Problemen belasten konnte. Nun, vermutlich hätten beide ein offenes Ohr für ihn gehabt. Aber sie waren Teenager und er fand, dass sie ein recht darauf hatten, ein normales Leben zu führen. Als die Trailershow begann, griff er beherzt zum Popcorn, um sich so erneut von seinen düsteren und deprimierenden Gedanken abzulenken. Anzu hatte ein recht darauf ein normales Leben zu führen. Er hasste sich selbst dafür, dass er drauf und dran war, ihr den Tag mit seiner schlechten Laune zu verderben, also zwang er sich dazu, seine Ängste zu ignorieren und sich nur auf den Film zu konzentrieren. Die Einführung in das Geschehen war recht lang und Anzu, die angestrengt versuchte wach zu bleiben, konnte es nicht vermeiden langsam einzuschlummern. Sie kämpfte gegen die Müdigkeit. Sie war wohl der typische „Liebesfilm“ Typ. Eigentlich hätte ihr der andere Film besser gefallen, aber das würde sie ihm nicht sagen. Gespannt blickte der Pharao auf die Leinwand und Anzu empfand seine sich stetig ändernden Gesichtszüge als sehr amüsant. Eigentlich war der Pharao gar nicht so unnahbar, wenn sie ihn genau betrachtete, wurde ihr bewusst wie menschlich und nahe er ihr eigentlich war. Ihr Kopf nickte erneut nach vorne. Verdammt. Wie nur konnte sie wieder wach werden? Es war mehr ein Versehen, als sie ihre Hand auf seine ablegte, denn es gab zwischen ihren Plätzen nur eine Armlehne und durch ihre plötzliche Müdigkeit und der immer wieder kommende Sekundenschlaf hatte sie nicht auf ihre Umgebung geachtet. Plötzlich befand sich ihre Hand auf seiner. ihr Gesicht lief scharlachrot an und sie vermied es ihn direkt anzusehen. Wenigstens war sie jetzt wieder wach. Obwohl sie wusste, dass sie ihre Hand wegziehen musste, konnte sie nicht. Irgendetwas in ihr hoffte einfach, dass er sich nicht daran störte. Er sagte kein Wort. Vielleicht hatte er es nicht einmal gemerkt? Sie wusste, dass er nicht mehr lange bei ihr sein würde und dass der Abschied, dadurch, dass sie sich emotional so sehr an ihn band, sehr viel schmerzhafter sein würde. Jedoch wollte sie die Zeit genießen, denn würde sie es nicht tun, würde sie es am Ende nur bereuen und sich ihr ganzes Leben fragen, was passiert wäre, wenn sie an jenem Tag anders gehandelt hätte. Dass auch der Pharao errötete, bekam sie gar nicht mit, weil sie viel zu nervös war, um auf seine Handlungen zu achten. Pharao! Jetzt sei nicht so schüchtern und nimm ihre Hand!, tönte Yuugis Stimme in seinem Hinterkopf. »Aber Yuugi...!«, kam es erschrocken von ihm und es war ihm peinlich, dass ausgerechnet Yuugi ihn auf seine Schüchternheit ansprach. Immerhin war er als alles andere als für seine Schüchternheit bekannt und obwohl er sonst so vorlaut war und stets die Initiative ergriff, so fiel es ihm in diesem Moment ziemlich schwer, das zu tun, wovon er wusste, dass es richtig war. Immer noch zögerte er und fragte sich, ob er schnell die Flucht ergreifen sollte, doch ehe er seinen Fluchtplan zu Ende visualisieren konnte, kam ihm Yuugi zuvor. Nichts aber, mach schon!, kam es nun noch fordernder von Yuugi. »Würdest du dich denn trauen?!«, sagte er etwas zickiger zurück und schämte sich sogleich für seinen emotionalen Ausbruch, ließ sich aber nichts ansehen und versuchte weiterhin so cool zu wirken wie sonst. Fragend hob er eine Augenbraue hoch und betrachtete den Geist von Yuugi neben sich. Dieser hatte den Mund sperrangelweit aufgerissen und war knallrot angelaufen. Yuugi würde von sich aus niemals den ersten Schritt machen und das wussten sie beide. Also fand es der Pharao nicht gerade fair von ihm, ihm Vorhaltungen zu machen, wo er es selbst nicht besser gemacht hätte. In Sachen Frauen waren sie beide ziemlich unerfahren. D-das tut ja wohl nichts zur Sache, nuschelte Yuugi und verschwand wieder zurück in seinen Seelenraum. Natürlich würde Yuugi selbst niemals so handeln, dafür war er viel zu schüchtern und ungeschickt. Vielleicht war er nicht unbedingt der Richtige, um Tipps bei Beziehungen und Dates zu geben. Immerhin hatte er seine ganze Erfahrung aus Videospielen, Mangas und dem Fernsehen. Die Wirklichkeit war immer viel, viel härter! Wie zeigte man seine Gefühle? Was durfte man in einer bestimmten Situation sagen oder tun, ohne falsche Hoffnungen zu wecken? Fühlte der Gegenüber genauso oder nahm man seine Signale nur falsch wahr? Die Liebe war nie einfach. Beziehungen mit Menschen waren kompliziert. Und dass es unheimlich schwierig war, offen auf andere Menschen zuzugehen und einfach nur das zu sagen, was man wirklich fühlte oder dachte, kannte Yuugi aus eigener Erfahrung. Yuugi war introvertiert und hatte große Probleme damit, mit anderen Leuten richtig in Kontakt zu treten und mit ihnen warm zu werden. All seine Freunde waren von sich auf ihn zugekommen. Jounouchi-kun. Honda-kun. Bakura-kun. Otogi-kun. Kaiba-kun. Mein Anderes Ich und auch Anzu. Sie alle sind zu mir gekommen und haben mich aus meiner Einsamkeit geholt. Ohne Mein Anderes Ich hätte ich das nie geschafft und wäre immer noch ganz allein. Ich habe es einzig und allein ihm zu verdanken, dass ich Freunde gefunden habe. Genau genommen bin ich echt nicht der richtige, ihm zu sagen, was er tun soll, grübelte er und musste sich eingestehen, dass es irgendwie süß war, dass sein Anderes Ich in Anzus Nähe so schüchtern war und arge Schwierigkeiten hatte, seine Gefühle offen zu zeigen. Irgendwie machte ihn das menschlicher. Der Pharao war immer fehlerlos und ließ sich von nichts und niemanden beirren. Er ging immer seinen Weg und nur selten strauchelte er. Yuugi fand, dass er perfekt war. So perfekt, dass ihm selbst seine eigenen Fehler umso bewusster wurden. Dass sein Anderes Ich auch schwache Seiten hatte und unsicher vor sich hin druckste fand er daher ziemlich niedlich. Da fühlte er sich gleich viel verbundener mit ihm und der Abgrund, der sich zwischen ihnen auftat, wurde kleiner und überwindbar. Wenn er ihn so schüchtern in Anzus Nähe sah, bekam er wirklich das Gefühl, dass er ihn eines Tages einholen konnte und sie sich auf einer Stufe begegnen konnten. Bisher lief er ihm immer nur hinterher und folgte seinem Schatten. Der Pharao war ihm Meilen voraus, doch er wollte ihn einholen und direkt neben seiner Seite gehen. Yuugi grinste zufrieden, als er spürte, dass der Pharao ihre Hand genommen hatte und sie sogar leicht drückte. Ob falsch oder richtig war in diesem Moment ja auch gar nicht so richtig. Hauptsache Anzu und sein Anderes Ich hatten eine schöne Zeit, an die sie auch Jahre später noch mit einem Lächeln zurückdenken konnten. Denn darum ging es Yuugi. Wenn sein Anderes Ich keine eigenen Erinnerungen hatte, musste er sich eben neue sammeln. Erinnerungen, die für immer blieben und ihm Hoffnung und Trost schenkten, wenn er auf sich allein gestellt war und nicht mehr weiter wusste. Selbst wenn du uns irgendwann verlässt, dachte er und setzte sich in seinem Seelenraum auf den Boden und griff nach einem großen Puzzle, warf die einzelnen Teile vor sich hin und zwang sich zu einem Lächeln, obwohl er sich so unendlich traurig bei diesen Gedanken, dass sein Anderes Ich einfach verschwinden würde, fühlte und führte seinen Gedankengang fort: wirst du dich immer an die Zeit mit uns erinnern. Ich will nicht, dass du dich nur an die Duelle erinnerst, sondern dass du selbstständig mit den Menschen agierst. Wir sind nicht ein und dieselbe Person. Du bist nicht ich. Und ich werde niemals so sein wie du, weil wir vollkommen unterschiedliche Menschen sind und sich jeder anders entwickelt. Deshalb ist es mir wichtig, dass du auch an solche unbeschwerten und schönen Momente erinnern kannst und deine eigenen Erfahrungen sammelst. Als der Pharao ihre Hand ergriff und sie sanft umschmeichelte, verflog ihre Angst mit einem Mal. Die Unsicherheit in Anzus Gesicht verschwand und ihr Herz klopfte nicht mehr so schnell. Für einen Moment hatte sie geglaubt, dass sie eine unheimliche Dummheit begannen hatte. War sie zu forsch gewesen? War es ihm unangenehm, dass sie seine Nähe suchte? Dass er ihre Hand in seine nahm, machte sie glücklich. Von diesem Moment hatte sie lange Zeit geträumt. Es war nur ein kleiner Moment und sie wollte auch nichts sagen, um diese Besonderheit zu wahren, doch es war etwas, woran sie sich auch zukünftig immer und immer wieder erinnern würde. Wissend, dass das Glück darüber, ihm so nah gewesen zu sein und der Schmerz, dass er nicht bleiben konnte, miteinander einherging. Selbst wenn sie ihm gesagt hätte, was sie fühlte, hätte es nichts geändert. Wohl kaum hätte er gesagt, dass er für immer bei ihr bleiben wollte. Er hatte keinen eigenen Körper. Seine Seele war ein Gefangener des Millenniumspuzzles. Es gab keinen Ausweg für ihn. Er alterte nicht und hatte ohne Yuugi nicht einmal die Möglichkeit mit anderen Menschen zu kommunizieren. Erst jetzt wurde Anzu so richtig bewusst, wie grausam sein Schicksal war. Er lebte nicht. Er existierte nur. Hätte Yuugi das Puzzle nicht zusammengesetzt, wäre er bis auf alle Ewigkeit ein Gefangener in der Dunkelheit gewesen. Dieses Schicksal wollte sie ihm ersparen. Deshalb durfte sie ihn nicht aufhalten. Er musste nun mal zurück. Zurück dahin, wo seine Seele hingehörte und dennoch wünschte sie sich so sehr, dass er für immer bleiben könnte. Dass es irgendeinen Weg gab, damit er hierbleiben und mit ihnen ein ganz normales Leben führen konnte. Sie war hin und hergerissen. Das Licht der Leinwand flackerte und der Pharao schien sehr interessiert an dem Film. Immer wieder veränderte sich seine Mimik und manchmal zuckte er zusammen. Er war so menschlich. Nicht anders als die anderen Jungen in ihrem Alter. Das einzige, was ihn anders machte, war, dass er keinen Körper hatte. Sie fand es irgendwie niedlich, dass er so viele Regungen zeigte und sie genoss es sehr, diese andere Seite von ihm zu sehen. Diese Seite an ihm gefiel ihr sehr und sie wünschte, er würde häufiger diese lockere Art durchscheinen lassen. Als der Film endlich vorbei war, betrachteten sie gemeinsam den Abspann. Die Lichter gingen wieder an. Das Popcorn war restlos aufgegessen und nur der leere Kartoneimer blieb zurück. Der Pharao sah sich um. Die meisten Zuschauer verließen bereits den Saal und drängelten sich an dem Ausgang. Einen Moment lang blieben sie noch sitzen und warteten darauf, dass es etwas leerer wurde. Anzu streckte sich ausgiebig und griff nach ihrem Getränk, trank den letzten Rest aus und warf einen musternden Blick zum Pharao. Immer noch spürte sie seine Wärme und auch wenn es ziemlich dumm klang, hätte sie wirklich nichts dagegen gehabt, hätte er ihre Hand erneut in seine genommen. Etwas müde trottete sie neben ihm aus dem Kinosaal, da sie beinahe zwei Stunden den Film geguckt hatten, waren ihre Beine eingeschlafen. Als Tänzerin war sie Bewegung gewöhnt und sie mochte es nicht lange herumzusitzen. Das Ende des Filmes, welches letztendlich sehr emotional und rührend war, hatte ihr sehr gefallen und auch der Pharao wirkte seitdem sehr nachdenklich. Nachdenklicher als vorher. Ob dieser Film ihn so sehr beschäftigte oder war er nur wieder deprimiert? Anzu wusste es nicht. Sie verließen das Kino. So langsam wurde es Anzu zu bunt. Er sagte nichts und folgte ihr einfach nur stillschweigend. Irgendwie kam sie sich ganz schön blöd vor, wenn sie einfach nur wortlos nebeneinander herliefen. Ihr Magen knurrte etwas. Popcorn war nun wirklich alles andere als sättigend. Aber als Tänzerin wollte sie auch nicht ungebändigt alles in sich hineinstopfen, was lecker war. Sie schlug also vor, etwas essen zu gehen, doch er reagierte erneut nicht. Ihr linkes Auge zuckte gefährlich. Dass er sie ignorierte, nervte sie! Also musste sie seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie beschleunigte ihre Schritte und blieb direkt vor ihm stehen, beugte sich so zu ihm, dass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter von einander entfernt waren. Erschrocken blieb er stehen und starrte das Mädchen vor sich an. Auf ihren Lippen ein süßes Lächeln, während sie mit ihren langen Wimpern leicht klimperte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass ihr Lächeln dieses Mal nicht nett gemeint war und sie nur versuchte ihren Ärger zu überspielen. Warum war sie so verärgert? „Stimmt etwas nicht, Pharao?“, sagte sie dann und entfernte sich wieder, sah ihn etwas besorgt an und hoffte, dass sie eine Antwort bekam. Doch er winkte nur ab, deutete ihr an weiter zu gehen und meinte nur, dass „alles in Ordnung“ sei. Aber genau das war es eben nicht! Er war gedanklich wieder ganz wo anders! Es war nicht so, dass Anzu sauer auf ihn war. Viel mehr ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie ihn einfach nicht von seinen düsteren Gedanken ablenken konnte, obwohl sie sich so viel Mühe gab. Aber gut. Der Tag war noch nicht vorbei. Sie fasste einen neuen Entschluss. Sie würde alles daran setzen, dass er aus tiefstem Herzen lachte! Zumindest ein Lächeln musste doch drin sein, oder? Sie hatte noch genügend Zeit, um ihr Ziel zu erreichen. Kapitel 3: Der Mut nach vorne zu sehen -------------------------------------- „Lass uns etwas essen gehen!“, kam es begeistert von Anzu und der Pharao sah erneut auf. „Was denn?“, wollte er wissen und legte den Kopf schief. „Yuugi mag Hamburger. Bist du auch so versessen auf Fast Food?“, fragte sie und legte ihren Kopf schief. Der Pharao fand es irgendwie süß, wie ihr Zopf sich nun über ihre Schulter legte. „Absolut nicht“, kam es todernst von ihm. „Was magst du denn? Magst du Japanische Küche?“ „Keine Ahnung. Die meiste Zeit befinde ich mich in meinem Seelenraum“, antwortete er wahrheitsgemäß und zuckte wenig begeistert mit den Achseln. „Das heißt, du kennst so gut wie gar keine Gerichte. Komm, dann lass uns Ramen essen gehen. Ich liebe Ramen!“ „Was ist Ramen?“, fragte er und warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Das wirst du schon noch sehen!“, lachte sie und griff nach seiner Hand, zog ihn quer durch die Fußgängerzone und lief auf ein kleines Lokal zu. Sie blieb breit grinsend davor stehen und stemmte ihre Hände in die Hüften. Stolz verkündete sie, dass das ihr Lieblingsrestaurant wäre, weil es hier die leckersten Ramen in ganz Japan gäbe. Der Pharao erwischte sich selbst dabei, sie als niedlich zu betiteln, weil sie sich über so eine Kleinigkeit so sehr freute. Wegweisend zeigte sie mit dem Zeigefinger auf das Lokal, drehte sich elegant um ihre eigene Achse und sah den Pharao nun mit strahlenden Augen an. „Ich bin mir sicher, dass es dir genauso gut schmecken wird, wie mir!“ „Ha, sei dir da mal nicht so sicher“, meinte er und grinste herausfordernd. „Ich wette, dass es dir gut schmecken wird.“ „Worauf wettest du?“, wollte er wissen und verschränkte die Arme. Diese Herausforderung nahm er gerne an. „Wenn es dir schmeckt, wirst du endlich aufhören, immer nur deprimiert auf den Boden zu sehen und fängst endlich wieder an, nach vorne zu blicken“, sagte sie dann und wurde immer leiser. Ihre Wangen nahmen einen anderen, viel intensiveren Farbton an und nervös wanderte ihr Blick umher. Der Pharao wusste nicht, wie er reagieren sollte. War er so leicht zu durchschauen? Hatte er ihr etwa Sorgen bereitet? Auch in einem Duell wäre es nicht gerade vorteilhaft, seine wahren Gefühle so durchsickern zu lassen. Verdammt. Er war doch kein Amateur! Wie konnte er nur zulassen, dass sie sich so sehr sorgte? Ging es Yuugi ähnlich? War er auch so besorgt um ihn gewesen? Dabei wollte er doch der Fels in der Brandung für die beiden sein und stets jemand, zu dem man hoch sah. Dass seine Freunde sich um ihn sorgten und er so offensichtlich seine Karten offenlegte, schockierte ihn selbst. Auf einmal wurde ihm bewusst, wie jämmerlich, nein, erbärmlich, er sich verhalten hatte. Er zog seine Freunde mit seiner schlechten Laune nur unnötig runter und distanzierte sich von ihnen. Es tat ihm schrecklich leid, dass er Anzu nicht die Aufmerksamkeit geschenkt hatte, die sie verdiente. Sie war ein so liebes, heiteres Mädchen und es wäre unverschämt ihre Freundlichkeit mit einer kalten Schulter zu beantworten. So jemand wollte er nicht sein. Er wollte niemand sein, denn man ungern bei sich hatte. „Tut mir leid, Anzu. Ich habe dir Sorgen gemacht. Ich werde ab jetzt nicht mehr deprimiert sein. Such dir einen anderen Wetteinsatz aus.“ „Nein, so einfach ist das nicht, Yuugi – eh, ich meinte Pharao.“ „Nenn mich ruhig Yuugi. Ich habe keinen eigenen Namen und irgendwie habe ich mich selbst schon daran gewöhnt, so angesprochen zu werden“, sagte er mit einem Zwinkern. „Okay. Wenn man traurig ist, muss man über seine Gefühle sprechen und man muss sich nicht schämen, wenn man mal traurig ist und nicht weiter weiß. Du bist nicht allein. Du hast uns. Yuugi. Jounouchi. Honda. Bakura-kun. Wir alle sind für dich da. Und du kannst dich darauf verlassen, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn du jemanden zum Reden brauchst.“ „Anzu...“, begann er heiser und nickte dann. „Danke. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“ „Gut. Vergiss das niemals. Und jetzt zurück zum Einsatz!“, sagte sie und bildete ihre Hände zu Fäuste und nahm eine kämpferische Haltung ein. „Wenn dir das Essen hier schmeckt, musst du nächstes Wochenende nochmal mit mir weggehen!“ „Was?!“, fragte er erschrocken und riss die Augen auf. „Im Domino Citycenter macht ein neuer Bekleidungsladen auf und ich würde gerne shoppen gehen“, sagte sie mit einem breiten Grinsen. Jeder Mann wusste, was es bedeutete, wenn eine Frau shoppen gehen wollte und auch der Pharao hatte eine gewisse böse Vorahnung. „Lass mich raten: Ich soll deine Taschen halten und dich beraten.“ „In etwa. Ich möchte dir gerne ein paar schicke Accessoires aussuchen. Nichts gegen Yuugis Modegeschmack, aber das ist ja eine Totalkatastrophe“, sagte sie und zog eine Augenbraue hoch. „Das habe ich ihm auch gesagt. Yuugi hat keinen guten Geschmack. Ich weiß nicht, wie er auf die Idee kommt, Gold und Silber zu kombinieren. Mal davon abgesehen, dass es ihm nicht mal gut steht“, sagte er und hörte ein leises „Hey, das habe ich gehört!“ in seinem Hinterkopf, das er einfach ignorierte und stattdessen schelmisch grinste. „Wahrscheinlich hat er sich das für dich ausgesucht. Du warst ein Pharao und da hat er sicher gedacht, dass du gerne Gold magst“, meinte sie lächelnd. „Ich mag es auch... aber seine Kombinationen passen vorne und hinten nicht zusammen.“ „Und deshalb will ich nächstes Wochenende mit dir einkaufen gehen. Sollte ich verlieren und das Essen schmeckt dir nicht, darfst du dir auch etwas aussuchen. Okay?“ „Egal was?“ „Egal was!“, sagte sie mit einem vielsagenden Zwinkern. „Gut, dann lass dich überraschen“, meinte er grinsend und gemeinsam betraten sie endlich das Lokal. Der Laden war ziemlich klein und die Innenausstattung war nichts Besonderes. Die Wände waren grün, verziert mit den Bildern von Bambus und Kirschblüten. Eine ziemlich beruhigende Bildkomposition, wie er fand. Sie setzten sich an einen der freien Tische und Anzu griff sofort nach den Speisekarten, wo sie hin und herblätterte. „Was möchtest du haben?“ „Ich nehme dasselbe wie du“, sagte er nur. „Das musst du aber nicht“, kam es kleinlaut von ihr. „Doch, wenn wir nicht dasselbe Gericht haben, macht so eine Wette keinen Sinn. Ich vertraue auf deinen guten Geschmack, Anzu.“ Anzu nickte und bestellte zweimal Yakisoba Ramen mit gegrillter Hühnerbrust und Ei. Der Pharao staunte nicht schlecht, als der Kellner ihnen die großen Schüsseln vor die Nase setzte und ihnen die Essstäbchen hinlegte. Zudem hatte Anzu noch zwei Getränke bestellt – grüner Tee mit Vanillearoma. Der heiße Dampf duftete köstlich. Ein bisschen erstaunt über ihre Wahl, da es sich scheinbar nur um ein typisch japanisches Nudelgericht handelte, sah er sie an und fragte sie, ob er ihren kleinen Wettkampf ernst nahm. Die Nudeln sahen braun aus, als hätte man sie längere Zeit in Sojasoße gebraten. Nichts Besonderes. „Du hast gesagt, du vertraust mir. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Das sieht normal aus, aber die Würzung ist der Hammer“, sagte sie und griff nach ihren Essstäbchen. Als er seinen ersten Bissen zu sich nahm, wusste er nicht so recht, was er davon halten sollte. Doch beim zweiten Bissen wusste er ganz genau, dass er Ramen jetzt schon lieber mochte als das, was Yuugi in sich hineinstopfte. Vielleicht lag es daran, dass er älter war als Yuugi (immerhin wusste er ja, dass er ein Geist von vor 3000 Jahren war), dass er mit seinen geliebten Fertiggerichten und dem Fast Food nichts anfangen konnte, aber er war sich sicher, dass richtiges Essen so und nicht anders schmecken musste. Gut gewürzt. Frisches Gemüse. Gut gegrilltes Fleisch und ein Hauch von Marinade mit dem zarten Geschmack von Mandarinen. Die Brünette schien ebenfalls zufrieden. „Ich gebe es ja nur ungern zu“, begann er und sah sie anerkennend an. „Aber du hast mich besiegt. Du hattest Recht, Ramen schmeckt fantastisch. Ich glaube, hier möchte ich Stammgast werden“, scherzte er und nahm einen weiteren Bissen zu sich. „Damit wäre ich wohl die erste, die dich besiegt hat“, grinste sie und zwinkerte erneut. „Glückwunsch, meine Dame, Sie haben den König der Spiele besiegt.“ „Und? Bin ich jetzt die Königin der Spiele?“, fragte sie nach und kicherte amüsiert. „Eher weniger. Essen ist ja kein Spiel, oder? Außerdem müsstest du dich dann mit Kaiba herumschlagen, wenn er herausfände, dass du mich geschlagen hast“, kam es ebenso amüsiert zurück. „Stimmt, darauf habe ich nun wirklich keine Lust. Obwohl Kaiba-kun sicher ein netter Kerl ist, wenn man ihn etwa näher kennt.“ Der Pharao nickte mit einem sanften Lächeln. Anzu freute sich unheimlich, dass er endlich seine Sorgen hinter sich lassen konnte und heute zum ersten Mal aus tiefstem Herzen lächelte. „Bestimmt sogar. Ich hoffe sehr, dass er seine Niederlage im Battle City überwinden konnte. Er ist auf einem guten Weg.“ „Solltet ihr euch noch einmal duellieren, wird er sicher ein anderer Mensch sein. Ich glaube, dass Kaiba-kun eingesehen hat, dass du recht hattest und dass es mehr im Leben gibt, als Sieg oder Niederlage. Ich hoffe einfach, dass er...“, sagte sie, doch dann war ihre Stimme nur noch ein Flüstern. Der Pharao sah sie fragend an. Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie durfte das Thema nicht totschweigen. Sie musste es aussprechen. Vor allem, damit der Pharao wieder nach vorne blicken konnte und er wirklich aus tiefstem Herzen wieder lachen konnte! Hier ging es nicht um ihre Gefühle! „Ich hoffe, dass er auch ohne dich klarkommt. Wenn du gehst, wirst du eine riesige Lücke zurücklassen und es wird sicher schwierig für uns, normal weiter zu machen, aber wir alle müssen uns im Klaren sein, dass es irgendwie weiter geht. Dass es weitergehen muss und dass es absolut nichts bringt, Vergangenem hinterherzutrauern.“ „Anzu...“, hauchte er und nahm seine Schüssel in die Hand und schaufelte sich die Nudeln in den Mund. Er tat dies, damit sie ihm nicht ins Gesicht sehen konnte. Ganz schön feige, sich hinter einer Schale Nudeln zu verstecken. „Versteh mich nicht falsch... wenn es nach mir ginge, könntest du ruhig für immer bei uns bleiben. Wir wären alle froh, wenn es so bleiben könnte, wie es jetzt ist. Aber ist es das, was du willst?“ „Nein...“, antwortete er und stellte die Schüssel weg. „Das ist eine schwierige Entscheidung, vor allem für dich, aber du willst es doch wissen. Oder? Wer du bist? Warum du hier bist? Und was dich noch erwartet? Vollkommen egal, welchen Weg du wählst, wir sind bei dir.“ „Ich möchte wissen, wer ich bin. All diese Antworten ersehne ich mir, doch ich...“, flüsterte er und seine Stimme wurde leiser. „Ich habe Angst. Angst, dass diese Antworten das Ende bedeuten. Dass ich dann nicht mehr Teil dieser Welt sein kann oder es vielleicht gar nicht mehr sein möchte. Vielleicht ist mein wahres Ich ganz anders als ich. Vielleicht bin ich dann ein völlig anderer Mensch.“ „Selbst wenn du jemand anderes wirst, hast du immer noch uns. Wir sind Freunde. Und Yuugi mag dich so wie du bist! Und mir geht es genauso. Auch wenn du dich verändern solltest, ändert es nichts daran, was wir erlebt haben und was wir füreinander fühlen.“ „Und was wäre, wenn ich euch vergessen würde?“, fragte er unsicher nach. „Das wirst du nicht. Wenn du uns vergisst, kannst du dir sicher sein, dass wir dir so lange auf die Nerven gehen werden, bis dir wieder alles einfällt.“ Er lachte. Dieses warme Lachen gab Anzu das Gefühl, dass es ihm guttat, einfach über diese Dinge zu reden. Sie meinte ihre Worte ernst. Zur Not würde sie einen Weg finden, ihm zu folgen, nur um ihm einen Schlag auf den Hinterkopf zu verpassen, denn Schläge auf den Hinterkopf erhöhten ja bekanntlich das Denkvermögen. Sie würde niemals zulassen, dass er sie vergaß und genauso wenig wollte sie ihn vergessen. Die Erinnerung an diesen Tag, wie sie im Lokal zusammen Ramen aßen und einfach nur Spaß hatten, würde niemals verblassen. Der Gedanke daran, dass er gehen musste, war schmerzhaft, doch viel schlimmer wäre es, würde er sich nun vollends zurückziehen und den Kontakt vermeiden. „Danke, Anzu. Du und auch dieser Film haben mir die Augen geöffnet.“ „Du hast also doch über den Film nachgedacht.“ „Ja. Dieser Agent hat mich an mich und meine Situation erinnert.“ Es war nur ein Film und trotzdem hatte er das Gefühl gehabt, dass er eine geheime Botschaft an ihn hatte. Hatte Anzu diesen Film absichtlich gewählt? Obwohl dieser Agent wusste, dass er sich nicht emotional an diese Frau binden durfte, hatte er um sie gekämpft und ihr am Ende seine Liebe gestanden. Dabei konnten sie gar nicht zusammen bleiben, weil es für ihn als geheimer Agent zu gefährlich war, eine Freundin zu haben. Aufgrund seines schwierigen Berufes würde er sie selten sehen können oder gar nicht. Seine Gedanken drehten sich wie in einem Karussell und er konnte nicht sagen, ob er genauso oder doch anders handeln würde. Diesem Agenten war es egal, dass die Zeit mit ihr nur begrenzt war. Dabei wäre es doch viel einfacher gewesen, sie zurückzulassen und seinen eigenen Weg zu gehen. Dann hätte er ihr Tränen erspart. „Ich verstehe nicht, warum er mit ihr zusammen sein wollte, obwohl er doch wusste, dass es keinen Sinn macht. Sie werden sich wahrscheinlich nie wieder sehen und er hat ihr grundlos Hoffnungen gemacht.“ „Pharao... Hoffnung ist sehr wichtig. Wenn ein Mensch seine Hoffnung verliert und nichts mehr hat, woran er glauben kann, ist er verloren. Er hat sein Versprechen ernst gemeint und wirklich das gefühlt, was er gesagt hat. Er wollte, dass sie weiß, dass ihre Verbindung etwas Besonderes ist, das niemand ihnen nehmen kann. Es geht nicht darum, wie oft man sich sieht, sondern wie oft man aneinander denkt. Ich bin mir sicher, dass er sie niemals vergessen wird.“ „So langsam verstehe ich, warum Yuugi unbedingt wollte, dass ich mit dir weggehe.“ „Hm?“, fragte sie und wurde rot. Mist. Er wusste davon? Endlich war die Schule zu Ende. Fröhlich packte sie ihre Schulsachen ein und achtete besonders sorgfältig darauf, dass ihre Bücher und Unterlagen nicht zerknickt wurden. Heute Abend würde sie zum Ballettkurs gehen und sie freute sich darauf, sich wieder richtig bewegen zu können und nicht mehr auf diesen unbequemen Stuhl sitzen zu müssen. Sie ging ja gern zur Schule, aber die Stühle und Tische waren alles andere als bequem. Da tat es ihr unheimlich gut, ihre Verspannung beim Tanzen zu lösen. Als sie das Schulgebäude verließ, sah sie Yuugi, der scheinbar am Schultor auf jemanden wartete. Eigenartig. Hatte er nicht schon Schulschluss gehabt? Da sie verschiedene Fächer belegten, kam es häufiger vor, dass sie einen unterschiedlichen Stundenplan hatten und sie nur in den Pausen miteinander Zeit verbrachten. Außerdem war Yuugi in keinem Klub, weshalb sie häufiger getrennt den Weg nach Hause antraten. Anzu hatte ein Zusatzfach gewählt, um somit sicher gehen zu können, dass sie bei Prüfungen gute Noten schrieb. Jeden Freitag blieb sie länger und paukte mit den anderen Schülern Mathematik. Naturwissenschaftliche Fächer gehörten zu ihrer größten Schwäche und sie hatte arge Probleme damit, die Formeln richtig anzuwenden und weil sie im Schulstoff nicht hinterherhinken wollte, blieb sie gerne länger, um ihre Defizite auszubessern. Sie erreichte Yuugi und dieser drehte sich freudig zu ihr herum. „Anzu!“, sprudelte es aus ihm heraus. Er hatte also wirklich auf sie gewartet. „Was gibt es, Yuugi? Hast du etwa auf mich gewartet?“ „Ja, ich wollte mit dir reden. Also eigentlich geht es nicht um mich, sondern um ihn.“ Anzu errötete und fühlte sich auf merkwürdige Art und Weise ertappt. „Du meinst den Pharao?“, fragte sie nach, obwohl sie beide wussten, wer gemeint war. Irgendwie musste sie ihre Unsicherheit überspielen! „Seit dem Battle City Turnier ist er extrem deprimiert. Jetzt, wo er sich sicher ist, dass er nicht in unsere Zeit gehört, kapselt er sich immer mehr ab. Er sagt mir zwar immer, dass es ihm gut gehe, aber ich glaube, dass er mir einfach nur keine Sorgen machen will. Es gefällt mir nicht, dass er so niedergeschlagen ist. Ich möchte nicht, dass er sich zurückzieht...“ „Yuugi...“, hauchte sie besorgt. Sie wusste, dass Yuugi das sagte, weil er selbst sehr lange einsam war und sich nicht getraut hatte, über seine Gefühle zu reden. Er wollte niemanden zur Last fallen und schluckte seinen Frust und seine Ängste einfach runter. Yuugi hatte immer so getan, als ginge es ihm gut. Anzu schämte sich dafür, dass sie selbst nicht hinter seine Fassade blicken konnte und sein falsches Lächeln erst viel zu spät erkannt hatte. Sie hatte fälschlicherweise angenommen, sein Großvater wäre gestorben. Nur deshalb war sie am Nachmittag nach der Schule zu ihm gegangen. Um ihm Trost zu spenden. Der alte Mann lebte noch und alberte mit Yuugi herum.Beschämt musste sie an diesem Tag feststellen, dass sie ohne diesen besonderen Anlass nicht vorbeigekommen wäre. Hätte sie nicht geglaubt, dass sein Großvater gestorben wäre, wäre sie niemals zu ihm gekommen und sie hätten weiterhin stumm aneinander vorbeigelebt. Yuugi hatte sehr gelitten. Und es musste ihn unheimlich geschmerzt haben, dass seine einzige Freundin das Land verlassen hatte und bei ihrer Rückkehr ganz schnell neue Freunde fand. Sie hatte sich selbst für ihr schlechtes Verhalten geschämt. Auch für ihr Desinteresse. Sie hätte direkt auf ihn zukommen müssen, wo sie doch wusste, wie schwer er sich damit tat, auf andere zuzugehen. Sie hatte Yuugi das Gefühl gegeben, minderwertig zu sein. Es war auch zum Teil ihre Schuld, dass er sich zurückgezogen hatte, weil sie ihm viel zu offensichtlich gezeigt hatte, dass sie nicht ihn, sondern den Anderen Yuugi sehen wollte. Der, der viel cooler und mutiger war als er. Sie hatte erst spät erkannt, wie kindisch und verletzend ihr Verhalten war. Nachdem ihr bewusst wurde, wie sehr sie ihn verletzt haben musste, hatte sie sich dazu entschlossen, für beide Yuugis da zu sein und eine wahre Freundin zu sein. Sie wollte auf keinen Fall, dass Yuugi dachte, dass sie ihn weniger mochte als den geheimnisvollen Geist des Pharaos. Niemals wieder wollte sie ihm das Gefühl geben, weniger wert für sie zu sein. „Ach, Yuugi! Immer machst du dir Sorgen um andere. Auch wenn ich es schätze, dass dir das Wohlergehen anderer so wichtig ist, vernachlässige dich bitte nicht selbst dabei. Ich mache mir Sorgen um dich, weil du dich genauso zurückziehst.“ Anzu hatte instinktiv gespürt, dass Yuugi frustriert war. Seit Isis ihnen gesagt hatte, dass es die Aufgabe des Pharaos war, seine Erinnerungen wiederzufinden und erneut gegen die Finsternis zu kämpfen, wurde ihnen umso bewusster, wie gefährlich die Zukunft war. Auch beim Battle City Turnier wurden so viele Unschuldige verletzt und niemand konnte sagen, was sie noch erwartete. Anzu hatte auch mehrmals davon geträumt, dass der Pharao einfach ging. Wortlos verschwand er aus ihrem Leben. Ohne zurückzublicken schritt er die Stufen einer antiken Pyramide hinauf und verschwand in das Innere. Ihr lautes Rufen und ihr Flehen ignorierte er. Und jedes Mal, wenn sie diesen Traum hatte, wünschte sie sich, er würde sich noch einmal nach ihr umdrehen. Doch nicht sie war es, die diesen Kampf bestritt. Sie war nur eine „Zuschauerin“. Sie war keine Duellantin und außer aufmunternden Worten konnte sie nicht viel beisteuern. Das machte ihr sehr zu schaffen. Dabei war es doch der Pharao, der am meisten litt. Er war es, der gegen die Finsternis kämpfen musste. Es war seine Aufgabe, seine Erinnerungen zu finden. Sie fürchtete, er würde sie vergessen. Was nur würde geschehen, wenn er all ihre gemeinsamen Momente vergaß? Würde er dann immer noch so triumphierend grinsen? Es gab so viele Fragen, die niemand beantworten konnte. Sie machte sich Sorgen um den Pharao, aber auch konnte sie sehen, dass Yuugi sehr unter diesem Druck litt. Für Yuugi musste es unheimlich schwer sein, zu akzeptieren, dass sein Anderes Ich – die Person, die ihm stets Rückenstärkung und Mut gab und immer für ihn da war – einfach aus seinem Leben gehen konnte. Sie verbrachten so viel Zeit miteinander. Sicher waren nicht nur ihre Seelen an den Körper gebunden, sondern auch ihre Herzen vereint. Sie teilten all ihre Probleme und das machte es nur umso schwieriger. Vor allem, weil Anzu genau wusste, dass weder Yuugi noch der Pharao in der Lage waren, ihre wahren Gefühle auszusprechen. So waren Männer nun einmal, oder? Unfähig sich mit ihren eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen oder gar darüber zu reden. Immer wollten sie alles alleine schaffen. Dabei war es doch so viel einfacher, wenn man sich einfach mal fallen und sich von seinen Freunden auffangen ließ. Dabei wollte sie für die beiden da sein. Gerne würde sie die ganze Nacht lang wach bleiben, um sich ihre Gedanken anzuhören, weil das echte Freunde nun mal so machten. Doch weder der Pharao noch Yuugi waren sich bewusst, wie schwer die Last auf ihren Schultern ruhte, wie sehr sie zu Boden gedrückt wurden. Anzu fühlte es. Sie beide trugen ein Päckchen mit sich. „Tue ich das?“, fragte Yuugi unsicher nach und kratzte sich verlegen an der Wange. „Ja! Tust du! Du musst mehr aus dich herauskommen und ruhig sagen, wenn es dir schlecht geht.“ „Aber es geht mir gut“, kam es entschuldigend von Yuugi. „Wirklich? Jounouchi macht sich auch große Sorgen um dich. Ständig fragt er mich aus, ob ich etwas über dich weiß. Du weißt, wie gern er dich hat und er würde dich niemals bedrängen, also musst du von dir aus sagen, was du zu sagen hast. Wir allen sehen, dass du deprimiert bist.“ „Ich werde später mit Jounouchi sprechen. Aber genau genommen, bin ich ja nicht wegen mir zu dir gekommen, sondern wegen meinem Anderen Ich. Ich bin traurig, das stimmt. Aber es liegt nicht an mir, sondern an ihn. Weil er auch mich ausschließt und nicht einmal mit mir reden will.“ „Verstehe. Und du glaubst, dass er mit mir reden will?“, wollte sie wissen und sah ihn ungläubig an. „Warum sollte ich ihn zum Reden bringen, wenn selbst du das nicht schaffst, hm?“ „Du hast es doch schon einmal geschafft. Damals... vor dem Battle City Turnier warst du mit ihm zusammen und danach ging es ihm wieder besser. Ich weiß einfach, dass du das hinkriegst!“ „Das ist lieb von dir, Yuugi. Aber was genau soll ich denn tun?“ „Geh am Wochenende mit ihm aus und sorge dafür, dass er endlich mal aufhört, immer nur an die Zukunft zu denken und einfach Mal Spaß hat!“ „Was? Wie soll ich das denn hinkriegen?! Ich weiß doch gar nicht, was er gerne macht!“ „Tu einfach das, was du immer machst! Sei du selbst und bring ihn zum Lachen“, grinste er und drehte sich nun um, winkte ihr zu und lief rasch davon. „Moment mal! Um welche Uhrzeit und wo sollen wir uns treffen?“ „Um 14Uhr am Uhrenplatz!“, sagte er und bog in die nächste Straße ab und war nicht mehr zu sehen. Anzu seufzte laut hörbar. Ihn zum Lachen bringen? Das klang weitaus einfacher, als es war! „Was meinst du damit?“, fragte sie nach und griff nach ihrer Teetasse. „Du hast die besondere Fähigkeit, immer genau das zu sagen, was man am dringendsten hören möchte. Auf einmal habe ich das Gefühl, dass meine Sorgen gar nicht so schlimm sind und dass es totale Zeitverschwendung ist, über etwas nachzudenken, was man eh nicht ändern kann. Ich habe die ganze Zeit nur für mich gegrübelt. Vielleicht hat mich das einfach nur noch mehr runter gezogen, sodass ich gar nicht mehr klar denken konnte.“ „Zu viel zu grübeln hilft niemanden. Weißt du, was ich mache, um meine Sorgen zu vergessen? Abends vor dem Schlafengehen schreibe ich mir alles auf, was mich momentan frustriert und wenn es nur eine kleine, unwichtige Sache ist; zum Beispiel dass ich unzufrieden mit meiner Leistung beim Tanzen war, weil mir ein Move, den ich sonst gut beherrsche, Schwierigkeiten gemacht hat – egal was es ist, ich schreibe es mir auf. Und dann lege ich den Block und meine Gedanken zur Seite und verschiebe die Probleme auf ein andermal. Dann geht es mir wieder besser und ich kann reflektieren, worüber es wirklich Sinn macht, nachzudenken.“ „Das ist eine wunderbare Sache...“, murmelte der Pharao und rieb sich nachdenklich sein Kinn. „Vieles, worüber du dir jetzt Sorgen machst, kannst du ohnehin nicht ändern. Genieße einfach die Zeit, die du jetzt noch hast. Denn sonst bereust du es nur, dass du diese Zeit mit Grübeln verschwendet hast. Also lass uns Spaß haben.“ Der Pharao nickte. Wieder wurde er unheimlich still und für einen Moment glaubte sie, etwas Falsches gesagt zu haben, doch dann hob er seinen Kopf und sah sie an. Seine Augen suchten den Kontakt zu ihren. „Danke, Anzu. Vielleicht bürde ich mir zu viel auf.“ Wortlos griffen sie synchron zu ihren Teetassen. Etwas verschämt blickte Anzu zu ihm, nur um im selben Moment den Blickkontakt abzubrechen. Es fühlte sich schön an, dass seine Aufmerksamkeit nun auf ihr lag und sie wünschte sich wirklich sehr, dass es für immer so bleiben konnte. Warum nur musste er gehen? Sie wusste, dass es egoistisch war, aber ein Teil in ihr bat darum, dass wenn der Moment der Entscheidung kam, er sich dazu entschied, hier zu bleiben. Keiner konnte sagen, was sie erwartete. Er war die ungewisse Zukunft und die begrenzte Zeit, die ihnen Sorgen bereiteten und je mehr sich Anzu darum bemühte, sich selbst einzureden, dass es in Ordnung war, wenn er sie verließ, desto lauter wurde der Ruf ihres verzweifelten Herzens. Geh nicht. Bleib hier. Bleib bei uns, flüsterte es ihr zu und sie schämte sich dann, dass sie so dachte. Zumindest konnte sie seinen Schmerz lindern. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Der Pharao hatte gelächelt und wirkte wieder etwas fröhlicher. Er hatte neuen Mut gefasst. Doch wer linderte ihren Schmerz? Mit Yuugi konnte sie nicht darüber reden. Warum nur konnte die Zeit nicht einfach stehen bleiben? Sie spürte einen Anflug von Angst aufkommen und es deprimierte sie, dass diese Zeit nur begrenzt war und er nicht bleiben konnte. Irgendwann würde sie ihm diese eine Frage stellen. Diese eine Frage, die ihr im Kopf umher spukte und es ihr unmöglich machte, ruhig zu schlafen. Warum musst du gehen? Und sie wusste die Antwort. Ihr Verstand hatte schon längst begriffen, dass er kein Teil ihrer Welt war, doch ihr Herz weigerte sich, dies zu akzeptieren. Sie schüttelte diese Gedanken ab. Es brachte nichts, darüber nachzudenken und außerdem hatte sie ihm doch gerade erst gesagt, dass es nichts brachte, zu grübeln! „Aber hey... was wäre denn dein Einsatz gewesen, wenn du unsere Wette gewonnen hättest?“, fragte sie dann und grinste ihm keck zu. Mehr um sich selbst von diesen Gedanken abzulenken. „Willst du das wirklich wissen?“, fragte er neckisch nach und hob eine Augenbraue in die Luft. Endlich hatte er zurück zu seinem wahren Ich gefunden. Diesen mutigen und frechen Pharao mochte sie viel lieber. Der Mann, der sich von niemanden in die Karten blicken ließ und stets ein Ass im Ärmel hatte. Auch jetzt provozierte er sie und irgendwie fand sie es ganz lustig, dass er sie herausforderte und über eine so unwichtige Sache ein großes Geheimnis machte. „Mach es nicht so spannend“, sagte sie und stützte ihre Ellbogen nun auf dem Tisch ab, faltete ihre Hände zusammen und lehnte ihr Kinn auf diese, musterte ihn und versuchte ihn zu durchschauen. „Dann hätte ich von dir verlangt, das nächste Wochenende nochmal mit mir zu verbringen.“ Anzus Herz schlug plötzlich wild, als wollte es aus ihrer Brust springen und sie spürte eine angenehme Hitze auf ihren Wangen, die einerseits willkommen hieß, andererseits verfluchte, weil sie ihre wahren Gefühle so offen zeigte. „Ganz schön gewieft von dir...“, murmelte sie und senkte den Blick, sodass ihr Pony in ihr Gesicht fiel und er ihr nicht mehr in die Augen sehen konnte. Jedes Mal, wenn er sie ansah, hatte sie das Gefühl, dass er versuchte die Tiefen ihrer Seele zu ergründen und dass er weitaus mehr von ihr wusste, als es ihr lieb war. „Yuugi hat gesagt, ich solle mehr Zeit mit anderen Leuten verbringen und mit dir bin ich gern zusammen. Immer wenn du da bist, geht es mir automatisch besser und alles wird plötzlich bunt.“ „Mir geht es genauso“, sagte sie und lachte heiter. Und mir auch. Immer wenn sie da ist, wird alles plötzlich ganz einfach und ihr Lachen ist ansteckend. Ich wusste, dass du es nicht bereuen wirst, Zeit mit ihr zu verbringen, Anderes Ich, hörte er Yuugi in seinem Hinterkopf und er lächelte. »Du hattest recht, Aibou. Mir geht es schon viel besser. Entschuldige, dass du dir meinetwegen Sorgen machen musstest.« Schon gut. Versprich mir aber, dass du mit mir oder Anzu redest, wenn du jemanden zum Reden brauchst und dass du dich nicht mehr in die Dunkelheit zurückziehst. »Versprochen, Aibou.« Im Übrigen bin ich immer noch sauer, weil ihr über meinen Klamottengeschmack gelästert habt. Der Pharao grinste. »Aber es stimmt. Nächste Woche suche ich dir mal was Nettes aus!« Bloß nicht!, lachte Yuugi leise. Die Anspannung war auf einmal verschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)