Schwarz-Weiße Weihnacht von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: 1.Dezember --------------------- Schon als er den Laden betrat, blendete ihn die unglaubliche Flut an bunten Lichtern. Er hätte es ahnen, hätte es wissen müssen. Er, das Orakel, einer der wenigen Auserwählten, die die Zukunft sahen, bevor sie passierte. Ausgerechnet er war von dieser alljährlich wiederkehrenden Katastrophe überrascht worden, die sich Weihnachtszeit nannte. Und jetzt blinkte sie ihm in grün und rot (und pink und blau und einem Dutzend Farben mehr, die zwar nichts mit Weihnachten zu tun hatten, aber der japanischen Eingenart, alles zu übertreiben, was mit elektronischen Spielereien zusammenhing, Rechenschaft trug) entgegen. Aus den Lautsprechern fallallallallate ihm englische Weihnachtsmusik um die Ohren. Oh großartig! Das hier würde länger dauern, als erwartet.   Die Schlange vor ihm bewegte sich und ein weiterer zufriedener Kunde nahm seine heiße Fracht in Empfang. Im nächsten Augenblick sah Brad Crawford sich einer von einem Ohr zum anderen lächelnden Angestellten des Coffeshops gegenüber, auf deren Kopf ein neckisches, rot-weißes Weihnachtsmützchen saß und deren restlicher Körper in einem passenden Kostüm steckte, das wohlwollend als kurz, wahrheitsgemäß aber als knapp zu bezeichnen war. Ihr Lächeln wuchs – obwohl das eigentlich unmöglich war – noch in die Breite und schon schallte ein: „Herzlich willkommen und einen wunderschönen Guten Tag!“, über den Ladentisch. Er kam kaum dazu, die Frau ebenfalls zu begrüßen, als sie bereits weitersprach. „Bitte sehen Sie sich um! Möchten Sie heute etwas Besonderes kaufen? Wir haben viele, neue Angebote! Extra zur Weihnachtszeit!“ „Ich möchte...“begann er, wurde aber schon wieder unterbrochen. „Wir führen jetzt die speziellen Spezial-Angebote, die Sie nur zu dieser magischen Jahreszeit erwerben können. Wir haben ganz neu Toffee-Zimt-Latte oder Lebkuchen-Karamel-Chai. Außerdem noch Honig-Nuss- und-Mandelkern-Schokolade, Cranberry White Mocca, Praliné-Haselnuss-Frappuccino...“ „Kaffee!“, beeilte er sich, den Strom von Informationen zu bremsen. „Gerne!“, strahlte die Weihnachtsfrau ihn an. „Blonde, medium oder Christmas Roast? Kenianische, kolumbianische, äthiopianische oder peruanische Bohnen? Ingwer-Lemon spiced oder lieber cinnamon-bayberry? Full blended, haf-blended oder entkoffiniert?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Mit Koffein bitte und s...“   Schwarz hatte er sagen wollen. Aber dazu kam er nicht mehr, denn jetzt drehte die Verkäuferin erst richtig auf. „Mit Vollmilch? Low-fat? No fat? Laktosefrei? Oder lieber Sojamilch? Hafer? Mandel? Ziege? Esel? Stute?“ „Keine Milch!“, warf er verzweifelt ein. Die Ader an seiner Stirn hatte bereits begonnen zu pochen. Ein Zeichen, das sogar Schuldig ernst nahm, denn das kam äußerst selten vor. Aber wenn es passierte, dann war es Zeit, sich zu verkrümeln und zwar in den hintersten Winkel, der sich finden ließ. Dummerweise war die Weihnachtsfrau gegen Zeichen dieser Art vollkommen immun. „Möchten Sie vielleicht einen unsere beliebten Sirups probieren? Macadamia? Zimt? Weiße Schokolade? Lebkuchen? Strawberry cheesecake? Trüffel-Karamel? Hasel...“   Die „...nuss“ blieb ihr wortwörtlich im Halse stecken, als Crawfords Hand vorschnellte, sie am Oberteil ihres Kostüms packte und sie so weit über den Tresen zog, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. „Jetzt hören Sie mir mal zu“, knurrte er und sah in die ängstlich aufgerissenen Augen der Verkäuferin. „Ich verrate Ihnen jetzt mal ein Geheimnis. Ich kann die Zukunft voraussehen. Und wissen Sie, was ich in Ihrer Zukunft sehe?“ Die Verkäuferin schüttelte schwach den Kopf. „Ich sehe Sie mit einem ziemlich großen und blutigen Loch in Ihrer Stirn, verursacht von meiner Walther PPK, wenn Sie nicht sofort und ohne weitere Verzögerung einen einfachen, schwarzen Kaffee hier über die Theke schieben. Haben wir uns da verstanden?“ Die Verkäuferin, deren Weihnachtsmütze inzwischen irgendwo auf dem Boden lag, nickte kaum sichtbar. Sie öffnete den Mund und es kam die Frage, die er vorausgesehen hatte: „Tall, grande oder...“   BÄNG!   Der Klang der Pistole erschütterte die Fensterscheiben des Coffeeshops und ließ die anderen wartenden Kunden mit schreckerfüllten Gesichtern und panischen Schreien aus dem Laden fliehen. Während hinter ihm die Hölle losbrach, stützte sich Crawford schwer atmend auf den Tresen, in der Hand noch die so eben benutzte Waffe. Blut lief seinem Gegenüber über das Gesicht, das sich plötzlich veränderte. Ihre Haare wurden blond, die Züge länger, die Augen größer und runder. Die bunte Weihnachtsbeleuchtung zauberte ein eigenartiges Farbspiel auf ihre blasse Haut. Er schluckte und fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Die tote Kassiererin öffnete den Mund und fragte: „Geht es Ihnen nicht gut?“   Crawford blinzelte ein paar Mal und die Realität rückte wieder an ihren Platz. Die dunkelhaarige Angestellte des Coffeshops sah ihn mit besorgtem Gesicht an. „Wenn Sie möchten, haben wir auch Tee...“ Er ersparte sich und ihr eine Antwort, drehte sich auf dem Absatz herum und flüchtete aus dem immer noch gut besetzten Laden. Sonst, so fürchtete er, würde seine Vision doch noch zur Wahrheit werden.   Draußen lehnte Schuldig grinsend am Schlag des Wagens. Er hatte den Tumult offensichtlich auf telepathischem Weg mitverfolgt. „Du bist einfach nicht du selbst, wenn du morgens keinen Kaffee hattest.“ Crawford zog die Augenbrauen zusammen. „Und wessen Schuld ist das?“ Schuldig zuckte mit den Achseln. „Meine jedenfalls nicht. Ich habe Nagi nicht gesagt, dass er den Kaffeeautomaten nach mir werfen soll. Das war seine höchst eigene Idee. Der Junge wird besser. Allerdings zielt er zum Glück immer noch sehr schlecht.“ Crawford presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Steig ein“, wies er seinen Kollegen und setzte sich selbst hinter das Steuer. Immer noch breit grinsend glitt Schuldig auf den Beifahrersitz. „Und wo soll es jetzt hingehen, oh großer Anführer? Ich habe gehört, Starbucks hat noch ein paar Filialen in Tokio. Möchtest du, dass ich in den Köpfen der Passanten nach der Adresse suche?“ „Nein“, gab Crawford knapp zurück. Wir fahren jetzt zu McDonald's und dieses Mal holst du den Kaffee.“ Schuldig lag noch eine weitere, spitze Bemerkung auf der Zunge, aber er schluckte sie lieber hinunter. Er hatte gesehen, dass die Ader auf Crawfords Stirn schon wieder begonnen hatte, bedrohlich zu pochen. Und dann, so wusste er genau, war es besser, wenn man sich ganz still verhielt. Mucksmäuschenweihnachtsengelstill. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)